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Full text of "Baltische Monatsschrift"

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IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF 
HIS ROYAL HIGHNESS 
PRINCE HENRY OF PRUSSIA 
MARCH SIXTH,1I02 
ON BEHALF OF HIS MAJESTY 
THE GERMAN EMPPROR 

















Baltifche 


NMonatsjchrift. 


Herausgegeben 
von 


Arnold von Tideböhl. 


Adıtunddreigigiter Jahrgang. 


XLIN. Band. 


Reval. 
Franz Sluge. 
1596, 





sb u VA 


Harvard College Library 
APR 23 1309 


Hohenzollern Collection 
Gift of A. C. Conlidge 





Jıhalt 



























































Seite. 
Einiges zur _Geichichte der Dobleniche Kirche. _ Von Dr._W. 
Vielenftein . . . INN PB 
Gujtav Adolph und die Nubbeiche Sirehenoifiintian. Von 
Dr, & 2. Nottberf 29 
Baron Merander von der Pahlen 7. a 15 
Zwei Epifoden aus der Zeit Kailer Tanks ri 63 
Ein viendonnmer Brief des Stantsraths Channfow an Ben 
Kürten Suworow v. I. 1848. R 73 
Beziehungen Livlands und Kurlands zum Yoilantpropin in 
au. Bon D. franfe 2 . m 
Ein Brief Immannel Nants an Chrijtian Heinrieh Kalte 138 
Mus einer Denkfchri Barrots an den staijer Nikolai I. 146 
Zeraphims livländifche Sejchichte, _ Von _Dr._ U. Vergengrün 161 
Ueber den Begriff der Entwidelung nad Herbert Spencer. 
Ton N. von Schufmann FERIEN SE 178 
Baron Eduard von der Brüggen . Yon 9. Diederichs 202 


Die Eingeborenen Yivfande im 19. Anhrhumdert. Won 


Map von Traniche 0 0. 2 28 


Tomas und Andividnm in der Yitteratur. Von Dr. E. Erhardt 








Der Uriprung des altlivländiichen Yandtages. Von I. v. Hernet 














Lolfogeiit md Zeitgeift in der matraliftiichen Dichtung. Yon 
U. Maing. 











DVeiträge zur Gefchichte der Unterer] fung Nurlands, Dornehufich 
nad den Alten des ach. preußiichen Stantonrchivs. Yon 
E._von der Vrüggen . . . . . 383 














500. BT. 








Ueber |vanenlitteratur. ‚wei Vorträge von ntenis 





h. 








Alte und neue Parteien in Deutichland. Von Dr. E. Edihardt 








Zur Aurländifchen NAararentwidelwig. Yon N. v. 9 








Der X. archüologiche tongreh zu Riga. Von Dr, U. Bielenitein 








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152. 264. 316. 











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ars zur Befhiäte der Poblenfen Nirde‘). . =. 
Von Kafter. Dr: U. Bielenftein. 


7 1495 foll, ‚Ät Überliefert, Walter von lettenberg, 
s Srpensmeirter zu Liofand, die Doblenfche Kirche gebaut 
er. Erfejallte wordem modh feine chrüffiche rcdigt in 

ar Gab x yevor hier. mod) fein Bethaus, wo die Aniee 

Any ‚Daunen. Jefy Chrifti? Schon ziweibunbert Jahre 
der, bentjehei: Gerrfchaft das Chriftenthum zu ben 
Teitifchen Einwohnern, weftlich von der In gefommen, 
AT au Jahre 12190 













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Giniges zur Bejhihte der Poblenjhen Kirde‘). 
Von Paitor Dr. A. Bielenftein. 


I. 


m Jahre 1495 joll, ift überliefert, Walter von Plettenberg, 
der Ordensmeifter zu Livland, die Doblenjche Kirche gebaut 
haben. Erjchallte vordem nod) Feine chriftliche Predigt in 
diefer Gegend? Gab c5 zuvor hier nod) fein Vethaus, wo die Aniec 
id) beugten im Namen Jeju Chrifti? Schon zweihundert Jahre 
vordem mar mit der deutf—hen Herrichaft das Ghriftentjum zu den 
Tcmgallen, den lettijchen Einwohnern, wejtlih von der Aa gefommen. 
Aber die Anfänge reichen nod) viel weiter zurüd. Im Jahre 1219 
hatten die Somgallen von Moefothen (Heinr. v. Lettl., Kap. XXIII 
$ 3) den Nigafchen Bifhor Albert freiwillig gebeten, fie in die 
Gemeinjchaft der Chriften aufzunehmen und ihnen Schug vor den 
Kittanern zu gewähren. Bifchof Albert erfüllte ihre Bitte, jchickte 
Geiftlihe und bewaffnete Männer, die beide freundliche Aufnahme 
in Mefothen fanden. Das war der Anfang chriftlicher Kirche an 
der Na, unterhalb VBauste. Bald darnad 7, 1230 (LU. B. 1, 
pP. 134, Nr. 103) nahmen die Kuren an den beiden Ufern der 
Winden und Abau freiwillig das Chriftenthum und die Oberherr- 











Der verfürzte Inhalt des Folgen bei der eier des 100-jähe 
vigen Nirchenjubiläums am 3. September 1805 der Doblenjchen Semeinde 
vom Lerfajer vorgelragen worden, 

Baltifhe Ronatsjgrift. Bd. XLIL. Heft 1. ı 








2 Zur Gefchichte der Doblenfcen Kirche. 


Ichaft der Deutjchen an, und jchlofien mit dem Nuntius des Gardinals 
Otto, Yalduin von Alna, einen Vertrag, in weldem fie fih) ver- 
pflichteten, chriftfiche Priefter aufzunehmen, als wahre Chriften diejen 
zu gehordhen, nad) ihren heiljamen Mahnungen jtille zu werben, fie 
gegen Feinde wie fidh felbft zu vertheidigen, den von päpftlicher 
Autorität ihnen einzufegenden Vifchof, mit Ehrfurcht und Hingabe 
wie ihren Vater und Heren aufzunehmen, die Gerechtigkeit dem 
Bischof und feinem Prälaten jährlich zu feiften, wie die Eingeborenen 
von Gothland cs thäten. Unter diefen Bedingungen war jenen 
Kuren beftändige Freiheit (perpetua libertas) zugefagt, jo lange fie 
nur nicht vom Chriftenthume abfielen, und feine anderen Yaften wurden 
ihmen aufgelegt, als nur nod) diefe, daf; fie die Striegszüge gegen 
die Heiden fowohl zum Schug des chritlichen Gebietes, als aud) 
zur Ausbreitung des chriftlichen Glaubens mitmachen follten. Diejer 
friedliche Pakt von 1230, welcher niemals oder nur ganz worüber: 
gehend verlegt ward, brachte dem Abau-Gebiet den Namen von 
Friede-Sturfand (Vrede euronia) ein, und ift in feiner Genauigfeit 
hocyinterefiant, jofern er die milden und billigen Grundjäge angiebt 
nad) welchen die chriftliche Kicche und der deutjche Orden mit den 
beidnifchen Gingebornen auch in andern Theilen des baltifden 
Yandes zu verfahren pflegten, wenn diefe das Evangelium annadınen 
und dabei verdarrten. 

Zeit 1230 blieb Nord: und Weit-fturland in den Händen der 
Ehriften, und der Weg. den die deutfhen Ordensherren zu Lande 
von Merienburg nad Piga machten, führte fange über die Ordens: 
ichlöffer Miemel, Grobin, Goldingen, Nandau, Tucum um das 
Semgaller- Gebiet zwifcen der Aa und den Quellen ihrer weitlichen 












Zuflüffe (Blieden, Doben [Dobeloberg]. Au) herum. wurde 
noch viel geitritten und Blut vergoffen, bis um’s Naht 1200 die 
Zemgaller jelbit ihre Feten Burgen Doblen, Terweten (bei Hofzum 






), Noaften (bei Schagarren), Sidroben (bei Janifchfi) in der 
Roth) des Hungers und im Bewufitfein der Ohnmacht preisgaben 
und foweit fie durd) ihre Feindfefigfeiten compremittirt waren, nach 
Süden zu den Liltanern auswanderten (ef. Doblen, ein fultur 
biftorifches Bild aus Scmgallens Vorzeit d. A. Bielenftein in der 
Balt. Monatsfchrift 1873, I und II). Schon in jenen Friegerifdien 
Sahrzehnten hat nad) heutiger Volfsfage eine erfte Nirde in unfre 








Zur Gedichte der Toblenjchen Stirche. 3 





Gegend, nämlich auf dem Heiligenberge (oft aus Arrthum 
denihanze” genannt) bei Hofzumberge geitanden. Eine „Nicche* ift 
es gewiß nicht aewejen, aber wohl eine Kapelle in dem feiten 
„Baufe”, welches der CO. M. Willefin von Schauerburg im Winter 
zwijchen 1286 und 1287 der Terwetenburg gegenüber auf dem 
ligenberg aebaut hat (Neimchron. f 9960). Eine jolde 
Hausfapelle hat in einer Trdensbing gefehlt. 
ann nad) 1290 auf dem Hügel an. der Verje, wo jest der 
Hochbau der alten Doblenf—en Ordens-Komthurei emporragt, nad) 
Befeitigung der jemgalliichen Pallifaden, die erften Mauern des 
deutichen „Daufes“ mit chriftlicier Kapelle aufgeführt jei, fagt uns 
fein Zeugnif; jener Zeit. Jedenfalls aber dürfen wir annehmen, 
dab, wie das Schwert in die Scheide geitedt war md Pilug und 
Sichel ihre friedliche Arbeit auf den verwülteten Fluven wieder be 
gannen, auch die Diener Gottes, die Priefter der Kirche ihrer Pflicht 
gewartet haben, das Wolf zu Lehren, wie es ein Volt des wahren 
Gottes werden fnne. Es giebt merfwürdige Yeweije dafür, dafi 
in unfrem Lande nicht das Schwert und die Gewalt zum Chriften- 
tum gezwungen habe, Tondern, daf; der Ichrende Priefter voran- 
gegangen und der Nitter mit den Waffen erit nadaefolgt, als ein 
Vejdüger di welche zumächit mit dem Schwerte des Wortes 
Gottes die Finjterniß zu befämpfen famen. Ganz wie in Livland, 
ficht es bei uns im Scmgaller-Lande feit, da bei Theifung der 
Gebiete zwijchen Kirche md Trden die in’s Land hineinfiegenden, 
von Kiga, dem Ausgangspunkt der deutfcen Herricaft, entfernteften 
Gebiete dem Erz:Bifchof oder auch den Nigafchen Domfapiteln, alfo 
den geiitlien Herren, die aber vücdwärts nad) Niga zu liegenden 
dem Orden zum DVefig gegeben wurden. Co erhielt im Jahre 
54, noch 36 Jahre vor der eigentlichen Eroberung des Landes, 
der Exzbiichof die Yandihaften Silene und Saggara (Grenzhof und 
hagarren), das Nigafche Domkapitel die Yandicaften Dobene und 






































jirnene (Dobeloberg und Ahlen), der Orden aber die öfllidh ge 
fegenen Landjchaften Dubelone (it wohl wmrichtige Schreibung für 





Doblen und 
M 


befene) und Tervetene ofumberge) (ef. &. U.®. 

1, p. 345, Nr. 264 und Bielenftein, Grenzen, Zeite 108 ff.) 

Daraus erfehen wir, dafı nicht das Schwert, fondern ber Krummitab 

voranging, dal; erft die Stirche ihr Werf an den Heiden verjuchte, 
x 












4 Zur Gefchichte der Doblenfehen Kirche. 


bdarnad) aber zum nothwendigen Schuß die Waffenmadht folgte. 
Eine folde Thatfache ift geeignet, manche irrige Vorftellungen über 
jene Zeit deutjcher Einwanderung zu berichtigen. 

Ohne Waffen ging es freifich nicht, denn diefelben, die dem 
Ghriftenglauben zufielen, fielen audy einmal wieder ab und ein Theil 
der Eingebornen, ber begreifliherweife den Wert) allgemeiner 
und chriftlicher Suftur mod nicht würdigte, übte Feindjeligfeiten, 
welde Sühne forderten. 

Mit dem Jahre 1290 war, wie fon gefagt, das ganze Sem- 
galler Land und damit yiemlid) das ganze Heutige Nurland unter 
die Herrichaft der Deutichen und ber chriltlichen Sirche gebracht. 
Die alten Götter der Leiten waren zu ohnmächtig gewejen, die Celb- 
Ntändigfeit ihrer Anbeter zu fügen. Die todesmuthigen Voten 
Chrifti und die gewaltigen Eifenmänmer des Weitens hatten den 
Sieg davongetragen. 

Bei Doblen bezeugt Feine Tradition mehr den elfus-Falns, wo 
damals die Leute der Gegend dem Lichtgott Deews, dem Frühlings: 
gott Whfinfch, der Mutter Sonne (Saule) mit ihren Töchtern 
(Saules meitas), den Gottesjöhnen (Deewa dehli), den Donnergott 
RVehrfons, der Veihügerin der Mütter, der Kinder und der MWaifen 
Zain) ihre Felte feierten und ihre Opfer brachten. Den Glauben 
jener heidnifchen Vorzeit Fönnen wir hier nicht jehildern, aber wir 
müffen bemerfen, daf; wir ihm billiger Weije mit dem Xolte felbjt 
als „den Glauben der Alten“ (mezu laufchu tiziba) vichtiger be: 
zeichnen, als mit dem Namen „Aberglauben“, in weichem ein Tadel 
angebeutet ift, welcher auf dem Fonfejfionellen Standpunkt ein Recht, 
aber auf dem Hiftoriichen weniger bereditigt ift. Wer denjelben 
fennen lernen will, fann die jehr merkwürdigen und hochpoetiichen 
Zeugnifje defielben in den noch heute Lebenden lettüichen Volkslieder 
finden, welche freilid) uns nicht die conereten Gejtalten einer griecht- 
ichen Götterwelt vor die Augen stellen, aber uns auf eine viel 
ältere Stufe refigiöfer Vorjtellung führen, wie fie uns vielleicht nur 
in den älteften Vebas entagegentreten. 





Zur Gefhichte der Toblenfchen Kirche. 5 


I. 


Wir treten mit dem Jahre 1290 in die chrüftliche Zeit Doblens, 
genauer gejagt in die Fatholiiche Periode, die von 1290 bis zur 
Keformation durch Gotthard Nettler dauerte. 

Es ift wahricheinlih, dah der Orden fojort nad) der Nieder: 
brennung der hölzernen Semgaller Veite auf dem Hügel an der 
VBerfe und zwar auf demfelben Meinen Plateau, wo jene geftanden, 
fich ein einfaches feiteo Haus gebaut haben wird. Der Chronift 
Hermann von Wartberge berichtet als Erjter einen, aber wahr: 
ideinlich ipätern Yurgbau zu Doblen, feitens bes Orbensmeifters 
Everhard von Munheim im Jahre 1335 und erwähnt eine weitere 
Vlauerung und Verbefferung der Doblenichen Burg durd) Goswin 
von Herife, die früheftens in das Jahr 1347 fallen Fönnte, 

Wann und von wem ber deutfche Yurgplag über den eigent- 
lichen heidnifchen Burgberg hinaus auf die heidnifche Vorburg hin, 
durd Musfüllg des noch nadjweisbaren zwifchen beiden quer 
durchgezogenen Grabens erweitert worden, läßt fi wohl fchwerlic, 
mehr feititellen. Die Fundamente der urjprünglichen erften Ning- 
maner, welche fi am Rande des fait runden alten heidnifchen 
Yurghügels herumgezogen, find nod) deutlich über dem Verfe-Ufer 
fihtbar, und daneben die Neite der, weit über den Graben hinaus: 
gehenden fpäteren WViauerfundamente und Vlauern. Ebenfoiwenig 
it cs nachweisbar, wo innerhalb der Trdensburg Doblen die erfte 
Kapelle zum chriftlichen Gottesbienjt geftanden. I. Döring (Sigungs- 
Ber. der furl. Gef. f. Litt. u. Kumfl 1883, p. 8 ff. über die Ge 
ichichte der Ordensburg Doblen) vermuthet, dah diefelbe in dem 
Heinen Hof am Nordojt:Ende der Yurg umd zwar an der Cfimauer 
deffelben geftanden haben möge. Der Hochbau, welder heute noch 
das Innere einer Kirche zeigt, ift jebenfalls nicht bie erite Kapelle 
der Ordensritter gewefen, fondern jedenfalls urfprünglich der Nern 
ihrer Vefeftigung, ihr Napitelfjaal u. j. w. 

Es it Mar, daß die Heinen Kapellen der aud) nicht einmal 
zahlreichen Ordensiglöffer im Lande räumlich nicht haben genügen 
tönnen zur Aufnahme der Mafje von eingeborner Vevölterung, wie 
fie heute die Kirchen des Yandeo füllen. Die Allmählichfeit, mit 
weldyer die Eingebornen das Chriftenthum fich aneigneten und in 
der That fi) auch mur aneignen Lonnten (Hlagt dad) noch in ber 








6 Zur Gefchiehte der Doblenfcen Nürche, 





Mitte des 17. Jahıh. der Superintendent Paul Cinhorn über den 
Heibnifchen Aberglauben und die heibnifchen Sitten der Letten) amd 
der Charakter der röm.-ath. Kirche, welche unleugbar mit geiftiger 
Kraft im 13. Jahrhundert das baltifche Land chriftanifirt hatte, 
aber doch nun nad der (ebensvolfen Glanzzeit eines Gregor des VIL. 
eines Innocen; TIT. und der weltbewegenden Nrezzüge auf eine 
tiefere Stufe herabjanf, forderte weniger großen Nam (zur Predigt); 
der Heine für den Veichtfiuhl genügte, und weder die geiftigen noch 
die materiellen Mittel zum Yan grofer Dome fanden fh bei uns 
auf dem Lande bei dem noch jehr vohen und armen Volt und bei 
der Fleinen Anzahl der Yandesherren, die nur unter großen Schwie 
rigfeiten und Nämpfen ihre Serrfchnft befaupten und ihre Cultur 
arbeit fortjegen konnten. 

AS Gotthard Kettler nad) Einführung der Neformation im 
%. 1566 durch feinen Superintendenten Stephan Bilan eine Kirchen: 
vifitation im Lande anftellen läht, findet diefer, aufer den Burg 
fapellen, als Frucht der vön.-fath. Fürforge und Arbeit, nur 3 
größere Kirchen. Die eine it die Doblenfche Kirche, die beiden 
andern find die zu Mitau und Bausfe. Außerdem aber Hat co 
allerdings auch nod) andere, Fleinere und hölyerne Kirchen neben 
den Burgfapelfen gegeben. Yülau nennt jolhe zu Goldingen, 
dan, Tucdum, Zabeln, Talfen, Nandau, Auch diefe find nicht die 
einzigen gewejen; in vorfettlericher Zeit werden Gotteshäufer and) 
nod zu Selburg, Frauenburg, Durben, Born, Norft, Zoten, Val 
dohn, GrofAup, Landien, Funfendof, Stenden, Erwahlen, Hafen: 
poth, Amboten, Sadenhaufen und vielleicht nad mandıe andre ge 
nannt, z.B. werden in dem Sebiele von Grobin, weldes an Derzog 
Albrecht von Preußen verpfändet war, bei einer aus Nönigeberg 
veranlaften Kirchenvifitation, zum Iheit zerfallene Gotteshäufer ae 
Funden zu: Grobin, Ciba vanddorf Zcheven, Ober Bartatı, 
Nieder-Barta, Nupan, Heiligen Na (ef. Th. Mallneyer- G. Otto, 
die ev. Kirchen und Prediger Nurlande), Die meilten aller der 
damaligen Nixchen mögen nun von Holz gewefen fein, wie eo in dar 
Natur des waldreiden Yandes lag, und wie wir co in unfern 
Strandgegenden noch bis heute finden. - Tetjch Nurl. Kirchengeich. 1, 
109) berichtet von der einen Fleinen Ztadt Safenpoth, dak durch Fürforge 
der Piltenfehen Biüchöfe dajelbii „fünf herrliche Kirchen“ gewefen, 















































Zur Gejchichte der Toblenjcen Kirche. 7 


1) die eigentliche Parodjialfirche, 2) die Kirche St. Johannis Evan- 
geliftä, 3) der Ihnen auf den Berge, worauf jego die ew.-Luth. 
Kirche befindlich, +) die Zt. Katharinenfirche hinter der Mühle, 
gleichfalls auf einem Berge und 5) das WVinoritenklojter, da jego 
das hodhfüritliche Amt it; von welchen allen chemals großen (Se 
bäuden, jego wenig mehr, als die bloen Nudera dafelbit anzutreffen 
find. — Wir erfehen aus jolden Nachrichten, dah die Fatholifche 
Kirche nicht mühig im Lande gemefen iit. — Aber dennod) üt die 
Zahl der gottesdienftlichen Stätten, mögen aud bei Weitem nicht 
alle in unfern Chroniken und Urkunden erwähnt fein, bei uns eine 
jehr Heine gewefen, mögen wir fie mit der Zahl der heutigen Kirchen 
hier, oder gar mit der Zahl der Kirchen vergleichen, die auf einem 
gleich großen Terrain Heute in Viittel- oder Meit-Europa fich finden. 
ie Eatholifche Geiftlichfeit, deren Energie und Treue wir bei 
den Anfängen unfrer Gejchichte in vieler Hinficht in hohem Grade 
anerfennen müjfen, hat fpäter vieles verfäumt. Die Inteinifche 
Meffe brachte dem Volfe fein Verftändniß der heil. Schrift, die 
Anrufung der Heiligen lich oft nur neue chriftlihe Namen an die 
Stelle der heidnifchen Götter fegen, wie fih diefes aud) bei andern Wöl- 
fern nachweifen läht, jo zeigt eo fi) in interefianter Meife im fet 
tiichen Volkslied, wo an die Stelle der Yaima nur der Name der 
Diaria gejegt it und num das heidnifche Yiedlein ohne Vedenten 
Jahrhunderte lang, ja bis in umfre evangelifche Gegenwart hinein 
gefungen wird. rn den jahfreichen Liedern, bie zur Zeit ber Som: 
werfonnenwende in Zhur und Bujc vor taufend Jahren gefungen 
wurden und nod) gejungen werden, ericeint naiv Nohannes der 
Täufer, auch der heil. Petrus oder Iafobus an Stelle eines heid 
nijchen Frühlingsgottes, etwa des Uhjinfch. Die Fatholische Theorie 
der Accomodation an Heidnifche Vorjtellungen und Bräuche erleichterte 
den Heiden den Uebergang in’s Chritenthum, fie blieben vielfach 
im gewohnten Geleife, aber die innere Umwandlung fand nur erft 
fangjamı und jpät jtatt. 

Eine lettiiche Litteratur hat die Fatholiihe Kirche in den min: 
deitens 300 Jahren ihrer Herrichaft hier nicht aeichaffen. Und 
wenn wir das zu einem Theil enticuldigen müflen, dadurch, daf; e6 
doch feine Vuchdruderkunit gab, jo mühlen wir bad) billig fragen, 
warum haben die Priefter und Veönde, die Domberven und die 



























8 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche. 


Viihöfe in der langen Zeit nicht auf Pergament und Papier 
Shriftlic-Belehrendes und Erbaulices für das Wolf wenigitens 
miebergefehrichen. Wir finden vor Beginn der Neformation zu Miga 
faum welde Spuren davon. Was dem Volke von bergleichen ; 
getragen war, geichah einzig und allein auf mündlichen Wege, | 
68 durch die Mühwaltung treuer Seelforger hin und her auf dem 
Lande und frommer chritlicher Frauen auf den Burgen, welche bei 
der täglichen häuslichen Arbeit im reife der Mägde geiftige An: 
vegung und chriftfiche Herzensbildung in reidhem Mafie um fi) her 
verbreiteten. 

In gefahrvoller Zeit teat Walther von Plettenberg ale Ordeno- 
meifter an die Spige von Alt-Livland im Jahre 1494. Die Macht 
der Groffürjten Mosfaus war nad) Abfcüttelung des Mongolen 
jocjes geftiegen und es (ag in der Natur der Verhältniffe, daf fie 
nad) der Herricjaft an den Oftieegeltaden ftrebten, bis fie im Lauf 
von zwei Jahrhunderten ihr Ziel erreichten und Peter der Grohe 
feine Hauptitabt an der Mündung der Newa gründete. Das ernjte 
Vorfpiel dazu waren die Kämpfe und Siege Plettenbergs über bie 
Auffen im Gebiet der Melikaja. Cs ift beachtenswerth, wie Met: 
tenberg im erften Jahre jeines Amtes unter den Sorgen um den 
bevorftehenden Krieg mit Jwan III. Waffiljewitich und während 
der Vorbereitungen zu demfelben (1495) unfre Doblenfhe Kirche 
erbaut hat, wie überliefert wird. Doblen war cin Kauptert des 
Landes. Der Bau eines würdigen Gotteshaufes an dieiem Ort 
fcheint dem Ordensmeiiter ein Dank: und Vittopfer geweien zu fein, 
daß der Herr Himmels und der Erden ihm und dem Lande in den 
böfen Zeiten gnäbiglid) beiftche. Ju den politiidhen Wirren Famen 
während der Regierung lettenberg'o aud die Firdhlichen. Non 
Wittenberg drang die Neformation, wie nad) Nieder-Sadhjien, To 
au gar schnell nad) der niederjächlüichen Kolonie 2), und 
breitete fid) ohme große Schwierigkeiten allmählich über ganz Alt 
Livland aus. Die Forholifche Kirche hatte nady der Natur der Ver: 
hältnifje hier im Volke durchaus nicht jo feite Wurzeln geichlagen, 
als wie in den Ländern Züdweit-Europa’s. Das lag nicht, wie 
Trusmann (Buezenie xpueriauersa 3% mpanızin. C-Herep- 
Öypr» 1884) zu meinen jcjeint, an dem religiöfen Andifferentionnis 
der Letten oder Ehjten, jondern zu einem Theil an der Willigkeit 


















Zur Sejchichte der Doblenfchen Kirche. 9 


der Volfomajien überall und zu aller Zeit, einflufreicen Männern 
zum Guten, wie ein ander Mal parteiführenden Leithämmeln zum 
Schlimmen vertrauensvoll nachzugehen; zu dem andern Theil lag 
es daran, daf; der Natholicismus dem Landvolf chen nod) nicht in 
Fleiich und Blut hatte übergehen Fönnen, zumal der hier herrichende 
norddeutiche, niederfächfiiche Geift durdaus nicht die poetische Fan- 
tafie befafi, die fih zum fatholifchen Gultus hingezogen fühlt. Die 
Häupter des Yandes jelbjt, die firhlichen und die weltlichen, Plet- 
tenberg an der Spige, nahmen nicht eifrig Partei für den Kapit 
Der Ordensmeifter und die Urdensritter waren über zwei Jahr. 
hunderte lang mit den Biichöfen und Erybiichöfen Alt-Livlands in 
oft böjen Streitigkeiten und Fchden gewefen, und Fonnten fi nur 
freun, wenn durch die Keformation die Prieitermadht im Lande all: 
endlich gebrochen wurde; alles drängte hin auf eine Wandlung der 
fircplichen und politifchen Verhälmifie auf eine neue Zeit. Pletten- 
berg. welcher fc perjönlich in bie Glaubensftreitigkeiten nicht mifchte, 
fondern denfelben freien Yauf lich, hat doch durd einen Schritt die 
neue Zeit anbahnen helfen, jofern er cs war, der den Dr. M. Luther 
veranlafte 1523 feinen für das baltifche Kand jo bebeutfamen Brief 
„an die Freunde in Riga, Neval und Dorpat” zu fchreiben. In 
diefer Mebergangsperiode gerieth bei der Unbeitimmtheit der Lage, 
bei der Unklarheit dev Zukunft alles in Verfall, und wenn Gotthard 
Kettler, als er nad dem Untergang des Trdens als ein evangelifcher 
Herzog eine neue Ordnung insbejondere für die Nirde in Murland 
zu ichaffen unternahm, troitlofe religiöfe und firchliche Zuftände vor- 
fand, jo erklärt fich das zum großen Theil aus den Wirren des 
vorhergehenden Jahrhunderts, wo Niemand mehr recht Hand an die 
Nilege des Veftehenden anlegen wollte oder Tonnte, wo man die 
firchlicen Gebäude verfallen und die geiftlichen Yatanzen unbejegt 
bleiben Lich. Berichtet doh Paul Einhorn, daß nod) in den Anz 
fängen der Lutheriichen Zeit aus Mangel an Geiftlichen ein Prediger 
zu Doblen aufer feiner Doblenihen Gemeinde aud nad) die Ge 
meinden zu Grenzdof, Seifau und Mejothen zu verforgen ge: 
habt habe. 








10 Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche. 


ur 

Epoche madhend Nurlands Nirchen und aud für Doblen 
war der Zandlag von 1567. Cs ward befchfoffen in unfrem Ländehen 
nicht weniger als 70 Kirchen neu zu bauen, Schulen zu gründen, 
wofür die fath. Kirche garnichts gethan zu haben jcheint (ef. Tetich, 
url. 8.-Sefch. I, 115) und die materielle Lage der Prediger und 
der Kirchendiener durd; Fundationen für alle Zeit ficher zu ftelfen. 
An dem Necei; diejes Kandlago von 1567 heifit es über Voblen: 
„Weiter zu Dobfen (foll nämlich „aufgefeget, erbauet und erhalten“ 
werden) die Pfarrkirche, Schule und Armenhaus.” — Cs ift nicht 
befannt, wie viel Gotthard Kettler auf Grund diefes Neceifes an 
Kirche, Schule und Mrmengaus neu gebaut, oder aber mr baulich 














gebeffert hat. Bon Bedeutung aber it jevenfalls die Nennung von 
Schule umd Armenhaus neben der Kirche. Dergleidhen Inftitute 
werben mr bei den Snupfficchen im Lande, namentlich nur nod) bei 


Mlurt, Bausfe, Mitau erwähnt; bei Zelburg. Windau, Holdingen, 
Nandau wird neben der Nirche und der Schule jtatt des Armen: 
haufes ein tal genannt. Schule und Armenhaus deinen 
übrigens Neugründungen Gotthard Nettler’s im Geifte der Nefor: 
mation zu fein, und in dem Nrmenhauje Kettfer'o dürfen wir den 
Neim fehen zu der Stiftung des Dauptmanno Chrütoph Georg von 
Dffenberg, derer fich heute die Armen Doblens erfreuen. In dem 
Teftamente des Majors Alerander von Medem (cf. Schnurbud) des 
Doblenschen Armenhaujes 1 u. 2) vom Jahre 16 werden 500 
Rloren den Armen Doblens vermacht und der „herzliebiten Frau“ 
Sophia Gertrud geb. v. Niethinghoff empfohlen „Kirche, Schule 
und Arne“ (offenbar zu Doblen) nicht zu veraeflen. Die Zufammen 
itelhung diefer drei Stüce erinnert an diefelbe Zufanmenftellung im 
Neceh von 1567. Zinfen des vermachten Napitalo werden bis 
heute jährlich bei Eröffnung der Micchenlade vor Weihnachten gerade 
den Anfafien des Doblenfchen Armenfliftes heute im Vetrage von 
SRG. ausgezahlt. Es ijt hiernach wahricheinlich, daf das Armen: 
haus Keitler's 100 Nabre jpäter (1 ) noch eriftirt habe, wenn 
auch vielleicht in nicht glängendem Zuftande, Der nordiice Nrieg, 
Pet und anderes Landeselend müjlen das Stift wohl ganz zu 
Grunde gerichtet haben, jo da die Tifenberg’iche Stiftung als eine 
Neugründung angefehen werden fonnte. Der innere Zufammendang 



























Zur Gejhichte der Toblenjchen Kirche. 1 


derjelben aber mit der Stiftung des Herzogs Gotthard Kettler 
wird dadurch bejtätigt, da das von Tffenberg geichenkte baare 
Held (2000 A. Alb.) vom Herzog Friedrich Wilhelm in feine 
Nentfanmer genommen wird und jtatt der Zinfen desielben an das 
Armenhaus von da ab ein beftimmteo Deputat, ausreichend für 4 
Terfonen nebft Brennholz von den berzoglichen Domänen geliefert 
wird, mag aud in der herzoglichen Fundationsafte d. d. 2. Nanuar 
1711 ef Schnurbuch des Dobl. Armenhaufes Ar. 3) feine Ber 
Hebung auf ein früheres, nur ea zu ernenerndes Arnenhaus 
genommen werden. 

Dit Gottherd Kettler, mit feiner Neformation und feiner 
Keuordnung des ganzen Nirchenwefens feten wir erft in die eigent- 
liche Sefchichte der Doblenjchen Kirche ein. Bio dahin haben wir 
nur ganz bruciiicartige Meine Notizen über das, wao in Doblen 
vorgegangen, und wir mußten uns beichränfen, aus den bekannten 
allgemeinen Zuftänden des Yandes einige Schlühe auf die Zuftände 
in Doblen zu machen. Was nun in der evangelifchen Periode über 
die (Sefchichte der Doblenjchen Kirche zu jagen wäre, Läht fich füglich 
unter drei Sefichtepunfte jaffen. 

1. Bauten, die an der Doblenfchen Kirche geichehen find. 

>. Pajtoren, die an der Doblenichen Kirche gewirkt haben. 
Momente aus der Gejchichte der Doblenjchen Gemeinde!) 

















1. Bauten, die an der Doblenihen Kirche geichehen 
jind. 





Wie Walther n. Mettenderg zu Ende bes 15. Nahrhunderts 
das Toblenfche Hotteohaus aufgeführt hat. it unbekannt. Zacjfun: 
dige Architekten, wie Dr. W. Neumann find der Anficht, dah die 
erite Doblenfce Kirche nur aus dem jegigen Altarchor beitanden 
babe. Diefer Altarchor Hat fteinerne Nreuzgewölbe, während die 
Ülache Dedte deo bedeutend breiteren Schiffes einer fpäteren Zeit 
angugebören feheint. für einen fpätern Anbau diejes Schiffes an 
den Altarchor fpricht der oifenbar ausgebrochene, qroke Hundbogen, 
der den Eingang von dem Schiff zum Altarchor bildet und die 




















*) Dieier dritte Abichwitt it wegen feiner hichtigteit unten nicht 


behandelt. 


12 Zur Gefchichte der Doblenfehen Rirche. 


Stelle der weitlichen Portafwand der eriten Heinen fteinernen Nicche 
einnimmt. Der fachkundige Architekt bemerkt jogar, dal bei diejer 
namhaften Vergrößerung der Nirdhe die Fenfter des munmehrigen 
Altarchers verändert zu fein jcheinen, und diejes namentlich da, wo 
gerade damals gotifhe Spisbogen ausgehauen find, in weldem 
Falle aljo wahriceinfich die Fenfter um den Altar Nundbögen 
werden gehabt haben. Genauere Angaben über die Zeit, wann der 
Anbau des großen Schiffes erfolgt jei, fehlen. Nad Plettenberg's 
geit finden wir über diefen, offenbar großen Yau fein Zeugnih. 
Folgerungen hierans zu ziehen, fund nicht leicht, namentlich in Yin- 
fiht der Frage, ob unfer Altarchor als Kleine jteinerne Kirche vor 
Mettenberg eriftirt und Plettenberg das große Schiff 1495 ange 
baut, oder ob Plettenberg nur ben jegigen Aitarchor aufgeführt und 
©. Ntettler den Altarchor und das Schiff vergrößert, oder ob endlich 
vielleicht gar Plettenberg nur eine hölzerne Stirche hier gebaut und 
6. Nettler exrft die fteinerne Kirche aufgeführt habe. 

Nur das wage ic zu bemerken, dafi die Mittheilung in 
Tetfch's Rirchengeichichte (I, p- 159) betreffs der von Vülau neben 
den Ordensfchlöfiern im Lande gefundenen „Fleinen“, hölzernen 
Kapellen wohl ivrthinnlich die Gotteshäufer von Bausfe, Mitau und 
Doblen mit einichlicht, foren Nallmeyer (a. a. DO. p. 3) dieje 
legten drei Gotteshäufer, offenbar nad) dem Vülau'fchen Bericht, 
„größere Kirchen“ nennt. Sodann folgt aus dem Wortlaut des 
Neceifes von 1567, da G. Kettler an der TDoblenjchen Kirche 
etwas Wefentliches gebaut Haben muf, und diefes fan, wenn Altars 
cher und Schiff aus verfchiedenen Zeiten ftammen, füglid nur das 
geräumige SF der Kirche gewefen jein und dann mühte unfer 
Altarchor das Ztüch fein, welches aus der Hand Plettenberg’s 
hervorgegangen iit, ein Gotteshaus. welches für die Zeit vor Gott 
Hard Ntettler nad das Prädicat eines „größeren“ verdienen fonnte. 

Gleichzeitig mit dem Landtag von 1567 hat G. Nettler mit 
den (ndeligen) Einfajien des Doblenjchen Nirchipielo eine Convention 
über die fünftigen Neparatuven oder Neubauten an der Doblenfchen 
Kirche und Widmen geichloffen, dahin, daf; der Chor, der Altar 
und die Safriftei der Nirhe vom Yandesherrn, das Schiff, die 
Nanzel, der Orgelchor und der Thum von den abeligen Cinge- 
jeifenen gebaut werde. Vielleicht it eo von Vebeutung, daf der 




















Zur Gefchichte der Doblenjchen Kirche. 13 


‚Herzog gerade den Altarchor zu bauen übernommen hat, vielleicht 
jtcht das im Zufammenhang damit, daf; eben, wie wir annehmen, 
Wettenberg, der Ordensmeifter, ein Vorgänger des Herzogs, 
gerade dDiejen Theil der Kirche erbaut bat. Vielleicht it «8 von 
Bedeutung, dab der Herzog gerade dem deutichen Raitor die Wide 
zu bebauen und ihn zu falariven übernommen bat. Der deutiche 
Yaltor war, wenn aud nicht Kofprediger, doc gewilfernafien 
Schlopkaplan. 

Nachdem Kettler durch jein Beifpiel bei vielen Herren im 
Yande einen Eifer für Pflege des Kirchenwejens und geiftige Pflege 
d°6 „undeuticen” Poltes geweckt Hatte, finden fi) nun in fürzeren 
Abfränden Berveife werkthätiger Licbe auf diefem Gebiete. 

Detlof v. Plate auf Heyden hat (nach einer mir von Dr. Otto 
zugegangenen jehriftlihen Notiz) im I. 1593, 20 Jahr nad Gotthard 
Kettfer’s Kirchenbau, in feinem Teftament d. d. Heyden, 16. April 
des genannten Jahres 100 Mark zur Erhaltung der Doblenfchen 
Kirche fegiert (Quelle: eine Notiz I MWoldemars im Kurt. 
Nitterihaftsarhiv.) Derjelbe v. Plate hat fon Lange vorher in 
der Zeit zwiichen den Bauten Plettenberg's und &. Ktettler's an 
der Toblenfchen Kirche zu einer „neuen“ Kirche in Doblen 600 
Mark geitiftet. Aus diefer Notiz (I. GH. Woldemar’s im Nitter- 
ihaftsarhiv, Mappe 27) erhellt, daß der Plettenberg’iche Bau nad, 
fein genügender für die Doblenfche Gemeinde gewejen und ein neuer 
größerer, wie ©. Kettler ihm aufführt, notwendig war. Mann die 
ertte Schenkung Plate's erfolgte, it nicht befannt. Dr. Dtto jept 
fie (in einer jehriftl. Notiz) vor 1516. Tas jcheint, wenn ‘Plate 
nicht ein auferorbentlid, hohes Alter von mehr als 100 Jahren er 
reicht hat, nicht recht wahricheinlich. 

Die durch G. Kettler erbaute Doblenjche Kirche un einen, 
jedenfalls nur hölzernen Glocenthurm gehabt haben; denn im Jahre 
1624 wurde an ihr ein neuer Thurm von Eichenbalten errichtet, 
ein „neuer“, aljo muß vor 1624 jchon einer dagewejen fein. 
War der erite hölzerne Thum von Balken jchwächerer Art, jo fan 
er, von allen Seiten der Witterung ausgefegt, wohl in mehr als 
50 Jahren morjdh geworden fein. 

Bis zum Jahre 1694, in 70 Jahren, war aud fogar ber 
Eichenhofgthurm verfault und wurde abgerifien, und 1696 durd) einen 

















4 Zur Gejchichte der Doblenfhen Kirche. 
fteinernen erfept. Wir vermögen noch nachzveifen, aus welchen 
Mitteln der jteinerne Turm erbaut it. Am Schnurbuch des 
Doblenfcen Armenhaufes (Nr. 1) findet fich eine Gopie des jchon 
oben erwähnten Teftaments des Majors Aler. ». Medem d. dl. 
Ditau, 23. Juni 1663, laut welchem 500 loren den Armen und 
500 Fl. der Kirche zu Doblen vermacht werden. CS hat Schwierig 
feiten gemacht, diefe offenbar verlichenen Gelder aus der Hand „wo 
fie hingediehen waren“ (6 war ein von Netielhorit aus Ahlen) 
ausgezahlt zu erhalten. Der damalige Nirdhenvoritcher George 
Griftopher Kieveln?) Hat Iaut Obligation d. d. Doblen nad Io 
hannis 1696 (deren Eopie im Schnurbuch des Toblenfchen Armen- 
haujes sub ir. 2 fi findet‘) die den Armen geichenkten 500 AL. 
als ein dauerndes Darlehen zum Kircenvermögen genommen und 
diefes gerade zu dem Bat des in demfelben Jahre errichteten ftei 
nernen Thurmes verwendet umd zugleich die Kirchenlade verpflichtet, 
jährlich die Zinfen den Doblenjchen Armen auszuzahfen, wie eo mım 
feit 200 Jahren in der That noch geichieht (ef. oben). 

Dei dem Thurmbau 1696 ward eine Urkunde in den Thum 
fnopf eingelegt, welde jegt im furl. Prov.diufeum aufbewahrt 
wird und gewiß; nicht früher aus dem Thurmtnopf herausgefommen 
fein fann, als nad) dem Vrande des Thurmes 1758. Diefe Ur: 
kunde ift in den Sipungsberichten der Gef. f. Litt. u. Nunft von 
1884 als Beilage abgedrucdt und lautet folgendermahien: 




















em Geiste, 





Ehre sey dem Dreyeinigen Gott, Gott Vater Sohn und He 
men. 





Nach Christi Unseres Heilandes gebuhr Vulgari Anno 1096 
den 14 tagk monats Augusti, da die Doblensche Christliche Erangelische 
Indterischen glanbens Kirche Diesen newon tn bekommen, nach dehm 
der Vorige im monat Martio des Tötisten jahres gantz Baufällig abye- 
‚den, haben diese Fürstentkümer Carland rn Semgalten gr- 
it des interregui, nach glorwürdiegem ahleben Joamnis des 
«ges in Pohlen, grossfürsten Zu Littawen, Beussen Preussen 
m Schutz der Löblichen Republic des h 








nommen wo 
standen, zu 
dritten Kön 


















ete. ete, enter d ichs. Pohten 
end Lättaen, in Fürstlichen Regierung, des Durchlanchtigsten. Pürsten 
nd Hervn, Heron Friedrich Caximir in. Liefftand zu Curlawt rad Sangallen 
Hertzag. welcher Guürigster Fürst, Herr ent Landes Vater, jetzo rler 





*; Ja der Ueberihift diejer Copie ift, wie es fcheint nicht das Jahr 


1696, jondern das Jahr 19 geichrichen. 





Zur Gefchicte der Doblenfchen Airche. 15 


44 jahr seines alters sich befindet, rohr 5 jahr sich vermehlet hatt, mit 
der Durchlanchtigsten Churfürstl. Brandenlurgschen Prinzess Frauen, 
Frauen Elisaheth. Sophia, wodurch dass Tund Gott Lob mit Zueey Printzen 
Beseeliget worden, der Eiteste Heissel Prine Friedrich Wilhelm seines 
alters 4 jahr, der andre Prine Heisset Leopold Carl seines alters ins 
Dritte jahr. Da der Durchlauchtigste Fürst end Herr Friedrich 
Casimir mit seiner vohrigen Gemahlin Der in Gott Ruhenden gnü- 
digsten Fürstin end Frauen. Frauen Sophia Amalia gehohrene Für- 
Yin zu Nassau ee. el. zweohr Einen Printzen und Vier Pri 
sinnen gezeuget gehabt, von welchen die Drey Princessinnen alleine nach 
im leben. nemblich Tit: Maria Doroten, Eleonora, end Amelia, Die 
Yarante Königliche Crone ersetze vnd bekleide der Höchste mit einen 
glücklich end weisslich wegierenden gottgefälligen end dem gantzen 
Vaterlande nulzenden Herrn nd König. 

Fasern Gnädigsten Fürsten end Herrn erhalte Gott bey guter 
gesundheit end allem Fürstl. wollergehm bis in späte Zeiten, ud 
asse von seinem Stam end Hause nie mangeln einen Löblichen Stuhl 
Erben. wodurch diese Fürstenthümer in ietsieger Form vrud regirung 
Friedlich end Ruhig Diss ans ende der weltt erhalten bleiben mi 

Vohrgedachter Fürstl. Durchl. Ober Hathe sind dieser Zeit die 
nuchfolgende. die wollgebohrne Herrn H. Christof Heinrich Freyh 
ron Puttkamer Tandthofimeister, Erbherr der Nerfflischen, Slokenhek- 
schen, grehsischen, end Schidloffschen güter, H. Friedrich Brackel 
Cantzler, Erbherr auff Kukschen vnd. Tanksehden, H. Heinrich. ( 
stian con den Brinken Oberburggraff, Erbh. der Sessilischen end Neu- 
hoffschen gütter. Die Landtmarschall Ch Vaeiret nach ableben 
H. Christoffer Firkss Erbhermn der Nurmusenschen gütter. _Ober- 
haubtlente sind nachfolgende in Semgaln Die Wohlgehohne H. H. 
Heinrich von Bistram zu Selburg. HM. Fromholt ron der Osten ge- 
mund Sacken zu Mitau. In Crrland H. N. Manteuffel genand > 
/dingen, H. Georg John von Bandemer zu Tuckum. 

Haubtteute sind. nachfolgende Die wohlgebohrne H. H. Diedrich 
von der Reck zu Bausk. Nicolaus von Butlar zu Dablen elcher 
jetziger Zeit von Fürstt. seiten dieser Doblenschen Kirche Vorsteher 
4, Heinrich Cristion von den Brinken zu Frauenburg, Magnus Gott, 
hard Kurt zu Keyserling zu Durben, Nieolaus de Chwul- 
koa Chacalkowski zu Schrunden, H. ron der Osten genand  Sucken 
zu Candan, Ernst von der Brüggen zu Windan. 

Zu dieser Zeit wahr die Superintendentur nach Absterben Pit: 
M. Georg Riemlingss, alss auch Vunsere Doblensche Praepositur end 
teutsche Pfarre nach ableben Til. M. Johan Adolyhi Vacant, Der Vntent 
schen gemeine zu Doblen Priester ist vohr Tit. Martinns Hückstein 

In Doblenschen Kirchspiel wohnen würklich an Erbheren. zu 
Dieser Zeit Die Wollgebohrne H. H. Georg Christoffer T. 
mentsgeartirmeister Erbh. der Bersenschen Gitter, Hirsiger Kirchen 























‚en 






































zu 6 
































16 Zur Sefchichte der Doblenfcen Kirche. 


Vorsteher. seine Ehefrau heisset Maria Agnesa Taube, haben I Sohn 
end 1 Tochter. — Reinhalt Lieven Erbh. auf Abgulden end Patkayssen, 
seine Ehefrau Cristina Etisabet Pfeilitzer genand Frank, haben 14 
Sohne 3 Tochter, — Caspar von Medem alt vnd enrerhewratet, — 
Alerander von Medem, Erbh. auf Rumbenhofl, seine Ehefrau he 
Margrelu von Vielinghof genand Scheel haben 2 Söhne ınd 2 Töchter. 
Mattias Diedrich von Medem Lieutenant Erbh. auff Klein-Bersen, 
enverheuratet, — Frau Anna Gerdrutt von Puttkamer, Seel. Otto Chri- 
stopher ron Medem, Erbherr auf‘ Bersen nuchgelassene Wittiehe hatt 
2 Söhne 2 Tächter. — Christoffer Firkss Captein Lieutnant Erbh. 
der Heidtschen. gütter, enrerheuratet, — Christoffer Indwich von Butlar 
Erbh, auf) Berscbek, seine Tiehste N. Holley haben 3 Söhme I Tochter. 
- Heinrich Liere Erbh. auf Auf‘ Autzenburg, seine Ehefrau heist 
Benigna von Nettelhorst haben 3 Sühne. --- Heinrich Wilhelm ron 
Holley Kaptein Erbh. auf Doben, seine Ehefrau heisst N.') von 
Tiesenhausen hahen eine Tochter. — Otto Wilhelm Hahnbohm Kap- 
teinleut. Erbh. auf Abgulden, seine Ehefrau heisst N.°) Schrüderss 
haben 2 Töchter, Noch gehören zu diesem Kirchspiell Woltar 
Christof? von Drachenfelss Erbh. auf‘ Grausden, Otto Wilhehn von 
Drachenfels, Erbh. auf Aschuppen, Johan Sigismund von Tahel, 
Oberster, Erbh. auf Strutteln, 
Priestern was enntribwiren. 

Fürstl, Ambter Adminis jetzieger Zeit. die Wollgebohnen 
Hrn. Christoffer Geory von Offenberg Lientnant, der Doblensche 
@Gütter, seine Ehefrau heist Elisabet Beata von Budberg, haben 3 
Töchter. -- Johan Wilhelm Koschkull, Rittmeister, Bersshofl, seine 
Ehefrau heisst Jakobu Geltsak haben 2 Sühne 4 Töchter. — An 
Fürstl. Pfandhaltere befinden sich Die wohlgebohrne H. H. Nicolaus 
von Butlar Haublman, Pfandh. auf Auren®). seine Khefrau Anna 
Behr, haben 2 Söhne. — Herman Christian von Vietinghoff genand 
‚Scheel, Pfandherr auf Poenaw, Lirulnant, seine Ehefran N. Man- 
teuffel genand Szüge, — Herman von Heringen, Lientnant, Pfandhah 
von Weissenhoff, Wittiber, hat 3 Söhne I Tachter. 

Fürstl. Tehn Besitzer Die walgebohrne Wilhelm Friedrich ran 
Vietinghof' genand Scheel Auf Autzenbach, seine Ehefrau heist Cata- 
vina Barbara Funk haben 5 Söhne 4 Tüchter. -- Otto Friedrich. von 
BührenY, Oberstlieutnant anf alt Poenan, seine liebste heist Anna von 





























pelche weder der he noch den 








en 























*) Helene Yarbara. 

*) Gertrude, 

*) Wohl jept Auermünde, fett. Aıru-Wuifche, 

4 Nach der (Mopmamicen) Stanmtajel im Mitanichen Wien war 
er der Jeibliche Wetter vom Yater des Herzogs Ernft Jabanı. Er tödtete ine wei 
fampje den Oberjügermeifter v. Nold fe fidh 1690 mit. einem salvnm 
eonduetum verjehen. Weder Frau noch Ninder werden in der St ntalet 
erwähnt. 











Zur Gefcjichte der Doblenfchen Kirche. 17 


Schlübhütten, haben 3 Söhne 1 Tochter. Das qult alt Bersen besitzet 
Johan Reinholt ron Krähen. — Der jetziege Ambtschreiber zu Doblen 
heist Lxdulff Ficke, Manfort seine Haussfrau, haben 2 Söhne 2 Tüchter. 

An Kirchenbeamten sind folgende Der 











bare Virich Lössner Or- 
ginist St 8: The: Johan Beckman Küster, ein Vnteutscher Vohrsänger 
nahmens Lipst, vnd ein Vnteutscher Klockenläuter nahmens Thomin. 





An Diesem Rirchenturm haben gearbeitet die Erbare Johan Brohse, 
Baumeister Bürger aus Tuckum vnd sein Camerath Peter Behm, haben 
rber 500 fl. Alberts vohr ihre arbeit bekommen. Gotthard Johan Balk, 
Ihurmieker hatt 55 Reichstalder bekommen, ein Vnteufsche mäurer Jakob 
‚Peise hatt 50 Reichstalder bekommen, ein. Vnteutscher schmitt Heinrich 
Krewain hatt 15 Reichstalder bekommen, eines gemeinen arbeiters Tohn ist 
wochentlich 4 fl. rigischer schillinge gewesen, der Vnteutsche Zimmerleute 
aber 5 A. schillinge. — An diesem Krchenthurm biss aufsetzung des 
Kirchen Knopfs ist enter der auffsicht end anordnen des vohrgemelten 
Adlichen Doblenschen Kirchen Vorstehers gearbeitet 2 jahr 5 Monaden, 
Vnd ist zu wissen dass an der Maur dess Kirchenthurms nur ein schuss 
hoher gemauret worden, die Zirgelsteine sind auss der Mitaw erkauffet 
6 Reichstalder vohrs 1000, Kalk hatt man aus Littawenend auch aus Riga 
gebracht, dass eisen end die nägel auss Riga vnd Mitan, enterschiedlichen 
Preisses nachdehm die sorten gewesen, dass holtz ist aus H. Medemen 
Busche erkaufft der Stam & ®is Reichstalder, die breiter sind auss Riga 
‚gebracht ü schock 14 Rthr. die 41 Schiffund Bley sind auss Lübek ver- 
schrieben, kosten in allem rber 300 Reichstalder, solche mittel alle sind 
meist der Kirchen eigne gewesen, wozu vnterschiedliche Christliche 
Hertzen auch Hülffe beygetragen, die Ihre nahmen allhier verschwiegen 
uben wollen, jedoch von Gott dehme alles wollbekant reichlich Lohn werden 
zugewarten haben. 
























Doctrinas falsas fugito [ugitogue Prophetas 
Falsos, qei Christo semper adesse cupis! 


Haec tradebanter, cum Dohlenense Coronis 
Ornaret templum : qrod Deus ipse colit! 





Murus erit Dominus veniunt ne forte rapaces 
Ve Tamentur oves, dente nocente Tupi! 





Doctores Templo-Divo dabit ipse fideles 
Qei doceant Verbi pascwa pura Gregem! 








Attendet Verbo, serrahit Dogmata Sacra 
‚Perpetwöque eolet Caetus, honore Deum, 


Propterenque Gregi, dabitir benedictio Summa 
@ram Numen spondet, si eiget eins Honos, 


») 3 Stobitten. 
Battifge Monattfgeif. Sb. XII. geft 1. 2 





18 Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirche. 
Sit felix Verbum Dietum, nec inane recedat 
Erigat hortetur vespuat aedificet. 


Ex Verbo sincera fides veniet, gram Vita Seqretur 
Quae Sanctam Triadem semper honore volet 





Qeilibet et Videat quac sint vestigia vera 
Qrae eueli qraerens Gandia qrisque premat 





Sit felie Doctor, felix Auditor et Omnis 
Limina qei Templi, calcat arente pede 

Introitus felix, sit felix exitus. Adsit 
Lumine perpetwö, Gratia Diva Pix. 


Sit Templi custos, sit murus sitqne columma 
Fortis, ne templum Divnat ipse Deus. 





Hie habito, color hie precibus constanter aularor 
Afflicto praesens lie erit auilium. 


Huc dient Flamen Sanetum, qrod corda priorum 
Tncolit, »! Satanae tela nefanda cadant, 


Vos autem Qei nune hoc temıpore Vinitis, atqne 
Viuetis posthac, Sacrificate Deo, 





Snerificate Deo, gratesque, praccesque, filemque 
Hue tristis fugias hne fugitote pi. 





GreX beneDIEIVs ort ct vIte WIbVta TehoVar 
AEDes Largltor qVaegVe beata De 








An Studenten hatt man diesesmahl M. Johan Christof Ha 
SS Theolz et Philos: Stel: Kolenkowij, SS Th. et Phil, 
imidt I. I. Stud: Adams Güdde, SS. Th. Stud: Johan Friedrich Her- 
mann, 8. 8. The: Shudiosus. Cristisu Gertner I. I. Stndiosus. N. Didriei 
L. I. Stud: 











Der lieben. Posteriti 





mit: nochmaligem Hertslichem. anerwunsch 


altes selbst Verlangtem wolseins zum wollmeinendem andenken Dieses anf: 


et 


gesetzet mit eigner Handt in Diesem Kuapf gele 








Georg Christaffer Tiere jetzieger Zeit Dieser Doblenschen 


Christl, Rirchen Vorsteher mppri 





1.8 











Cristoph Georg von Offenberg 
hierbei mit anıwessendt, Mppria. 





Zur Gejcichte der Doblenjcen Kirche. 19 


Auf der Nüdfeite des Pergaments befindet fi) oben noch 
folgender Zufap: 


„Noch zum andenken aufgesetzet dass an Doblen Bürgerlichen 
staudes Leute gewonet haben alss der Ehrbare Lndolff Filke, Friedrich 
Sale schneider, Johann Graff gürtiniver, Johan Bekhusen. Inttmacher, 

joftfried Weiss Balbire man schneider, Gerhard Smollian 
en iter, Elhardt rd Meister, Ewerdt Muldau 
Schuster, Anna Sophia Helwich Michel Kine Wittiche Balbiri 
‚Andress Teiesen seine nachgelasene Wittiebe Polsthalterin, Saphin 
lian Seel. Orginisten Horn seine Wittieb 
























cn Nr. 7 des Kurländiicen Provinzialblattes') vom Jahre 
1510 auf Seite 37 it obige Urkunde bereits abgedrudt [aber 
ziemtich mobernifirt| unter dem Titel „Anhalt einer Pergamentrolle 
von 1696 aus dem Thurmfnopf der Doblenihen Kirche.“ Am 
Abdruc it aber das Iateiniiche Gedicht wennelafien worden. Was 
dus_Lriginal_betri fo_beiteht 05 aus einem Pergament-Vlatt_von 
21°/, Zoll xhl. Höhe und 21° Zoll Breite. Wann _dajjelbe_an’s 
Diufeum gefommen it, fonnte bis jegt noch nicht ermittelt werben, 
jedenfalls fann es nicht vor 1518 und nicht mac 1856 ge 
fchehen fein, denn im I. 1818 wurde das Wiujeum erjt gegründet 
und im. 1856 ijt der Bibliothekar Löwenftein geftorben, der es 
bereits in den Natalog der Urtundenfanmlung eingeihrieben hat, 
worin es unter Nr. OT. Zac 32 fteht.) 



































* 


Der im Nahre 1696 erbaute „schöne, pie“ fteinerne Thum 
ward fait 100 Jahr fpäter (1788 den 15. Eeptember, 5 Uhr 
Abends), wenigitens in feinen Holztheilen durd) einen Blig in Brand 
aeftecht und zerjtört. Cine Notiz im großen Doblenjcen Kirchen 
buch (p- 1) berichtet, da; damals nicht allein das Innere des 
Thurmes ganz ausbrannte, fondern auch das Trael-Chor mit dem 
Bofitiv; das Geftühl und die Bänke wurden durd unvernünftigen 
Eifer zu retten ausgeriffen und zer Die Goden fürzten herab 

















efretür Di 
3 (geb. 1 


' 
Kurt, Sonfitocinms und Infpeltor d 


erauögegeben von I. ©. M. Fr. W. Gyarnen 
Mianjchen Schul 











20 Zur Gefcichte der Toblenfehen Kirche. 





und zerteiimmerten. Im 2. Yahre danad) (1790) wurde unter 
Keitung des Nirchenverftehers vd. Vietinghoff, Erbherr der Groß; 
Berfenfchen Güter, ber Thurm wieder ausgebaut und erhielt die 
jest mod) ftehende, ftumpfe Vedadhung; ebenfo wurde aud das _ 
Schiff der Kirche und die Kanzel wieder hergeftellt. 

Bei diejer Gelegenheit wurde ein Schriftitüct in die Nanzel 
hineingelegt, welches der Werferfiger der Kanzel Diedrich Andr. 
Müller abgefaht Hatte und welches im Jahre 1864 gefunden much, 
als man eine neue Kanzel baute: das beredte Zeugnih frommer, 
ehrüftlicher Gefinnung lautet folgendermahen : 

„Da ich Endesunterfchriebener, ein Tiihler und Tijchlers 
Sohn aus Nojtod im Jahr 1790 das Glück gehabt, diefe Canzel 
zu verferfigen und aufzufegen; jo halte ich e6 für meine erite Pflicht, 
Gott für feinen gnädigen Beiftand, den er mir bey biefer Arbeit 
geichenft Hat von ganzen Herzen zu danfen, md ihn demüthigft an- 
zuflchn, dafj ex jein von biefer Ganzel gepredigtes Wort in den 
Herzen der Zuhörer hundertfältige Früchte möge bringen lafen, 
damit alle, die von diefem Lehrituhl des KHerren Etimme hören, 
würbig werden mögen an der Eeligfeit Theilgunchmen. die uns 
Jefus Chriftus unfer Hochgelobter Erlöfer, jo teuer ermorben Hat. 
Der aebige adlide Kirchenvorjteher, ift der Hod MWohlgebohrene 
Vietingboff, Erbherr von Grop-Berjen. 
er gesige deutfche HE. Paltor bey diefem Haufe Gottes 
nennt fih Chriftopher David Difton. 

Der lettiiche HE. Paltor bei diefer Kirche ift der Herr Ma- 
David Kflugradt. 

Der gesige HE. Drganift nennt fi Grünert md her 
dentjche er heißt Grünberg. 

Die drey Witwen in dem Doblenjchen Wittwenhaufe, in 
welchem id) diefe Ganzel verfertigt habe, heihen Frau Raven, 
Frau Aten und Frau Henteln. 

Und mm mein Gott, befehle ich in deine Hand mein Wobl- 
feyn und mein Leben, Mein hoffend NAuge blidt auf Dich; Dir 
will ich mich ergeben. Sen Du meyn Gott; und einft im Tod 
mein Fels, auf den id) traue, bis ich Dein Antlig jchaue. Amen. 

Doblen d. 29. Novembr. 

1790. Diedrid Andreas Müller. 























giite 





Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche. 2 


Das Original diejes Schriftftüds ift 1864 in die damals neu 
erbaute Mangel nebit einem zweiten Dofument wieder Hincingelegt. 

Der Erbherr der Potfaifenihen Güter, von Saden, jchenkte 
1790 eine Kleine Glode und aus den zertrümmerten Gloden und 
den metallenen Kronleuchtern wurden bis 1791 zwei neue Gloden 
gegofien. 

Nachgebolt muß; werben, baf; im Jahre 1745, wie after 
David Pilugradt im fleinen alten Kirdenbuch berichtet, „vom hoch: 
Gönner das Chor an der Kirchen repariert”. Der Bericht 
fährt fort: „da dann zugleid) ein Gewölbe vor die deutfche Prediger 
auf meine Bitte ift verfertigt worden. Die in der Stelle des Ge 
wölbes verjenft gewefenen Gebeine meiner feel. Herren Antecefforen 
habe fammeln und in einem dazu verfertigten Staften dafelbit ver: 
jenfen laffen. Bei dem Eingang in das Gewölbe habe ein bejons 
deres Vehältnis zu den Anedyen, unter dem Altar, machen laffen ; 
wenn id) nad) Gottes Willen in Doblen fterben follte, jo bitte id) 
mit herzliem Segenswunid, meine Herren Succejlores, wenn mein 
Sarg vermodert ift, meine Gebeine in das Knochengewölbgen unter 
dem Altar legen zu lafjen.“ 

In den Jahren nad) 1818 ijt Verichiedenes an der Kirche 
gebeffert und verichänert (of. das große Kirdenbuch p. 1). Im 
Jahre 1818 wurde durch den Nrons-Kirchen:Vorftcher Hauptmann 
Baron Medem das Altar-Chor repariert, der Altar umgebaut und 
mit Säulen verziert (devem Zwed vom fünftleriihen Standpunft 
aus nicht zu erjehen it). Nach vollendeten YBau jchenkte der 
Mitaujche Zeichenfehrer Coll..Sehr. Vinfelde eine von ihm gemalte 
„Himmelfahrt Jen Chrifti”. Im Jahre 1824 veparierten die „Doch: 
wohlgebornen Einfafien“ des Sirhfpiels den Thurm und das Dad) 
der Kirche und liefen das Innere und Aeufere der Kirdhe weißen, 
das Geftühl und die Kanzel mit Oelfarbe malen, die Orgel wieder 
in Stand fegen. Den Bau leitete der adelige Sirchen-Vorjteher Kreis: 
Marichall Jeannot von Medem auf GroßBerjen. Die Arbeiten 
führte der Zimmermeifter Lichtenberger aus. m I. 1827 wurde 
von der hohen Krone unter Leitung des Flecdenvorftchers zu Doblen 
Ewald Kupffer für die Summe von 1200 Nbl. Banco Affign. und 
bei freier Anfuhr der Materialien und bei Stellung der nöthigen 
Sandlanger das Altar-Chor der Kirche gemweißt und gedielt, der 











R 


2 Zur Gefchichte dar Doblenjchen Kirche. 


Altar neugemalt, die Sakriftei vepariert und mit einem neuen Ofen 
verfehen, das Dad) des ganzen Krons-Antheils aber umngededit. Am 
Jahre 1835 wurde die Trgel vom Drgelbauer und Organiften 
Hermann repariert und mit einem Pedale und Polaunenzuge ver 
gröfert. Im Jahre 1844 wurde die Kirche wiederum geweiht und 
wurden die Gejtühle, die Kanzel und der Alter mit hellblau und 
weißer Celfarbe gemalt und der Aftar mit einer neuen rolhen Be 
Heidung mit goldnen Trefien verziert, unter Leitung des adeligen 
Kirchen: Vorftehers Kapitain Karl von Fink von Finfenftein, Exbherr 
der Heydenfchen Güter. 

Wenn wir für die folgenden Jahre von Kleinigkeiten, die ja 
Jahr für Jahr vorkommen, abiehen, fo wäre nur folgendes Wich 
figere zu vermerfen. 

Im Jahre 1864 wurde das Innere der Kirche neu geweiht 
und das früher blaue Holzwert braun gemalt. Die fihtbaren Quer 
halten an der Oberlage wurden durch eine Gypslage verhülft, die 
Fenfter egalifict, die unebnen Seitenwände chen gemacht, eine neue 
Orgel angejchafft und die Sakriftei dur ein zweites immer ver 
gröfert; auch wurde die Kanzel durch den Tijchler Halbfaub neu 
gebaut. Das alte Minfelde'ihe Altarbild wurde damals befeitigt 
und durd ein meues auf meuem Altar erfeht, eine Copic des 
Kandaufchen Altarbildes, die Areuyigung Chriti, die Figuren des 
KHeilandes, der Maria, des Nüngers Nohannes, der Magdalena und 
des römifchen Hauptmannes harftellend. Das Triginal iit von dem 
Dialer Arnold in Berlin und die Copie von dem Maler und 
Photographen Niepert in Mitau gemalt. 

Die Reftauration der Kirche leitete damals Yaron Eduard 
von Drachenfels, Arrendebefiger von Toben. 

Dei diefer Nenovierung der Kirche wurde neben den Tifchler 
Müllerichen Si ftüct von 1790 ein neues Dokument in die neue 
Kanzel gelegt, welches die num gemachten Arbeiten beichreibt, warmen 
Dank dem Leiter des Baucs E. v. Drachenfels für die VBeweifung 
„großer Sachfenntnis” und für feine „unvergleichliche Thätigkeit“ 
ausfpricht und die damaligen Herren Nirchenvoritcher Th. v. Villen 
and Hauptmann Yaron Aler. v. Stempel, die damaligen Paftoren, 
TH. Lamıberg nebjt Adj. I. Sacranowicz (deutih), E. Vor (let), 
die Nirchendiener, Küfter GC. Grünberg (deutich), L. Bergmann 


























Zur Sefchichte der Doblenfchen Kirche. 23 


dlett.), Organiit N. Bähr, die Bauhandwerfer, Zimmermann EC. ©. 
Draude, Daurer VBehm, Tifchler A. Halblaub und Rufe, Drechsler 
Freimann und Kaufe, Maler Jsr. Arenfohn und Orgelbaner C. 
Hermann aus Libau, namhaft macht. Der Schluf; des Dokumentes 
lautet: 

„Zo wolle denn der gnädige HErr und Gott Seinen reichen 
gen zu diefem, zu Seiner Ehre und zu wahrem Fronmen der 
Gemeinde ausgeführten Werte, verleihen, Er wolle guäbiglid) geben, 
da; von der Kanzel nur Sein Wort lauter und rein gepredigt, auf 
dem Altar Seine heiligen Saeranente unverfälfcht gefpendet werben, 
und die ganze Gemeinde aus diefem heiligen Ort, ftets in rechtem 
Glauben geitärkt, immerdar veiche Frucht heimbringe in die Häufer, 
und in denjelben durch wahre Sottesfurcht beweife, daf; der Heilige 
Geift nicht vergeblich arbeite und arbeiten fafie! Amen.“ 

Doblen im Auguft 1865. 

Eben damals wurden die Gräber auf dem Plab um die 
Kirche planiert und jo die Möglichkeit zu den Tpäter gemachten Hei 
nen Anlagen geichafft. Cs blieben nur noch die Gräber der Difton- 
ichen und Nichterfchen Prediger zu weiterer Bilege erhalten. Das 
auf der Züboftede des Nirdenplages befindliche obelisfenartige 
Privat: Grabgewölbe der Familie Wulf (im Naudittenichen Gefinde 
Lemnkin fehhaft) wurde einige Jahre darnad) von den Befigern der 
Kirche geichenft und wird feitdem für ben Flecten Doblen als Leichen: 
bäuschen benugt. 

Im Jahre 1874 mufte die ganze Diele des Altarchero er- 
neuert werden, weil der Schwamm fi eingefunden hatte. 

Im Jahr 1877 fehlug ein Falter Blip in den Turm, zer- 
ihhmetterte einen Dadjiparren und fuhr amı Thum bis in die Erde 
herab, nachdem er an der Thurmfante einige Dial durch die zufanmen- 
toßenden Wände gefahren war, ohne einen nennenswerten Schaden 
zu verurfachen. 

Im Jahre 1891 wurden auf Anregung des adeligen Kirchen 
voritehere Baron E. v. Hahn auf Berfemünde 2 eiferne Teen in 
die Kirche gefeßt. 

Im Jahre 1594 gab das herannahende +400jährige Jubiläum 
der Kirche dem deutichen Pajter Dr. A. Vielenftein Anlaf die Frage 
dem Kirdhenvorftande vorzulegen, ob nicht vielleicht dem Thum eine 

















21 Zur Gefhichte der Doblenjchen Kirche. 


Spige wieber aufgejegt werden Fönnte, wie doch eine vor Zeiten 
gewefen. Er legte zugleich zwei Pläne vor, welde der Stadt: 
arhiteft Dr. W. Neumann zu Dinaburg, der Verfaffer der (iv: 
ländifchen Kunftgefchichte, gefälliger Weife entworfen hatte. Der 
eine Plan zeigte gotischen, der andre, Nenaiffance-Stil. Dr. Neu 
mann empfahl bejonders den legtern und gab die eventuellen Bau: 
often auf ehwa 2500 R6l. an. Diefe Summe fhien aber den 
beutjchen Herren und aud) den lettijchen Genweindegliedern, fo weit 
fondirt werben Fonnte, bei den, infolge bedeutend gefunfener Getreide: 
greife, fehweren Zeiten zu groß, um augenblidfich aufgebracht werden 
zu önnen. So mußte der Pan, den Schmud einer Thurmfpige 
dem Gotteshaufe, dem Fledten Doblen und dem Kixchjpiel zu ichaffen, 
auf beifere Jahre verjchoben werden und «8 ermwirkte im Sommer 
1895 der adlige Kirchenvorftcher Baron Hahn mit dem Krons 
Kirchenvorjteher, Kreis-Marichall Baron Hahı-Platon in dankens- 
werther Weife wenigitens eine Nenovierung des Nicchen-Annern, vo 
denn unter Nath-Einholung von Dr. W. Neumann, welder jett die 
Nejtauration des Nigafchen Domes leitet, Wände und Oberlage 
gelblich weiß getündht und die Geftühle, die Orgelempore nebit der 
Orgel, das Altargeländer und die Fenfter u. f. w. in dunkler Eichenholz- 
farbe gemalt wurden. Gleichzeitig veftaurierte Siegfried Vielenftein 
aus der Kunftfchule zu Weimar, Sohn des deutichen Paltors, das 
von Dradjenfels'iche Epitaphium neben der Sakrifteithür nad) den 
urfprünglichen Farben und Vergoldungen, wie aud) das hölzerne 
Taufbeenpoftament (4 Engel daritellend) und den neben dem Stüjter: 
ftuhl an der Wand ftehenden (10° had und fait eben jo breit) 
Grabftein der Frau Anna Dorothea von Noskull, verwittiveten von 
Diebem, geb. von Tiefenhaufen, Exbfrau auf Heyden, Enfelin des 
Detlof von Plate auf Heyden, welcher im 16. Nahch. vor und nad) 
der Neformation anfehnliche Schenkungen zum Bau der Doblenfchen 
Kirche gemacht hatte. 

Diefer Grabftein war auf Anregung des Yaron Otto von 
Alopmann auf Heyden (im Jahre 1891) aus der Thorhalle dahin 
verfeßt worden, um ihn vor der Zeritörung dur die Näder des 
Leichemwagens zu retten. 

Das Dracpenfels’ihe Epitaphium verdient eine nähere Bes 
Tchreibung. Es jtellt ein etwa 10 Fuß hohes arditeftonifches Gebilde 





















Zur Gejchichte ber Doblenfchen Nirche. 2» 


dar, gemeifielt aus Bremer Sandftein, und hat drei Haupttheile : 
a der Mitte befindet fi zwifchen zwei Säulen, über denen ein 
Architrav ruht, die ichwarze Tafel mit der Hanptinfchrift in gofdnen 
Ketten. Nechts und links von diefen Säulen ficht man je 4 Wappen 
der Ahnen des Nhilipp von Drachenfels, fllanfiert von je einer 
le, welche nebit den Fortiegungen des NArdhitravs hinter den 
Nittelban etmas zurüchpringen und an dem obern Ende eine männ- 
liche und eine weibliche Garyatide haben. Nechts und linfs von den 
Stelen läuft das Gritaphium in Stein-Arabesfen aus. Die obere 
Etage bejtcht aus einem etwas Ichmälern Aufbau; zwei iulen 
ragen einen Giebel, in welchem Fructitüce, und über weldhem zwei 
halb (iegende, halb figende Figuren angebracht find. Zifchen den 
Säulen jtellt ein Nelief die Auferftchung Jen dar. Der Heiland 
fteht mit dem Nrenz auf der Grabiteinpfatte; 4 vömiide Ariegs- 
fnechte liegen oder ftehen umher. Rechts und linfo von ben 
ficht man Arabesten mit Fruchtftücen. Das dritte, unterite 
des Epitaphiums zeigt unter der von Gonfolen getragenen Schwelle 
des ganzen Aufbaus zwei Fürzere Injchriften wieder in goldnen 
Yuchtaben auf jehwarzem Grunde, die eine in dem Naum zwifchen 
den Confolen, die andre ewas tiefer zwijchen den Verzierungen ber 
Gonfolen. Arabesten ınngeben auch diefen unteriten Theil. 

















Die drei Jnfchriften lauten: 


1. Philipprs a Drachenfels nobilis Livones, patre_nat.trs) Gealt 
hero capitanco arcis Tarresteusis in Lironia scb Magistro Thertonici ordi- 
nis Piettenhergio, matre nobili Auna ab Heringen, avo Henrico, qri ex 
anligeissima eqrestri prosapia ab arce Dracl ad Rhenem Serirm 
orirud.fo}, et deeta cr nobiti Polantorem familin conirge, inde in Ticoniamı 
migrerit, proaco Engelbert eqte (d.1. eqrite) arrato, proneia Rennenber- 
iaua, Hie Philippes in ierenili aetate aliqrot erpeditionib.fes) bellieis in 
Germania interfeit, tum qroq.ire) adeers.fus) Moschrm fortiter pro patria 
dimiverit, posten a marschaleo Livonine d,tomino) Schal a Bel capitane{us) 
Ascheradensis fach(us) @ Christi MDEX, tandem ab ilustrissino prin 
ac dd. Gothardo in Lironia, Crrlandiar et Semgalliae dnce primo arcis 
Mitoriensis, deinde Doblinensix capitane.fus), desiguat.(us), magna cas lande 
wunis aministrarit sesveplisq,fee) ca eoniege nobili Erphemia a 
Rosen fiis V, fiiab.(es) III placide in Christo obdormivit a® MDC die NIT 
Ietii actatis fere LNXX et sub hoc monemento a filis mnestissimis hono- 
Fifiee erndit. (di. eomlitun) com exore. AP MDXC die XX ıb. pie 
defonetu expeetat vesorrectionem morteorem et vitam eaelestem. 


































26 Zur Gejchichte der Toblenfchen Kirche. 


24° MDC den XII Jelii starb der Eile Munhaft end Ehrnrost 
‚Philip ron Drachenfels Ferstlicher Chorlendischer Harptmann af Doblin, 
dem Got quedich sei. 

3. 4° MDNC den NX Norembris starb die Eile viel EI 
Tegentsame Fraw Erphenia von Rosen, Philip con Drachenfels 
Havsfraw der Got gnedich sein wolle 






Aus der lateinischen Anicrift ergiebt fi, dal; die vier Wappen 
am Finfen ande derjelben die der Eltern, Großeltern und Urgroß; 
eltern des Philip v. Dradhenfelo find. Sappen der drei 
Dlönner jtcht natürlich nur einmal oben. Cs folgen der Neihe nad) 
das der Mutter (v. Heringen), das der Groimutter (v. Palant), 
das der Urgroimutter (v. Nennenberch). Die Kamiliennanen der 
drei mütterlien Ahnfrauen find in der Infchrift nicht genannt, 
Wir dürfen aus der linfen Wappenreihe jchliehen, da das zweite 
Wappen vechts („Told“) der Mutter der Cuphemia v. Trachenfels, 
das dritte („Donhof“) der Großmutter, das vierte („Brel“) der 
Urgrofpmutter gehört. Das oberite Wappen vedts iit das Nofenfche 
und gilt den drei Eheherren diefer drei Ahmfrauen. Nedeo der 
add Wappen hat den betreffenden Familiennamen unter fich. 






Die Infchrift des großen oben fen erwähnten anfrechtiichenden 
Leichenfteines it eine doppelte. Zu Häupten des Frauenbildes jteht 
der Spruch aus Pauli Philipperbrief 3, 20: 





VNSER WANDEL IST IM HIMMEL VON 
DANNEN WIR AVCH WARTEN DES HEIL 
LANDES IESV CHRISTI, DES HERRN, 
WELCHER  VNSERN  NICHTIGEN  LEIB 
VERKLEREN WIRD DASS ER EHNLICH 
WERDE SEINEM VERKLERTEN LEIBE. 








em Spruch jteht über dem Haupte der Tochter der 
Name ELISBE KOSCHKELL. Yon der darauf folgenden 
Altersangabe find nur noch 2 Yuchitaben zu jehen: eu... A.T, 
zwifchen welchen das Ti ji h 
Ueber dem Kopf des Ainaben fteht: LEVIN SICHMVMDT, 
darunter eine verwiichte Ziffer und die Worte: JAR ALT. 





Zur Gefchichte der Doblenfhen Nirche. 27 


Dieje beiden Minder ftammen ficher von Gerhard v. Rookull, 
obicon diejelben, wahrjcheinlic weil fie jung verjtorben, in den 
Tonit vorhandenen Kosfull’ichen Familiennahrichten nicht verzeichnet 
find ef. E. v. Nutenberg’s Vortrag über unjern in Nede ftchenden 
Leichenitein, gehalten im Kurt. Mufeum den 5. September 189 
Mitaujche Zeitung 1805 9 











Um den Nond des Grabiteins läuft folgende Anfchrift: 


ANNO 1648 DEN 22 MAI IST DIE 
WOLEDL RENREICHE V. TVGENTSA- 
ME FRAWE ANNA DOROTHEA VON 
TIESENHAVSEN DES WEILAND WOLEDL 
GESTREN NH. ALE JER VON 
MEDEM 8. WITTWE, HERNACH DES 
WOLEDL DES GESTRENGEN H, GER- 
HARD KOSKYL K. M. IN POLEN 
LEIBGWARDCORNE EHELICHE HVS- 
FRAWE SELIG ENTSCHLAFEN, IHRER 
SELE IST GOTT GNEDIG, IHR 
CORPER WARTET DIE FROLICHE 
AVFERSTEHVYNG ZVM EWIGEN LEBEN. 














Aufer den Anfehriften finden fic über dem Haupte der 
Mitteffiger Anna Dorothen, geb. Tiefenhaufen, das Tiefenhaufen 
iche Wappen ımd in den 4 Gen des Steines innerhalb der in 
ichriftsreiien 4 Wappenpanre, Allionzwappen, und zwar: unten 
vets (vom Bejchaner) Pledem-Nosfull, womit unzweifelhaft die 
beiden Chemänner der Anna Dorothea angedeutet find; von der 
Urnfeheift ift mur noch zu fehen: Gerhard N. Unten finfo ftehen 
die Wappen von Tiefenhaufen und Plate, das heit der Eltern der 
Anna Dorothen, Georg von Tiefenhaufen auf Berfohn und Anna 
von Pate; oben linfs die der Grofeltern väterlicherjeits, Tiefen: 








28 Zur Gefchichte der Doblenfchen Nicche. 


haufen ofen, Heinrich von Tiejenhaufen auf Berfohn und Dorothea 
von Nofen (vom der Umfchrift fieht man nur ..... Tiefenhaufen 
und Dorolhen ....); oben rechts die Wappen der Grofieltern 
mütterlicherfeits, Plate-Berg. d. i. Detlof von Plate auf Senden 
bei Doblen, den wir oben fchon öfters ermähnt haben, und Anna 
v. d. Berge. Weitere Familien-Nofizen u. j. m. finden fid in 
€. v. Rutenberg’s Mitteilungen, Mitaufcie Zeitung 1895, Nr. 77. 





5 





Shkuh; folgt.) 























Buftav Wdolph und die Audbekihe Kirhenvifitation. 






Mer 300 jährige Geburtstag Guftav Adolph’s, welden nicht nur 
Schweden, jondern die evangeliiche Welt allenthalben als 
einen bejonders fejtlihen Gedenktag zu begehen fich anfchicte, 
gab dem LVerfaffer Veranlafjung. am 5. Oftober 1894 in der chit 
ländijchen litterärifchen Gejellichaft in einem hier wiedergegebenen 
Vortrage die befonderen Beziehungen zu berühren, welche der große 
König zu Ehitland gehabt hat. Seine perjönlichen Unterhandlungen 
mit den Vertretern des Landes und der Stadt Neval betrafen vor- 
nehmlich die Aufbringung der Nriegsiteuern umd die Verbefferung 
der Landesorganijation, insbefondere der Kirche und Schule. Die 
dadurch entitandenen heimijchen Conflicte mit Guftav Adolph hat 
W. Greiffenhagen vor Zeiten in den Beiträgen der litterärifchen 
Gefellichaft (Wb. IID) einer Lichtvollen Daritellung unterzogen, wäh: 
vend die bejonderen Bemühungen des Königs um eine Sirchenorga- 
nifation und Mufbeilerung des Schulwejens, welde ih in der auf 
feine jpecielfe Intruction vom Bifchof Joh. Nudbed vorgenommenen 
Kirchenvifitation äußerten, in der Valtiihen Monatsichrift (1888) 
durd T. Chrijtiani eine eingehende und anfprechende Behandlung 
gefunden haben. Leßterer fdhöpfte den von ihm bearbeiteten Stoff 
lediglich aus Archivalien in Schweden, da ihm die Protofolle der 

ändijchen Nitterichaft nicht zu Gebote jtanden. Dur Einficht- 
nahme in dieje Protokolle ijt dem Werfaffer mun die Möglicjfeit 








30 Suftan Adolph und die Nudbediche Kirhenvilitation. 


geworben, die Chriftiani’jche Arbeit in etwas zu ergänzen. Zur Er: 
läuterung fei Folgendes noch in Kürze vorausgefcict.  Gujtan 
Adolph hatte, von Birfen unerwartet eingetroffen, jenen leisten 
Aufenthalt in Neval vom Januar bis 24. Febrmar 1626 ge 
nommen. Dieje Zeit füllten viele Verhandlungen mit der Nitter 
idhaft und Stadt wegen der Ariegscontributionen und Yandesorgani 
jation aus, die einen gereizten Charakter annahmen. Der König 
wies der Nitterfchaft gegenüber darauf hin, dab duch die vielen 
Stiege die Ordnung im Lande jerrüftet jei, dafı co einer Neorga 
nifation des Nirchenregiments, der Erhebung des Nirdhenzehnten, 
der Errichtung eines Landesconfiftoriums, einer Akademie und Schule 
aus den Einfünften der toftergüter fowie einer Verbefferung der 
Iuftizpflege und Erhöhung ver Gontributionen jeitens des Yandes 
bedürfe. Zu fepterem Vehuf verlangte er jowohl von der Nitter 
ihjaft als von der Stadt als Ausweg die Vewilligung des jog- 
Kleinen Zoll6, d. h. einer Gonfumjteuer von den zum täglichen Leben 
nöthigen Waaren und Lebensmitteln. Die Nitterichaft berief fi 
auf ihre vom König bereits früher beftätigten Privilegien und den 
dur) die Kriege bewirkten Ruin des Landes, fie verweigerte die 
Bewilligung des Nirdhenzehnten, da derfelbe bereits vor alten Zeiten 
abgelöjt worden jei, fie behauptete wegen der herrichenden Mittel 
igfeit zumächft nichts zur Aufbeiferung dev Kirchen und öfonomi 
ichen Lage der Raftoren thun zu Fönnen und ertlärte die vom König 
beantragte Ju ion für unmöglich. Mit der Greichtung 
einer Akademie und einer Schule aus dem Nloftervermögen war fic 
einverftianden, beanfpruchte jede eine ausichliehlich adliche Schule. 
Den fog. fleinen Zoll bewilligte die Nitterichaft einftweilen unter 
Vorbehalt eines Widerrufs. Lepteres Zugeftändnih; Dat wohl den 
König milder geitinmit, denn er zog der Nitterfchaft gegenüber für 
diejes Mal mildere Seiten auf und lieh die Forderung des Mirchen 
zehnten zunäcit fallen. Dagegen entbrannte fein „Zorn gegen die 
Vertreter der Stadt, an welche nur die Forderung einer Bewilligung 
des Meinen Zolls gelangt, aber als jdhädlich zurücgewiefen worden 
war. Dund) mahloje Drohungen fuchte er fie einzufdlichtern. 
Schlieilich drohte er gar, die Stadt in einen Steinbaufen zu ver 
wandeln ımd die großen Häupter aus den großen Steinhäufern zu 
enffernen. Das verfehlte feine Wirkung nicht, denn mit „häufigen 


























Suftao Moolph und die Audbedche Nirhenvifitation. 31 


Trauern“ Gewilligte die Stadt endlich den Meinen Zoll unter der 
Vebingung, da Neval vom ZSundzoll befreit bliebe. Damit jcheinen 
die Gonflicte mit der Stadt erledigt geweien zu fein, während jie 
ih mit der Nitterichaft in der Folge um jo jdärfer erneuten. 

Der um das Wohl der Lutherichen Kirche jo eifrig bemühte 
fürit Fomnte fh bei dem verwahrloften Zuftande der Kirde in 
Ehjtland nicht beruhigen, jondern jdhicte, da die Sirhen: und 
Shulirage unter Mnderm offen geblieben war, im folgenden Nahre 
(1627) den Bifhof Johann Nubbek mit einer Cuite nad) Neval, 
um zunächit in Chftland, dann aber in Liv und ngermannland 
eine Lifitation und Neform der Kirche vorzunehmen. Der 
Mönig Hatte zu biefem Zwed „den erften Mann der fehmedijcdhen 
Kirche” erwählt und ihm eine lange jcriftlihe Initruction mit 
gegeben. Laut derjelben jollte Nudbet die Nirhenverfaflung. die 
wirthfehaftliche Lage der Kirchen und Pajteren, den Vildungsgrad 
und die Sitten der fegteren und den Zuftand der Schulen erfunden, 
die Abjtellung aller Vlängel erörtern und danad) jeine Wafsegeln 
treffen. Insbejondere follte er nad) Uebereinkunft mit geiftlichen 
und weltlichen Perjonen die Einnahmen der einzelnen Kirchen und 
Schulen feitfegen und die Unterhaltsmittel beichaffen, die Wieder 
einführung des Sirchenzehnten bewirken, den Bejtand md die Cb 
fiegenhetten ber höhern Geiftlichfeit feititellen und die Errichtung 
eines Eonfiltoriums zu Wege bringen, endlic) follte er banad) eine 
der jehwedifchen entlehnte, den örtlichen Nerhäftnifien angepahite 
Nirhenordnung abjafien und einführen, für geeignete Geiftliche 
jorgen und firdlice Streitjaden entjcheiden. Cine Remedur der 
gefaßten Bejchlüfie hatte fi der Nönig vorböhalten. Der Mit 
wirkung der Sandesvertretung, der Yandräthe, geichah nur in einem 
vom Unterhalt der höhern Geiftlichteit handelnden Punkte der In 
ftruction Erwähnung. Die Machtvolltommenheit, die der Vichof 
durch lettere erhalten Hatte, war mithin jehr groß. Da er, der 
gelehrte, Hochbegabte Mann, der in Schweden als Kifitater und 
Neformator der Kirche Großes geleiftet hatte, bier zumächft nenig 
ausrichtete, lag einerfeits an jeinem hochmütbigen, jdroffen, ja 
groben Wejen, dem jeves feinere politiiche Tadtgefühl abging, 
andrerjeits an feiner Unfenntnif der örtlichen Verhältnife, die er 
mandjmal übrigens aud nur als Dedmantel der Nüchjichtolofigfeit 




















32 Guftno Mpolph und die Rubbeehicie Kirchenvifitation. 


zur Schau trug. Schien er doch nicht einmal zu willen, dafı in 
Neval jehon feit langer Zeit ein Confiftorium und ein Superintendent 
erüftieten. Ebenfo wenig war ihm befannt, daf; in Neval fen die 
furländifche Kirchenordnung galt. Die ihm mitgetheilten firchlichen 
Privilegien der Stadt cbenjo wie das Gonfiftorium ignorirte er, 
jo dafı die Stabtgeiftlichfeit mit Ausnahme eines Mals die von 
Nudbert ausgejchriebene große Provinzialfpnade gar nicht befuchte und 
bie Lifitation nur zu einem erbitterten Schriftwecfel führte, für die 
Stadtlichen aber ohne irgend welchen Belang. blieb. 

Am 30. Juli 1627 Hatte der Vijchof jene große Spnode 
ausgefchricben, zu welcher er ohne Autorifation auch die Rajtoren 
des chjnifchen Livlands aufforderte. Die eitivten Pajtoren und 
Lehrer jollten bei Vermeidung von Strafe ericeinen und erftere 
aufer allerhand chriftlihen Ausfünften über Paftoratsfundationen, 
Ordination, Lebenswandel u. j. w. auch mindejtens 4 Yauern aus 
jedem Stirchfpiele zur Befragung mitnehmen. Während der Synode, 
die bis zum 26. Auguft dauerte, wurden täglich in der Domtirche 
Predigten und namentlich Probepredigten von Paitoren gehalten, 
weldje dadurch ihre amtliche Betätigung vom Biichof erlangen 
wollten. Seinem Willen gemäß beihloh die Synode unter Gon- 
ftatirung verfchiebener Uebeljtände des Kirchenwejens, daß der Nirdhen- 
sehnte wieder zur Zahlung gelangen jolle, da die Paftorate und 
Küfterwibmen mit einem gewiljen Minimum an Land und Ein 
fünften zu verfehen feien, dal; Kirdenräthe und ein Gonfiitorium 
jowie 4 Pröpite einzufegen, alljährlich Synoden abzuhalten und nur 
ftudierte Theologen als Paltoren anzuftellen fein und die Disciplin 
unter den Gemeindegliedern gefchärft werden folle. Alles diefes 
war vorbehältlich einer Nemedur jeitens des Königs feitgefegt worden 
und fonnte fhon deshalb Fein allendlicher Bejgyluß fein, weil es fich 
dabei um Bewilligung des Zchnten und anderer Firhlichen Funde: 
tionen handelte, die nur die Nitterfchaft machen fonnte. 

Bei Einziehung der Ausfünfte Hatte fich der Vifchof bis dahin 
nur an die Angaben der einberufenen Pajtoren und Bauern gehalten, 
er hatte auch zuwider dem Patronatsredht der Gutsbefiter von fidh 
aus Sandpaftoren ab- und eingefegt, in Sadıen der Geldbewilli 
gungen und Fundationen fonnte er aber in Feiner Weije die Mit- 








Suftan Adolph und die Nudbediche Kirhenvifitation. 





wirfung der Nitterichaft umgehen und veranlafte daher die Berufung 
eines Yandlages auf den 18. September 1627. 
Die Verfammlung fand auf der Landjtube im Michaclistlofter 
ftatt. Am Tifche fah Viihof Nudber mit dem Gouverneur und 
feinen Commitjären, die verfammelte Nitterihaft, aud) der Nitter 
iaftshauptmann ftanden. Nachdem der Bifchof eine fchmebifche 
Nede gehalten und feine „Propofition” auf jchwediich vorgelejen 
worden war, bat die Nitterichaft fich Iehtere auf deutih aus, was 
Kudbed verweigerte mit dem Bedeuten, dai; fie biefes wohl aud) 
veritehen mühten, da jie die Donationsbriefe auf jAhwediich verjtehen 
önnten. Nach einem höflichen Abichiede veriprad die Nitterfchaft 
die biihöfliche Propofition, die ihr jehriftfich übergeben werden follte, 
aud jhriftlich zu beantworten, was unterm 3. Oktober geichah. 
Shritiani bedauert in feinem erwähnten Muflage, dat; Towohl 
die Propofition des’Bifcofs als auch die Antwort der Nitterichaft 
verloren gegangen und nur die darauf folgende Neplit des erjteren 
und die Dupfif der Nitterfchaft erhalten jeien. Die Antwort der 
Nitterfchaft, aus welcher fi) aud) die Propofitionen des Bifchofs 
entnehmen faffen, enthalten num die vom Werfajfer eingefehenen 
Nitterichaftsprotocolle"), welche überhaupt über die Verhandlungen 
und Beichlüffe der von Nudbedt einberufenen Synode und die Ver- 
bandlungen mit der Niterfchaft mande Details geben. Co erfährt 
man aus ihnen, daf; bie Nitterichaft, nachdem der Bifhof die Aus: 
fertigung einer deujchen Ueberfegung feiner Propofitionen verweigert?) 
hatte, jelbit eine Ueberjegung anfertigen faffen wollte. Um nicht zu 
viel Zeit damit zu verlieren, wurde indeijen fpäter dem Nitterfchafts 
iceretair aufgetragen, beim Bifchof, welchem der deutfchen Sprache 
fundige Leute zu Gebote ftanden, die Bitte zu wiederholen. Nub: 
bed jehlug jedod) das Gefud) mit folgendem groben Beiheide ab: 
„Unterthanen gebühre 65, ih nad) ihrem Herrn zu accomodiren und 
nicht das Gegenfpiel zu tun; hätten Yandräthe und Nitterichaft in 




















die vom Landratd 3. v. Samfon zufanme 
Protoeoltonszüge im Ntterfchaftsardhiv. Die Aufmerkiamteit des Verfafiers 
jenfte onf Diefelben Mi vretair $. Yaron Toll, 

3 Die Nitterfchaft Hatte fich Daranf berufen, dafı mm wenige dan ihren 
Angehörigen jchtwediich vertänden und jowohl die Commifläre als aud) der 
König feibit mit ihnen deutich verhandelten. 

Dattifde Wonarsigrift. U. KL. Ya. 3 





efteltten ausführlichen 

















34 Guftao Aolph und die Nubbeeffche Airchenvifitation. 


der Jugend nichts gelernt, fo follten fie es im Alter noch thun, fie 
wären nicht zu alt dazu; fie fuchten hierunter ihre jonderliche Hoheit, 
refpechieten die fniglien Herren Gommifjäre nicht, fie wären unver- 
ftändige Leute, bezeigten ih wie Tyrannen wider ihre Unterthanen, 
fie Hielten ihre Hunde beifer als ihre Vauerfhaft, wollten nichts 
zu Gottes Ehre geben, nähmen 9 Theile und liefen ihren Yauern 
den zehnten und fünnten daher Fein Gedeihen haben.“ — Der 
Nittericpaftsjeeretair erwiderte dagegen, daß dem Bijchof die Be 
ichaffenheit des Landes unbefannt und er von übelgefinnten Leuten 
faljch unterrichtet worden fei und daf; ev, der Zerretaiv, der Ritter: 
ihaft die Cahımmnien, weldhe fie nicht auf fid figen laffen werde, 
pflichtgemäß anzeigen müjfe. 

In der erwähnten Antwort beichwert fi die Nitterfdhaft zur 
nädjjt darüber, da der Vijchof nad) Zufammenberufung der Prieiter: 
Ähaft, ohne die Landräthe zu Nathe zu ziehen,” allein die Berichte 
der Prediger berüdjichtigt. Loptere hätten fih nicht an die Wahr: 
heit gehalten und die Nitterichaft falich beichuldigt. Ferner habe 
der Vifchof das Patronatsrecht der Nitteridaft verlegt, indem er 
Sandpriefter eingefegt ohne deren vorgängige Präfentation vor den 
Patronen. Gegen nachitehende, in den Propofitionen des Biidofs 
erhobene Bejhuldigungen und Ausitellungen richtet fih die Antwort 
der Nitterfhaft in Kürze folgendermafen: 

1) Daf; wenig Gotteshäufer im Lande vorhanden, in welden 
Gotteswort gepredigt werde, und daf die vorhandenen theils wülte 
und öde, teils ganz verfallen feien: Wenn auch nicht wenig Nirchen 
im Lande jeien, die nicht nach Nothdurjt verjorget, jo möge bad) 
der Biichof bedenfen, wie ehr das Land durd Kriege vermwütet 
worden und die dritcendjte Armuth herriche, weshalb es unmöglich 
fei, Alles wieder in den vorigen Stand zu feen. Sobald das 
Land bei dem nunmehr eingetretenen Frieden wieder emporfomme, 
werde man aud) für die Kirche chvas tun Fönnen. 

2) Dad die Kirchfpiele nicht überall mit tüchtigen und gelehrten 
Prebigern verfehen, — daran fei mehr die angedeutete Lage des 
Landes als die Mitterjchaft jehuld. 

3) Dafı die Priefterihaft unterdrüdt und in Ermangelung 
eines Hauptes unter die Fühe getreten werde, — diefe Vejhuldigung 
jei unbegründet, denn die Prediger würden, — obgleich mehr ihres 



















Suftan Adolph und hie Audbediche Nirchenvifitation. 35 


tragenden hohen Amts als QTüchtigfeit ihrer Perfonen wegen, — 
in allem billigen Nejpect und Ehren gehalten. 

4) Daf; die Priejter nicht gehörig verforgt, — fei gleichfalls 
unbegründet, denn ihre Einkünfte könnten nicht als fchlechte Almojen 
angefchen werden, wenn mancher Prediger 3 bis 8 Lat Storn und 
mehr verführe, was mander Junker nicht vermöge. 

5) „Da; die Landeseingefeffenen ein foldh grob, unvernünftig 
Leben mit Verachtung Gottes Worts und der heil. Sacramente, 
mit Abgötterei und Gögendienfte, mit Hurerei und Leichtfertigfeit, 
wie in der Propofition gejegt, führen jollen,” — das zögen fi) 
die Landräthe und Aitterfcaft, — obgleih fie feine Götter und 
Engel jeien und manche Fehle und Gebrechen hätten, — „nicht allein 
hoc zu Semüthe, fondern halten e8 für einen revel, daß biefer 
weitberühimten Provinz Kinder und Gingejeffene für folde gottlofe, 
heidniihe und leichtfertige Leute und Maleficianten durch böfen und 
umvahrhaften Bericht bei I. K. Maj. als ihrer chriftlichen Hohen 
Tbrigfeit oder aud) fonft in der Melt jollten ausgejegt und gehalten 
werden.” Die Schuldigen mühten genannt und die verläumberifchen 
Berichte nicht Hinausgetragen werden. 

6) Daß feine beftimmte Kirchenordnung befolgt werde, dagegen 
fei zu erwidern, daf; die Landesfirchenordnung nad) der Nevaljchen 
abgefaft jei, an welder die Nitterichaft nichts auszufegen habe. 
Bor Einjegung der Priefter müßten diefelben fd fdriftlich rever- 
firen, fich nad) diefer Ordnung zu halten. 

Weiter heiftt 6 mit Veziehung auf eine unterm 1. Oftober 
1627 vom Biichof erlafjene bejondere Propofition, durch welche er 
bei der Nitterfchaft antrug, die Yauern an Feittagen mit Arbeit 
zu verfchonen und ihnen die Freizügigkeit zu geben: 

7) „Da; aber diefe Vauerfehaft dienftbar und eplicher mafen 
leibeigen, ift nicht unfere Schuld oder derer, die diejes Vaterland 
vor jo viel 100 Jahren mit dem Schwerte (erobert) und von der 
Heidenfchaft zum Ghriftentjum gebracht, befonder ihrer jelbft eigenen 
böfen Untreu und Natur, in welcher von Anfang ihre Vorväter und 
nod) fie anigo fteden, beizumefjen, wie joldes nicht allein die 
vien, fondern auch das gefährliche Werk, welches wir nad) zu unferen 
‚Zeiten erfebet, verurjachet. Wundert aud den Herren Landrätben 
und der Nitterfchaft nicht, dafı der Herr Wifchof als ein Fremder, 


















36 Gufteo Noolph und die Rubbedfche Kirdhenvifitation. 


dem diefe Nation unbekannt, einer folden Opinion fein mag, weiten 
fait die Vornehmften des Neiches Schweden, jo allhier im Lande 
begütert, gänzlich folder Meinung gewejen, nachdem fie aber der 
Leute Natur innen worden, haben fie müflen befennen, da die 
Nation durch feinen andern Weg zu regieren, derowegen auch ihren 
Verwaltern Hinterlajfen, daf fie nicht anders als nad) alter Gewohn: 
heit fie halten und regieren follen,“ — zu gefdhweigen des denk: 
würdigen Umftandes, da als König Johann und der Polen stönig 
Stephan nad) Eroberung des Landes von den Moskowitern, — 
„mit der Bauernchaft in diefen Landen eine andere Ordnung faffen 
und publiciren wollten, fie jelber (die Vauern) aus allen Landes: 
orten an G. K. Maj. nad) Neval und Niga die Ihrigen abgefertigt 
und mit gewijien rationibus fie bei altem Braud) gnädigit zu er- 
halten fowohl fhrift: als mündlich durch unterjchiebliche Fuhfälle 
unterthänigit angehalten und gebeten haben.“ — Der Vorwurf, dak 
die Nitterichaft die Yauern durch Arbeit von dem Kircenbeiud) ab 
halte, jei faljch, da fie im Gegentheil biefelben zum Gotteswort 
anhielte. 

8) Dah man untüchtige Prediger anitelle, Feine gelehrten 
Schulen im Lande Habe und der chjtnijhen Spradıe unfundige 
‘Perfonen zu Predigern verordne, feien Uebeljtände, deren Abichaffung 
man jehnlichft wünfche. Die langwierigen Kriege hätten viel ge- 
ichadet; man Habe fh in Ermangelung einheimifcher mit Fremden 
behelfen müflen, doch ftände zu hoffen, daf; jest mehrere Landsleute 
aus Deutjchland zurückkehren, die tauglich zum Sredigtamt jeien. 

„Es wünjchen audı die Yandräthe und gemeine Nitterichait. dah 
diejenigen, fo der Herr Viihof an die Stelle gefegt, mehr denn 
die vorigen zum Miniiterio dienlich fein möchten; «8 ift aber nicht 
unbefannt, daß vielleicht egliche ordinivet, die man an die Land: 
ficchen zu vociren vielleicht Bedenken Haben möchte.“ 

9) Endfid) wendet fh die Nitterichaft gegen den Vorwurf, 
dah; die Unjadhe alles Verderbs des Mirchenregiments die fei, dal 
„man den Zehnten, auch andere geiitliche Güter, welche zum Aufent 
halt des Priefteramts, der Kirchen und Ecjulen vormalen ge 
ftiftet, aus unmähigem Geiz und zur Anveizung Gottes gerechten 
gorns zu fh gezogen,” — wogegen von den Gommiljairen als 
beites Mittel zur Beflerung des Nirchenwejens und Erhaltung eines 











Suftao Avolph und die Nudhedjche Nirhenvifitation. 37 


Confiftoriums und der Schulen die Wiedereinführung des Kirchen: 
zehnten, der jchon in der Bibel angeordnet und immer und überall 
zu Nirchengweden beftimmt jei, vorgeichlagen worden. Die Nitter- 
ichoft ermidere dagegen, fie fähe nichts lieber, alo ba Kirchen und 
Echulen, jene vornehme Säulen der menjchlichen Wohlfahrt, in 
gutem Stande fein, man möge aber ihre Unvermögenheit und 
Armuth berüdjihtigen. Die Noftergüter (Nuimep und Nappel) feien 
zwar durd) des Rönigs Gnade zum Unterhalt der Schulen beftimmt, 
fie jeien aber durch die Kriege jo heruntergefommen, daf; fie augen: 
Hlicfich nicht dazu hinreichten, außerdem mühten die Moitergebäude 
teparirterden und bie Stlofterjungfrauen ihren jährtichenUInterhalt daraus 
empfangen. Gegen Wiedereinführung des Nirchenzehnten, den fchon 
das neue Tejtament aufgehoben, proteftire die Nitterfceft. Wenn 
augenblidlid) einige Prediger Mangel litten, fo feien die Ariegs- 
zeiten daran fchuld und die Seiftlichen könnten es nicht bejler haben 
als der Adel jelbit, außerdem wolle man dem abzuhelfen fuchen 
durch andere zwemäßige Vettel. Ihre Vorfahren hätten fi und 
ihre Nachfommen von dem Zehnten rehtmähig befreit") umd fönnten 
fie jegt nicht darin willigen. Zu katholiicher Zeit Hätten die Kirchen 
ihr beftimmtes Patrimonium und ftattliche Landgüter gehabt, wovon 
Sicher und Confiitorialen veichliden Unterhalt geneffen, bei der 
Unterwerfung unter Schweden feien aber diefe Güter von dem Nö- 
mige verdienten Perjonen gejchenft worden und fönne man jegt in 
Ermanglung diefer Güter den Zehnten nicht wieder einf 
Uebrigens fei der Zuftand des Landes fo, dab die Durchführung 
diefer Mafregel den gänzlichen Nuin des Adels und der Bauerichaft 
verurjachen würde, Denn wenn der Bauer aufer dem Zchnien, 
welchen er „als Hecht und Gebühr, wie in aller Welt gebräuchlich, 
zuwörberit feiner Herrichaft entrichte, noch dem Priefter den Zehnten 
geben und mit der Seinigen zur Peibesfleidung und Nothburft der 
Wirthähaft fh unterhalten und daneben die Saat des Fünftigen 
Jahres bewahren folle, jo mühe er untergehen und verderben oder 
das ganze and verlaufen.” Wolle man aber die Cinnahme des 
Zehnten zum Theil dem Abel entziehen, der in den Nriegsgeiten 

















>)CL. Archiv für die Gerchichte Ehft-, Civ- ud Kurtands 1. Folge. 
31. 11. ©. 275 (Cendlorn und Kirchenzehnte). 





38 Guftan Avolph und die Nudbeefjche Ritchenvifitation. 


fhhon jo fehr gelitten, fo da das Yand gröftenigeils verpfändet und 
die Leute (Bauern), von denen vormals alle Büjche voll gewejen, 
bis auf die Hälfte gejchwunden feien, jo werde der Adel ganz zer- 
rütel werben und der Nönig wenig Nugen fowohl vom Kohpienit 
als aud; von andern Dienjten haben. 

Die darauf folgende Neplif des Bifchofs vom 4. Oftober und 
die Dupfit der Nitterichaft vom 9. Oftober, welche auch in den 
Nitterichaftsprotofollen vorhanden find, giebt Ghriftiani in feinem 
erwähnten Auffate inhaltlich nach den fchweiichen Archivatien wieber. 
Des AZufammenhanges wegen feien fie hier furz veferirt. Der 
Bifhof proponirte der Nitterihaft, daf; die Mdlichen behufs Cr- 
mittelung der Wahrheit ihre Paitoren mit je 4 6 Vauern aus 
jedem Kirchipiel binnen 6—7 Tagen nad) Neval zur Befragung 
fordern und schriftliche Beweife ihrer Patronatsrechte und Befigrechte 
wegen ehemaliger Nirchenfiegenfchaften beibringen follten. Da die 
Nitterfchaft Feine Mittel vorzuichlagen wihie und den Zehnten und 
die Vefreiung der Bauern verweigere, jo proponire er zum Peften 
der Nürche den I1. ober 9. Theil der Ginfünfte der Bauern zu 
erheben, fo dafı dem Edelmann der zehnte und dem Yauern S oder 
9 Theile verblieben. Die Ehiten jeien von Natur nicht ärger als 
andere Völfer, jondern nur durch die Sclaverei verderben. Im 
ebrigen erbot fid) der Bifchof zu weiteren Yerhandlungen. In 
ihrer Duplif erklärte die Nitterfhaft die nochmalige Einberufung 
der Prediger für ein Unding. Die Edelleute feien fehon lange in 
der Stabt aufgehalten worden und mühten wegen der drohenden 
Kriegsgefahr die Stadt verlajjen. Hätte der Bifhof die Nitterichaft 
gleich hinzugejogen und die Nirdhfpielsjunfer mit den Prieftern con: 
frontirt oder aber im Beifein der erjteren die Kirdhipielsvifitationen 
vorgenommen, wie folches früher geidhehen, fo wäre etwas Nützliches 
berausgefommen. Dann hätte € aud) nicht geichehen fönnen, dal; 
der Vifhof einen öffentlich infanirten Priefter aus Unfenntnih zum 
Propft eingefebt. -— Gegen den Zehnten proteitirte die Nitterichaft, 
ebenfo gegen Antaftung des Patronatsrechts, das fie zu begründen 
fuchte, und behielt fid) endlich die weiteren Schritte wegen der ihr 
vom Vifchof zugefügten Beleidigungen vor. — Nach) einer jchrift 
lichen Schlufwerdandlung, die zu nichts führte, verliehen die Glieder 
der Nitterfchaft wegen der von Polen drohenden Striegegefaht eilig 

















Guten Adolph und die Aubbediche Nirhenvifitation. 39 


die Stadt und auch der Biichof fhiffte fid) bereits am 15. Oftober 
mit feinem Gefolge nadı Schweden ein. Das unmittelbare Nefultat 
diefer mit jo vielem Geräufc) infeenirten Xifitation war ein fehr 
geringes. Cs beichränfte fi) für das Land auf die Erjepung 
mancher untauglichen Prediger dureh beffere, auf zeitweilige Einführung 
der fehwediichen Stirchenordnung. auf Erlaf einer Zynodal- und 
Kijitationsordnung und eine neue Didcejaneintheilung in 6 Propiteien. 
Für die Stadt Neval war fie ganz rejultatlos. 

Ein Nacipiel hatte die Audbek'ihe Kirchenvifitation im Jahre 
1629, wovon die vitterichaftlichen Protofolle berichten. Jın Februar 
des Jahres fertigte die chitländifce Nitterfhaft eine Deputation 
an den Mönig nach Stodholm ab, welche folgende Aufträge in 
irchenangelegeneiten erhielt: 1) Dem Nönige für die Anordung 
der Wifitation zu danfen, 2) ihm Hagend die Eingriffe des Biichofs 
Nudbeet vorzulegen, welder die Lifitation ohne Mitwirkung der 
Nitterfchaft bewerkitelligt, mit Verlegung des Patronatsrechts Priefter 
ab: und eingefegt und die Nitterfchaft in Wort und Schrift jhimpflic) 
behandelt, 3) um Ernennung eines von der Nitterichaft vorzuichla- 
genden und zu befoldenden Superintendenten alo Oberhaupt der 
Triefterihaft und Errichtung eines Confiltorimms nachzufuchen, be: 
ftehend unter Vorfit des Gouverneurs aus dem Superintendenten, 
aus 2 ober 3 Landräthen und den Pröpiten und vornehmiten Theo: 
fogen, 4) dem Nönige anzuzeigen, daf die Nitterichaft bereits zwei 
qute Lehrer für eine zu gründende adliche Particularihule engagirt, 
und 5) die Anjprüce der Stadt Neval auf die Schule und die 
Moitergüter der Enticheidung des Königs anheimguftellen. 

Die Deputieten erhielten zunächit eine Audienz am 24. März 
1629, bei der jie vom König hart angefahren wurden. Sie hatten 
außer ihrem Anliegen in Nicchenfachen audı die VBeichwerde bes 
Adels über zu große Beiteuerung des Landes vorgebradht und an- 
gezeigt, da die Nitterichaft jtatt des bewilligten Eleinen Zolls eine 
Jahresfteuer von 20,000 Thlr. zu Nriegsgweden zahlen wolle. 
Diejes fowie die Verweigerung des Kirhenzehnten und das prote- 
firende und negivende Verhalten der Nitterfchaft erregte den Zorn 
des Königs auf's Acuferite. Er nahm den Biichof anfangs in Schub, 
lie ihn jedadh zur Verantwortung eitiven. Die Deputirten reichten 
ihre Mage icriftlich am 14. April bei den Neichsräthen ein und 























40 Guftan Abolph und die Nudbeetiche Airdhenvifitation. 


5 Fam dabei zu mündlichen Verhandlungen zwifchen Leßteren, den 
Ehitländern und Nudbed. Diefer war vorher vom König in einer 
Audienz unfanft angefahren und beauftragt werden, was er chedem 
verfehuldet, jegt beifer zu machen. Er erflärte nunmehr, daher 
keineswegs die Abficht gehabt habe zu beleidigen, Fondern im AL 
gemeinen bie Lalter habe charafterifiven wollen, die im Lande im 
Schwange fein. Das Nefultat der erhandlung war folgender 
Pafjus einer am 24. April 1629 ausgefertigten föniglichen Nefo- 
Intion: „Da 3. Kön. Maj. aus der Erklärung der Nitterichaft habe 
abnehmen mögen, da diefelbe nicht allein an Zerichlagung der 
Gommifjion nicht fhuldig. fondern vielmehr ale chrift- und polizei 
Liebende Unterthanen geneigt wären, ihrem Tberhaupt und fo bill 
mäfigem Begehren gebührend an die Hand zu gehen und die 
fowohl in Kirchen, Schul: und Juftizzwed eingerifienen Mängel mit 
Anftellung allerjeits beftändiger Ordre zu ihrer und ihrer P 
felbfteigenen Scligfeit und MWohljtand zu verbeifern, — nad) dem 
mahl aber die Herren Abgeordneten fich weiteres nicht entdeefen 
wollen, als da; fie zwar den mürben und ganz gefährlichen Uebel: 
ftand ihres Vaterlandes erkennen, die angetragene curam aber als 
impertinent und diefer Zeit nicht practicabel fo wei vet, da 
fic weder zu Beftellung eines gewiifen Gonfiiterii und Schulen, 
mod) Formirung eines beitändigen und ehrlichen Unterhalts ihr 
Kirchen und dero Diener verfichen oder anftatt des von den Kirchen 
entwendeten Zehnten einig Acanivalent verwilligen wollen, -— als 
stellen 65 I. 8. M. zwar vor dies Mal dahin, verfehen fi) auch, 
€. €. Nitter- und Yandichaft werde fd) inmittelit eines beifern be 
denfen, die hohe Villigfeit der Neftauration ihrer Nirdhen chvas 
tieferes beherzigen und fidh des Zchuten halber, alo des einpigen 
bequemlichten und bei der ganzen Ghriitenheit üblichen Mittels 
hierzu oder an deijen jtatt eineo beftändigen Neawivalents halber 
beffer erklären.” 

Auf der zweiten Aubienz am 25. April 1629 ging co beifl 
ber. Der Nönig überfchüttete in größten Zorn die Depufirten 
mit Schmähungen, Schimpfwörtern und Drohungen, ja drohte fogar 
mit Enthauptungen. Zum Schluß; der Audienz wurde cr jedoch, 
ohne ein Zugeitändnif; erhalten zu haben, milder und entfich die 
Deputirten fehlieflich, indem er der Nitterfchaft feinen gnüdigen 




































Guften Aoolph und die Audberijche Nircenvifitation. +41 


Gruf vermeldete, die Teputirten vielmals fegnete und ihnen auftrug, 
Alles wohl zu verrichten und ihn nicht mehr zum Zorn zu reizen. 
Wie diefe fo war aud) die Lehte Abdelegirung ber Nittericaft an 
den König in Nirchenfaden refultatlos. Die Deputirten wırden von 
ihm im Sommer 1630 empfangen am Vorabend feiner Abfahrt 
nach Deutfchlaud zum Siege, der ihm ewigen Auhm und den 
Tod brachte. 

Zu Lebzeiten Guftav Adolph's trugen feine Yemühungen ded) 
in fofern Früchte, als abgefehen von der Gründung der Univerfität 
TVorpat, die Ehitland auch zu gut kommen sollte, auf Anregung des 
Königs ein von ihm beitätigter Vergleich zwijchen der Nitterichaft 
und der Stadt wegen der Noftergüter und des zu gründenden Gym: 
fiums am 16. Februar 1631 zu Stande fam. Das Gymnafium!), 
welches die Ehre hat, ihn als Gründer zu nennen, ijt ja befanntlich 
mehr als 250 Jahre eine Leuchte der Heimath und eine Bildungs: 
ftätte gewejen, aus der viele ausgezeichnete, dem Gemeinwohf nügliche 
Männer hervorgegangen find. 

















Eine weitere Folge der ifitntion war die Einrichtung eines 
Laneonfiftoriums unter Guftav Adolph’ Nachfolgern und die all- 


mäßliche weitere Ausbildung ber Kirchenorganifation, denn ohne die 
vom König ergriffene Initiative wäre dem darnieberliegenden Kirchen 
wejen Ehitlands jo bald nicht Abhülfe geichehen. 

In Nudbed hatte Guftav Adolph einen Mann ausgefucht, 
der fo zu jagen das Kind mit dem Bade ausfchüttete. Als Haupt der 
hierorchiichen Parthei in Schweden, die auf Trennung von siche 
und Staat, auf Veichränkung der Adelsprivilegien und Aufhebung 
des Patromateredhts losging, fennzeichnete der Vifchof fein Wer: 
fahren hierdurchdie ihm cigene Nüchfichtslofigkeit, die ihn nach dem 
Tode des MHönigs 1636 au mit der jehwedijchen Negierung in 
argen Conflict brachte. Wenn er fich Schon in Schweden als Be 
khüger des dort freien Yandvolks gegen angebliche Bedrücung aufe 
fpiefte, jo nimmt cs nicht Wider, daßer mit Ucberfchreitung feiner 
Snftruftion jeinen eignen Antentionen gemäß in Ghitland die Agrar: 
frage in die Sache der Kirchenvifitation hineinmifchte und auf Be 
Freiung der ezehkenäifgen Bauern drang, deren Leibeigenfchaft, wie 


























) Neuerdings Ricolai-Oymnafium benannt. 


42 Guftan Adolph und die Nudbediche Airchenvifitation. 


er wohl white, dem an die Freiheit feines Schwedenvolfs gemöhnten 
Nönige fehr unfympatijch war. Ebenfo z0g er ficherlich ohne Ab 
fihht des leßtern, zumal in jo jdhroffer Weile, die Spracdenfrage 
hinein"), indem er fi mündlich und ichriftlich des Schwediichen be- 
diente. Guftav Adolph, von einer deutihen Mutter geboren und 
mit einer deuten Prinzeffin verheirathet, beherrichte das Deutiche 
und ftand dem modernen Nationalitätsprincip fremd gegenüber, wie 
er denn auch in den mündlichen Verhandlungen mit den Vertretern 
des Yandes und der Stadt fich tete der deutichen Sprache bediente. 

Das hier erwähnte harte Auftreten des Nönigs gegen die Ver: 
treter von Stadt und Land dürfte in Nachftchenden eine Ertlärung 
finden. Als Anhänger des Staatsmannes Hugo Grotius und des 
jog. aufgeflärten Despotiomus lag ihm daran, feine Abfichten für 
das Wohl des Staats oder deifen einzelne Theile durchaus zu 
verwirklichen und Hinderniffe, die fid) ihm dabei entgegenftellten, 
zu befeitigen. Gin großer Herricher, nicht nur als Politifer und 
Feldhere nad) Aufen, fondern aud) als Organifator nad) Innen, 
mußte der anerkannt elende Zuftand des Kirchen: und Schulweiens 
in Ehitland feine ganze Aufmerfjamkeit und Fürforge in Anfpruch 
nehmen. Ebenjo war ihm bie Zahlung der Contribulionen von 
höchter Wichtigkeit, da die vielen Nriege die Auftreibung arofer 
Mittel verlangten. Bei den Vertretern des Landes und audı bei 
denen der Stadt begegnete er ftets Proteften, Widerfprucd und Ber 
rufung auf ihre Privilegien. Zwar ftand einerjeits der Umitand, 
daß das Land durd die Verwültungen Jwan's des Schredlichen 
und die nachfolgenden Nriege mit Nufsland und Polen unendlich 
gelitten hatte und nicht zur Nuhe gekommen war, ihnen entichuldis 
aend zur Seite und andererfeits, dah ihnen als „Srenzern“, als 
Bewohnern eines allen möglichen Derupationen ausgefegten Grenz: 
Landes, ihre Privilegien befonders alo Anker ihrer ten; ericheinen 
muften, — der König aber, der an patriotiiche Cpfer feines Schweden: 




























dernöinud 1800, 

im 
id. 5. om 31), was 
liebe des Vifchofs gegeuftandstos fein 


) Nadı 
&. 19, Ann. 





tation i Estland. 
nen Angabe foldı 





itfing, Rudbecks v 
ot Nudbed Inıtt 











Guftan Adolph und die Rudbeefche Nirchenvifitation. E 


volfes amöhnt war und nicht berücfichtigte, daf der Neichotag, in 
dem Ehjtland umd Neval nicht vertreten waren, diejelben bewilligte, 
mutbete leteren Ähnliche Opferwilligkeit zu und ah in der Xer 
weigerung von Gontributionen Mangel an Patriotismus, wie er 
jolches auch ausgeiprocen hat. 

Die neneite Gefdichtoforichung will in Guftav Adolph nur 
den Politiker und nicht den Glaubensheld gelten Laien. Wer die 
Aufjaifung feiner Perfon und Thätigfeit Fonnen lernt, wie fie fidh 
in Briefen feiner nächiten Umgebung gleich nad) feinem Tode äußert, 
wird dem widerjprechen müen. Ein Gleiches lehren auch die münd- 
lichen Verhandlungen mit den Deputirten der Nitterfchaft. Ueberall 
vertrat der Mönig das Intereffe der Kirche und nennt fie vor dem 
taat, wo von beiden die Nede üft. Diefes tiefgläu zu den 
bödhiten Opfern bereite Gemüth. mußte in den Weigerungen ber 
Nitterichaft, in ihren Proteften und Verufungen auf ihre Privilegien 
in Sachen der Nicchenvifitation eine verrottete Engberzigfeit feben, 
welche feine, der chitländifchen Kirche zugebacdhte Hilfe paralyfirte 
und ebenfo wie die Verweigerung der Gontribution fein leicht erreg 
bares Blut in Aufwallung brachte. Dabei lag den Ausfchreitungen 
des Königs offenbar auch eine Berechnung zu Grunde, der Zwed 
der Einfchüchterung. Er Hatte die Privilegien von Land und Stadt 
fchon früher confirmirt, wollte alfo nicht durch itrieten Befehl, d.h. 
durch offenen Hechtsbruch dagegen handeln, fondern fuchte, da Zu: 
reden nicht half, durch Drohung und Ungebehrdigfeit Bewilli 
zu erlangen, was er ja auch gegenüber der Stadt bei Vewi 
des Kleinen Zolls erreichte. Cs braudyt wohl Faun hinzugefügt zu 
werden, dah er feine feiner Drohungen erfüllte, fondern 
das Wohl von dt und Land bejorgt geweien üft. Verföhnend 
wirft und Zeugnii; giebt für fein edles Gemüth der Schluh der 
ftürmiichen Audienz; am 25. April, alo der Nönig, ohne fe 
MWüniche in chwas befriedigt zu fchen, feinen gnädigen Grufi 
der Nitterichaft übermittelt und die fortgehenden Deputirten viel: 
mals fegnet. 

Wo wiel Licht, da ft viel Schatten, jagt das Sprüchwert, 
do groß; ift hier in diefem Fall der jatten nicht im Verhältnis 
zum Yicht. Der große Nriegoheld polternd in mahlofem Yühzorn 












































4 Ouftao Aoolph und die Mubbedfche Rirchenvifitation. 


ift zwar fein erhabenes, aber auch Fein wiberliches Bild. Dem 
anne, ber Kirde und Schule hier im Lande gebaut, wäre 
joldhes fchon lange nadhzufehen, vollends aber dem Helden, der 
durch Nampf und Tod unfere Nirhe vor dem Untergange ber 
wahrt hat. 


€. v. Nottbed. 




















Alerander Baron von der Nahlen F. 


12 
IA m 24. Oftober des verflffenen Jahres vollendeten fih 25 


SE y Iahre, feit Ehjtland durd) die Eröffnung der Baltifchen 

° Eifenbahn in das Nep des europäifchen Weltverfehrs hinein- 
gezogen und damit zugleich auch der Nacbarprovinz Livland Gele: 
genheit geboten wurde, durch den Anjchluh an die Etrede Ct. Peters: 
burg-Reval nad und nad) eine längit erwünfchte Erweiterung und 
Ausdehnung ihrer damals Faum minder befchränkten Kommunications- 
linien zu finden. Als in den Tagesblättern auf jenen bebeutfamen 
Gchenktag hingewiefen wurde, weilte der Mann, dem diefer wichtige 
Fortichritt in dem Verfehrslehen unferer Provinzen in erjter Neihe 
zu danfen war, nicht mehr unter den Lebenden. Kein volles Viertel: 
jahr vorher war der Kammerherr Alerander Baron von der 
Fahlen, der Begründer der Valtifchen Eifenbahn, feinem jchweren 
Xeiden erlegen, tas ihn, den bamals 72jährigen, drei Jahre fi 
auf das Stranfenlager niedergeworfen und zu hoffnungsfofem 
thum verurtheilt hatte. Um jo Iebhafter aber lenkte die wieder friich 
gewordene Erinnerung an feine hervorragenden Verbienfte den Wick 
auf den Faum gejchloffenen Grabhügel, um ihm mit dem Ehrenkranze 
danfbaren Gedäcjtniffes zu fehmücen. 

Auch dieje Zeilen Haben nur den Zweck, ein jchlichtes Gedent- 
blatt auf feine Gruft zu legen und als Ergänzung zu dem Auf 
lichen Bilde des Hingefchiedenen, mit welchem diejes Heft gefchmückt i 
in flüchtigen Strichen ein Bild feines Wirfens und Seins zu jfigjiren. 












46 Alerander Baron von der Pahlen. 


Alerander Baron von der Pahlen war am 29. December 1819 
auf feinem Erbgute Wait in Ehitland geboren, ein Sohn des che 
maligen Curators des Dörptichen Kehrbeziuts und fpäteren General: 
Gouverneurs der baltijchen Provinzen, nachmaligen Neichsraths: 
mitgliedes Baron Pahlen. Seine erte Jugendbildung hatte er im 
elterlichen Haufe genofien und fodann die Junferichule in St. Peters 
burg befucht, um fich dem Militärdienit zu widmen. Im September 
836 trat der mod) nicht 17jährige als Unteroffizier in das Leib 
garde-Negiment zu Pferde ein und winde hier im Jahre 1838 zum 
Gornet, 1841 zum Lieutenant und drei Jahre jpäter zum Stabs 
rittmeifter befördert. Jm Jahre 1845 wurde er Adjutant bei den 
General:Adjutanten von Knorring, nahm aber trog jeiner guten Aus 
füohten in der militärifchen Carri®re jdhon im Jahre darauf als Kitt 
meifter feinen Abfchied, um fih zur Bewirthichaftung feiner wäter- 
lichen Güter nad) Ehitland zurüczuichen. 

Hier jehen wir ihm, nachdem er inzwijden einige Heinere 
Kandespojten bekleidet, bereits zwei Jahre Darauf durd) das Vertrauen 
feiner Standesgenofien anf den Poten eines Kreisdeputivten von 
Sarrien berufen, den er bis zum Jahre 1862 ununterbrodyen inne 
Hatte. In dieje Zeit fällt aud) feine am 30. September 1 
folgte Ernennung zum Stanmerjunfer des Allerhöhiten Hofes und 
die Verleifung des St. Stanislausordens 2. N. (am 9. December 
1859), während ihm die Bronze Medaille zum Andenken an den 
a 18: 56 bereits früher zuertheilt worden war. 

Mit dem 11. Dec. 1862 begann diejenige Periode feiner 
jamfeit im Sandesdienit, die jeinen Namen nicht nur auf das Engit 
mit der Gefhichte der ehjtländif—hen Nitterihaft vernüpfte, fondern 
ihm auch in den weiteren Kreifen feines Veimathlandes ein dank 
bares Gedähtniß von bleibender Dauer fichert. 

An dem genannten Tage zum Nitterichaftshauptmann von 
Ehftland erwählt, hat er während zweier Triennien, nachdem er am 
7. December 1865 auf weitere 3 Jahre mit der Führung des 
jülbernen Stabes beirant worden, feine ungewöhnlicien geijtigen 
jigfeiten, fein willensräftiges, Iebenfprühendes Temperament und 


















































? N 
feinen durch eine umviderftehliche gefellichaftliche Liebensmürdigteit 


nachhaltig unterjtügten perfönlichen Einfluß, dem fi Niemand, Hod) 
oder Gering, zu entziehen vermochte, mit voller Hingabe zum allge: 





Alssander Baron von der Pahlen. 47 


meinen Nug und Frommen in den Dienjt feines SHeimathlandes 
geftellt. Wie ehr man aud an Allerhöchiter Stelle feine Perjön: 
lichkeit zu fchäken wußte, ergiebt fid) aus feiner am 4. April 1865 
erfolgten Ernennung zum Kammerheren des Allerhöchiten Hofes. 

Die Zeit, in welche diefe feine IThätigfeit als führender Ne 
präfentant der ehjtländijchen Nitterichaft fiel, war eine bejonders 
bewegte und folgenjchwere. 

Die polnische Infurrection hatte die Wogen der nationalen 
Erregung in Aufland zu ftürmifcem Branden gebracht und gerade 
an den erponirten Grenzitrichen der baltijhen Provinzen machte fich 
die Cinwirfung diefer leidenfchaftlichen Strömung in befonders 
empfindlicher Weife geltend. Dieje Strömungen, die bis in die 
böchften Streife hinein drangen und das Vertrauen, welches von oben 
ber trog alledem in die unverbrüchliche Zuverläifigkeit unferer Pro- 
vinzen gefegt wurde, fünjtlidh zu unterwühlen juchten, galt 6 um- 
ihädfich zu machen und ihnen einen wirfjamen Damm entgegenzu: 
ftemmen. Alle noch fo aufrichtig gefühlten Koyalitätserklärungen, an 
denen es in jener Zeit von Seiten der baltischen Nitterfchaften nicht 
iehfte, hätten allein dod) nicht vermodht, die Stimmung zu unferen 
Gunften zu wenden, wenn nicht bie ritterichaftlihen ertreter auch 
perfönfich das Chr des Monarchen befeifen hätten. Und gerade in 
diefer Hinficht hatte Ehitland in dem damaligen Nitterfchaftshanptmann 
Baron Pahlen einen Nepräfentanten, wie es fih ihn nur wünschen 
fonnte. Baron Pahlen fand nicht nur Fraft feines Aintes, fondern 
aud Fraft feiner Perfönlichkeit, deren fascinirender Eindrud aud 
bier nicht verjagte, bei Naifer Alerander II. jtets ein geneigtes und 
vertrauensvolles Gehör und wußte von diefem feltenen Vorzuge in 
ebenfo lopaler, wie gejdhieter Weife zum Bejten feiner Heimat) Ge 
brauch; zu machen. 

Neben joldhen Fragen, die alle drei baltischen Provinzen gleich 
!ebhaft tangirten, gab «6 im Schoofe der chitkändifdhen Nitterfchaft 
nicht wenig andere Fragen, die Pahlen’s Anterefie und Arbeitskraft 
in vollem Mae in Anfprud nahmen. Als befonders bedeutfam 
für die innere Entwidlung des baltischen Verfafiungsfebens verdienen 
namentlich zwei interne Vejchlüffe der chitländiichen Nitterfchaft aus 
jener Zeit Hervorgehoben zu werden, die unter eifriger Mit 
wirfung, ja zum Theil auf die direfte Initiative ihres damaligen 








48 Alerander Baron von der Pahlen. 


Leiters zu Stande famen: einerjeits die Abolition der Frohne in 
Ehjtland und anderfeits die Freigebung des Güterbefigrechts und die 
damit im Zufammenhange jtehende Ausdehnung des Steuer 
bewilligungsrechte ud auf die  nichtimmatricufirten Gute 
befier Ehftlands. 

Nicht unerwähnt bleibe aud) das erfolgreiche Vejtreben Rablen’s, 
das nur allzu oft geloderte Band der Intereffengemeinfchaft zwiicen 
Stadt und Land immer fejter zu Enüpfen, ein Veltveben, weldes 
durch) die gewinnende Liebenswürdigfeit feiner ganzen Kerjon nicht 
wenig unterjtügt und gefördert wurde. Won diefem erfolgreichen 
Streben legte noch bis in die legte Zeit, wo Pahlen don Lange 
ganz nad) St. Petersburg übergejiedelt war, der Umitand vedendes 
Zeugnißi ab, da Faum irgend welche bebeutenderen aemeinnübigen 
Gejellichaften oder Vereine in Neval en, an deren Spige nicht 
der Name Baron Pahlen’s als Chrenpräfident oder als Ehren 
mitglied ftand. Aud) die Stadt Neval als foldie hatte Pahlen zu 
ihrem Ghrenbürger ernannt, eine Auszeichnung, die ihm freilich 
nicht für feine vorftehend furz | amfeit, jondern für 
feine Verdienfte um die Gründung der Valtifhen Yahn zu 
Theil wurde. 

Daf fi Pahlen aud) als Gutsherr bei feiner Bauerichaft 
jtets ebenfo großer Hodachtung, wie Sumpathie erfreute, fann bei 
feiner ganzen Perfönfichfeit, die den cdhten ur md 
den durd) und durch Human denfenden Menfcen in glüclichiter Ver 
fehmelzung zeigte, nur natürlid) ericheinen. Die Nachrufe, die ihm 
bei feinem Dinfceiden in der ehjtwifchen Preife gewidmet wurben, 
zeichneten fih denn aud) durch) bejondere Wärme aus und chenjo 
bewies die überaus zahlreiche und herzliche Belheiligung der Yauer- 
schaft bei feiner Veftattung, dab es fid) hier nicht um die blofje 
Erfüllung einer conventionellen Pilicht, fondern um die Befriedigung 
eines wirklichen Herzensbedürfnifjes handelte. 

Aber ad weit über den reis derjenigen, zu denen ihn feine 
Lebensitellung und feine amtliche Thätigfeit als Nitterichaftshaupt 
mann in nähere Beziehung gebracht hatten, reichte die Popularität 
jeines Namens hinaus. Was ihm diefe weitgehende Popularität 
verichaffte und ihm für alle Zeit in eriter Yinie das dankbarite (je 


dächtnif; fihert, das it fein fchen im Gingang diefes Artitclo er 











































Alerander Baron von der Yahlen. 49 


wähntes hervorragendes Verdienft um die Erweiterung der wirt; 
schaftlichen Erwerbsquellen Ehjtlands durd) die Hereinziehung diejes 
abgelegenen Erdenwinfels in das europäiihe Eifenbahnnes. Mit 
der Begründung der Baltiihen Eifenbahn, die redht eigentlich, 
fein Wert war, begann ein ungenhnter wirthichaftlicher Auffcnung 
diefer Eleinften und ärmiten der baltiichen Provinzen und wenn aud, 
manche verhängnifvollen Nücichläge nicht ausblichen, jo fann dadurd) 
doch das Verdienft Baron Pahlen’s um die Hebung der wirtbichaft 
lichen Produftionsfräfte des Yandes nicht geichmälert werden und die 
Schienengeleife, welde gegenwärtig ganz Ehjtland der Länge nad) 
ducchziehen, find zugleich erzene Spuren feiner eifernen Thatkraft und 
Energie bei der Durchführung diefer weitgreifenden Neuihöpfung. 
ap Bahlen bei diefem Hauptwerf feines Lebens nicht allein 
jtand, fondern von verjchiebenen Zeiten, fo namentlich von feinen 
Hauptmitarbeiter Here von Aurfell, dejien Verdienjte nicht ver 
geffen werden dürfen, die wirfjamite Unterftügung erfuhr, verfteht 
fih von jelbft. Aber der Löwenantheil bei der Ueberwindung aller 
der zahllojen Schwierigkeiten, die fih der Durchführung feines Pro 
jefts in den Weg thürmten, fiel dod) ihm zu und erit, als es ihm 
gelungen war, Se. Majeität den Kaifer perfönlid für die Sache 
zu intereffiven und den Vefehl zu einer ernjten Prüfung des Planes 
auszuwirfen, fonnte Pahlen fd) jagen, dafı feinen Wemühungen die 
erite Ausficht auf Erfolg winfte. Aber auch, als endlich im Mai 
1865 vom Finanzminifter die vorläufige Gonceffion zum Yau der 
Bahn erteilt war, galt 6 noch die Hauptfchwierigfeit, die Beichaf 
fung des nöthigen Napitals, zu überwinden und erit, als diefes nicht 
ohne fehwere Prühe jchliehlich in London gefunden war, jah Pahlen 
fih am Ziele, er hatte Chftland die erite Eifenbahn gegeben. 

Der Valtiichen Cijenbahn und ihrer Lerwaltung hat Baron 
Lahlen denn auc) bis zu feiner legten unheilbaren Erkranlung den 
Reit feines Lebens gewidmet, nahdem er im Jahre 1868 den Pojten 
des Nitterfchaftshauptmanns niedergelegt und fi von einer direkten 
Theilnahme an der vitterihaftliden Landespolitit, zu welcher ihm 
anfänglich die abermalige Uebernahme des Poftens eines reis 
deputirten Harrien no) in etwas näherer Beziehung erhielt, 
allmählich ganz zurüdgezogen hatte. 


Baltiice Wonassjgeift. KL, geit 1 























50 Aerander Baron von der Pahlen. 


In der Gejchichte der politiichen, focialen und wirthichaftlichen 
Entwidelung Chitlands vor 25 Jahren aber wird fein Name als 
der eines Diannes von feltener Willens: und Geiftesfraft und un- 
gewöhnlichen Gaben des Herzens und der Perjönlichfeit noch lange 
in ehrenvollem Gedächtniß fortleben. M. 























Kolitiihe Korreiponden;. 


10. December 1895. 





EN Den 


t meinem lepten Briefe hat fc endlich der Winter ein- 
2 geftellt, nicht blos manden Candwirth, fondern auch manden 
Staatsmann zum Troft, der fid vergeblich nad Mitteln um- 
gefehen hatte, um diefe leidigen Orientwirren aus der Melt zu fhaffen. 
Aus der Melt find fie nun durd Froft umd Schnee zwar nicht ge- 
fchafft worden, aber dod; fo ftarf aedämpft, da wenn nicht ein in der 
Türkei freilich, einfeimifcher „untoward event“ die Necnung ftört, 
wir für die Winterzeit hoffen dürfen, von einer „Löjung“ diejer Frage 
verfhont zu bleiben. Ich will diefe Paufe num benugen, um die aus 
wärtigen Streifereien chvas zu unterbrechen und Jhnen von dem zu 
ergühlen, was ich ganz in der Nähe zu beoßadhten Gelegenheit fatte. 
An Fragen und Nrifen und Kämpfen fehlt 5 ja aud daheim 
nicht; vielmehr befindet fich das innere Volfsleben in einer Gährung, 
wie fie feit der Nonflichsgeit in Preufen nicht ftärfer geweien üt. 
Damals hatte der Staat den Anfturm ftaatlicher Anfprüche der ® 
vertretung auszuhalten, heute fchaut der Staat in verhältni 
Ruhe dem Kampje der Intereffen zu, der im Rolfe entbrannt 
ift jeher, fih) ein überfictliches Wild diefer Nampfgruppen in ihrer 
Bewegung zufanmen zu ftellen. Die wüfte Leidenfchaft, mit der die 
Dxgane der Parteipreffe — und wer fteht auferhalb der Partei 
Bisher einander befehdeten, trübt jeden Haren Bid auf die Dinge und 
leider auch mur zu oft auf die Menjchen. Der Nail Sammerjtein 
bietet feit Monaten den Anlafı und Stoff zu einer Verhefung, bei 
welcher nicht blos die froplecenden liberalen Gegner, fondern chen jo 
jehr die angegriffenen Aonfervativen durch die Maflofigleit ihrer Sprache 
mitwirften. Cs war von grofem Unheil, daß der Wiberftreit. der 
realen Antereffen nod) vergiftet wurde durch den jAmacwollen Sturz 
3 






























52 Politiiche Korrefpondenz. 


eines Mannes, der bisher Feind wie Aremd mit verblüffender Aunft 
zu fäujchen gewußt hatte. Es war doppelt unheilvoll für die fonfervative 
Battei, in einer Zeit, wo ihre materiellen Jutereffen jo gefährdet 
waren wie nie zuvor, plöglid nicht nur in ver Perfon eines Führers 
blojgejtellt, jundern jo führerlos zu werden, wie fie heute Tenn 
die Namen Manteuffel, Nanig, Stöder, Vlrbacdh haben das Gewicht 
nicht, weldyes der fonjervativen Wartet durch den Werth der in ihr 
verförperten Intereffen zutommt. Die bedeutenderen unter ihnen, Graf 
Nanit und Stöder, vertreten der eine das Agrarierthum, der andere 
feine focinle Chriftengemeinde, aber feiner hat das Zeug bisher gezeigt, 
um eine grofe foniervative Politit zu leiten. Stöder, der ja nicht 
einmal einen Sig im Neihstage hat, erfahrungsmäfig nicht, Graf 
Nanig, jo allgemein er als ruhiger und gebildeter Denker anerkannt 
wird, it bisher ned nicht als Kührer auf allgemeinerem politifchen 
Boden hervorgetreten. Und fowohl Stöder wie Nanik find gegen 
wörtig mehr dafür thätig, die alte fonfervative Partei aufulöfen, als 
fie zu jtärfen. Stöder mit jeinem Kirchenthum, feinem Antifemitismus, 
feinem Sociafismus gehört in die Gefolgjchaft der Noniervativen, feine 
Interefien fönnen aber nicht das Programm einer politischen grofen 
fonjevativen Partei bilden. Nanit mit jeinem Antrag eben jo wenig 
denn neben den Kornpreijen giebt es nody mande andere Dinge, Die 
ihre Vertretung bei den Nonfervativen fucen. Diejer Mangel an 
tüchtigen Kührern ift leicht erfläclich. Die fonjervativen Mafien des 
Wolfen entbehren gewiß; nicht der Männer, welche durch hervorragende 
Gaben des Charakters und Geiftes zur Rührung berufen wären. Aber 
Dieje Männer wenden fidh wur felten dem politiihen Karteileben, da 
Dagegen mit Vorliebe dem Dienft in der Verwaltung und befonders 
im Serre zu, welches eben Durch die Aülte folder Nräfte in feinem 
Tffieiertorps zu Dem geworden it, was es lt. Stände die Hälfte der 
Tffieiere der Partei zur Berfügung, fo wide cs an fonfervativen 
Rühren nicht mangeln. Auch mag deider manche füchtige Araft dem 
Parteileben fern gehalten werden durch die zunehmende Werrohung de 
politijchen Treibens. Es bleibt aber bödit unbeitvoll, daj; die fonfer 
vative Partei in den bevorftchenden Ningen auf dem focial-wirth 
iaftlihen Boven nicht mit dem Gewicht, der Nüftung auftreten wird, 
welche ihr zukonmen. 

Ih babe in einem früheren Briefe das Wadhjen des allgemeinen 
RN Voltsvermögens, betont. Diele Vermehrung dr 
Napitals entipricht nun aber nicht einer zunehmenden Glüdjeligkeit der 
Bevölkerung. Bielmehr wäht die Kluth der Unzufriedenheit von Tag 
zu Tage. Schreitet man die endloje Ariedrichitraße in Berlin ent 
fang, betrachtet man rechts und linfs die glängenden Yäden, jo Könnte 
man meinen, diefe Händler und Handwerker müften fänmtlich reiche 
Leute jein. ragt man näher nad, jo hört man, daf; die alten 
grofien Gefhüfte qut ftehen, die meiften leineren fih nur eben über 




























































Politische Korrefpondenz. 53 





Waffe halten. Dasjelbe Lid fingt der Handwerker: einzelne alte oder 
große Sejchäfte blühen, Die Menge fommt mur jchwer vorwärts. Und 
acht man auf's Sand, jo heifst es umgefehrt, es nedeiht im Durd- 
icmitt der Yauer, welcher mit eigener Araft arbeitet, der Grofbejger 
und Pächter nur ausnahmsweife. Wer vorläufig nicht jammert, das ift 
die Vörfe und ein Theil der Induftrie. Die Urfade der Unzufrieden: 
heit liegt nicht in don Mangel an Arbeit, an Abjas im Gewerbe, an 
Unfab im Handel, fondern in der ungleihmäfigen Wertheilung des 
Gewinnes. Tas Veld zeigt die Neigung, dem Arbeiter und dem 
ten zujuftrömen, die Mitteltlaffen erhalten einen zu ger 
n Mntheil und drängen ne gefepliche Abhilfe. Eine Folge der 
wirtbfcpaftlichen Mipftände ift, nicht blos bei den Sonfervativen, 
jondern bei allen “Parteien die tft Interefien mehr als 
Tonft fih vordrängen, und dah; bejonders die alten Freihandelsparteien 
zerfallen. Die chemalige Fortfchrittspartei ift in einen Saufen Eleiner 
fitter zerplagt und ihr Daupttheil Hält fih nur mod durd die 
debattifche Begabung Nichter's aufrecht. Die Nationalliberalen fehen 
ihre alten Prineipien: reihandel und Goldwährung täglich an Gewicht 
verlieren; fie müfjen es erleben, da 4 Mitglieder ven Antrag Kanit 
non und find bereits dahin gelangt, va fie diefen Schritt 
unvereinbar mit den Parteiprogramm halten, da jogar in 
ührem Kölner Organ jet bedauert wird, nicht höhere Getreidezölle an 
die Zelle des drohenden Cinfuhrmonopols jegen zu Fönnen. Das 
Nararierthun hat feit Monaten durch) ganz Deutjehland eine in fepter 
zeit ftille, energiihe Agitation getrieben und ihre Werbungen find weit 
in das Zentrum hinein, aud im Süden erfolgreich gemejen. 
ginnt aus wirthfehaftlichen Motiven eine Neuformung der Partei 
der man eine Vefferung unjerer Parteiverhältniffe, fei cs aud nur in 
dem Sinne, erhofften darf, daf es jchlechter faum mehr werden Fan. 
Und treibende Araft ijt wejentlic diefer Antrag Nanig, ven man 
vor einem Jahre als Tollheit verlahte. 

Der am 17. Dezember vertagte, am 9. Januar wieder fd) 
öffnende Neichstag ftcht vor der Berathung des größten Wertes der 
neuen deutjhen Gejehachung, allein das bürgerliche Gejeybuch ift völlig 
aus dem öffentlichen ntereffe Durch die wirthiehaftlichen ragen ver: 
drängt worden.  Gteich die Ctatsdebatte wurde dazu benußt, mit 
Nebergehung des Etats jelbit fait nur wirthjchaftlide Ding 
örtern. Leider folgte als erte wichtigere Worlage das Wötticher‘ 
Wrojeft zur Errichtung von Sandwwertstanmern, weldes in Di 
heutigen orm für unannehmbar gilt; man will mehr, als die Namımern, 
man will eine Nnnungs:Crganifation nit Zwangsredht, man mill vie 
fech gerade in den befferen Streifen des Sandwerfs ven Be 
nadweis, Kurz man will eine firaffe Trganifation des $ 
Sandet hat be Sandelsfammern, Die heute für unentbchtlidh 
gelten. Die Sandwirthihaft findet in Preufen ihre provinzielle ers 



























































































54 Volitifche Norrefpondenz. 


tretung in den neugefcheffenen Sandwirthichaftstommern. Das neue 
Börfengefeb will dom Napitalfchwindel an den Leib, Die Lorlage geacn 
den unlanteren Wettberverb joll dem Naarenfchwindel Schranten aufer 
legen, und mande andere Pläne noch reifen heran, die den in jänmt 
lichen Crmerbsgmeigen, troß des großen Aufichwunges der Volls 
wirthihaft und durd fie fid zeigenden den entgegenmirten 
offen. Was auch der Erfolg all diefer Pläne fein man, die eine 
rüchoiefende Nraft zeinen fie bereits jeßt, da; Diele allgemeine wirth 
ichaftliche Gährunn von großer und wohlthuender Bedeutung für die 
heute unfeibliche Parteiung werden dürfte, Wenn Die erwerblicen 
Nntereffen weiter wie bisher im Wordergrunde bleiben, jo wird die 
Zerfeung der Parteien nicht bei dem Abfall der vier Nationalliberalen 
ftille halten. Vor Allem wird das Manceiterthum noch weiter zurüd- 
gedrängt werden und vielleicht erftchen dann grofe neue Cxgenifationen, 
die, von wirthfchaftlichen ntereffen getragen, auch den allgemein 
politifchen Aufgaben cher gerecht werden, als Die heutigen verlnöcherten 
Parteien. 















ie in allen Verufszweinen auftretende Unzufriedenheit mit den 
heutigen Verhältnif; von Arbeit und Lohn Hat zu einer Bewegung 
geführt, Die fi bisher nicht wohl unter allgemeine Gefichtspunkte zu 
fammenfaffen läft. ndeffen it doch ein Fiel jehr deutlich erkennbar: 
die Vefeitigung des Zwifchenhandels ywiichen Producenten und Aonfı 
menten. Diefes ziel haben die vielen wirtbichafttichen Lereine und 
Senoffeniesaften im Auge, und darauf feucn zchllofe Zeitungs 
artifel und zahlreiche Schriften hin, angefangen von jenem Samburger 
Kaufmann (pfeuden. Uhlenhorft), der den gefammten Handel verftaat- 
licyen will, Dis zu den Arbeiten des Lereins für Sociahvifienichaft, 
welche wohl einiges Material, aber feinen Worfchlag zur Abhilfe ge: 
bracht haben. Diefes Ziel verfolgen aud) die ländlichen Genofen: 
ihaften, welche gerade in dem jeht ablanfenden Nahre mit feinen 
miedrigften Getreidepreifen in fräftiger 2 um. fi) qegriffen. haben. 
or etwa zwölf Jahren wurden die wenigen damals bejtchenden land: 
wirthichaftlihen Oenofienfhaften in den „Allgemeinen Verbande der 
deutfchen landwirthjchaftlichen Genofienfchaften“ vereiniat. Zu diefem 
Verbande gehören bereits 2000 Genoffenichaften, im laufenden Jahre 
find bis zum Degember 608 Oemefienichaften binzugetteten. Der 
Yerband hat feine Trgane („TDeutjche landwirthjchaftliche Pıefie”), 
in den Provinzen jicht, meift eine „Sentalgenofienfchaft” an der 
Zpige; unter diefer die einzelnen Spar und Tarlehenstaffen, Molterei 
genoffenfhaften, Butter- Verkaufs Senoflenfchaften, Nonfumpereine u. 
Tie privaten Jentralgenofienihaften find im Veariff, in die neuen 
provingiellen Nörperfchaften der Yendwirtbichaftsfammern aufzugeben, 
welche dann dem landiwirthicheftlichen Senoflenichaftfmelen volle jtant 
liche Vertretung Fihern werden. Tiefer Auficwung ver Zclbithilfe in 
der Sandwirthicaft it immerhin als eine nügliche rudht an dem 









































Tolitiiche Korrefpondenz. 





Baume der Noth anzuerkennen, unter deifen unliehfamem Schatten ein 
fehr großer Theil des Volkes heute fteht. Und diefes Nereinswejen 
hat an vielen Cxten bereits fehe wohlthätig gewirkt, wie z.B. die 
Winziger und Ourauer VBücerei-Oenoffenfchaften, auf welche in diefem 
Briefe einzugehen mir fcider der Nam verbietet. Der Drud, der auf 
der Sandwirtbichaft in Deutjchland Iaftet, wird ja auch in den Oftfee: 
provinzen  jehmer empfunden. Während tig unter. günftigen 
Ausfuhr: Conjunkturen die deutjche Anduft onen vervient, macht 
fh das Einfen des Wohljtandes im platten Lande immer ftärfer 
fühlber. Die Meihnahtsläden in der Leipziger Strafe find dafür ein 
eben jo guter Gradmefjer als Scheuber und Mengendorff in Niga für 
baltifche Terbältniffe. Die Genoffenjhaften ud der Bund der Land 
wirthe haben, von diefer Roth in's T. , in Furzer Seit eine 
Bedeutung gewonnen, die übe fchen Partei hinaus 
tagt. Wenn der Bund der Candwvirthe mit feinem Antrag Nanit in 
der gegenwärtigen Neichstagsfitung aud) nicht Ausficht auf Annahme 
hat, jo hat diefer Antrag doch jeit dem legten Frühling im Lolt eine 
icht bedeutende Zahl von Anhängern gewonnen, fo da; er von den 
Gegnern feineswegs mehr mit Lachen abgethan werden fann. Cs 
giebt ja auch jegt mod Wiele, die von einer Nothlage ver Land: 
wirthe fd micht haben überzeugen laffen, oder die da jagen: wenn der 
Gropbefig Diefe Preife für feine Erzeugnifle nicht ertragen Tann 
der Bauer fann es, und alfo zerichlage man den Grofibefit. Aber 
die Strömung nad einem ftantlichen Schub aller Gewerbe, und fo 
audy der Yandwwirthfchaft üt, fon zu ftart, um das Getreides 
monopol als Princip von Haufe aus ite zu werfen. Wäre die 
praktiüche Ausführbarkeit wahrjcheinfich, jo ftänden wir einem foldhen 
Werjud) nicht mehr fern. Aber wenn die Negierung das Monopol 
zurücweilt, fo wird fie doc; Alles daranfegen müffen, um auf andere 
Weife den Forderungen der Aderbauer gerecht zu werden, denn nach: 
dem in Tefterreich, Italien, Frankreich, felbit in England die Ne- 
gierungen offen Die Nothwendigfeit ancrfannt haben, dem  Yandbau 
itaatliche Silfe zu leiften, Tann die deutiche Negierung nicht mehr vor 
den im extrem liberalen Lager noch immer nicht verftummenden Aus 
brüchen gegen Die „Begehrlichteit oftelbifcher unter“ zurüd weichen. 
Wenn die monopoliftiihe Detrefirung der Getreidepreife fd wird als 
wausführber erwiefen haben, wird cs fidh darum handeln, den Zrifche 
handel und die jhädliche Sonfurrenz einzufchränfen, dur) welde 
FProdufte der Sanpwirthjchaft auf einen ungebührlich tiefen Preis 
herabgedrüctt, die Produkte von Gewerbe und Anduftrie oft ungebühr: 
ich vertheuert werden. Und auf diefem Yoden wird man bei der 
Regierung ohne Zweifel alles gewünfchte Entgegenfommen finden. Leider 
«aber hat der Bund der Landwirthe fo jehr alle Kraft in die Propa- 
girung des Antrages Nanig gelegt, dal; andere im Lande aufgetauchte 
Lorfapläge zu fehr vernadjläffigt worden find, um jept on gleid in 









































56 Rolitifche Korrefpondenz. 


teifer Form zur Werhandlung und Crledigung zu gelangen. Day 
gehören die ftaatlichen Neichsfpeicher des Pure von Oraf-Alanin (X. 
von Graf-Nlanin, Nornhaus contra Nanih, Berlin, 1895. Laul 
Yaray) und die vielfach empfohlene Sclbithilje der Sandwirthe Durd) 
genoffenfchaftliche agerhäufer. Amerhin werden dieje Wläne nach 
Ablehnung des Antrages Sanig und wohl fehon in der Tebatte über 
denfelben zur Sprache im Neichstage Tommen und damit hren balti- 
ichen Lefern einen intereffanteren Stoff bieten als die meiften hoc) 
politijcien Debatten oder parteilichen Bullenbeifereien. 



































Notizen. 
SO 
om Johannes Lenz, dem jüngft jo frühe aus ineter Wirtjamteit 
287° abgernfenen Pajtor in Neval, find vor Kurzem zwei Vorträge im 
°  Prud erichienen'), die von allgemeinem nterefie find. Der erfte: 
Epener und der Pietism ns, würdigt in gerechter und unbefangener 
Reife die Bedeutung Epener’s für die Mutberiiche Kirche wie feine Verdienite 
um die Wiederwedung des religiöfen Lebens und carafterifi dann dei 
Vietismus mad) fei Vorzügen und Echattenfeiten. Weber die Richtung A. 
». Frande's urtHeilt Lenz bei aller Anertennung der großartigen praftifch- 
hriftlihenn Thätigfeit diefed Mannes ungünftiger als Über Spener. Schade, 
dafı ibm das neuefte Werk über Spener von Grünberg nnbefannt geblieben ift, 
@ würbe ihm dann Manches in anderem Lichte erichienen fein. Der zweite 
Vortrag feht mit dem eriten in naher Beziehung. er behandelt die Lehre 
von der Belehrung und Wiedergeburt mit beionderer Berüd: 
Ächtigung des Pietismns und Methodisnus. Es wird uns darin eine bibtiich- 
theologifche Unterfuchung der Rrage geboten, ob die Belehrung und Wieder: 
geburt, wie der Pietiemus und Merhodismus fehrt und behauptet, ein ein 
seiner, zeitlich genau zu firirender Vorgang oder inneres Erlebwih it, der bei 
allen wahren Chrijten in gleicher Weile den Anfang eines neuen Lebens bildet, 
oder ob darumter ein fortdanernder Zuftand, ein immer wieder fid) ernenerndes 
Erleben zu verjtehen jei. Lenz erflärt fich auf Grund der von ihm angeführten 
Ausfagen der heil. Schrift mit Entfdhiedenheit für die zweite Auffaffung; "eine 
Ausführungen find Mar, bejonnen und im Weientlichen überzeugend, wenn 
auch gegen Einzelheiten fihh Manches eimwenden läht. Beide Schriften find 
au für Laien vollfommen verftändlid, und können allen Lejern, die fic für 
ernite veligiöie Fragen intereffiren, warm empfohlen werden. ah 












































*3 Beide im Verlage don Franz Auge in Neval, 





Notizen. 





Dscar von LÜWis hat focben ein Bud) 
gDögel*) herausgegeben, das daranf Anfpruch machen fan weit 
den Kreis der Fachgelehrten hinaus in unferem Lande gelamnt und gelefen zu 
werden. Der Lerfaffer hat jchon vor act Jahren einen Verfuc, über dasielbe 
Toema in der Balt. Monatsicheift veröffentlicht, dem er jet die vorliegende 
umfaende Arbeit folgen fäht. &s wird viele Sejer überrafchen, dah bei uns 
76 verfcjiedene Arten don Singvögeln vortommen; der Terfafier giebt zuerjt 
eine genaue Bejcpreibung der einzelnen und behandelt dann bei jedem das 
Vortommen, den Gejang und das beleben. Dem Banzen wird eine Ein 
feitung über den Gefang, die Een der Kügel und ihre Feinde vorausgeichidt, 
die böchft anziehend und wie da® ganze Wert reich it an feinen amd icharfen 
Beobachtungen. CS üt ein icbentwirdiges Buch, wonit Löwis uns beichentt, 
voll Naturfiun und Naturenpfindung, erfüllt von warmer Liebe zur Yogel 
weit; es weht ums daran wie jriiche Waldesiuft entgegen md reine Natur 
daute dringen aus ihm in die roddene Amoiphäre des der freien Hatır abge 
febrten Stadtlebens. Mögen auch einzelne Züge im Leben der Vögel von 
ihren begeifterten Freunde envas wermenfchficht fein, was thut das! Zu dem 
Inhalt pafıt auch vortreiflich die zwangloie Iebendige Tarjieltug und der 
frühe Stil. Die Sprache des Berfaffers weih; nichts von comventionellen 
Sormen, fie bewegt fich munter im Gonverjationston und braucht jehesmal 
dei begeichnendften Ausdrud, gleichviel ob er in der Schriftiprache gewöhnlich 
ft oder nicht, frz, ein Natwjtil im bejten Sinne des Wortes. Wir 
ichreiben unfere furze Anzeige mr als einer aus der Zahl der aien, die an 
dem Buche ihre herzliche Freude Haben, eine wiifenichaftliche Würdigung wird 
ihm Hoffentlich bald nach Werdienit von einem Ornithologen zu Theil werde, 
Wir wünfhen zum Schluh, dafı Lwis’ Buch ih auf recht vielen Weihnachts- 
tüchen finden und in allen wo man Naterfiun und Naturfreude 
tennt, Eingang finden möge. _c— 
Einem jet fait vergeffenen verdienten battifchen Nünftler hat Dr. Wit: 
Gem Neumann in feiner Schrift: Narl Huguil Senif, ein balti 
imer Nupferfiecher”), cin biographiides Tenfmal gejept. Der Lerfafler 
Hat das Material zu feinem Büchlein fleihin überatiher qanmelt und ein 
Forgfältiges Berzeihnuih der fünitferichen Arbeiten Senf’s hinzugefügt. Meber 
das Augendfeben des Nünftler® liegen mehr Nachrichten vor als über feine 
ipätere Wirfiamfeit als Lebrer und nacıher als Proieiior der Feichenkunit in 
Vorpatı Jurjeif)von IN03—18) war eine file jchtichte Mnftlernatur ohne 
tart herwortretende individuelle Züge. Briefe und Xufzeidmungen von ihm 
aus feiner Dorpater Periode haben fidh Leider micht erhalten; was hätte cr 
altes über die mannigiadjen Entwicelungsphafen dar Mniverfität und des afa- 
demichen Lebens Überhaupt während ieiner langen Amtsihätigteit mitiheilen 
fönnen ! Leider erfahren wir auch über jein Verhältwih; zu dem Profeior Johann 










































































') Reval, Verlag von franz Auge. 
2) Reval, Verlag von Franz Auge Mit dem Pitdniffe Senfis, 
6 Neproduetionen nad) jeinen Werfen in Cicndrud, 


Notizen. 59 


Wilrem stranfe, der felbit Zeichner und Maler war, michts. Puch die 
Biederanifriichung des Gedächtniffes eines verdienten Mannes hat fid Neu 
mann Aniprnch auf den Dant aller Nunftfreunde erworben. Bei diejer Diele 
genbeit drängt es uns dem lebhaften Wunjch Ausdrud zu geben, es möge doch 
endlich einmal unferem bodbegabten, früh veritorbenen Ludwig von Mandel 
die gebührende biographifche Darftellung und verdiente fnftleriiche Windigung 
iu Teil werden. 

Im Anichlah an die vorftehende Schrift ei noch mit ein paar Worten 
einer Ueberficht über den Entwichungsgang der Kunft aus baftlicher Feder 
gedacht, wir meinen die fuchen in zweiter verbefferter Auflage erfchienene 
Kunftarihichte im Grundrih von Mn. Brocder). Das 
Büchlein wendet fich an Munitlicbende Laien, be'unders an Frauen und jung 

dien amd ift mit IL bbildungen ausgeflattet. Die Anlage der Schrift 
üt geichidt, die Hauptmemente der hifteriichen Entwichung werden gebührend 
bervorgeboben und die großen Nünftler meift anfprechend und zutreffend charat- 
Die griehiiche Kunft erfheint uns aber evas zu hurz und dürftig 
behandelt zu fein: hier wäre ein näheres Eingehen aud) bei den engbegrenzteu 
Raume des Büchleins doch am Pla gewvefen. Ueber die neuefte Enttwictlungs 
phase der deutichen Kunft, namentlich die fünftlerifche Bedeutung don €. Geh 
bardt und rip won Mbde scheint uns bier ftart optimiftifch geurtheift zu fein. 
auch bier und da eine Züde zu bemerfen ift unb von fireng 
Äheftfichen Stondpuntte ans im Ginzelmen die'e und jene Anstellung zu 
machen wäre, jo Tommt das für die Erreichung des Zieles, welches fid dieler 
Srundrifs geitett Hat, wenig in Betracht. Wir wünfden dem anipruchstofen 
Büchlein weite Verbreitung, möge 8 zur Exivedung md Förderung des 
nes bei der Tugend auch) in unseren Provinzen beitragen —i 









































Iahrbud jür Genealogie, Heraldil und Sphra- 
aiitit 1804. Mitan, 1395. 
iet fpäter erit als e$ meine Abficht war, Tome ich dazu, den zweiten 
Fabrgang des Iahrbuches für Genenfogie anzuzeigen. Wenn auch die darin 
enthaltenen Arbeiten naturgemäh; nicht alle von gleichen Werthe find, jo entbält 
doch aud) dieier Band des Lehrreihen und Beachtenswerten geı und ficht 
in feiner Weite hinter feinem Vorgänger zurid. Zunäcjt fi der Schluß des 
Aufages vom Areiheru Edmard von Firds „Die Bühren in 
Rurtand“ hervorgehoben, der die Benenlogie der Familie Bhren bis auf 
Eraft Johann und feine Gefchwifter berabführt Durch dieie wertvolle und 
Ängattreicpe” Unteriuchung it die Trage nach der Abftammung der 
Herzogsfamifie Biron endgültig erledigt und es werden darin der Zufammen 
bang und die Lebensichidiafe der ei auglicder durch beinahe 
Fubre verfolgt. eh. don Firds’ Arbeit it ein Mater genenlogüicher Foridnung 
durch die Anwendung freug itlicher Methode, völiger Beherrfhung des weit 
gereuten ungedrudten urhmdfihen Materials und die Aülle weiter und 
























*, Hörtingen, Yandenhoed & Ruprecht. 2 M. 60 Bi. 


L} Notizen. 


tehrreicher Sefiptspintte; fie fan allen Ähnlichen Unteriuchungen zu Vor 
Bild dienen und jedem genenlagüichen Foricher zum Zundium empiohlen werden. 
Manchmal fönnte man den ortgaug der Unterfudneng wohl chvas ftrafier 
und geichlofienee und weniger auf Rebenjragen eingehend wünfchen, aber mar 
äh fich ehtieiich dieie Aidnveifungen gern geiallen, da fie beachtenswerthe 
Ausführungen Über andere hrrifche Namilien enthalten. Ter Streit der Bü) 
tens um die Mufnahme in das Murifche Jndigenat, der den Mittelpunkt der 
Firds’fchen Abhandlung bildet, ift eim böchft beachtenswerther und wichtiger 
Veitrag zur inmern Gefchichte Kurlamds wie des uriichen Adels im VI. 
Jahrhundert. Mag man and) in einzehten Fragen anderer Meinung fein als 
der Lerfaffer und in der Yeurtbeilung mancher Vorgänge von ibn abweichen, 
wie da8 bei dew Unterzeichneten der Fall ift, darüber, dah des ib. Ed. v. 
Firds Aufiap eine Pierde des Iabrbudhes und eine Bereicherung der Willen: 
ihaft Äft, wird unter allen Sachtundigen völlige Uebereinftinmung herrichen. 
Schtiehtich möchten wir dem Perfaffer mod) zwei Wüniche ausipreden. Erftens, 
gr möge, wenn auch nur iu aller Münze, die männliche und weibliche Deicen- 
denz Ernft Jodann Biron’s bis zur Gegenwart fortführen und dazu an) 
wenigjtens die männliche Nadyfommenfhait jeiner Brüder hinzufügen, damit 
man danır eine vollitändige Ueberficht und Gejchlechtstaiet der Familie Vühren 
oder Biron von ibrem erjten Vorfommen in Nurland bis auf were Zeit bat 
and der bisherigen unvollftändigen und mangelhaiten Verfuche diefer Art ent 
yarhen fan. Aweitens wäre e& fehr wünfdhenswertb, dafı er felbit oder, wenn 
08 Ähm dazu an Zeit und Neigung gebrechen folkte, mit feiner Auftiumung 
eine andere berufene Hand eine zuianmenfafiende Meberficht der von ihm q 
wonnenen Foridhungsrefutate für den weitern gebildeten Leferfreis zufammen- 
tele. Nur dadunh würde 8 gefingen die noch immer Ferumipudende Vor- 
Hteltung von dem Stalitnecht Biron, dem Later des Herzogs, und der niedrigen 
Bertunft der Familie aus den Aöpien und Büchern zu verdrängen: das Kahr 
Such Tommt doc) mr iu wenige Hände und bfeißt dm grohen Pubtitum un 
zugänglich. An die Abhandlung von Cd. von Firds fchlicht fidh die Stamm 
tafel der Kamilie Biron in Rufflich-Bolen, deren Aufantmenhang mit dem 
furifchen Hawptitaum nach wicht ermit wen zweiten Beitrag zum 
Iahrbudr hat rh. Ed. von Firds durch die Heransgabe des Hausbuches 
aeliefert, das Reinhold von Nostnfl und jeine Nachlommen von 
180: 9 geführt haben. Die Aufzeichmgen beziehen fich meift mr anf 
Ramitiengefchichte, ar don Peter Nushrll fürden fich auch Eintragungen von 
atlgemeinerem Diitorifchen Anterefe, fie bieten aber auch manchen hultır 
ebichtlichen Stoff und ziehen durd) ib naiven Ansdrud an: 
geber bat eine belehrende Einteitung über den Urfprimg der Familie Nostull 
verausgeiciet. Won allgemeinem Nntereffe it weiter die Abbandung von 
Leonid Arbufow: Die Bildniiie der derzoge und Her 
soginwen von Kurland aus dem Kettler’ihen Yauic, 
orin der Berfaffer mit der ihm eigenen Genawinteit, Eadhtenntmif und Be 
Vefenheit alle ihm befammt geivordenen Bilder und Aupferfliche zuiantmenftellt 
und erläutert, Cine wichtige Ergänzung zu dielem uflap giebt die von 






















































































Notizen, 6 


Baron 9. dv. Bruiningt in einer Cipuag der Nigaer Altertbumsgeiettichaft 
gemachte Mittbeilung über die Bilder Herzog Jafobt und feiner Familie im 
Zieh zu Gripsyomm. Zu Arbujows Adandlung gehört ein Lichrdrucbild, 
welds die im Surländiichen Brovinzialnmufenm aufbewahrte Stammtajet des 
Herzogshaufes Kettler darftellt. Den größten Raum nehmen im Jahrbud) 
die Genealogiihen Eollettaneen, weihe Frh. Alerander von 
Rabden aus der Mitaufhen Zeitung von 1608 bis 1508 und aus dem 
Witanfhen Intelligenzblatt von 183 bi 183 gejammelt uud mach den (ja 
mitten alpbabetiich zufammengefteilt hat. Diefe mühjame und jorgfäftige 
Arbeit fiefert für die genenlogiiche Forihung und die adelige Ramilienfunde 
ein unchägbares, abjolut fiheres Material; viel zeitraubendes Nadpjuchen und 
Racicyfagen wird den Benupern durch dieje Zujammenftellung exipart, fehwer 
zu beihjaffender Stoff zu bequemer Bemupung wohlgeordnet dargeboten, 
Stammtafeln der yamilie Qüdinghaufen gem Wolff, 
dis zu ihrem Ertöichen in ihrer Stanımheimath hat May von Spiehen 
in Minfter beigefteiert. Daran jchlieht fih die von Edmund Fr. von 
Lüdingbanien gen. Wolff migetheilte Berteihungsurfunde von 
Stadtrediten an die Ortiheft Lüdinghaufen ans dem 
Jahre 1308. MW. von Rummel giebt die Stammtajelder And 
int Gouvernement Witebst und zwar in dem Polnifch-Cioland genanmten 
Teil desfelben, die als präfumptiver Zweig der Familie von der Nede in 
Nurland bezeihmer werden. Zwei merhviirdige genenlogifche Denkmäler werden 
in dem Aufap von Fih. Ed. von Firds: „Schrank mit Ahnen: 
wappen der Elijabeth von Rappe geb. von Korii“ aus 
dem NVTL. Yahrbumdert und „Botiviafel des Johann v. Plater 
in der Kirche von Würze“ aus der orten Hüffte des NVIT. Jahrhunderts 
von Erb. Alexander von Nahden bebandeit; beiden Aufläpen find 
vorzügliche Lichtdruchafehn beigefügt. Mit den aufgeführten Artifeln md Ab 
bandtungen it der Znhalt des Jahrbudes noch teineswegs erichöpi 
Berichte über die einzelnen Singen der Seetion enthalten viele gröi 
Hleinere inftruenive Mittheilungen, namentlih aus den Gebiete der Herafdit 
cr das merfwirdige Siegel des Comtur 
über Driginaffiegel hırländiicher Vürgergefchlechter 1579-1791, ferner die be 
werfenswerthe Urtunde Bücher Heinrichs von Nurland aus dem Jahr Ipln, 



















































ieien die Ausführungen über Ateroaialten in Liv- und Nurland, die Vener- 
fungen über die Familie Slaferapp, Towie die Negeiten des Furlindiichen 
iwciges diefer Familie, endlich die Werichtigungen zu dem im eriten Jabıbuch 
herausgegebenen Stammbud Ehriitopbs von Saden hervorgehoben, namentlich 
aber auf den jehr intereffanten Nurlap von Baron Av. Nabden über die 
Einführung der Nittecichaftsunitorm in Aurland bingewiefen, au den fich cin 
Berzeichaift der 1786 im preuhüfchen Hreve dienenden Surländer shlicht. Wei 
Gelegenheit mühfen wir an die Nedoction des Jabrbudes die Bitte 
tihten, in Juhanft den Sigungsberichten ein Inhaltsverzeidwiß über die in 
denfeiben enthaftenen Artitet hinzuzufligen. Dpme ein foldes wird es, wen 
























62 Notizen, 
wie wir hoffen, noch eine flattfiche Reihe von Jabrgängen dem zweiten falat, 
immer fhwerer werben einen darin. enthaktenen Yuflafs aufzufinden umd manche 
wertvolle Arbeit wird fo feidht in Wergeffenheit gerathen und unbenut 
beiten 

Die bei der Aurländifchen Gefetichait für Eitteratur und Kumit gearlin 
dete Section für Genealogie, Heraldit und Sohragiftit bat durch die wei von 
ihr Sißher veröffentlichten Jahrbücher ihre Lebensfähigteit und ibre miflen 
ipaftliche Berechtigung in unwiderfprechlicher und wahrhaft erreulicher % 
erwiefen. Au) da® Lebendigfte Interefie und Die gröhte Mitgliederzahl gewäl 
feiften einer Gefelfichaft nicht das redjte Gebeihen. &S gehört viel Arbeitfam- 
feit, zähe Ausdauer, nicht ermattender Feih und volle Hingabe an die Sadıe 
dazu, um einer woiffenfchajtlichen Vereinigung über die Zeit des erjten Iebhaften 
Iutereffes und Cifers hinaus die Lebensdauer zu fichern. 9 jolden arbeits- 
jübigen uud arbeitsfreudigen Mitgliedern jehlt es der Section, wie ihre Ber: 
Öffenttichungen dartbun, nicht und die Energie, Arbeitstraft und Sachtenntnit 
ihres Präfidenten bürgt für den gedeihfichen Yortgang ihrer Arbeiten. Wir 
jenen dem dritten Jahrbud) mit Spannung entgegen. 

S. Diederihs. 









































Zwei Gpifoden ans der Zeit Haijer Baul’s. 


Aus den Aufeinungen A. M. Turgeniejis.r) 





I 
Sg: Fürften Wlerander md Alegei Kurafin lebten 

während der legten Beit der Regierung ber Raiferin Katharina II. 
in ber Verbannung und c3 war ihnen anbefohlen worden, jid) auf 
ihren Gütern aufzuhalten. Nachdem Kaifer Paul I. den Thron 
beftiegen Hatte, war allein jchon der Umftand, daß die Kurafins 
6i8 zu feiner Thronbefteigung verbannt gewefen waren, Hinreichend, 
am ihnen Verzeifung zu bringen. Naifer Paul gefegneten An« 
deufens Hegte gegen feine Mutter Groff uud bemühte fid) auf 
jede Weife zu beweifen, daß alfe ihre Regierungsmaßnahmen 
jehädfid, und fehlerhaft gewefen und den Saunen ihrer Günftlinge 
entfprungen feien, und beshalb werjieh er allen, bie zu 
ihrer Beit in der Verbannung und unter Gericht gewejen, 
jeibft wenn fie anf gefeplicher Grundlage verurtheilt und beftraft 
warın, falls fie mr Jemanden in ©t. Petersburg Hatten, der an 
fie erinnerte; er rief fie aus der Verbannung zurüc, ftellte fie an, 
befchenfte fie mit Würden und Orden. 

Der Erfte von ihnen war der wegen Ausplünderung des 
Rafanfdjen Gouvernement3 verurteilte frühere dortige Gouverneur, 
der wirfl. Gtaatsratd PB. Scheltuhin, er avancirte zum 
Geheimrath, und Senateur und erhielt den Annen-Orden I. Maffe. 


*) Rufifaja Starina 1895 Mai, ©. 45--51. 
Baltfge Ronatsfäift. BL. SLIV. Heft 2. ı 


64 Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’s. 


Die Fürften Kuratin zähften bald nach ihrer Rüdtehr von 
ihren Gütern zu ben höchften Stant3beamten, Alezander war Vice- 
Kanzler, Ulegei General-Procureur. 

Ein oder zwei Jahre vor dem Tode der RKaiferin Katharina 
Hatte der befannte Millionär Beketomw vor feinem Tobe ein 
Teftament abgefaßt, in welchem cr, den damaligen bezüglichen Ges 
fegen zuwider, fein Stammgut, mit Ausschluß der directen Ge» 
ichlecht3-Erben, an entfernte Verwandte und fremde SPerfonen 
vermachte. 

Selbftverftändlid) ta e8 zum Procei. Das Gut Beletoms 
war viele Millionen werth, aud) Hatte er viel Geld Binterlaffen, 
über das bei den Gerichten Proceffe geführt wurden; endlich fam 
die Sadhe an den Senat, und man muß annehmen, daf man 
bamal3 im Senat den lieben Gott fürchtete: Furz, die Sadje wurde 
ganz gerecht und auf Grundlage de8 Wortlauts de Gefeges ent- 
fhieben, d. 5. das Teftament Beletows wurde vernichtet und ber 
Befehl erteilt, daf das Stammgut nad) dem Recht der Erbfolge den 
näcjften Verwandten und directen Erben Befetonws übergeben werbe. 

Die Senatdentfcheidung war, Tann man fagen, in den legten 
Tagen des Lebens Katharinas erfolgt und nod nicht zur Yuss 
führung gefommen. 

Seit dem Jahre 1797 Hatte fich Ulfes verändert und bie 
Schreligkeit der Erfüllung der befonderen Befehle, die in den 
Zahren 1797-1800 oft, vielleicht immer in ber Eile, nad 
dem erften Blik auf die Sache, ohne fie völig zu erfafien, ohne 
fie zu beurteilen und zu erwägen, ohne Erkundigungen einzuzichen, 
gegeben wurden, bewirkte in Allem eine joldhe Verwirrung, ein 
folches Dunkel, wie zu Zeiten des Chaos. MUlle beeilten fid, Alle 
Hafteten fi) ab, Alle waren, wie e8 jdhien, in beftändiger Bewegung, 
Alle bemühten fi, Alle arbeiteten, uud nichts ging, Niemand 
wußte, wa er that, wie er e8 that, weshalb und zu weldem 
Zwed er fo that. Der Trommel-Lärm betäubte das ganze Kaifer- 
reih! Wenn man an die Jahre 17971800 denft, muß man 
fi} entfegen, e&8 war eine fürdhterliche Beit. 

Die Perfonen, die durd) die Genatsentfheidung das ihnen 
teftamentarifch vermachte große WBefetomfche Wermögen verloren 
Hatten, benupten da3 Chaos, das jeht Herrfchte, fie eiften in die 


Bivei Epifoden aus der Zeit Kaifer Pauls. 65 


Stabt des Hl. Peter und vermochten in Turzer Beit durch einen 
ftraff mit Gold gefüllten Sad oder durch; Affignationen fid) überall 
Thür und Thor zu öffnen. 

Alerei Kurakin, damals General-Procureur, der Perfon 
des Zaren nahe ftehend, da3 volle Vertrauen desfelben genichend, 
mit Gnaben und Würden überhäuft, in Ueppigfeit und Wolluft 
verfinfend, gierig, Habfüchtig und unerfättlid), zögerte nicht, bie 
Bittfteller gnädig anzuhören und richtete e&8 durch Betrug fo ein, 
daß ein Ufas an den Senat erging, in welchem jehr Tatoniich 
gejagt war: „Das Teftament Betetorws ift in feiner vollen Kraft 
zu beftätigen.“ 

Der Bevollmächtigte der directen Erben Beletows, Maikom, 
ein Leibeigener Beletows, ein Mann von großem Verftande und 
ungewöhnlicher Kühnheit, eilte, nachdem er von bem Befehle, feine 
Vollmachtgeber ihrer Erbichaft zu berauben, erfahren Hatte, nad) 
Petersburg, berieth fi mit GR. Derifawin und befchloß, beim 
Baren eine lage einzureichen — gegen den Zaren felbft. Nur 
Benige wuhten von ber Mbficht Maikows, wahrfceinlic nur 
Derigarin allein. 

Lange Zeit ging Maitow auf die Wachtparade: biefer Play 
hatte damals große Bedeutung, auf ihm entjchied fich das Schidfal 
vieler Dinge. Dort, beim Trommelfclag, wurde Krieg erklärt 
und Friede geichloffen, wurben Werträge bictirt, graufame und 
gnädige Befehle erlafjen; Haufenweife führte man von der Wacht: 
Parade die Leute zur Deportation ab, zur Einfperrung auf Lebens 
zeit in eine Feftung, in ein Sfofter, oder bejcjentte fie mit Würden 
und Orden, theilte Güter und Bauern aus, wenn man einen 
glüdlihen Augenblid erhafchte, wo Paul Petrowitich Heiter war, 
zufrieden mit den Uebungen auf der Wadht-Parade, wenn das 
Bataillon rottenmweife in gerader Linie einhermarjhirte; Taut und 
gebehnt riefen bie Offiziere ihr: Steht, richtet Euch! Paul 
Petrowoitfch verkündete dam: Leben Manne ein Glas Brannt- 
wein, ein Pfund Fleiß, einen Rubel! md begann fein Lieblings» 
liedchen zu fingen: 

Tannenwald, mein Tannenwald, 
Mein dichtgewachjener Virfenmwald, 
Trallali-Tralla. 

1 


66 Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’. 


Diefen Augenblid mußte man wahrnehmen, damı war Paul 
Vetrowitich gutherzig und zugänglich, hörte Jeden gebuldig an, 
handelte milde und gerecht. Maitow erhaichte diefen Augenblid. 
Us Paul Petrowitih fi gerade bereit machte, fein Schlahtrof 
Fripon zu befteigen, fiel Maitorw auf die Kuiee, Iegte die Klage: 
ichrift auf feinen Kopf ımd erwartete zitternd fein Schidjal. 

Der Heitergeftimmte Zar nahm gnädig das Papier von feinem 
Kopf und fragte Maikom: gegen wen? 

Gegen Dich, Herr, meine Buverficht! 

Gut, wir werden fehen, md fich auf? Pferd jegend rief er 
Maitow zu: folge mir. 

Maitow lief vom Ererzierhaufe bis zur Treppe des Palais 
und al3 der Kaifer vom Pferde ftieg, erfühnte Maikorw fidh, ihm 
an fich zu erinnern: id) bin hier, Herr, wohin befiehtft Du? Cs 
erfolgte die Antwort: mir nad). Der Kaifer wollte die Treppe 
Hinauffteigen, Maitor hielt Paul auf und fagte: 

Herr, meine Zuverficht! man wird mic) fortbrängen, nicht 
aulaffen. 

Wer? fragte der Kaifer. 

Maitow überfhaute die den Kaifer umgebende Suite und 
gab ihm fo zu verftehen, daß fich Viele finden dürften, die ihn 
fortdrängen und ihm nicht geftatten würden, ihm zu folgen. 

Der Kaifer fah auf Maitow und auf die ihm Umgebenden 
und jpradj: Sie werden e& wicht wagen; mir nad), bleibe nicht 
zurüd. 

Ermuthigt did) den gnädigen Musipruch des Zaren, folgte 
Maifow fejten Schrittes dem unumfchränkten Gebieter über 50 MN. 
Menfhen. Maitow blieb beim Zaren im Cabinet jtehen. Der 
Zar mahın die Magefehrift aus feiner Tafche, Ins fie zweimal 
durd), dachte nach, ging im Zimmer auf und nieder und fragte, 
fih zu Mailorw wendend: 

Schreibft Du wahr? Lügft Du nicht? 

‚Herr, meine Buverfiht! erwiderte Maifow, Dein ift das 
Schwert, mein Kopf fliege von den Eejuftern. Die Iautere Wahrheit! 

Wir werden fehen, fagte ber Kaifer und jcheltte. 

Bu dem auf den Ruf Hereintretenden Flügel-Abjutanten: 

Den Ober Procurene der allgemeinen Verjammlung zu mir, 


Zwei Epifoden aus der Zeit Raifer Paul’s, 67 


Nach einer viertel Stunde ftand jchen der Ober-Procureur 
vor dem Baren und zitterte wie ein abrifarbeiter nad) über« 
mäßigem Zrinfen. 

Der Kaifer fragte den Ober-Procureur: Welchen Ufas habe 
id in der VVeletonfchen Teftaments-Angelegenheit unterfehrieben? 

Der Ober-Procureur zitterte nod) ftärfer als früher und 
mußte eingeftehen, da er fich diefes Ufafes nicht erinnere, 

Der Kaifer geruhte ihm zornig zu enwidern: Woran dentft Dir 
denn, wenn Du Did) meiner namentlichen Befehle nicht erinmerft ? 
30 an der Sttingelfchum und fpradh zur Hereintretenden Orbonang: 

Den Dber-Seeretär der allgemeinen Verfanmfung zu mit. 

E3 erfdien der DOber-Ceeretär ebenfo bebend, er zitterte 
ebenfo wie der Procureur und mußte cbenfo befennen, daß er fid) 
de3 Ufafes nicht erinnere, Der Kaifer fah den Ober-Secretär 
an und geruhte zu jagen: 

Und Du bift eben fold) ein Nindvich, wie der Ober-Procureur, 
elle Dich, jet, neben ihn. Und abermals zog er an der Schnur: 
dem Hereintretenden Abjutanten geruhte er zu befehfen: den Tid)- 
vorfteher aus dem Senat herbeizuführen (dem Herr, bei dem die 
Acte über das Beletowiche Teftament fid) befand). 

Bald wurde auch) der Tifcvorfteher vorgeführt, mit Fett- 
fleden bejäet, unrafirt, mit einer rothen Perüde, bucdelig und mit 
einer Warze auf der Stirn, aber nüchtern und feine Sad)e verftehend. 

Nun, was wirft Du mir fagen, Du Schurke? fragte ihn 
der Kaifer. 

Worüber ift c8 Er. Majeftät gefällig, mich zu befragen? 
wenn ich «8 weiß, allergnädigfter Herr, werbe ic Ew. Majeftät 
darüber berichten. 

Vernünftig! fagte der Kaifer und fragte den Tifhvorftcher: 

Weld’ einen Ulas, mein Herr, Habe ich Hinfichtlicd des 
Befetorofchen Teftaments unterfchrieben ? 

Der Tifchvorfteher räufperte fich, machte eine Verbeugung 
md berichtete: 

Ar dem und dem Monat und Datum haben Sie allerhöchft 
gerußt, alfergnädigfter Herr, einen Ulas Em. Kaiferl. Majeftät 
an den Dirigirenden Senat über die Veftätigung des Befetowichen 
Teftaments ergehen zu Taffen, 


68 Zwei Epijoden aus der Beit Kaijer Paul’s. 


Gut, fagte der Kaifer; aber ftand nicht diefer Ufas in 
Widerfpruch mit dem Grundgejeg? 

Allergnäbigfter Herr, erwiderte ber Tifchvorfteher, ich zuerit 
ränfpernd und verbeugend, die Allerhöchite Willensänßerung Erw. 
Majeftät erfolgte den beftehenben Gefepen zuwider. 

Sprichft Du die Wahrheit? fragte der Zar den Tifcivorfteher, 
lügft Du nicht? 

Wie follte ih es wagen, Erw. Raiferl. Majeftät, meinem 
allergnäbigften Herrn, einen Tügenhaften Bericht abzuftatten! 

Bei dem legten Wort zog der Zar wieber an ber Gloden- 
{mu und gerußte dem Eintretenden zu Befehlen: 

Augenblidlih den General-Procureur hierher! 

Nicht viel Zeit verfloß vom Befehl 6iß zu feiner Ausführung. 
Der Kaifer geruhte allergnädigft fi) auf den Empfang feines 
Würbenträgers, der ben Namen „Auge des Baren" führt, vorzit- 
bereiten. Ce. Majeftät gerufte auf fein Haupt einen mächtigen 
goldsgalonirten Hut zu fegen, z0g Handjduhe mit fehr großen 
Stulpen an, nahm einen Mohrftod, ftügte fi auf einen Schreib- 
tif oder ein fog. Bureau und erwartete daB Erfcheinen des 
Fürften Rurafin. 

Kaum zur Hälfte öffnete fich die Thür des Ratferlichen 
Gemad3 und der wohlbeleibte Fürft, vielleicht eben aus dem Bett 
geriffen, rafch belfeidet, aber mit allen Attributen feiner Würde, 
mit gepubertem Qoupet und die Haare an den Schläfen zu Loden 
aufgedreht, trat langfam mit zitternden Füßen ein, da fam Paul 
Petrowitfch dem Alerei Kurakin mit dem brüßfen Vormurf zuvor: 

Rindvieh, was für einen Ufas Haft Du mir zur Unterfchrift 
untergefdjoben? Schuft, antworte, wie Tonnteft Du mich mit 
Maikow auf dasfelbe Vrett bringen, md in Wirklichleit ift ja 
Maikorw im Redt! 

Der ürft begann: Em. Majeftät, — doc) er Fonnte nicht 
einmal biefe Worte beenden, und Niemand hat je erfahren, wie 
er fid) vor Paul Petrotwitfch zu teditfertigen gebachte, weil er nur 
Hervorbringen Tomte „Daje“, doc) das „flät“ blich im fürftlichen 
Munde fteden, denn Paul Petrowitich ließ ihm eine Ermahmung 
zufommen, ähnlich wie e3 Peter I. mit feinen Günftlingen that, 
wen er fie de3 Vetruges überführt Hatte, 


Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’s. 69 


Danfe Ihnen, mein Herr, fagte der Kaifer zum Tifchvorfteger, 
Sie verftchen Ihre Sache, id bin mit Ihnen zufrieben. (Zu 
Maitow): Du Haft gefehen, gehe nach Haufe, ic) werde Alles 
nad) dem Gefege thun, 

Maitow: Ich werde nicht fortgehen, Herr. 

Vie? Du wirft nicht fortgehen? Id) befehle e8 Dir. 

‚Herr, meine Buverfiht! Ich werde nicht Bis zum Hofe 
tommen. 

AH fo! Ich verftehe, fprad) der Kaifer, zog an der Schnur 
und gerubte dem Hereintretenben zu befehlen: 

Sage dem auf der Hauptvache wachehabenben Capitän, er 
folfe einen Offizier, einen Unteroffizier und zwei Reihen Grenadiere 
zu mir abcommandiren. 

Der Befehl wurde augenbliclid) erfüllt und Paul Petrorvitfch 
befahl dem mit feiner Mbtheilung Hereintretenden Offizier, Maitor 
an ber Hand nehmend: 

Belieben Sie, mein Herr, diefen Mann, wohin e3 ihm 
gefällig fein wirb, Hinzugefeiten, aber fehen Sie zu, baf nicht ein 
Haar von feinem Haupte verloren geht, Sie jelbft werden mir mit 
Ihrem Kopfe dafür Haften. (Bu Maifow): Gehe und fürchte 
Niemanden, ich werde Alles nad) dem Gefege thun. 

Mit Heiterem Geficht, mit frohem Herzen entfernte fic, 
Maitow aus ben Kaiferlichen Gemädjern, bod) war er nicht ohne 
Furt. Er fürdptete, daß, wenn der Born de3 Zaren nachließe, 
ber dur den Mohrftod gefnidte Große fid) wieder aufeihten, 
von Neuem berichten, vom Gegentheil überzeugen könnte, und bann 
die unparteiifche Amute des Henters auf feinen, Maikorws Rücken 
niederfaufen würde. Er bat den Offizier, ihn zum Haufe des 
Gabriel Romanowitfch Derfhamwin zu geleiten, ber 
bei Kaijer Paul Vortrag zu Ealten Hatte und den diefer genau 
farmte. Man führte den blaffen, verftörten, zitternben Maitor 
ind Cabinet Derjawins. Derfhawin felbft war erfKredt über 
den Zuftand Maikors, glaubte, daß e3 ihm beftimmt gemwelen, zu 
leiden, und fragte ihn: 

Bas ift mit Dir, Mailow, was war da? 

Em. Egeellenz, anttwortete Maitow, geben Sie mir Beit, 
mid) von meinem Schref und von meiner Zreude zu erholen, 


70 ‚Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Panl's, 


mein Gerz feplägt heftig, and fan id) in meinem Kopf nicht 
die gehörige Ordnung twiederherftellen, ich fage nur, Egeelfenz, 
man toird fie bald zum Saifer rufen, Sie werden General» 
Procnreur werben, 

Derfpawin glaubte, Maitow Habe vor Schret den Verfland 
verloren; folche Fälle waren zu jener Beit nicht felten, daß man 
in Folge der bamaligen fehr harten Schidfatsfchläge wahnfinnig wurde. 

Noch) jah Derjpawin voll Zweifel auf Mailow, noc) Happerten 
Veaitows Zähne und er vermochte nicht fie zufammenzubeißen, da 
öffnete fi die Ihre, ein Feldjäger trat herein und berichtete 
Derfjawin: 

Ew. Epeellenz, belieben Sie zum Kaifer, Se. Majeftät 
erwartet Sie. 

Kurakin reifte auf fein Gut Kurafino ab. Derfharin wurde 
General-Procureur. 


I. 


Neledinski war feit Beginn der Negierung Kaifer Pants 
deffen Staat3-Gerretär. Bon Natur mit einem scharfen, durd)- 
dringenden Verftande begabt, gut gebildet, im Vefige umfafjender 
Kenntniffe, war er in jeder Beziehung würdig, dem Selbjtherricher 
Nulands nahe zu ftehen. Nicht fEwer war c8 für Neledinsti, 
die Choraftereigenfehaften feines Gebieters Tennen zu fernen, feine 
Liebe und fein Vertrauen zu gewinnen. Mit ganz befonderer 
Kunft verftand er «8, dem aufbraufenden, ftörrifchen, fchredhaften 
und im erften Ausbrucd) des Borns änferjt harten Kaifer Vortrag 
zu halten, 

An einem jehr heißen Iulitage in Parwlorwst beliebte c3 dem 
Kaifer, den Vortrag auf dem Balkon anzuhören. MRafch wurde 
Alles in Vereitfehaft gejeßt, d. h. auf dem Valfon wurden eit 
Tild) und zwei Seffel Hingeftellt und der Vortrag begann. Die 
Vorträge gefchahen in Sachen von Criminat: Verbrechen, die ihre 
Betätigung erhalten muften. 

Schon waren je Urtheile im gnädigen Siume confirmirt 
md dag Schicjal der Verbrecher erleichtert worden. Da erfdeint 


Zwei Epifoden au3 der Zeit Kaifer Paul’s. 21 


eine Fliege, — fie fummt, fie umfreift den Baren, bafd jticht fie 
ihm in die Nafe, bald beißt fie ihn auf der Glahe. Wohl wird 
fie mit der Hand verjagt, doch die verwünfehte Fliege fäht fi 
nidht einfchüchtern! Sie fliegt fort, aber gleich ift fie wieder da! 
Pant Petrowitfc) befand fid) im Zuftande ftarter Aufregung mıd 
al3 Antwort auf die Vorträge wurden die Urtheite inımer härter. 
Vom Wunfche geleitet, Viele von zu ftrenger Veftrafung zu retten, 
beichloß Nelebinsti den Vortrag abzufürzen, umd berichtete bem 
erzürnten Kaifer: 

Em. Majeftät, ic bin zu Ende; weiter Habe id) Em. Mas 
jeftät nichts vorzutragen. 

Paul athmete auf, fagte: „Gut, mein Herr“, ftand vom Seffel 
auf und ging fort. 

ES vergingen drei Wochen, vielleicht and mehr wie ein 
Monat, da erhajchte Nefedinsf einen Angenblict, wo Paul Petro- 
witfh gut aufgelegt war amd brachte Sr. Majeftät einen ganzen 
Stoß von Meten zur Beftätigung. Die Arbeit begamm. Nachdem 
Neledinzti über zehn ober mehr Urteile referirt hatte, begann er 
aufs Neue über diejenigen zu berichten, die fehon beftätigt waren, 
damals als der Kaifer gereist war. 

Paul hörte den Vortrag a uud fagte, ohne zu entjcheiden, 
zu Neledinsti: 

Wollen Sie die Ucte bei Seite legen, mein Her; jpäter 
werde ich Ihnen meine Entjcheidvung jagen. 

One zu verzagen las Neledinsfi nochmals eine zweite Arte 
vor, die fehon beftätigt worden war. Der Kaifer jah rafch auf 
Neledinsti wud befahl idm and) diefe Aete bei Seite zu legen. 
Neledinski begann in Verwirrung zu geraten md war vielleicht 
bereit, über andere Sachen vorzutragen, aber mehrere von den 
Acten, die im böjen Augenblick beftätigt waren, befanden fid) der 
Reihe nad) auf einander gejdjichtet. Anszufuchen und unter den 
Augen Pauls in den Papieren zu wühlen, war unmöglich; nicht 
ohne Furt und in Erwartung der Deportation nad Sibirien 
oder der Einperrung in eine Feftung begann Neledinski über eine 
Sadje vorzutragen, die ebenfalls in dem unglücichen Augenblide, 
al8 die Fliege ftadh, beftätigt worden war. 


72 Zwei Epifoben aus der Zeit Kaifer Pauls. 


Aufmerkfam jah der Bar den Vortragenden an, drehte fich 
im Seffel Hin und her, an ihm war eine große Unruhe bemerkbar, 
und faum hatte Nelebinski den Vortrag zur Hälfte beendet, da 
fprang der Zar von feinem Seffel auf, erfafte Nefebinsti an beiden 
Händen und fpradj: 

Zuri Aegandrowitih, id) fee &, Sie verftchen das Herz 
ihres Kaifers, id danfe Ihnen dafür, mein Herr. 

Und alle Artheife wurden mit ungewöhnficher Mitte beftätigt. 


er 

















Gin piendonymer Brief 
des Gtantsrathö Chanylom an den fürften Gumorom 


vom Jahre 1848, 


garen ‚Beitgenoffen werben fid) der einft viel genammten Chanyfow- 
Stadelbergfcjen Commiffion feyr wohl erinnern, da8 jüngere 
Geflecht dagegen wird Höchftens eine dunkle Vorftellung von ihr 
haben, zumal durch eine Fülle von fpäteren tief in das baftifche 
Leben eingreifenden Creigniffen die Vorgänge der vierziger Jahre 
in den Hintergrund gedrängt worden find. Zum Verftändniß des 
folgenden Briefes, forwie zur Würdigung feines Verfaffers ift e8 
erforderlich, fich die Hauptmomente der Thätigkeit und bes Zwedes 
jener Commiffion zu vergegenwärtigen. Der Minifter des Innern, 
Peroweti, hatte 1842 eine Commiffion zur Nevifion der Kivländifchen 
Städte angeordnet, die, aus dem Baron Adolph von Stadelberg 
und dem Titulärcath Beklemyfcher beftchend, aucd) bald darauf ihre 
Thätigfeit begann. Eine erhöhte Bereutung erhielt die Commiffion 
unter dem eneralgouverneur Golowin, als im Juni 1845 ber 
Staotsrath Chanytom als Präfident an ihre Spipe trat und fie 
durch nee Mitglieder, darunter au Juri Samarin, erweitert 
wurde. Die Commiffion concentrirte jeht ihre ganze Thätigkeit auf 
die Revifion der Stadtverwaltung von Riga und befchlof zufegt 
die Ausarbeitung einer neuen WVerfafjung für die Metropole der 


14 Ein pfeubonymer Brief 


baltifchen Provinzen. Baron Stadelberg, ber 1865 al8 Geheimrath 
geftorben ift, that fich bei dem BVeftreben ver Commiffion, alle nur 
möglichen Mifbrändhe, Ungefeplichleiten und Uebergriffe des Riga 
Sehen Nathes aufzudeden und feitzuftellen, befonders Hervor, er ging 
namentlich daranf aus nachzuweifen, wie wenig die alten Privifegien, 
auf bie ji) der Rath und bie Gilden beriefen, von den Ständen 
feloft, von den ftädtifchen Behörden und Corporationen und au) 
von Privatperfonen eingehalten ımd geachtet würden. ME Hifto- 
rifer und Statiftifer ftamd ihm Juri Samarin treulic, zur Seite, 
während Etaatsrath Chanyfow das Ganze birigierte. Der Rath 
mußte auf alle Anfragen der Gonmiffion fchfenigft Antworten 
und Grtlärungen abgeben und war in fehwieriger Lage, da at 
feiner Spihe al wortführender Vürgermeifter ein Mann ftand, 
der mit der Commiffion Hand in Hand ging. So häuften fich in 
den Jahren 1845 bi8 1847 Stöfe von Mcten bei der Commiffion anf. 
Die Commiffion gewann die Weberzengung, daf mır durd) eine völlige 
Befeitigung der alten Ordnungen und eine neue der ftädtifcdhen 
Verwaltung im Immern des Meiches angenäherte, dem Eingreifen 
und der Gontrofe ber Negierungsgemalt vollen Spielraum Lafjende 
BVerfafung der bisherige Zuftand von Grund aus geändert werden 
könne. An die Abfaffung einer folchen machte fd) mın Staatsrath 
Chanpfom mit großem Eifer. So fagen die Dinge, als ein 
Wedjfel in der Leitung des Generalgouvernements eintrat, indem 
Fürft Suworow 1848 an die Stelle Golowins trat. Fürft Sur 
worow fand bald nad) feiner Ankunft in Riga am 18. März, daf 
die Commiffion in fehr einfeitiger Weife ihrer Aufgabe nad;gefommen 
war und fegte ihre Abberufung durh. Schon am Anfang Iuni 
ah fi) Staatsrath Chanykorw veranlaft, Riga zu verlaffen, viel 
Teicht mit in Folge des Hier zum Abdrud gelangenden Briefes, 
defien Verfaffer dem Fürften Sumworow wohl nicht fange unbefannt 
geblieben it. In Petersburg arbeitete Chanyfow ben Entwurf für 
die nene Verfafjung Rigas völlig aus, den der Minifter Perowafi 
dann beim Neichsrath einbrachte. Fürft Suworow fah dadurd) feine 
Autorität beeinträchtigt und jeßte e8 durd), daß der Chanykoriche 
Entwurf zuerft zur Prüfung dem Djtjeecomite übergeben wurde. 
Pratifche Bedeutung hat das Chanykowfche Project nicht erhalten, 
obgleich e8 noch mehrfach zu Verhandlungen darüber gekommen ift, 





des Staatsraths Chanylorv an den Fürften Suworom. 75 


Stadelberg Hat aud) von Petersburg aus feine Angriffe auf bie 
Stadtverwaltung von Riga fortgefegt, allerdings ofne Erfolg. 

Der hier im deutjcher Neberfepung mitgetHeitte Brief, eigentlich, 
eine umfaffende Deuffcrift, ift in mehr al8 einer Beziehung von 
nicht geringem Üntereffe. 

Su wie weit der Fürft Suworow den ihm Hier unerbeten 
etheiften Rathfchlägen Gehör gefehentt Hat und nachgefommen it, 
Ichet die Gefchichte feiner Verwaltung, wie fie Gefeimrath Arnold 
von ZTidebögl CF 1883) in feinen, Teider nur al8 Mamufeript 
gedrudten, Buch über die Verwaltung des Fürften actenmäig und 
fachfundig geichilbert hat. 


76 Ein pfeudonymer Brief 


Durdfaughtigfter Fürft 
Alerander Arfadjewitid. 

Wir fennen uns nicht perjönlih. Ich Habe Sie zum erften 
Male auf Ihrer Sendung nad) Koftroma fennen gelernt, und Sie 
werben mic) niemals fennen lernen. Das hindert mich aber nicht, an 
Sie zu jchreiben. Der vortrefflihe Name, den Sie tragen, ber 
Name des ebenjo fehr durd) feine Großthaten als durch feine 
Voltsthünifichteit berühmten Helden md das Ant, weldes Sie 
gegenwärtig beHfeiden, veranlafjen mich, meine Unfichten offen gegen 
Sie auszufpreden. 

Das Land, welches durch das Allerhöcjite Vertrauen Seiner 
Kaiferlichen Majeftät Ihrer Verwaltung übergeben worden ift, 
verdient ein genaues Ctudiun. Seit anderthalb Iahrhunderten 
Rußland angehörend, bleibt e$ demjelben fremd uud wenn das 
Neich nad dem Beijpiel feiner gefrönten Herrfcher fi daran ges 
wöhnt Hat, 8 zu feinen integrirenden Theilen zu zählen, e8 nicht 
mr al3 einen Blutsverwandten zu betrachten, fondern c3 aud) aufe 
richtig zu lieben, fo erwiedert jenes Land in feiner Weife dies 
heifige Gefühl des Staates, der «8 in feinen Verband aufnahm. 

Um uns von diefer Wahrheit zu überzeugen, wollen wir die 
Stellung desfelben ausführlich betraditen und durch Beifpiele zu 
erläutern nen. Zwei Gefühle, zwei Ideen, innig mit einander 
verbunden, bilden die Macht der Staaten und der WVölfer: das 
Gefühl der Liebe und die Begriffe von Kaifer und Vaterland. 
Wir wollen einmal betrachten, wie fich diefe Ideen in den Ditjeer 
fändern und wie in dem übrigen Theile Ruflands verhalten. Der 
Begriff Kaifer entHäft für den Auffen chung Göttfiches, die Idee 
eine8 Heiligthums, in welchem Leben, Madjt und Sclbftftändigfeit 
des Volfes ruhen. Das Sprichwort: der Zar ift der irdifche Gott, 
ertlärt beffer al8 alles Webrige die Idee, weld)e das ruffifche Volt 
mit dem Haupte des Neiches verbindet und macht, mächtiger als 
jede Charte, die Perfon des Herrfhers zur einer geheifigten und 
und unantaftbaren. Soffte e8 nöthig fein, hieraus nod) Folgerungen 
zu zieh? Die Gefchichte des Wultes und die Begebenheiten der 
‚Beiten Alcganderd 1. jtehen noch Jedem vor Yugen md müffen 
beredter al3 jedes Naifonnement von diejer Wahrheit überzeugen. 
Hat nun der Kaifer in dem von Ihnen verwalteten Lande etiva 





des Staatsrath3 CHanykorw an den Fürften Sumworow. 77 


diefelbe Bebeutung ? Dort repräfentirt er nur die Idee der Gewalt, 
der politijchen umd ftaatlichen Macht, deren Willen zu gehorchen 
ohne eigenen Nachtheil nicht nur nothwendig, fondern fogar vor: 
theifgaft it. Zur Unterftüßung biefer Auficht dienen biefelben 
Zeugen, die fon vorher aufgeführt worden, nämlich die Geichichte 
des Landes und bie Epoche des vaterländiihen Krieges. Die erftere 
wird Sie überzeugen, daß die von diefer Jdee eines Monarchen 
durdjdrungenen Bervohner der Dftfeeländer ftets aflen Regierungen 
treu gewejen find, Die bei ihnen geherrjcht haben, was fie jedod) 
nicht behindert, von Hand in Hand zu gehen, und der polniichen, 
dänifchen und ruffiichen Herrichaft anzugehören. Wenn fie aber 
treu bei diejer Iepteren Herrichaft verblieben find, fo läßt fid) ohne 
Vorwurf für fie der Grund Hiervon weit cher im der Macht diejes 
Reiches, das feit der Eroberung diefer Länder bei fteter Erwerbung 
neuer Provinzen nod) keine. Spanne feines Bodens verloren hat, 
als in ihrer Anhärglichleit fuchen. Die zweite aber wird Ihnen 
zeigen, daß während der jchweren Prüfung des Vaterlandes im 
Sabre 1812 Kurlanıd feine Bedenken trug, die franzöfiche Herrs 
ichaft al3 eine gejegmäßige anzuerkennen; daß dagegen aber, um 
die Worte einer Flugfchrift zu gebrauchen, Liv» und Gjtland, wo 
nur ruffische Heere jtanden, Rußland umerfchütterlic tren blieben. 
&3 ift befannt, wie die Bewohner jener Gegenden als einen Beweis 
ihrer Treue und ihrer Anhänglichkeit für Kaifer und Vaterland 
gewöhnlich ihre Dienfte im Militaie und die Errichtung von Frei- 
corps im Jahre 1812 anzuführen pflegen. Allein wir wollen uns 
erinnern, dab, befeelt dom allgemeinen Haf gegen die Gewaltherr- 
fhaft, auch, Hamburg und Lübet cbenfolche Freifhaaren bei fid) 
errichteten. Was aber die Militairdienfte betrifft, jo werden Sie 
einverftanden fein, daß diefer Beweis der Auhänglichkeit fürs Va- 
terland vermittelit de Dienftes ein äuferft fÄinanfender it, weil 
Sie im entgegengefepten Falle zugeben würden, da die Schweizer: 
garden, welche den Bourbon jo treu gedient, Frankreich mehr 
geliebt Haben müfjen, als ihr helvetiiches Vaterland. 

Auszeichnungen im Dienfte Lönnen ala perfönliche Eigeufchaften 
ganzen Ständen weder Ehre nod Schande bringen und beweifen 
nichts für die Mafien. Gegen einen Barcday ftelle ich ihnen 
jwei auf: Biron und Pahlen. 


78 Ein pfeubonymer Brief 


DOfme Vaterland giebt e3 fein Volt, ohne Liebe zu demfelben 
fein dauerndes Band für feine Theile. Das baktiiche Küftenland, 
von Gnadenbezengungen der Herrfcher überjchüttet, Tebte is jebt 
ein ioliertes Dafein umd während c3 alle Vortheile der Verbindung 
nit einem großen Staate und einem mächtigen und guten Volke 
genoß, nahın e3 an feinem feiner Leiden Theil. Ju biefen Falle 
wird die Sadje beffer durch ein Beifpiel erläutert als durd) Worte. 
Am Anfang des gegemvärtigen Jahrhunderts nahm ganz Rußland 
den innigften Antheil au dem Gejchide Nevals, das durch eine 
fürchterliche Fewuersbrunft, die ein Blig verurfachte, jehr gelitten 
hatte. Bur Wiederherftellung der Dlais-Sirche flofjen Unterftügungen 
aus ben entjernteften Gegenden der inneren Gouvernements des 
Reiches ein und follten diefe Unterftügungen aud) den Gebädhtniß 
Nevals entchwunden fein, fo bürften fid) wahrfeheinfich in ben 
Ranzlei-Urdjiven der Stadt noc) Notizen darüber vorfinden. Würde 
68 nicht Em. Durchlaucht gefallen, darüber Auskunft einziehn zu 
wollen, ob mit Ausnahme der ruffichen Einmwohnerfchaft jener 
Gegenden dort aud) mur ein Kopefen zum Bellen eingeäfcherter 
ruffifcher Städte, wie 5. B. Tulas, Kafans oder Ardangels, einr 
gefloffen fei? Zugleich werden Sie fic) überzeugen fönnen, daß «8 
in dem ganzen Lande fein Städtchen giebt, die winzigften nicht 
ausgenommen, welche nicht Einfammlungen zum Velten Hamburgs*) 
veranftaltet Hätte. Wo ift mın das Vaterland ? 

Weil ih in zwar nur flüchtigen — da id) einen Brief und 
kein Bud) fhreibe — aber doch in charakteriftifchen Zügen ein Bild 
der freiwilligen Entfremdung ber Bewohner ber Oftfeeländer von 
Rußland entworfen habe, fcreite id) zu der Iogiichen Fols 
gerung: ohne Liebe zum Vaterlande -- id) bitte Sie, dies Wort 
nicht mit Heimath; zu verwechjeln -- giebt e8 aud) feine wahre 
und unerfhütterliche Ergebenheit gegen Thron und Fürften. Des» 
Halb ift «8 dem Bewohner ber Oftfeeliifte völlig gleichgültig, wo 

*) Ms Hamburg durch den furchtbaren Brand im Jahre 1842 größten: 
teils eingeäfdpert war, wurden Sammlungen zum Beften der unglücklichen 
Gintwohner überall in Europa veranftaltet und reiche Spenden fleffen aus de 
verfchietenften Gegenden ein, wicht nur aus den Oftferprovingen, fenbern aud) 
aus Petersburg und Moslau uud anderen Städten der Reicher. 


Der Heranägeber. 


des Staatsrath Chanyfow an den Fürften Sumorow. 79 


der Mittelpunkt der Regierung fic) befindet, ob in Moskau oder 
Stodholm, ob in Petersburg oder Warfdau, wenn nur feine 
Privilegien und Handelsrechte unangetaftet bleiben. Wiederum 
rufe ich das Zeugnif der Gefdjichte für Diefe Wahrheit auf. 
Empfinden Sie jegt den Unterfehieb zwifchen ihm und einem Nuffen? 

Ich Habe auf das Verhältnig der VBervohner des Ihnen 
amvertranten Gebiet? zu Kaifer und Vaterland Hingewiefen und 
muß jegt, wenn aud) mr obenhin, ihre Gefühle für alles Ruffiiche 
überhaupt berühren. 

In den Städten und befonderd in Riga ift die ruffiiche Bes 
völferung fehr zahlreich. Dieje zur örtlichen Vürgerfchaft verzeich- 
nete Bevölkerung entbehrt aller wefentlichen Rechte eines ftäbtijchen 
Standes und muß, wiewohl durd; Sprache, Herkunft und Religion 
dem Waterlande angehörenb, welches bdiefe Provinzen mit feinen 
Blute erwarb, deunod bie fehimpflichfte fittliche Erniedrigung 
erdulden. Des Rechts beraubt an der ftädtifchen Verwaltung theil- 
zunehmen, von deu Vorrechten der Ziünfte und Inmungen dort 
ansgejchloffen, two Alles gewifjermaßen ein Zunftleben atymet — ift 
diefe Bevöfferung, in gleicher Kategorie mit den Juden, nur auf die 
Handelsinduftrie eingefchränft und dazu verurtheilt, ihre Kinder in 
eviger Unwiffenheit zu jehen, weil fie feinen Einfluß auf die Ver- 
waltung, fein Mittel bejigt, die öffentliche Erziehung zu befebei. 
€3 ijt befamut, wie man ihre Ausfchliegung aus ber fogenannten 
Bruderfchaft, ohne welche ber volftändige Befig der bürgerlichen 
Rechte nicht erlangt werben kann, durd, zwei Momente rechtfertigt: 
1) daß die Mblehnung ihrer Wufnahme nah demfelben Princip 
gefehehe, mad) welchem bie Mitterfhaft dem zuffifchen Abel bie 
Aufnahme in ifre Matrifel verfagt, und 2) daf die Ruffen nicht 
gepungen wären, fid) in biefen Gegenden niederzufaffen, wenn bie 
Bedingungen folder Niederlaffung für fie unvortHeilgaft feien. 

Allein tas erfte Moment, wierogl feinem Wefen nach abfolut 
wahr, weil aud) der Mel in feinen Veziegungen zu Rußland von 
denfelben feindfeligen Gefühlen geleitet wird, ift doch unvichtig in 
feiner Amvendung. Der in die Matrifel nicht aufgenommene Edel- 
mann bewahrt feine Rechte im Umfange des ganzen Kaiferthums, 
mit Ausnahme von nur 3 Provinzen, und ift er in die Datrifel 
eingetragen, jo tritt er damit nur in den Genuß aller Necjte der 

Waltifpe Monatöferift. Wb. NLIV. Seft 2. 2 


80 Ein pfeubonymer Brief 


örtlichen Nitterfchaften ein. Das Mitglied ber ftädtiihen Gemeinde 
befindet fi) dagegen in einer ganz anderen Stellung. Mit Ans 
nahme feiner Stadt genießt er nirgend mehr ba8 Bürgerrecht und 
ift er zu einer ftädtifchen Gemeinde der Oftfeeprovinzen angefchrieben, 
fo entbehrt er biefeg Mechtes aud) noch inmitten feiner Mitbürger. 
Müffen Sie nicht jelbft zugeftehen, daß Privilegien einer Stadt 
und nicht einer Rage oder einer Confeffion ober einer Sprache 
verliehen worden find? Man wird Ihnen fagen, wie gegenwärtig 
die Rigafche Bruderichaft zur Aufnahme von Ruffen gern bereit fei. 
Allein wen follte «8 entgehn, daß fie dadurd) mur ein für alfe 
Mal fid) von allem Antheil der Ruffen befreien will, indem e8 zur 
ihrer Kunde gelangt ift, daß die Aufmerkjamfeit der Regierung 
bereit3 auf fie gerichtet fei. Durch Aufnahme von ein paar ruffiichen 
Mitgliedern gewinnt fie bie fertige Antwort, daf fie auch ruffiiche 
Mitglieder in ihrer Mitte zählt und fo gelänge «8, beufelben für 
immer den ferneren Eintritt in biefen Werein zu berfperren, wie «8 
die Bünfte gethan haben, nachdem fie ein paar rufjifche Handwerfer 
in ihren Kreis aufgenommen hatten. 

Das zweite Moment in der angeblid) freiwilligen Weberfie- 
delung der Auffen nach Niga ift mod) weniger begründet. Dit 
Ausnahme ber umteren Vollsjcichten, welche bem Rasfol angehören, 
etwa 9000 Eeelen betragen und fic dafelöft infolge des Schuges 
niedergelaffen haben, den man bort MWeberläufern gewährt, find 
die übrigen und befonbereß die Rauffeute, d. 9. alfo alle diejenigen, 
welche zum vollen Genuß des Vürgerredit3 hinzugelaffen werden 
müßten, zum größten Theil aus Plesfau, Smolenst und andern 
Gouvernements infolge der von der Kaiferin Catharina II. angeorb> 
neten Einführung ber allgemeinen Stäbteorbnung hier in Riga ein» 
gewandert. Bon dem Vortheil einer Hafenftadt angezogen, fiedels 
ten fie fi) dort im feften Vertrauen auf die Gefetgebung an und 
Tebten dort ruhig und aller ftädtiiden Medjte tyeithaftig Bis zur 
Ihronbefteigung des Kaijers Paul. 

Damals gelang «8 der Intrigue einzehter Würger, in St. 
Petersburg den Befehl zur Einführung der frühern Munieipal- 
Verfafjung auszuivirten, jedoch nur unter ber Bedingung, dah zu- 
vor bie Zuftimmung der Corporationen eingeholt würde. Dei bem 
inbeffen voflzogenen Ballotement entfehieb fid) zwar die Mehrheit 


des Staatsratha Chanyfoww an den Fürften Suworom. 81 


für die Veibehaltung der ruffifchen Verfafjung, allein nicht8beftor 
weniger erfolgte der Befehl"), diefe Verfaffung aufzuheben und zur 
frühen Ordnung der Dinge zurüczufehren. Seit jener geit befteht 
in Riga jene furdhtbare Dligarchie, über welche die Einwohner 
der untern Clafjen ohne Unterfcied der Rage nicht ohne Gefahr 
zu reden wagen. 

Dies ift die gefchichtliche Entftehung der ruffiigen Bevölfer 
rung de3 Dfteegebiets. Es fragt fi) nun, wodurd der edle ruffi- 
ie Vollsftanım die Erniebrigung verfchulbet habe, öffentlich, und 
offiziell der vollftändigen Theilnahme an allen Rechten derfelben 
Gorporationen, die felbft ihn in ihre Mitte aufgenommen, al8 un- 
wiidig anerlannt zu werden. Cima baducch nur, dab er, auß 
Meberzeugung der Regierung gehorchend, fi) durch unerfdütterliche 
Ergebenheit und golgfamkeit in einem jolcden Grabe außzeid« 
met, daß jelöft bie große Catharina eingeftand: wie unfer Natio- 
nalcjarakter in einem fcharffinnigen und fehnellen Begreifen alles Dar- 
gebotenen, in einem mufterhaften Gehorfam und in der Unlage zu 
allen vom Schöpfer dem Menfchengefchlechte verliehenen Tugenden 
beftehe. E3 wäre wohl nicht möglich, in diefer Angelegenheit Cathar 
rina nicht al8 competente Richterin anerkennen zu wollen. 

Ev. Durchlaucht eigner Blid muß entfcheiden, ob dies alles 
in derfelben Lage bleiben Lönne und bleiben müffe. 

Nachdem die Beziehungen jenes Gebiets zu dem Gtante flüch- 
tig berührt worden, erachte ic) «8 für mothiwendig, auch) einen 
Bid auf die eigentliche innere Organifation desfelben zu werfen. 
Seine innere Adminiftration, die Organifation feiner Behörden, feiner 
Eivil: und Griminalrechtspflege, feine Corporationen, feine Handels: und 
Gewerbeeinrichtungen — alles dies gewährt einen intereffanten An 
blit ımerfchütterlicher Aufrechterhaltung mittelafterliher Iuftitutioe 
nen. Dies alles hat, wenn aud) nicht im der Gefammtheit und 
Fülle feines mißgeftalteten Compleres, fo doc wenigftens tHeiltweife 
auch in dem übrigen Europa eimmal beftanden, ift aber Tängft ges 
funfen und fiegt unter feinen eignen Trümmern begraben. Nur 
in den Ditfeeprovinzen hat «8 fi) erhalten, aber aud) nur als 
Mumie, ohne Leben, ohne Vewegung, wie Herculanım und 


N) Ramentlicher Mas Raifer Pauls I. vom 28. November 1796. 
Der Herausgeber. 


2 


82 Ein pfeudonymer Brief 


Pompeji unter ber [hügenden Lavarinde und wie dag Leben unferer 
Shismatiter im Wuchftaben und nicht im Geifte. 

Bebarf «3 defjen noch Bier ausjufprechen, wie diefe ganze 
Organifation in der Gegenwart nicht befriedigen könne ? 

Man braucht fein erfahrener Adminiftrator zu fein, um fid) da- 
von zu überzeugen, twie Verjchiedenheiten und fogar Collifionen der 
einzefnen Inftitutionen nicht nur im Umfange bes ganzen Oftjeegebietes, 
fondern in einer und berjelben Stadt, 5. B. in Reval, teine befon- 
dere Bequemlichkeit für die Bufammenfegung der Abminiftrations- 
maschine darzubieten vermögen. &8 bedarf nur eines einfachen, 
gefunden und von Parteilihteit und örtlichen Borurtheilen geläu- 
terten Sinnes, um einzufehn, wie Corporations-Inftitute, die fi 
gegenfeitig ausjchließen, weder zu einer politiichen noch aud) zu 
einer ntoralifhen Einheit führen Lönnen, bie zu einer dauerhaften Or- 
ganifation einer Verwaltung doc, abfolut nothivenbig ijt. Selbft 
bie erften Clementarbegriffe vom Mechte reichen zu der Weberzeu- 
gung ans, daß eine Wermiihung der Criminal: und Givifrechts- 
pflege ebenfo entfernt von Wolltommenheit ift, a3 ihre praftifche 
Anwendung nur noch in ber Türkei und in den Oftfeeprovinzen 
anzutreffen fein möchte. 

Dem einmal von mir angenommenen Grundjage treu, gehe 
ich aud) Hier von theoretifchen Säpen zu Beilpielen über. 

Dant der ureigenthümlichen Organifation der örtlichen Mechtss 
pflege fchreitet die Verhandlung der Nechtsfadhen in den Ihnen 
anvertrauten Gonvernement3 mit bewwundrungswürbiger Langfamkeit 
fort und die kräftigften und energifchften Anregungen von Seiten 
der Eentralverwaltung müffen, durch das verwirrte Neth der Tocalen 
Gefege, Iuftitutionen und Gewohnheiten fi durcharbeitend, fo an 
Kraft verlieren, daß fie ihr Beil niemals erreichen. Sollten etwa 
Beifpiele erforberlic) fein? Fragen Sie nad) der Sadje des Poft- 
meiftere Mewves wider die Tivlänbifche Nitterfchaft, bie nicht wenie 
ger al3 30 Jahre bei den Behörden Liv, und Eftlands in Vers 
handlung geftanden Hat. Oder mac) der Verhandlung in Betreff 
der Aurhebung der Hebräiichen Kahald-Aemter in Kurland, oder 
aber 3. B. nad) den Verhandlungen hinfichtlich der von einem 
Rathöheren des Hapfalfchen Magiftrats verjchuldeten Verumntreu« 
ung jtädtifcher Gelder. Sie werden fid) nun felbft überzeugen, 





de3 Stantsraths CHanyfow an den Fürften Suworow. 83 


zu welchen Mefultaten bie fo vielfältig gepriefenen örtlichen Inftitu- 
tionen führen. Ich Hätte noch) viel fehlagendere Veifpiefe anführen 
Tönnen, allein da ich jene Länder fchon feit langer Seit verlaffen 
Habe, mag ich meinem Gedächtniß nicht mehr trauen. 

Man wird vieleicht einwenden wollen, die angeführten Beiz 
fpiele wären nur Wusnahmen von der Regel und mich auf bie 
Moralität und Neblichteit der Behörden Hinmeifen. Man wird 
fragen, warum bier nichts von den Mifbräuchen verlautet, die 
man im Allgemeinen ben Beamten im SJunern des Meiches zum 
Vorwurf macht. Darauf ertidere ich: die öffentliche Moralität 
im Reiche jtcht den Dftfeeprovingen gegenüber wahrlid; auf feiner 
niedrigeren Stufe. Die Unhänglichkeit der Ruffen für den Glauben 
ihrer Väter, ihre Liebe und mufterhafte Ergebenpeit für ihren Raifer, 
ihre Treue gegen das Vaterland — alle diefe Quellen ber 
öffentlichen Moralität zeugen Hinfänglich für diefe Wahrheit. Folg- 
ih muß man, um biejen Vergleic, anftelfen zu Tönen, nicht bie 
Gefelfchaft, nicht da3 Volt, fondern nur einen Heinen Theil diefer 
Gejellfchaft, die Beamten Hervorziehen. Diefe Leute ftehen dort 
wie hier ohne Biveifel auf berfelben Stufe der Moralität, fofern 
fie ihrer erclufiven Lage, fo zu fagen ihrem Gewerbe angehören, 
das fie ebenfo wie alle übrigen Gewerbetreibenden !) darauf 
Himgeift, auß ihrer Lage den möglichit größten Wortheil zu 
ziehn. Der Unterfchied liegt mur in den Mitteln. Bei uns find 
die Beamten darauf bedadjt, diefen Gewinn von den Privaten zu 
‚ziehn, die ihrer bedürfen, und das ift die Quelle der Veftechungen. 
In den Dftfeeprovinzen, two bergfeichen Gefchenke den gejeglichen 
Namen der Sporteln tragen, begnügen fi} die Beamten nicht mit bies 
fer Einnahme, fondern Iaften mit ihrer ganzen Maffe auf ber Krone 
oder den Corporationen, benen fie dienen. Die Krone zu beftch: 
fen, wird nicht mar für feine Schandthat gehalten, fondern gilt 
für eine Pflicht (1) jedes Dienenden. 3 ift notorifd, daß feit 
Errihtung der Gouvernement? im Umfange des ganzen Reiches 
nur der einzige Kameralhof in Niffnie-Norwgorob beftohlen worden 
ift, während in den Oftfeeprovinzen zwei Rameralhöfe nad) einan- 
der beftohlen wurden. in ftaunenswerthes Qerhäftni! Die 





1) Die bier ouSgefprodhene Anficht, dak die Beamten eine Mlaffe von 
Gerwerbetreibenben feien, ift Außerft originell, Der Herauägeber. 


84 Ein pfeubonymer Brief 


Unterfuchungsfadhe wider das Tivfändifche Hofgericht wegen Verun- 
treuung von Geldern, die in den Dftfeeprovinzen unter dem Na- 
men ber Lenzfchen Sadje befamt ift, obgleich am derjelben aud) 
einige Landräthe theilgenommen Haben, dient zum Beweife, daB 
nicht die Krone allein, fondern and; Corporationsgelder zum Ger 
genftand der amtlichen freibsuterei gemacht werben. Im biefer 
Beziehung gebührt, Beiläufig gejagt, dem Odenpähfchen Landgericht 
eine befondere Aufmerkjamfeit. Dbzwar bis jeht einer gericht» 
lien Unterfuchung nicht unterzogen, verdiente e8 wohl eine 
firenge Revifion. Endlich) Hat die Mevifion des NRigafchen 
Magiftrat? und des Collegium: Allgemeiner Fürforge mehr 
als alle vereingelten Thatfahen die Unvolltommenheit der Tocalen 
Inftitutionen und Genoffenfchaften dargethan. 

Indem ich von der deutjhen Moralität jpreche, faun ich nicht 
umbin, mit Kummer auf einen die Menfchheit und die Civilifation 
unferer Zeit gleichermaßen beleidigenden Gebraud) Hinzuweifen, der 
nod) in einigen Küftengegenden de3 Dftfeegebiet3 herricht. Ich 
fpreje von dem fogenannten Strandrechte. Diejes Recht ift nicht 
mehr nod; minder al3 Seeräuberei, unter dem Schein der Rettung 
Geftrandeter ausgeibt. Und der Gewinn, ben die von bewafine- 
ten Gefchtwadern angeführten Netter empfangen, hat die Sitten der 
Strandbewohuer in einem folhen Grade durhdrungen, daß fie bei 
anhaltend gutem Wetter mit Seufzen ber ftürmifchen Seefahrten 
gebenfen, wie ein Landmann im Hungerjaht der reichen Ernte ger 
denkt. Im Arensburg aber, auf der Infel Defel, werben in der 
Stadtkirche öffentliche Gebete für einen gejegneten Strand, d. h. 
für zahfreije Strandungen an der Defelfcyen Küfte gethan 1). 

Die ebenfo erelnfiven als fchädlihen Bunfteinrichtungen be 
ftehen in dem Stäbten der Oftfeeprovingen in ihrer höchftmöglicen 
Eutwictelung. Ihren Nachtgeit und ihre Vejehwerlichfeit für die 
Einwohner zu bemeifen, würde überflüffig fein, weil bei ber gegen» 
wärtigen Stufe der Bildung etwa nur diejenigen daran zweifelt 


1) Diefe Mneldote ift ebenfo begründet und zuverläffig, wie die in 
den Lehrbücher der Geographie 6iB auf die neuefte Zeit fich fortfcgleppende 
Angabe: in -Jacobftadt Gefiehe eine Zanzbärenafademie oder ber im XVIL 
und fogar mod) im XVII. Jahsundert allgemein verbreitete Glaube, e8 wins 
mele in Sivland und Rurland von Wärwölfen, Der Herausgeber, 


des Staatsraths CHanyfow an den Fürften Sumorow. 85 


fönnen, die in Diefen Einrichtungen ihren perfönfichen Vortheil fin- 
den. Ich Habe ihrer and nur deshalb erwähnt, um bei der Ger 
fegengeit augzujprechen, wie ic; einigen Grund Habe, an der 
Gefeglichkeit ihres Dafeins zu zweifeln und wie ihre Privilegien 
und Schragen wohl einer ftrengen Tritiihen Prüfung bedürfen. Zum 
Mindeften ift c3 mir gelungen in Erfahrung zu bringen, wie das 
durch ein päpftliches Privifegium geftiftete Fifcheramt eine deutjche 
Ueberfegung der päpftlichen Bulle, in welder die Fijchereibereghtiz 
gung in ber Diüna den fidelibus eivibus Rigensibus zuge» 
ftanden wird, in feine Schragen aufgenommen, jedoch in ber 
Ueberjegung diefem Sate das Wort „Fildheramt“ fubftituirt hat. 

Die aus der Epgelufivität ihrer Inftitutionen entfpringenben 
Gegenfäge der Corporationen zu einander, die in allen gebildeten 
Staaten längft ihre Zeit überlebt Haben, erzeugen einerfeit3 den 
Haß der Kaufmannjchaft und des Mittelftandes gegen ben Adel, 
anbererjeit3 aber auch bie Unbufdfamfeit des Woels den Stadtbe- 
wohnerm gegenüber. Vereint mit dem Adel laftet die Geiftlichteit 
auf dem Landmann und der Bauer ift zu jedem Opfer bereit, nur 
um von all den Bebrüdungen befreit zu werben. Und zugleich 
Hammern fi alle diefe privaten Gorporationen mit aller Gewalt 
an ihre halbvermoderten Urkunden und Pergamente an und wähnen 
durch biefelben jene Tebendigen Kräfte und jene heilige Liebe zu 
Kaifer und Vaterland erfegen zu können, bie erft dad Leben eines 
Bolfes ausmachen. Urtheilen Sie nun felbft — welde Bufunft 
tan in folhen Elementen Liegen! Und fo haben Em. Turchlaucht 
dreierlei Aufgaben zu löfen: 

1) Die Begründung und Gonfolidirung einer gejegmäßigen 
integrirenbden Beziehung der Dftjeeländer zu bem Staate vermitteljt 
richtiger Begriffe von der Unhänglichfeit gegen Kaifer und Vaterland. 

2) Die Vereinbarung der örtlichen Gejeßgebung und der Ioca- 
ien SInftitutionen mit der gegenwärtigen Civilifation und mit den 
wirklichen Bebürfniffen diefer Provinzen. 

3) Die Aufrehterhaltung der Unantaftbarkeit der Rechte un 
ferer ortHodogen Kirche, welcher nach dem Wortlaut de Bandes 
XIV de8 Swod der Gefche allein die Berechtigung zuftcht, An- 
dersyläubige zur Unnahme ihrer Lehren zu befehren, und die in 
der gegenwärtigen Zeit jelbft derjenigen Vorredhte beraubt ift, welcher 


86 Ein pfeubonymer Brief 


fi) die im Staate bloß gedulbeten Eonfeffionen zu erfreuen haben ; 
denn der Uebertritt aus einer biefer Confejfionen in bie andere ift 
durch feinerlei Formen gefefjelt, während die Aufnahme in den Schooß 
der Herrjchenden Kirche auf Anordnung der örtlichen Obrigkeit in Liv- 
Iand einen’Gegenftand bejondrer polizeilicher Beauffichtigung ausmadjt. 

Die Löfung diefer Aufgabe eröffnet Ihrer Thätigfeit eine 
ihöne Arena und“ bietet dem Gufel da8 Mittel dar, einen neuen 
Shrentitel dem Ruhme Hinzuzufügen, den fein Ahnherr fi erwarb. 

Ohne auf die Pfade einzugehn, die zu diefem Biele führen, 
muß id), doch mit derfelben Offenheit, mit der id) diefen ganzen 
Briefgefchrieben Habe, hier ausfpreden, wie an Ihrer perfönlichen 
Stellung zwei Parteien Antheil nehmen: bie örtlichen Bewohner 
der Provinzen uud das übrige Rußland. 

Die Erfteren, verblendet durch) jahrhundertelange Vorurtheife 
und durd Anhänglichkeit an ihre erchufiven Nechte, ftreben darnad) 
um jeden Preis ihre Stellung in stätu quo zu erhalten und vers 
chenden in diefer Mbficht vor Yhnen die glänzenden Zeichen der 
Gaftfreundfaft und der öffentlichen NAeclamaticnen. Allein Eiv. 
Durdlaucht eigner gefunder Bid wird Sie überzeugen, wie das 
wahre Wohl der Dflfeeländer eben in einer engen Verbindung 
mit dem Staate, in der Bedeutung des Qaterlandes, dergeftalt 
ruhe, daß die Bewohner jener Gegend, bei ihrer deutjchen Abftam- 
mung und Religion befaffen, fich dennoch als Auffen, al3 Söhne 
eines und besfelben Vaterlandes und nur deshalb als Unterthanen 
desfelben Fürften betrachten müfjen. 

Was den Ihnen bereiteten Empfang und die Ausbrücdje der 
Öffentlichen Vegeifterung anlangt, jo fage id) nur, das Ihre 
Vorgänger ebenfo empfangen worben find, daß von YFadelzügen 
6i8 zum Vewerfen mit Strafenfoth, mur ein Schritt ift! Co viel 
bleibt aber unbezweifelt, daß dort, wo Manifeftationen öffentlicher 
Billigung zugelaffen werden, aud) der Ausbruch öffentlicher Miß- 
bifligung ertragen werben muß. 

Die Iegtere, d. 5. Rußland, erwartet von Ihnen die Wieder- 
herftellung des ruffifchen Namens in dem von ihr mit Wohlthaten 
überfchütteten und in feinem Undant fie verachtenden Lande; erwartet 
nur die Gelegenheit, dasjelbe in die Zahl feiner aufrichtig treuen 
Kinder aufzunehmen und mit gleicher Liebe zu empfangen. 


de3 Staatsraths Chanylow an den Fürften Sumorom. 87 


Sie fennen beffer al3 ich den Umfang Ihrer Pflichten gegen 
die erftere und gegen die Ießtere, deshalb füge ich mur noch Hinzu: 
daß Sie für die Deutfchen nichts mehr find als nur der Fürft 
Suworow, beffen Berühmtheit, erft auf die dritte Generation ver 
erbt, die ariftofratifchen Anforderungen der örtlichen Ritterfchaften 
no bei Weiten nicht befriedigt. Für den Ruffen aber find Sie 
der Gnfel des Helden, der nicht mur feinen perfönlichen Ruhm 
niemal3 von dem Nuhme feines Vnterlandes trennte, fondern aud) 
iu den Namen eines Auffen feinen Höchften Stolz fehte. Soll id) 
Sie etwa an jene Worte erinnern: „Du bift kein Rufje! behüte 
Gott, Du bift fein Rufe!" Geheiligt ift für den Muffen der 
Name des Helden, der burd; das Wort feines Naifers berufen 
mar, Stönige zu retten, md der Rußland wie eine Mutter in 
ihrem ganzen Dafein mit allen ihren Sitten liebte; dem Kaifer 
auf bem Schlachtfelbe mit feinem Schwerte diente, aber aud) bie 
gebeiligten Gebräuche der Vorzeit beobachtete und, auf dem Chor 
fingend, Gott danfend pries! Dafiir nemmt ihn Rußland mit 
Stolz feinen Helden uud erwartet von dem Enfel, er werbe auf 
derjelben Bahn fortfchreiten. 

Nachdem ic; mit Offenherzigfeit und mit vollem Vertrauen 
zu Ew. Durdjlaucht alles dargelegt Habe, vwad mir bekannt gewvor- 
den, erachte id) e3 für nothiwendig noch hinzuzufügen, daß bie 
Kunde von allen Ihren Handlungen fich feel dur NAußland 
verbreitet und unjer Moskau bald erreicht. Die hiefigen Deutfchen 
verfünden Hier den Zriumph ihrer dortigen Mitbrüder; bie 
ruffifche Handelswelt erwartet unterbeffen fChrveigend bie ferneren Mit- 
tHeilungen ihrer Rigafchen Correfpondenten und bie vechtgläubige 
Geiftlichfeit im ganzen Umfange Nuflands, fo innig miteinander 
verbunden, beobachtet finnend, weld;es Verdienft die Kirche in dem 
Gufel ihres eifrigen Sohnes und Vertheidigers anerkennen werde ; 
noch traut fie deutfchen Erzählungen nicht, al verhöhne der Enfel 
dasjenige, was ber Ruhm des Ahnheren war, 

Mit tieffter Hodadtung und unbegrenzter Ergebenheit Habe 
id) die Ehre zu fein 

Ew. Durdlaudt gehorfamfter Diener 
Moslwa, 8. Mai 1848. Ywan Snamensiy. 


2 





ESETSSESSSELSHESSSSTESSSESESSESTSESSSSTSEN 








REFFFERFEFE 


Ginige zur Beihiäte der Doblenihen Kirde. 


Bon Dr. X. Bielenfteim. 
(Schtub). 


U. Baftoren, die an ber Doblenfden Kirde 
gewirkt haben. 

‘on den Baftoren einer Gemeinde willen wir in der Megel 
mehr, al3 von den einzelnen Gliedern der Gemeinde. Die 
Paftoren find doc) die geiftlichen Väter und Führer und durch fie, 
dur) ihre Tüchtigfeit umd ihren Charakter, dur) das Maf der 
Treue, womit fie ihre Amtes gewartet, ift zu einem großen Theil 
das Leben der Gemeinde und das Maß ihres Fortfchrittes in velis 
giöfer und fittlicher Hinficht bedingt, 

Wenn wir ung jet zu der Neihe der Toblenfchen Paftoren 
wenden, fo finden wir eine gewifje Schwierigkeit, wie der Stoff zu 
behandeln, darin, daß wir e8 mit 2 Gemeinden zu Doblen, einer 
deutfchen und einer Tettifchen, alfo mit einer doppelten Reihe von 
Paftoren zu thum Haben. Mleiben wir erft bei der einen, dann bei 
der andern Gemeinde, fo trennen wir die Männer von einander, 
melde al3 Beitgenoffen unter bdenfelben gefchichtlichen Verhältniffen, 
meift doch in demfelben kirchlichen Geifte, wie er eben in ber Beit 
berrjchte, gewvirft haben. Fafjen wir aber bie Zeitgenofjen zufammen, 
jo ließe fic) cher ein Wild der Hiftorifchen Entwidelung vielleicht 
geben, aber die Eontinuität defjen, was zu ber einen Gemeinde 
gehört, wird zerriffen. Werfen wir in die Wangfchale, daß von den 
meiften Paftoren, mögen auch Paftor Kallmeyer und Dr. Otto von 
Alen eine ziemlich große Menge biographif—er Notizen in ihrem 
trefflicen Wert (die ev. Kirchen und Predd. Kurl.) zufammenges 
bracht haben, doc) immer nur jehr Wenige bekannt ift, was und 
wie fie hier amtlich) gewirkt, welde befondern Einflüffe fie geübt 
haben, fo bleibt und am Ende nicht? Underes übrig, al einiges 





Zur Gefdjichte der Doblenfejen Kirche. 89 


Allgemeine über bie mit dem Umte betrauten Männer im Großen 
und Ganzen zu fagen md banıı nur einige von ihnen hervorzuheben, 
deren Firchliche oder litterarifche Bedeutung bie Andern überragt. 

Wir befehränfen und dabei billig auf die evangelifche Zeit, 
denn aus der fatholifhen ift und ur der Name eines einzigen 
Doblenfchen Priefters aufbewahrt, Joadim Pinnow. Diefer war 
1545 „Kertherr“ (fett. bafniz’ fungs) zu Doblen, ald der Ordens: 
meifter Hermann von Vrüggeney ihm am Wugiihen See ein Ge 
finde, Stirne Jahn, nebft andern Ländereien (das jehige But Stirnen, 
defien Letten bis Heute im Volfamunde Pinmauneefi genannt werden) 
verlehnte (cf. Kallın.-Dito p. 417). Noc) vor den Tagen Pinnow’s 
wurde (1516) nad) 3. H. Woldemar (Ritterfchaftsarchiv Mappe 27) 
in ber Kirchfpielstiche zu Dobfen ber heil. Jungfrau Maria eine 
Bicarie fundiert, welde auf Veranlaffung de3 damaligen Komthurs 
zu Doblen, Gerth v. Brüggen, den Eiugefeffenen des Doblenfchen 
Gebietes al3 eine ewige DVicarie verlehnt wurde. Werm ic) biefe 
Notiz recht verftche, fo ift damals nicht etwa blos ein Priefter- 
vicar angeftellt (defjen Name ungenannt bleibt), fondern e3 fcheint 
eine Priefterwidme (Grund und Boden fundus) geftiftet zu fein 
und e3 wäre bie Frage, ob biefes nicht bie Widme des nacjmaligen 
Tettifchen Paftor gewefen, ba gerade fie von ben Tagen Kettlers 
biß Hente durch die adfigen Eingefeffenen bebaut wird und da bie 
deutiche PaftoratSwidme von &. Kettler für feinen quasi Schloß- 
paftor geftiftet und von ihm und den folgenden Landesherren immer 
bebaut, d. 5. baulid, verforgt worben ift. 

Die Zahl der evangeliichen Paftoren zu Doblen von Einführung 
der Reformation an bis heute beträgt mit Einfluß der mod) 
lebenden Paftoren und mit Uusfchluß der Mbjunkten, welche zeit- 
weilig Hier mitgewirkt Haben für jede der beiden Gemeinden fiebzehn. 
Für die feither verflofjenen 330 Jahre würde alfo die Amtsdauer 
des Einzefnen 20 Jahre fein. Schen wir nun von den nod) lebenden 
Baftoren ab, jo find die bei weitem Meiften — Kinder der Baltic 
ichen Heimat. Nachweisbar wenigftens ijt e3 nur für fünf (2 
deutfche, 3 Iett.), da fie aus Deutfchland Hierher eingewwandert 
waren. erner ift c3 nicht unintereffant zu bemerken, daß von ben 
32 Paftoren faft die Hälfte (15, d. H. 9 deutihe und 6 Lett.) 
paftorale Uemter (jogar öfter mehr als eines) an andern Orten 


90 Zur Gefchichte der Dobfenfhen Kirche. 


beffeidet hatten, ehe fie nad) Doblen berufen tuurden. Nach Dobfen 
zu fommen, fdeint alfo gewiffermaßen ein Avancement gewefen zu 
fein und das ift in der Größe ber Iett, Gemeinde und in den nahen 
Beziehungen bes beutfchen Pajtors zum Herzog wohl begründet. 
Allerdings Haben 17 Paftoren ihre erfte Berufung nad) Doblen 
erhalten, bod) Hatten fic) biefe zum Theil im Schulfad; al Reftoren 
von Stadtjufen oder and, al3 Univerfitätsbocenten tüchtig eriiefen. 
Weggegangen aus Doblen find nur wenige Geiftlihe und wenn, jo 
find fie in der Negel nad) Mitan al Superintendenten ober feit 
1831. 018 Generalfuperintendenten von Kurland verfeßt unb befördert 
worden. Neun Doblenfche Paftoren (8 deutfche und 1 Lett.) haben 
Titel und Amt eines Doblenfchen Propftes geführt, 2 find Supers 
intendenten und 3 Generaffuperintendenten (Theodor Lamberg, 
Ioh. Georg Lebreht v. Richter in Kurland, Auf. v, Richter in 
Petersburg) gemefen. 

Bon den 32 Doblenfchen Paftoren find, foviel wir willen, 23 
(11 deutjche und 12 lett.) hier geftorben und begraben, alfo über 
2% der Gefammtzahl. Die fterblichen Hühlen rufen zum größten 
Theil unter dem Altar unferer Kirche, wie Paftor Pflugradt in 
der Kirchenchronit berichtet, nur fehr wenige unter dem Rafen, 
Kein Erinnerungszeichen, Teine Infchrift veranlaßt die Iebende Ger 
neration jener heimgegangenen Gemeindehirten dankbar zu gedenken, 
wer weiß e8, wer ahnt e8, wie treulich jene Männer ihres Amtes 
gewartet? Taufende und Taufende von Seelen find in den 315 
Jahrhunderten beim Eintritt ins irdifche Leben mit dem Segen 
göttlicher Gnade von ihnen begrüßt worden. Taufende und Tau- 
jende von Seelen Haben während ihrer irbifchen Wallfahrt an 
diefer Stätte von Kanzel und Altar und in ihren Behaufungen 
ernfte Mahnung und freundlichen Troft erfahren. Taufende und 
ZTaufende von Seelen find mit Gotteswort und Fürbitte Hier 
oder am Grabe in den jenfeitigen Frieden Gottes hinübergeleitet 
worden. Und das Mlles unter viel Mühfal und Sorge, unter 
viel Kampf mit widerftrebenden Elementen, unter Dank und Undant, 
aber immer unter Gottes Segen. 

AS einen ganz befondern Segen Gottes muß id) Hervorheben, 
daß feit Menfchengedenken und foviel wir aus den Aufzeichnungen 
der Vergangenheit entnehmen fönnen, die Doblenfcen Paftoren mit 


Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche. 9 


einander ftet3 in brüderliem Einvernefmen und in freunblichem 
Frieden gelebt und gewirkt haben. Zu einem Theil Hat der Grund 
dazu in der Haren Ordnung ber Gemeindeverhältnifje gelegen, fo 
daß amtliche Grenzftreitigkeiten füglich nicht gut möglich waren, aber 
außerdem muß ein Geift des Friedens die Herzen der Männer 
bejeelt haben. Im einem Fall wird berichtet, daf ein Mitanfcher 
Stadtdiafonn® (Brunnengräber) von Mitau nad) Doblen verjegt 
worden it, um Firdhlichen Unfrieden in Mitau zu bejeitigen. In 
Doblen fand der Mann Frieden. 

Gottes Wort ruft ung hier durd) den Apoftel zu (Ebr. 13,7 f.): 
„Gebenfet an Eure Lehrer, die euch) das Wort Gottes gejagt Haben, 
welder Ende fehauet an, und folget ihrem Glauben nad“. Der 
Mund der Boten Gottes verftummt gar bald und der Eine nad) 
dem Andern finft rafch) ins Grab; aber der, in defien Namen fie 
reden und ber fie fenbet, bleibt der Tebendige: „Jejus Ehriftus 
geitern und Heute umd derfelbe aud) in Ewigfeit”. 

Die Reihe ev. fammtlicher Doblenfder Prediger an der deuts 
igen (I) und an ber Iettifchen Gemeinde (IT), ift nad) SKallmeyer- 
Dito’3 Merk nebft ihren Abjunkten folgende: 


L 


Hermann Tegetmeger. ...1583. 

Johann Rivius um 1586. 

Gotthard Lemfen....1602— 20... 

Nitofaus Frande 1624—57. 

Melchior Bilterling 1. 1658 —91. 

Mag. Sohann Mdolphi IL. 
1692— 96. 

Joachim Nerefius11.1696-1708. 

Mag. Zul. Friedr. Hartmann 
1705 — 10, 

Shriftian Dietrid) Briesforn 
1711-24. 

Carl Chriftoph Willemfen 1725 
bie 36. 

David Pflugrabt 1737-66. 
Abjunft: Mag. Daniel Chriftian 

Pflugradt 1765-66 


Mag. Daniel Chriftian Pflugradt 
1766--76. 

Chriftoph David Difton 1777 
bis 1811. 
Adjunkt: David Theodor 

Difton 1805-11. 

David Theodor Dijton 1811 
bis 49, 

} Theodor Emil Lanıberg 1850 

bis 66, 

Myjunkt: Feiedrid) Chriftopg 

Berndt 1862-63. 


Johann Wilgeln 
Sakranowicz 1864 
bis 66, 





Dr. Auguft Johannes Gottfried 
| Bielenftein feit 1867. 


92 Bur Gefhichte der Doblenfchen Kirche. 


IL 
Georg Lange....1602—19. | Zul. With. Theophil v. Richter 
Friedrich) Mancelius 1620—2 1835-50. 









Eberhard Meyer... .1633—50. Ajunkt.: Hermann Sammel 
Heinrich Abolphi I. 1650-61. | Rupfier 1846 47. 
Vidyael Musman 1661-84. | Theodor Antonin Neans 
Eornelius Heinrich Schuud 1685 der 1847—48, 
bis 86. Hermamı Konr. Wild. 
Martin Hieftein 1687-1718... | Ruft 1849-50, 
Adjunft: Mag. Chriftoph Wilh. bis 1851 Bicar. 
Sieffens 1717—... u a Syivefter 
i il Steitens | od 1851 — 82. 
TE Be | Abjunkt.: Friedr. Chr. Berndt 
Mn 1863 — 64. 
rege Brumnengräber , Georg Lgeodor Seeberg 
Mag. Johann Intob Macyenaty | 1000: 
an ine" ® Fedor Yohann Ernit 
en | Schmidt 1866-67. 
Mag. Daniel Ehriftian Pflugradt Theodor Joh. Rachle 
1Te ZIEDL: | Brandt 1867-69. 
Gotthard Wilh. Wolter 1801 - 8. griedr. Baul Ioahim 
Dr. Joh. Georg Lehr. v. Richter eh 1869-70. 
1003-0. Wil. Auguft Tiling 
Adjunkt: Lebr. Friedrich von März biß Juli 1871. 
Rigiter 1824—25. Carl Friedr. Herm. Bod 
Dr. Lebr. Friede. von Richter 1872—82, 
1825—34. Georg Theodor Seebergfeit 1882. 


Aus der Gefammtzahl der Doblenfhen Paftoren wollen wir 
nur einige wenige hervorheben und von ihnen furz berichten, wodurch) 
fie vor den andern fich ausgezeichnet Haben. Wir beginnen mit 
den deutfchen Paftoren. 

Herm Tegetmeger eröffnet die Neihe der deutjchen 
Prediger, wahriheinlih ein Sohn des Rigafchen Reformators 
Syloefter Tegetmeyer, muß den Fahren feiner Amtsführung nad) 
in Doblen die Reformation eingeführt haben. 

Ioh. Rivius, fein Nachfolger Hat in fehr kurzen Unts: 
jahren Großes für Doblen und ganz Kurland geleijtet. Gr ift der 


Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirdje. 93 


Schöpfer der Iettifchen Literatur, genauer gefagt, ber geiftlichen, mit 
welder bei ung, wie bei allen Völkern die Literatur überhaupt 
begonnen hat. Er it e3, der wohl im Muftrag des Herzogs 
Gottgard die erjte und wichtigfte Arbeit an Ueberfegung des 
Iutperifchen Meinen Katechismus, der Sonntags3-Perifopen und der 
erften evangelifchen Kirchenlieder ing Lettifche gemacht und damit den 
Grund gelegt hat für die ganze fpätere Tettifche evangeliiche Litter 
ratur, die bem Gottesdienft in der Kirche, dem Unterricht in ber 
Schule und der Erbauung im Haufe bis Heute dient. ALS er vor 
Vollendung des Werkes geftorben, fegen die 4 Männer, welde 
feine Arbeit zu Ende geführt und 1586 veröffentlicht haben, die 
Poftoren Dlide, Lembred, Reimers und Wegmann in der Wid- 
mung der sondewdjchen Pfalmen an die Söhne des Herzogs Gott- 
hard (cf. Unsgabe der Bndeubichen PSalmen 1886 durd) Projefjor 
Dr. U. Bezzenberger ımd Dr. U. Bielenftein Einleitung p. XI 
und XIX.), ihm ein Denkmal mit folgenden Worten: „Solcher 
„mühe und arbeit, ob fidh wohl unfer in Gott ruhender Mitbruber 
„am wort Gottes, Herr Johan Rivius feliger, damals Paftor zu 
„DobleHn, Hiebeuorn vnterfangen, vnd an die verdofmetjchung des 
„Catedjismi, des Hocherleuchten Mannes Gottes D. Martini 
„Lutheri jeliger gedechtnis, fo wol ber Sontags vd andern dor» 
„nembften Fefte Epiftel und Enangelien, als auch der gewöhnlichen 
„Ehriftlichen Palmen und Gefenge in den Kirchen nicht wenig ober 
„geringen fleiß gewandt, So hat doc) fold, fein trewer Fleiß vnd 
arbeit, wegen feines vnnermntlichen und plöglichen abjcheides auf 
„Diefem efenden FJammerthal, nicht können voltömlichen ins Wert 
„gerichtet, oder in druc: verfertiget werden, biß numehr unferer de3 
„Saerofancti Miniftery etliche einheimische und der Sprachen fündig, 
„auff vorerlangten Fürftlichen befehlich, fold;e arbeit wider auffs 
„neiwe vor die hand genommen und verfertigt”. 

&o Hat unfer Doblen bedeutfanen Antheil an der fulturger 
fhighttichen und kirchlichen Epoche, welde erft 300 Iahı nach der 
Eroberung Semgallens und 100 Jahr nad) der Erfindung der 
Buchdruderfunft für die evangelifche Kirche beim ganzen lettifchen 
Rolf an den Namen Rivius fid) nüpft. 

Beiläufig wäre zu bemerken, daß unfer Rivius 1570 mit 
dem Gute Pönau befehnt worden ift und daß eine feiner Defcen« 


94 Zur Gefghichte ber Doblenfchen Kirche. 


bentinnen da8 Gut dur ihre Werheirathung mit Carl IIT. von 
Vühren in den Vefig diefer Familie gebracht hat, aus welcher bie 
beiben legten Herzöge Kurlands entftammten. 

Ar Rivius Lönmen wir zwei Männer anfchliegen, die fich 
große Verdienfte um die allgemein kulturelle und befonders firchliche 
Hebung des Tettifchen Wolfe erworben haben. Der eine ift Heinr. 
Wdolphi, Iett. Paftor zu Doblen, in der Blüthezeit Kurländifcher 
Gefchichte, unter der Regierung Yakvbs, des hervorragenditen unfrer 
Herzöge. H. Abolphi wurde mad) I1jähriger Wirhjamfeit in 
Doblen al? Landesfuperintendent an die Trinitatisficche nad) Mitar 
berufen und gab im zwei Auflagen die befte lettifhe Grammatik 
heraus, die e8 biß zu den Tagen Stenders gegeben hat. Diefelbe 
diente nicht blos der Spradjforfhung, fondern gerade aud) weient- 
{ic dem Tirchlichen Leben, fofern die Landgeiftlichen, die eben nicht 
lettijcjer Nationalität waren, aus ihr die Spradje des Bolfes 
fernen fonnten und Ternten. Wdolphi benußte zu feinem Werke die 
Vorarbeiten eines andern, mit Doblen in DVerbindung ftehenden 
Mannes, von dem c3 nicht nachweisbar ift, daß er je ein geiftliches 
Amt geführt Hätte, der aber ala Candidat der Theologie genannt 
wird. €3 ift Chriftoph Füreder, von beffen Leben man gar nicht? 
weiter weiß, al3 daß er eine Lettin und zwar, wie die Sage geht, 
ans Gr. Hehden im Doblenfchen Kiccjfpiel, geheirathet habe, der 
aber außerordentlich viel auf das geiftliche Leben des fett. Volkes 
Einfluß geübt Hat durd) die Weberfehung zahfreicher utherifdjer 
Kernlieder, welche unferm Wolf feit 24e Jahrhunderten lieb ges 
blieben find, durd) die Wärme und Kraft ihrer Worte, 

Dir fehren zu dem mutmaßlichen Nachfolger des Soh. 
Rioius, Gotth. Lemfen zurüc, beffen Amtsantritt unbelannt ift, 
weldjer aber jetenfals vor 1602 im Amt zu Doblen geftanden 
hat. So muf; er e3 gemwejen fein, welcher in ber noch) fichtbaren 
Burgliche zu Doblen predigte, al3 die zu Schloß Dobfen, als auf 
ihrem Witwenfig rfidirende Anna, Tochter des Herzogs Albert 
von Medlenburg, weiland Gemahlin Gotthard Kettler, am Abend 
ihres Lebens (+ 2 Iuli 1602) nicht mehr im Stande war, aus 
ihren Gemädern im obern Stod, heraus auf den Altan im Junern 
der Kirche zum Gottesbienft fid) zu begeben, jondern in ihrem, an 
die Kirche ftoßenden Zimmer auf dem Ruhebett liegend, wie berichtet 


Bur Gefichte der Doblenihen Kirche. 9% 


wird, der Prebigt zuhörte. An der innern Sübwand der Schloß 
fire neben der Altarftelle find mod Heute die deutlichen Spuren 
jenes Altans und die Thürlucht von diefem in bie Gemäcer der 
Herzogin-Wittwe wahrzunehmen. 

Kehren wir zu der Reihe der deutfchen Paftoren zurüd, fo 
zeiäuet fh N. Srande im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts 
dadurd) aus, daß er in der langen Amtsmirkjamteit don 33 Jahren 
an unferm Ort, erfter Dobfenfcher Propft und aud) furl. Superin- 
tendent geworden und gewejen und zwar Iehteres, vielleicht wegen 
vorgerücten Alters, ohne nad) Mitau überzufiedeln, was eben gegen 
den Ufus war. Sein Verbleiben in Doblen ald Superintendent 
hatte die Folge, dai er nicht zugleich die Gejchäfte des Mitaufchen 
Propftes Führen Lonnte und daß deshalb der Mitaufche Frühprediger 
Joh. Adolphi 1. diefe Sunktionen übernaym. Weder vor diefem, noch 
nad) diefem Hat e3 je einen befondern Mitaufchen Probjt gegeben. 
Beide, Grande und Joh. Adolphi führten ihre hohen Aemter nur 
ein einziges Jahr, da fie 1657 beide von der Veit Hingerafft wurden. 
Von Frande rühren treffliche Vorjcläge Her (die aber damals 
nicht zur Ausführung famen) über Synoden, Candidaten- Prüfungen, 
Verwaltung der Kirchenangelegenheiten. 

Frandes Nachfolger war Meldhior Bilterling, einge 
wandert aus dem Anhaltefhen, Stammvater der ganzen Bilterling- 
ihen Familie, die fi feitden in Kurland ausgebreitet und unfrem 
Lande im ganzen 7 Geiftlihe guten Namens und unter diefen 5 
Pröpfte gegeben hat (Melchior Vilterling in Doblen ift aud) Propft 
gewejen). Meldior Vitterling, aus der Schule der Tutheriihen 
Orthodegie des 17. Jahrhunderts ift einer ber wenigen Doblenjdien 
Baftoren gewejen, die neben ihrer Amtsarbeit fid) mit theofogifch 
wiffenfcaftlicher Schriftftellerei Haben abgeben Lönnen. Er ift der 
Verfaffer einer gedrudten dogmatifchen Streiti—hrift *) gegen den 





>) „Redpte Glaubensregel von ber mahren Religion, in welder ein 
Shrift geroiß fanrı jefig werden, aus dem Göttlichen, Heiligen und allein jelig 
macenben Worte Lürlich, deutlich und orbentlich, nad; dem Willen Gottes, 
zum offenbaren Zeugnis meined zedjtfejaffenen Herzens fürgeftellet.* Die dem 
Buche vorgefehte originelle Deditation lautet folgendermahen : „Gott dem Water, ber 
mich erfehaffen Hat, Gott dem Sohn, ber mid) erlöfet Hat, Gott dem heit. 
Geifte, der mich geheiliget Hat, der Hochgelobten, Heiligen Dreieinigleit, zur 
Baltfge Monatsfgril. Db. XLIV. deft 2. 3 


96 Bur Gefdhichte ber Dobfenjchen Kirche. 


Superintendenten Paul Einhorn. Viele andre Streitfehriften, 
werden erwähnt, deren Titel mir aber nicht zur Hand find. Iene 
Zeit war ja die Beit der dogmatifchen, zum Theil fcholaftifchen 
Kämpfe. Ir denfelben fheint Hier P. Einhorn, wie e8 aus feiner 
Tätigfeit auf dem Xhorner Religionsgefpräh (1645) bekannt ift 
den mehr ftrengen, M. Bilterling dagegen ben minder ftrengen 
Standpunkt eingenommen zu haben. 


Im der böfen Zeit des nordifhen SKrieges war I. Ir. 
Hartmann bdeutiher Paftor und Propft in Doblen. Er wurbe 
im Jahre 1710 ein Opfer der Peft, die Doblen, wie ganz Kurland 
heimfucghte. E8 war bdiefelbe Peft, in weldyer der im Schloffe 
Doblen refidierende Hauptmann Ehriftoph Georg v. Dffenberg mit 
feiner großen Familie durch Gottes Gnade am Leben erhalten 
blieb und infolge defjen aus daufbarem Herzen 2000 FI. Ab. zur 
Stiftung eines Doblenfchen Armenhaufes, welches nod) jegt bei ung 
befteht, fehenkte. Herzog Friedrich Wilhelm freute fi diefer 
Stiftung, „wobur der grundgütige Gott in feinen liemaßen 
geehret würde“, nahm die Geldfumme in feine Rentlammer und 
erjegte die Binfen derjelben reichlich und zwedmähig durch jährliche 
Naturallieferungen aus feinen Domänen bei Doblen, zum Unterhalt 
für zunächft vier Arme. Er ließ für bdiefe durch den Hauptmann 
„ein Häuschen in Dobfen am gelegenen Orte auffegen“ (d. H. 
bauen), ober eine der bei der Weit „ausgeftorbenen" Häufer 
„aptieren“ *). 


gebührenden Ghre und zur fepuldigen Dantbarleit bebieiere und fepreibe id) zu 
diefes zeept geiflihe Vüchlein;* und am Schluß derjelben unterzeichnet fi, 
der Verfaffer: „Deiner göttlichen Majeflät treuer Diener, fo Lange id} Lebe“. 





*) Die interefante Stiftungsurlunde Tautet folgendermaße.: 

„Wir Feiedrig)- Wilhelm von Gottes Gnaden. in Liefland zur Churland 
und Semgallen Herhog 

Upetunden und befennen Hiemit von Unf uud Anfern Fürftl, Succefe 
foren, wahgeftalt Uni der Wohlgeboßene Unfer Hauptnann auf Doblehn 
und lieber gefrener Ghriftof Georg bon Offenberg muterthänigft zu vernehmen 
gegeben, welergeftalt Ex enticlohen wäre, aub Herpliier Dantbarleit 
gegen Gott, weil Ex ihm auf fo dielen Drangfahlen, die ihn gleich 
andern, die Jahre Her Häufig betroffen, fo munberbarlich errettet und 
anc) mitten in denen Gterbensläuften, da fonft die Candverbecbliche große 


Zur Gefchichte der Doblenfcjen Kirche. 9 


Des Namens Pflugradt hat die beutfche Doblenfce Ger 
meinde zwei Paftoren gehabt. Der zweite ift ber einzige gewefen, 
weldjer von der deutfchen Gemeinde zur Iettifchen übergeführt ift. 
Umg.fehrt, von der Iettijchen zur bdeutfchen Gemeinde ift feiner 
jemal& berufen. 

Pflugradt, der Vater, ift dadurd) bemerfenswerth, dab er 
vom Sommer 1737 als Erfter angefangen Hat, ein Dobleniches, 
deutfches Kirhhenbud) zu führen; auf dem Titel diejes Buches ftcht 
von Pflugradt3 Hand gefchrieben: 

Weil die Dobleniche Kirch, ein Kirhenbuc) nicht Hat, 

So Hab’ id} jelbige hiedurd; damit verfehen. 

Gott fei derfelben Schug, Hort, Hütff und treuer Rath, 

Die in demfelben nun und fünftig ftehen!" 

Die erjten Jahrgänge diefes Kirchenbuches weifen in Durd- 
imitt 11 Getaufte und 4 Paar Proclamierter auf, Ziffern, welche 
nicht allzufehr von der Gegenwart abweichen, während vor einigen 
Sahrzehnten die Zahlen Höher zu fteigen pflegten. Confirmirte hat 
man erft jeit 1795, Verftorbene feit 1799 und Communicanten erft jeit 
1820 aufzuzeichnen angefangen. Der Sohn diejes Pflugradt, lettifcher 
Raftor zu Doblen, hat das ältefte Tettifche Kirchenbud erft mit dem Jahre 
1799, wie er felbft fchreibt, auf Befehl eines „Reichzjuftit3collegit 
der Lief., EHläudif—en und Finnländif—hen Sachen", de dato 
©t. Petersburg, 23. Dezember 1798, sub A 2112, umd des Kurz 
löndifchen Confiftorii an fämmtliche Prediger Kurlands und des 


Beil, andere Meniehen bey Taufenben, ihm zur feiten weggerifen, ihn dennoch, 
fampt denen Seinigen, auß Väterlicjer Gnade jeifeh und gefund echalten Hat, 
dufelft zur elle ein Armen-pauß zu fiten mb ein Capital don Zivep 
Zaujend Floren Albertus, von deffen Iutereffen und Zufcub anbrer Leute, 
die Armen ihren unterfalt Haben möchten, wohlmeinend einzufepen. Wenn 
Bir Uns dann eine folde Stiftung, wodurd) der Grunbgütige Gott, in feinen 
Gliedmahen geehret wird, gnädigft gefallen Laffen, Er, Hauptman Offenberg 
aud) die befagten Zwey Zanfend Floren Alb. an Sehshundert Seh und 
Sechbig auch awey Drittel guten Holländifchen und Greußethalern in Unfere 
Rent»-Gammer, Taut Unfers Cammer» und Renthey Verwalter: Chriftof Rommels 
Quitance vom 6 Augufti AO 1710 Bereits würdf. abgeliefert Hat; So Haben 
Bir nicht allein darin gnäbigft condefeendiret, fondern beloben umd verfprechen 
aud, hiemit vor Unh und Unfern Ractommen, je und alfen jet und beftändig 
darüber zu Halten: und foll demnach: 


g* 


98 Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirche. 


Viltenfchen Kreifes, d. d. Mitau, 3. Januar 1799, beforgen „müfjen“ 
und giebt bie Koften von Papier und Einbaud genau auf 8 Gulden 
an. — Eine ftatiftijche Bemerkung über die Zahl der Geburten u. j. w. 
von 1799 und 1894 ift interefjant. Bor aljo ca. einem Jahrhundert 
waren in ber lettichen Gemeinde 451 Täuflinge eines Jahres ver- 
zeichnet, jet 368, aljo ein reichliches Fünftel weniger. Das ift 
auffallend, weil doc) die Vevöfterung feitdem gerachfen fein muß 
und 1799 vom Anfang de3 Jahres mod) nicht verzeichnet find. 
Gonfirmirte gab e8 1799 mur 179, 1894 viel mehr, nämlich, 235; 
das deutet auf eine große Sterblichkeit der Kinder in jener früheren 
Seit; die Conmmunicantenzahl Hat zugenommen, damals 11,637, 
jegt 13,177. Die Zahl der Trawungen bifferirt nicht wejentfich, 
damals 88, jegt 102 Paare, dagegen die Zahl der Verftorbenen 
außerordentlich, damals 425, jept 282, was wir wohl mır aus 
den heutigen befjeren Sanitätsverhältiffen erklären Fönmen. Die 
Angaben der Iettifchen Kirchenbücher für die Jahre nad 1799 
variiren natürlich, fehlen auc) zuweilen für ein ganzes Jahr, 
ändern aber die von mir gemachten Berertungen im Wejentlichen 
nicht. Im dasfelbe Kirchenbuch Hat Pflugradt I cine Kirdendronit 
zu führen begonnen und mehr dafür gethan, als feine Nachfolger. 
Er ift ein Freund der Miffion gewejen und Arbeiter anf diefem 
Gebiet, denn er Hat 4 Juden, 2 Türfen getauft. Ich finde nicht, 
woher er die Türken befommen Hat. Seine vieljeitige Tüchtigfeit 
machte 8, daß er zum Propft erwählt wurde. 


1) 2er Hauptmann Offenberg ein Häufchen am gelegnen Orte in 
Doblehn auffepen, oder von denen außgefterbnen äußern, eines 
aptiren, dahı anfänglich Bier Perfonen ihre Commoditet darin Haben 
Tönnen. 
Soll derfelbe ala Fundator folange Gr Lebe die direction darüber 
Haben und nach feinem Gefallen, zivey teutfche und unteutjche Arınen 
von Unfern Untertanen außen Doblehnfchen Sircfipiel, darin 
einfepen, 
3) Sollen Diefe Armen von denen Intereffen auf Unferm Anpte 
Doblehn, wie nachfelgends zu erfehen, dan and au wohlthätiger 
Vepfteuer andeer Leute, ihr Unterhalt Haben. Deötwegen dann 
Auf Hohen Feft:Zagen, dreymal im Jahr, nehmlidh den erften 
Feyer-Zag auf Oftern, Pfingften und Wepnachten vor den Kirch“ 
Thüxen zu Doblepn eine Gollecte zur Bephülfe gehalten werden fol. 


9 


E 


Zur Gefchichte der Doblenjchen Kirche, 99 


Mit Difton, Vater und Sohn, treten vwir in da8 gegen« 
wärtige Jahrhundert und in die Erinnerung der nod; Lebenden 
(der Enkel Difton wirft nod, als Sıhaulenfcher Kreisprediger, num 
fchon feit über 50 Jahren). Difton I war ber erfte, welder 
deutfehe Gottesdienfte und zwar jährlich, zwei in ber jungen Behrä« 
höfichen Kirche zu haften begann. 

Difton II war wiederum ein Doblenjcher Propft. In meiner 
NAnabenzeit erinnere ich mich, den freundlichen, zahmfojen Alten 
mit der Tangen Pfeife, in feinem Paftorat befucht zu Haben. Das 
Voraus mit feinem Fußboden von gebrannten liefen fiel mir 
damal8 auf, aber dergleichen fam ja in ber Zeit bei der Einfachheit 
der Bauten öfters vor. 

Ein regeres Firchliches Leben ward in Doblen dur, Paftor 
Th. Lamberg umd feine geiftlich tiefen Predigten gemwedt. Ihn 
haben noch viele unter uns gefannt und verehrt. In die leßte 
‚Zeit jeiner Hiefigen Amtswirtjamkeit fiel die große Renovation der 
Kirche (1864). Th. Lamberg war nod) in Dobfen erjt Eonfiftorial- 
afieffor, dann Generaffuperintendent. Um des fegtern Amtes willen 
fiedelte er 1867 nad) Mitan über und fcied aus diefem Leben 
endlich a3 Emeritus zu Anfang diejes Jahres, bei feinem Sohn, 
dem Paftor zu Linden-Birsgaln. 

Bon den 16 Paftoren der Tettifchen Gemeinde ift uns 
geringere Kunde aufbewahrt, ala von deren deutjchen Amtsbrübern. 
Damit ift nicht gejagt, daß diefe Männer von geringerer Beben 





5) Sollten dep Befieen Jahren, die Einkünfte Höher ammachfen, al 
zum unterhalt der Bier Armen nöthig, oder auch Ghriftmilde Herpen 
biefes Armen-Gauß mit Regaten bebenten, fo foll fotwohl die Wohne 
ung, alb auch die Anzahl ber Armen vergröhert, nicht aber aufe 
mwärtige, fondern nur aub dem Doblehnfehen Rirhfpiel, bie Helfte 
teutcje und die anbre Helfte unteutfche barin eingenommen werben. 

6) Die Armen, fobiel deren find, fellen täglich deep Behtftunden halten 

und Unfer Präpositus zu Doblehn barüher die Infpeftion Haben. 

Sollen die Doblehnfche Priefter mit benen Aicchenvorflehern Fücfl. 

und Abel, Seiten conjuneim, wann Hauptmann Dffenberg mit 

Tode abgegangen jeyn wird, über diefes Armen-Hauf disponiren 

und die bafanten Stellen bereptermaßien wieder befehen. 

Da mn die Interehen ea von Hauptmann Offenberg eingeichloffenen 

Eapitals jähel, vierzig Rihel, albertus Betragen; Go wollen und 


6 


8 


100 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche. 


tung geivefen wären. Aber e3 fcheint, daß bie tägliche Arbeitälaft 
in der grofien Gemeinde fie mehr gehindert Hat, in die weiter 
Kreife de3 Landes hinaus zu wirfen und im öffentlichen kirchlichen 
‚ober litterarifchen Leben befonders hervorzutreten. Ju diefer Hinficht 
waren die Doblenjchen deutjchen Paftoren anders geftellt. Nur 
ein einziger Doblenfdher Iettifher Paftor ift zum Propft ernannt 
worden: 3. 3. Maczewsly (im britten Viertel d«3 vorigen Jahre 
Hundert); don dem deutfchen Doblenfchen Paftoren Haben acjt 
diefe Würde erlangt. Dagegen find drei lettijche Paftoren jo Her- 
vorragenb gewefen, daß fie zum Höchften Firchlichen Amt eines 
Superintendenten refp. Generalfuperintendenten berufen worden find 
(9. Aolphi, I. ©. 2. v. Richter und Zul. dv. Richter). 

MS erfter Iettifcher Paftor wird 1602 genannt: 

Georg Lange. Wann er ins nt getreten, ift nicht 
befannt uud ebenfo wenig ift nicht befannt, ob von Anfang der 
Tutherifchen Zeit gleich 2 Paftoren zu Doblen eingefept find, oder 
ob vielleicht 3. B. Tegetmeyer und Rivius beide Gemeinden ver- 
forgt haben. 

Am Anfang Hat die ganze Doblenfche Tettiihe Gemeinde fid) 
mit ber einen geräumigen Kirchfpielskirche begnügen müffen, bis 
3 Meilen von hier „die Verfenfche Kirche auf dem Gute Lieven- 
Behrfen erbaut wwnrde; wann biefe erbaut, ift unbefannt. Erwähnt 
wird fie zuerft 1718, doc) ftammt fie fiher aus dem 17. Jahre 
Hundert; fie Hat aber nie befondere utherifche Pafteren gehabt und ein 


verordnen Wir hiemit, daß Umfere Beambien, oder wer diefelbe 
tünftig jepn möchten, fo die Gefälle Unferes Ambts Doblehn ein: 
mehmen werden, anflalt defien, zu ewigen Zeiten jähel. ganpig 
of Roggen, zwanbig of Mal, zwey Lof Grüße, zwei Lof Erbfen, 
awo SKüße, ziwey Schafe, ziwey Halbwehfel, Eine Dierlel Zone 
Butter, zwanpig Z4. Cal und anderthalb ZA. Hopfen, ins 
Armen-Hauß dafelbft richtig abliefern au) daß nöthige Hely zur 
Küchen und Wärmde, vor folde Armen, dahin anführen Laffen 
foffen. Hiernad; Diefelbe, ohnerwarlend ferner Befehle, fih zu 
richten haben, Mpekundl. gegeben Doblehn ben 2eten Janırey 
Anno 1711. 


@. 8) Heineieh Chriftien €. v. Soden, Ganzler 
von d. Deinten, Lanthofmeifler, 9. Reyferling, Landtmarfchall. 


Zur Gefhhichte der Doblenfchen Kirche. 101 


Befiger, Georg Chriftoph v. Lieven(F 1721), warnt in feinem Tefta: 
ment vor WUnftellung eines foldhen. Die Kirche muß alfo von 
Doblen aus bedient worden jein. Nachdem fie 1729 ben Katholiten 
eingeräumt twar*), wurde dem mörbfichen Theil des Rirdjfpiels ein 
Erjag nothrendig. So kam e8 zu dem Bau der Behräpöffchen 
Kirche im Jahr 1748—1744. PBaftor Brunnengräber war der 
exfte, welcher dort Gotteädienfte hielt. Hundert Jahre fpäter famen 
die beiden Bethäufer im Südweten und im Siübdoften des Firch- 
fpiels Hinzu. 

Da Namen und Jahreszahlen allein Hier aufzuführen, nicht 
am Plat ift, fo befchräufen wir ung, nachdem oben von Heinrich, 
Moolphi fon die Nebe getvefen, auf folgende MittHeilungen aus 
diefem Jahrhundert. 

3. ©. 2. Richter (jpäter in ben ruffiichen Mdelsftand 
erhoben) wurde nad; 22 jähriger Wirkfamfeit in Doblen au die 
ZTrinitatisfiche nad) Mitau und zugleid, zum furl. Superintendenten 
berufen, erhielt al3 Erfter den Titel Generaffuperintendent auf 
Grund der neuen Kicchenordnung von 1831, an deren Ausarbeitung 
er 2 Jahre lang in Petersburg theilgenommen. Verfaffer biefer 
‚eifen erinnert fih, al3 Heiner Knabe im Haufe des müden Greifes 
zu Mitau gewelen zu fein und einen freundlichen Segen desfelben 
mit Handauflegung empfangen zu haben. Das Segenswort ift 
nicht unerfüllt geblieben. 








=) Obfepon wir e8 Bier Hauptfäßhlic) mie mit der Gefeichte ber 
Dobtenfegen Kirche zu Ham Haben, fo tan ich doch nicht umhin, hier eine 
im Munde der Lieven-Berfenfcen Leute Lebende Sage aufzuzeichnen, bucdh 
welche die Hiftorifehe Kathalifierung jenes Gebietes illuftriert wird. Obfejen der 
Tutherifche Exbhere von LieveneBerfen, Georg Cfriftoph, feine Kirche und 
feine Leute bei der Augaburgifcien Religion erhalten toiffen wollte, warb fein 
Sohn burd) feine tatholifche Gemahlin, Gräfin Martha Pfilippine v. Rasch, 
zur Tatholifcjen Kirche hinübergezogen. Die Unterthanen folgten ber Herr 
igaft und ein fatholifches Paftorat ward gegründet. Die Sage nun Laute: 
Ein geftrenger Here d. Sieven Hatte fi in ein Lathofiidies Fräulein verliebt; 
iefelbe wollte aber einen Sutheraner nicht Heirathen. Da wedfelte cr feine 
Gonfeffion, aber ohne dadurch fein Ziel zu erreichen. Die Dame erklärte, wer 
feinem Glauben unten werbe, Anne auch; fein Weib verlaffen und derbiene 
fein Vertrauen. Der abgewiefene Mann tathelifierte darauf fein Gebiet im 
Unvillen und Zorn und ber Dame zum Trop (pa fpihti) und übergab die 
Tutgerifche Kirche den Ratfoliten, 


102 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche. 


Dem Vater folgten in dem Amt zu Doblen zwei feiner 
Söhne nad) einander. Der eine, Lebreht Fr. dv. Richter, lebte 
mer Furze Jahre. Sein Bruder Julius v. Richter erreichte 
ein Hohes After, Tebt nod im Andenken der hiefigen Gemeinde dur 
feine Medegabe und fein eifriges Wirken für das Wohl der ihm anbes 
fohlenen Heerde; Hat er ihr doch großentheils a8 eigenen Mitteln 
in ben vierziger Jahren die beiden Bethäufer, zu Neu-Seffau und 
zu NeusfFriedrihshof (Gluhde) erbaut, Teßteres freilich immerhin 
nügfid) al8 eine Stätte ber Gottesverehrung, aber zu fehr an der 
Grenge bes Kirchfpield und die Kraft eines Prediger betrefjs ber 
Sahrten dahin und betreffs der dort wünfchenswerthen Gottesbienfte 
zu fehr befaftend. Julius dv. Richters Perfönlichleit und Arbeits- 
traft fuchte größeren Wirkungsfreis und ein noch breiteres Feld. 
So ging er 1850 nad) Petersburg an die Iefusfirche und wurde 
1861 das geiftliche Haupt ber ganzen Tutherijchen Kirche im ruffi- 
fen Reiche, ala Generalfuperintendent umd Wice-Präfident des 
General:Confiftoriums, feit 1870 noch mit dem feltenen Titel eines 
Iutherifchen Bifchofs gefchmüdt. 

Seine Nachfolger in Doblen war Karl Sylvejter Bod, mit 
welchem Verfaffer nod faft 15 Jahre in brüderlicher Eintracht und 
herzlicher Freundfchaft hier zufammen gewirkt Hat, ein Mann, fehr 
praftifchen Geiftes, von populärer echt Tettifcher Berebfamfeit, großer 
Arbeitskraft und [Haren Charakters. Er hat in Doblen die große 
Wandlung unferer Landezverhältuiffe erlebt und an ihr mitgearbeitet. 
3 war der Uebergang der Bauernfrohne zur Gefindespadht und 
zum Gefindelauf; e3 war die politifche Reformation burd) Eins 
führung der neuen Gemeindeordnung, e3 war die Reformation de 
gjammten Voltsfhulwejens. Während der Amtsführung Bods 
wurden 11 Schulen im Kichjpiel gegründ t, zu denen nachher noch 
mehrere neue Tamen; c3 tar die Zeit de& nationalen Auffchrwungs 
bei den Letten, welche aud) den G.iftlichen mande Schwierigkeit 
bereitete und neue Aufgaben ftellte. Seine Treue und fein Eifer 
Hat fich im Amt au) dadurch bewiefen, daß er, um die wachfende 
Arbeit zu bewältigen, mehr ald je ein anderer Paftor zu Doblen, 
AdjunktenHitfe md zwar aus eigenen Mitteln fich geihafft Hat. 
Nicht weniger, al3 7 Adjunkten Haben ihm, bis er als Emeritus 
das Amt aufgab, 19 Jahre Tang Helfend zur Seite gejtanden, fo 


Zur Gefejichte der Doblenfchen Kirche. 103 


daß in diefer Zeit oft an einem Sonntag in 2 Kirchen zugleich 
Gottesdienjt gehalten werben konnte. 

Wir fchliegen Hiermit unfere Stigze der Doblenfcen Kirchen» 
geihichte, in Hinficht dir Bauten umd der Paftoren. Mag in der 
Zufunft ein Anderer ic) finden, der Genaueres über die Geihhichte 
der eingepfarrten Güter und deren Befier und über die Kultur» 
gefhichte der Gemeinde, insbefonbere der Bauerfcyaft, Hinzufügt. 


ll 














Bolitifhe Korreiponden;. 


8 nee Jahr Hat für Berlin mit vielbewegten Tagen begonnen. 
Boran der Grinnerungstag an bie Wiedergeburt des Deutichen 
Reiches, die Kaiferproffamation von Verfailles, in weldem bie jeit 
Monaten fortlaufenden Gebenftage von Schlachten und Siegen ihre 
Kulmination fanden. ben bieje Iange Reihe von Feiertagen macht 
8 erflärlic, wenn der 18. Januar nicht mehr bie vollfrüche Be+ 
geifterung vorfand, welche ihm eigentlich gebührte. Verglichen etima 
mit dem 80. Geburtstage des alten Bismard, fah biefer nebelige 
Januartag denn doc; etwas graucoffiziell aus, froh aller Sllumina- 
tionen und Sefteffen, Reden und gefticriften. Man Tann eben von 
einem gewöhnlichen Menfejen nicht verlangen, dafı er 6 Monate 
Hinduch begeiftert fei, weshalb ich nur mit Mitleid an die Vielen 
denfen fonnte, die am 17. an einer pflichtmäßigen geftrede arbeiteten, 
deren Zuhalt fie und Andere jhon hundertmal vorher genoffen hatten. 
Immerhin aber ift dad; in ganz Deutichland das Vewußtfein von 
dem Segen und ber Größe jenes Vorganges in bem Spiegelfaal zu 
Verfailles ftart und allgemein genug, um in biefen Feiertagen fowohl 
heilfam auf bie hie und ba noch erhaltenen partikulariftifcpen Neigungen 
einzuwirfen, als auc) ben Dlihmuth zu jänftigen, der, aus mancerlei 
Suelfen fliehend, fid) gerade in diefem Jahre des Jußels mehr denn 
früher Gemerfbar gemacht Hat. 

Ich werde Ihre Seler natürlich mit einem Seftartifel auf die 
Wieberherftellung des Deutichen Reiches verihonen. Imdeffen möchte 
ich gerade heute nicht unterlaffen, bie Richtung zu betonen, in ber fich 
die gewaltige Entwwidelung Deutichlands feit 25 Jahren vorwiegend 
Gerwegt hat. Cs war bie Richtung auf inneren Ausbau, nicht äußere 





Bolitifche Korrejpondenz. 105 


Unternehmungen. Bon Haufe ans war äußerer Friebe der dringenbfle 
aller MWünfce einer deutfchen Stantsleitung, und ihm war man 
große Opfer zu Bringen unter Vismard fo gut wie unter Gapribi 
bereit. Oft genug hat man im Auslande den Unmuth nicht verbergen 
tönnen, der die allerorten verftreuten Deutichen erfaßte, wenn fie 
bemertten, dab man in Berlin durdaus nicht gefonnen fei, ihre oft 
überfpannten Erwartungen zu erfülen, ihren Anfprüchen an bie Ber 
teitchaft zu materieller Hilfe gerecht zu iwerben. Zehnmal lieh 
Deutihland fid) in Afrifa von Engländern und Franzofen auf ben 
Fuß treten ohne Gegenwehr, und hat große Opfer gebracht, um einen 
ernfieren Nonflift zu vermeiden; e8 hat ungeredhte Behandlung feiner 
Angehörigen ruhig hingenommen, e& hat Verlehung völferrechtlicher 
Verträge, 3. ®. am Niger, fi} gefallen Taffen, es ift felbft vor 
Spanien zurücgewicen in der Angelegenheit der Karolinen. E8 war 
eben oberftes Prinzip, vor Allem die inneren Dinge zu ordnen und 
fi) hierin nicht durch auswärtigen Kraftverbrauch ftören zu Laffen. 
Und wie richtig und jegensreich diefes Prinzip war, fehen wir Heute 
nady Ablauf der erften 25 Jahre. Welch’ gewaltige Entwidelung 
der von den alten ieffeln befreiten inneren Kräfte! Welcher Grjolg 
in der Arbeit innerer Gefepgebung und Verwaltung! Das ftärtfte 
Kandheer der Welt; eine wenn aud) nod; fleine, jo bod) kräftige und 
machiende Kriegsflotte; eine Verwaltung, bie, wenn aud) nicht fehler: 
os, bod; noch die bejte ift, deren fid) ein Grofftaat unferer Zeit 
rühmen fann; die befte Poftverwaltung der Welt; ein vollendetes 
Schienennep; gute Finanzen in allen Eingelftaaten und im Reich; 
eine Handelöflotte, bie bald die zweite ber Welt fein wird; eine 
Induftrie, die im Sturme fid) überall fefte Stellungen erworben hat 
und die Konkurrenz jeder fremden Jnduftrie auszuhalten vermag — 
das find die Früchte der 25-jährigen Arbeit, Man hat beredinet, 
daß das Volfsvermögen von Deutichland feit 20 Jahren burdh- 
ihnittlih um eine Milliarde im Jahr gewachlen ift; und es ift in 
biefer Periode in fleigendem Maße, d. h. mit jebem Jahre jehneller 
gewachien, von einzelnen Rüdfchlägen abgefehen; «8 wird heute auf 
200 Milliarden geijägt. Die nationale Berichmelzung ift trop aller 
teligiöfen und ftammlicen SFehden ftetig fortgelchritten, und ein 
äußerer Konflikt würde Deutichland eben fo einig finden, wie e8 1870 
war, nur beffer organifirt als damals. 
Das fchnelle Wachstgum der materiellen sträfte ift freilich von 
Gridieinungen begleitet, bie als Manfhaft bezeichnet werden bürjen; 
Griheinungen, die fi überall zeigen, wo die moberne inbuftrielfe 
Arbeit fich in dem Voltöleben ausbreitet. Das mobile Kapital gewinnt 
immer größere Bedeutung gegenüber Grundbefih und Arbeit, es ballt 
fid in den Banken, im Vörfenverfehr zufanmen und reißt den Fleinen 
Befih gewaltfam an fid. Cs ift bie Zeit, wo Millionäre teifen und 


106 Volitifche Korrefpondenz. 


umb mittlere Vermögen leicht bahinwelten, befonders wenn biefe Früchte 
an dem Giftbaum wachlen, an welden man foeben im Reichstage 
mit feharfem Gartenmeffer bie Hand anlegte. Andrerfeits der toloffal 
vermehrte Frrachtenverfeht, der Curopa mit dem Korn und Rohpro- 
duften ber ganzen Welt überfluthet und dadurch den Landbau in eine 
hart bebrängte Lage gebracht bat, ans der er fih auf dem Wege 
gefeßlichen Schjußes zu vetten bisher vergeblich verfucht hat. Enblid) 
die Sozialdemokratie mit ihrer wachjenden Wählerzapl und rüdfichte« 
Tofen Agitation. Das find drei Wunden am Voltsförper, die ihm 
viel Kraft entziehen und an benen von hundert berufenen und toeit 
mehr unberufenen erzten herumgepflaftert wird, Bisher Leider zum 
großen Theil vergeblich, aber doch auch nicht ganz ausfichtslos. 
Diefe Franken Stellen Yindern indeffen bisher das Wachstgum und 
die Arbeit mur wenig, und fo mag man in Deutfchland hopben 
mit Befriedigung auf das erfte Viertelhundert Jahre des Meiches 
zurüdbliden, in fo weit bie inneren Zuftände in räge kommen, 

Minder befriedigend hatte fi bie äußere Stellung bes Reiches 
befonbers feit dem Sturze Bismards geftaltet. 68 war, als wäre 
nicht ein Maun, fondern eine Armee in ben ARuheftand getreten. 
Die äufere Poitit verlor von Jahr zu Jahr an Einfluß, wenigftens 
verlor fie bie Ceitung in Europa, welde fie vorher bejeffen batte. 
&3 idhien, als follten fid) wichtige Dinge in Europa, in Alien fat 
ohne bie Mitwirkung Deutichlands abfpielen, als wären wir hier fo 
fatt getworden, daß wir ung ein wenig zur Ruhe legen wollten. Das 
wurde im Sande felbft, mehr aber gerade im Auslande peinlich eme 
pfunden, bis mit bem Abgang Gaprivv3 im Reichstanzlerpalaft wieder 
— ober vielleicht zum erften Mal — ber Wille einzog, eine aktivere 
Rolle in der folonialen Intereffenwelt als bisher zu Ipielen. Frürft 
Hohenlohe verfprad) fofort, für die Solonien mehr zu thun, und 
jorgte für. bie Befehaffung größerer Staatsmittel. Aber trofdem war 
man unbefeiedigt von ber Haltung des Reiches auch gerade in ben 
jüngften Wirren im Often. Da wurde man don einem plöblichen 
Eingriff des Kaifers überrafcht. 

Am 2. Januar, einem Donnerstage, war eine Verfammlung 
der beuffchen sTolonialgefellichaft angejeht worden, auf welcher 
Dr. Peters über allgemeine dentiche Loloniale Iutereffen einen Vortrag 
halten follte. An Morgen bieles Tages brachten die Zeitungen die 
Melbung, ein Dr. Jamejon von der britifc - fübafrifaniichen Gejell- 
Schaft fei in Transvaal eingebrochen. Als Abends Herr Peters in 
ber Berfammlung das Wort erhielt, erklärte er, er werde von Zrans« 
vaal und dem Ginbrud; der Engländer reden. Nady Turzer Ein: 
Teitung forberte er die Verammmlung auf, erftens in einer Depeche 
an Präfident Krüger auszubrüden, baf das bdeutiche Volt zu ihm 
ftehe (was fofort geihah); dann eine große Verfammlung zu ver« 












Bolitifche Korrefpondenz. 107 


anftalten umd zur Sammlung von Geld, Waffen, Mannfdaft anfe 
zurufen: eine Gegen-Erpedition müffe jofort ausgerüftet werden und 
Transvaal zu Hilfe eilen. 300,000 ME. jeien ihm chen zuges 
fidhert, da8 Uebrige werde id) leicht beichaffen Iaffen. Der Vorichlag 
wurde gern angenommen. Rod) während Peters Trac, famen neue 
Meldungen: Die Bauern jeien ausgerüdt, ein Treffen finde wohl 
jept jhon ftatt, es handele fi um einen vorbereiteten Streich gegen 
Iranzvaal. Am Freitag wußte man, daß Jamelon geihlagen und 
gefangen jei, und man Las die beglüdwünfchende Depelche des Ktaifers 
an ihn — in 24 Stunden war die Komödie abgeipielt, die foldhe 
Aufregung auch in Berlin hervorgerufen hatte. Man erfuhr, daß 
der Bevollmächtigte von Transvaal im Haag Beelaerts von Blodland 
fofort, am 1. Januar, nad; Berlin gereift fei. Die Depeiche des 
KRaijers war alfo wohl nad) Verftändigung mit diefem Seren und 
dem hier weilenden Transvaaler Minifter Leyds abgefaßt, und fie ent- 
hielt im Weientlichen die Erklärung, daf Dentichland das Transvaal 
für unabhängig halte und nöthigenfalls diele Unabhängigteit vers 
theibigen werde. Das fiel herab wie ein erquidender Regen im Juni. 
Altes athmete auf, und als num die immer frecher werdenden enge 
lüchen Blätter „hands off“ wieber ertönen Liehen, wurde hier die 
Stimmung fajt friegeriih. Dann fam das Säbelraffeln in England, 
die Ausrüftung eines fliegenden Geihwaders, Meldung von Nüftungen 
aller Art. E& bedurfte wenig Befinnens, um fich zu jagen, daß von 
einem Kriege mit England nicht die Rede fein könne, aber bald 
flüfterte man, ber Kater Habe in einem Briefe an die Königin von 
England bemüthig MAbbitte gethan. Nun ift das thatläcjlic) nicht 
geichehen, wem auch Briefe zwilden Großmutter und Enfel mögen 
gewechjelt worden fein. Vielmehr hat der Kaifer in ber Tijchrede 
am 18. Januar den Sinn feiner Depeche an Präfident Srüger vom 
2. Januar deutlicher fundgethan. „Deutichland“, fagte er, „ift ein 
Weltreich geworden. leberall in fernen Theilen der Erde wohnen 
Zaufende unjerer Landsleute. Deutiche Güter, deutiches Willen, 
deutiche Betriebjamfeit gehen über den Ozean. Nady Taufenden 
von Millionen beziffern fi) die Werthe, die Deuticland auf der 
Sce jahren hat. An Sie, meine Herren, tritt die erufte Pflicht 
heran, Mir zu helfen, diejes größere Deutfche Reid) aud) feil an 
unfer heimifches zu gliedern.“ Der Staifer prad) weiter von feiner 
P licht den Landsleuten im Yuslande gegenüber, fie zu fügen, zu 
deren Erfüllung ev die Hilfe der Anweienden forderte. Nun, diefe 
Worte zeigen, daß der Kaifer die Zeit für gefommen hält, wo fic) 
Deutichland nicht mehr wie feither won England braucht alles ge: 
fallen zu laffen, und daß er den pr. Jamejon mit jehnellem Gute 
ihluß benupt hat, Diele Meinung den Engländern fund zu tun. 
Die nächfte praftiiche Zolge wird freilid) wohl nur bie jein, daß 






108 Politische Korrefpondenz. 


einige neue Millionen werben gefordert werden, um Schiffe zu bauen. 
Und in der That ift die elende Heine beutfche Areuzerflotte Tängft 
nicht außreichend für den gewaltigen deutichen Handelöverfehr und 
die überall wachjenden deutichen Nieberlaffungen. Aber weiter tut 
fid) dem doc) eine bebeutendere Peripeftive für Denjenigen auf, der 
dem englif_en Nebermuth, tie er in Transvaal und Venezuela, 
dem cüdfichtslofen englifchen Eigennub, wie er in den ganzen Ichten 
Orientteirren fich gezeigt hat, fetere Schranken gezogen ficht. Die 
Acillesferie Englands it heute Aegypten und von dort fucht es 
Alles fernzuhalten, was zu einer Aufwerfung der Occupationsfrage 
führen tönnte. Cine Annäherung Deuticlands an üranfreic und 
Rupland bedeutet auch eine Anmäherung am bie ägyptifche Frage, 
und daher bie Nerofität, mit der England überall in der Welt 
ragen aufteirft, aber tobt, fohalb auf eine derfelßen von deuticher 
Seite eine unfreunbliche Antwort ertheilt wird. Unlängft wollte 
Lord Mojeberen fieh Rufland in die Arme ftürzen, heute wäre Lord 
Saligbury bereit, diefe Scene mit Frankreich aufzuführen; und das 
immer in ber Angft, biefe beiben Mächte Fönnten eines Tages auf 
den Gebanten fommen, fi) mit Deutfchland zu einigen umd gemein« 
fam England aus der Gellung am Suezfanal zu vertreiben. 
Diefer Gedante fände in Deutichland gegenwärtig ein offenes Ohr. 
Frankreich, Rufland, jelbft Stalien haben ein farfes Interefje daran, 
England aus der Sphäre der Iontinentalen Politit hinauszubrängen, 
die England augichlieflich dazu zu beruhen pflegt, feine aufereuro« 
päifchen Interejfen zu fördern. England und Guropa find verichiedene 
MWelttgeile an politiichem Intereffe. Wie gro der Gegenfap ift, das 
Haben die von England angezettelten armenifch-türkifcen Wirren 
noch eben gezeigt, bie won Lord Galisbury und der englifchen Flotte 
fofort verlafjen wurden, fobald fich zeigte, baf; die Cinigleit ber 
europäifchen Mächte 8 zu feiner Erplofion fommen lieh, die dauernd 
Europa von außereuropäifchen Aktionen hätte ablenfen müffen. Ich 
glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, dafı all die neuen eng« 
Üfchen Rüftungen fein anderes Siel haben, als den Staaten des 
Mittelmeeres und des Pontus den Zugang zum Nillande zu verlegen. 
65 fällt England nicht ein, mit irgend einer enropäifchen Macht 
einen Strieg zu wollen, und ebenfowenig wird e$ mit der Union an« 
binden; aber am Nil wirb es Kämpfen, tvenm e& fein muß, d. h. 
wenn e& des Sanales nicht anders ficher bleiben fann. Und es 
icheint, daß man in Frankreich beginnt, mit folchen Möglichteiten zu 
tedjnen, und dah biefe Erwägungen zurücwirlen auf die fontinentale 
frangöftiche Politit und auch auf das Verhältnif zu Deutichland. 
Kleine, bebeutjame Hinweile darauf fann man nicht blos in 
der franzöftichen Preffe, der franzöfifchen Regierung, fondern au) in 
diejen und jenen Griheinungen am hiefigen Hofe bemerten. Umwill 





BVolitifche Korrefpondenz. 109 


türlic, fällt in diefer Beleuchtung 3. ®. auf, dafı geftern zum üblichen 
Voticjaftermahl im königlichen Schloffe bie englifche Botfchaft — wegen 
der Trauer um den Pringen von Battenberg — nicht vertreten war, 
die franzöfiiche aber recht beutlic vom Kaifer ausgezeichnet wurde. 
&s find Sleinigkeiten, aber wer bie gegenwärtige deutiche politiiche 
Seitung verftehen will, wird gut tum, nicht große Bismardidhe 
Aktionen zu erwarten, fondern auf die Heinen, Teilen Schritte zu 
achten, -— die ja zulept aud) zu großen Zielen zu führen vermögen. 


Berlin, 24. Januar. 1896. 


En 


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„Beilage zur Baltifhen Monatsfchrift” wird aud 
in diefem Jahrgang regelmäßig erfcheinen und Beiträge unferer 
baltifChen Dichter umd Schriftfteller, fowie gute Ueberfegungen 
bringen. Trot des faft verdoppelten Umfanges der einzelnen 
Hefte bleibt der Abonnementspreis derfelbe wie früher: 


8 bl. jähelid), über die Poft 9 Rbt. 


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$ranz Kluge in Reval. 

















Beziehungen Nurlands und Livlands zum 
Rhilanthropin in defan. 


Von O. Franfe in Zerbit. 


Tief in das Mittelalter hinein reicht die Geichichte ber 
Affanier. Defjau, die Hauptjtadt der Herzöge von Anhalt, in 
denen das erlauchte Gejchlecht nod) heute blüht, gewann in ber 
weiten Welt erjt im vorigen Jahrhundert eineu Namen. Die 
Kriegsthaten des Fürten Leopold, des alten Deffauers, und feine 
Verdienfte um die preußiiche Infanterie jtrahlten auf jeine Heimat) 
zurüc, und im Zeitalter der Aufklärung verlich jein Enfel, Fürit 
Leopold Friedrih Franz — Vater Franz heilt er im Volke: 
munde — der Stadt und ihrer Umgebung felbjt Anziehungskraft. 
Schloß und Park Wörlis, der große Landfig, an dem er Jahr- 
zehnte Iang fchuf, fanden bei den Zeitgenofien Venunderung und 
Nahahmung. Seine landesväterlihe Fürforge für die Bolfs- 
bildung führte im Jahre 1771 zu der Berufung Joh. Bernd. 
Bajedom’s, des Vorkimpfers für eine allgemeine Verbeflerung 
des Schul: und Erziejungsweiens, — ein Entfchluß, der Deflau 
zum Schauplag einer der interejlantejten Epiioden in ber Ge- 
ihichte der Pädagogit machte. 

Vom Zeitgeifte getragen und vielverheiend umfahte Bajedon’s 
Reformprogramm Principien und Forderungen größter Tragweite. 
Er verjprady ja nicht nur für die alten zeitraubenden, fujttödtenden 
Kehrmethoben neue — die intuitive, welche die Vorftellung aus 
der finnlichen Anjchauumg des Gegenftandes oder jeines Bildes 
zu erzeugen fucht, fehrreiche Spiele und Unterhaltungen, das Er: 
lernen der fremden Sprachen durd) mündlichen Gebraud) gleid) 


1 





112 Baltifhe Beziehungen zum Philanthropin. 


der Dlutterfprache, — er wollte nicht nur im Unterridte Real: 
fenntniffe vor der Spradfenntniß, Denfübungen vor ben Ges 
dächtnihübungen, Schärfung des Verftandes vor der Befruchtung 
der Phantafie bevorzugt wien. VBafebow’s Schule wollte in 
höherem Grade Erziehungs: als Unterrictsanitalt fein, und 
die Erziehung follte, um glüdlihe und nüßlidhe Mitglieder ber 
Gefellicjaft heranzubilden, planmäßig betrieben werden, der menjch: 
lichen Natur entipreden und fi) nad den Erforbernilfen des 
wieflichen Lebens richten; daher er unter die Erziehungsaufgaben 
aud) die Oymnaftit des Körpers aufnahm, ja felbit eine Xor- 
bereitung auf die Entbehrungen des Lebens und die Anleitung zu 
Handarbeiten und den gejelligen Formen und Künften für nöthig 
hielt. In Bezug auf die Stellung der Schule zu Staat und 
Kirche aber vertrat er mit Naddrud den Gedanken, dah fie ein 
weltliches JInftitut unter jtaatliher Oberauffiht fein müfle, con 
feifionslos, nicht refigionslos, eine Pflegetätte der Vaterlandsliebe 
und einer allgemeinen natürlichen Religion. 

Kein Wurder, wenn diefem Programm gegenüber bie fird)- 
liche Orthodorie und einfeitige Verehrer der Schultradition fi) 
ablehnend verhielten und aud) mancher freier benfende Kopf Ber 
denken hatte. In wie weiten Kreifen aber das Vedürfniß der 
Neform empfunden wurde und Vajedow Vertrauen genof, das 
beweift das Entgegenfommen des Publifums, als er es um Kath 
und Geld zur Herftellung des erjten der großen Mittel bat, die 
feinen Theorien den Weg in die Praris bahnen follten. Das 
geiftige Yauptrüftzeug für die neue Erziehungs- und Unterrichts- 
funft fein Elementarmwerf, das den ganzen für den Zögling 
nöthigen elementaren Wiffensftoff enthielt, fam zu Stande unter 
den wohlwollenden Nathihlägen angejehener Männer und mit 
Hilfe freiwilliger Geldbeiträge aus den verfciedenften Ständen 
und Ländern. 

Einen durdichlagenden Erfolg erhoffte Bajedow erjt von der 
Gründung eines Mufterfeminars, in melden er die Aus: 
fügrlichfeit und die Vorzüge feines neuen Spftems deutlid) vor 
Augen führen und durd) Ausbildung geeigneter Lehrer für das- 
jelbe Schule machen fönnte. An liebjten hätte der ungebuldige 
Dann diefes jdhwerere Werk mit einem Zauberichlage in’s Leben 


Baltifche Begiehungen zum Philanthropin. 118 


gerufen. Wber wer die feltfamen Entwürfe zu diefem Seminare 
im Anhang der Schrift Agathotrator und in anderen Publifationen 
kieft, wird begreifen, warum NKosmopoliten und Mlenichenfreunde 
das geforderte Anfagefapital von 22,000 Thalern ihm nicht zur 
Verfügung ftellten. Er mußte fi zu feinen Anfängen ent: 
fließen. Nad) der befannten Rheinreife, auf der Goethe und 
Lavater fein Bild feitgehalten haben, am 27. Decembar 1774 er: 
öffnete er unter dem Namen Philanthropin und als ein 
„Sbeicommiß ber zerftreuten Menfcenfreunde” zu Deflau ein 
Erziehungsinftitut für Söhne aus vornegmeren Ständen, bas zu: 
glei) Lehrerfeminar und eine Bildungsftätte für Famulanten, 
d. h. für Hausbediente fein follte; denn da in vornehmen Familien 
die Erziehung oft unter der Umvernunft der Diener litt, wollte er 
aud in diefem Punkte Wandel ihaffen. 

Die Geihichte und Einrichtungen des Deifauer Pyilanthropins, 
das fon im Jahre 1793 einging, feine Kämpfe ums Dafein, die 
Veränderungen in ber Direktion, dem Lehrplan und der Organi: 
fation, die Lehrart und Erziehungsmittel, die Tagesordnung der 
Zöglinge, ihre Gottesverehrungen, Feitlichkeiten, gemeinfamen 
Reifen, ihre Turnübungen, Gartenarbeit, Tichler- uud Dredjfler- 
fünfte aud) nur flüchtig zu betrachten ift hier nicht der Ort. Ein 
lebendiges Bild der Anftalt nnd der von ihr angeregten ftarten 
Bewegung des Philanthropinismus giebt A. Pinlocde in jeinem 
vortrefflicen, wenngleih in der Quellendenugung nicht überall 
vorfichtigen Werke, La reforme de l’education en Allemagne 
au dix-huitieme siecle. Basedow et le philanthropinisme, 
Paris 1890. ; wie, viel Gutes die Folgezeit der ganzen Strömung 
verbanft, wie viel Jrrthum und Verfehrteit fie verworfen hat, 
lehrt die Geihichte der Pädagogif. 

Die Mutteranftalt zu Deffau blühte auf, nachdem fie vor 
mehr als hundert auswärtigen Gäften in einem großen öffent» 
lien Eramen (im Diai 1786) Zeugniß ihres Geijtes und der 
Leiftungsfähigfeit ihrer Methoden abgelegt hatte und aufier 
Bajedows Berichte (im 2. Stüd des Philanthropiihen Ardivs. 
Defjau. 1776) neben einzelnen Stimmen des Mihtrauens ehr 
günftige Urtheile vertrauenswerther Männer, wie z.B. des Dom- 
herein von Nodomw in die Deffentlichfeit gelangt waren. Zeitbem 


114 Baltische Beziehungen zum Philanthropin. 


richteten fich, es ift nicht zu viel gejagt, Jahre hindurd) die Augen 
der Gebildeten in Guropa, joweit jie für die Erziehungsfrage 
Sinn und Verftändnih hatten, auf die Entwicelung der Anftalt, 
welche fort und fort höhere Leitungen auf fürgerem und leichterem 
Wege und ein glüdlicheres Sugendleben verhieh. Um des Whilan- 
thropins willen wurde Defjau ein vielbefuchter Ort; wieder liefen 
reiche Geldgefchenfe an Bajedow ein, und bald war an Zöglingen 
aud) aus dem Auslande fein Mangel. 

Cs famen Philanthropiften — jo wurden die Penjionäre 
genannt — aus Dänemark, Holland, Franfreid, Portugal; ver: 
gleihsweile die ftärkjten Sympathien für die Anftalt waren aber 
im Djten, in den baltiichen Yändern vorhanden. Das ergiebt fid) 
idon aus den in den periodiichen Drudieriften des Philanthropins 
veröffentlichten Namensverzeichniffen der Pränumeranten auf dieje, 
der großmüthigen Beförderer und der Zöglinge. Ergänzend tritt 
diefen Liten md anderen gelegentlichen Nachrichten der jet im 
Herzogl. Friedrichs. Gymnafium zu Deffan aufbewahrte hand: 
ihriftligeNadlapdes Philanthropins al Quelle 
zur Seite, infofern die Nechnungsbüher mande genauere An- 
gabe und der Juhalt der von den Eltern oder ihren Vertretern 
an die Direktion gerichteten Briefe für das Bild der Bewegung 
einige vervollitändigende Züge und Anhaltspunkte bietet. Sehr 
reich ift freilid) die Ausbente nicht, und obme eine Anregung aus 
Ditan!) würde mir die Zufammenftellung von Auszügen zu den 
folgenden Mittheilungen ferngelegen haben. Möchte das Material 
zur Musfüllung diefer oder jener Lde und als Grinnerung an 
die Vorfahren wenigitens hie und da nicht ganz umwilltonmen fein! 


In der Unterftügung des Philanthropins ging Kurland 
voran. Der Herzog?) ipendete bald nad) dem erwähnten 
Eramen, im Juli 1776 das anjehnliche Gejchent von 600 Thlen., 
dazu bewogen vielleicht au) dur perjönlide Befanntichaft mit 
dem Deifauer Fürftenhaufe. Seinem Beilpiele folgte mit einer 
GSeldgabe ein Herr von Dörper, „secretaire de sa Muj. le 
Roi de Pologne. Seigneur her 'e des terres Memelhofen 
& Mitan®. Vegeiftert jhreibt er (d. 30. Jan. 1777): „So wie 
















Baltische Beziehungen zum Philanthropin. 115 


vor meiner Abreife nah St. Petersburg das Rhilanthropinum 
meine Licblingsmaterie in Mitan gewelen, jo mie es in allen 
Geellihaften in St. Petersburg derjelbe mir an’s Herz 
machlene Gegenftand blieb, jo hat «8 auch) bei meiner zufri 
Zurückunft in mein Vaterland «8 zu fen nicht aufgehört.” . . . 
„Da ih in meinem Girfel ebenfo enthufiaftiich auf die Au 
führung großer und guter Thaten fürs allgemeine bin und auf 
fein privat-intereffe Rüdfidht nehme, fo erlauben Sie, meine 
Herren, die Sie an dem großen Werke zu Defjau arbeiten, mir 
diefen Stolz meiner Seele mit der Jhrigen für etwas verwandt 
zu halten... .“. Wurde nun auch der Anmeldung zweier Söhne 
des Herrn von Nolde, Gurländiih Hocfürftlihen Landes 
hauptmanns, die den Brief veranlaßt hatte, feine Folge gegeben, 
fo brachte doc) im März der Nammerherr von Thülen auf 
Riemahlen perfönlic zwei Söhne nad) Dejjau. Seine Zufricden- 
heit mit ihrer Erziehung zu bezeugen, lieh er der Anftalt ein 
Jahr fpäter aus dem Xergleiche eines Prozeffes 600 Thfr. Albert 
übermachen — freilich nur faut Obligation, da „wegen des grohen 
Geldmangels in Curland das Geld nod) nicht haar hat beigebracht 
werden können“) 

Diefen Hoffnungswecdenden Anfängen entiprachen die weiteren 
Erfolge in Curland nicht. Zwar bewies in Mitau eine dauernde 
Theilmahme Frau Charlotta von der Nede, bie päter 
als Elifa von der Rede jo bekannt gewordene Tochter des Kanımer: 
heren von Medem, der gleich dem Herzoge öfter am Defjauer 
Hofe war; fie jelbjt icheint durch Ehrmann, den Freund Chriftoph 
Raufmanns, des Straftapoftels, intereffirt worden zu fein. 
Vandte regelmi Beiträge ein und jammelte Subifribenten auf 
die pädagogifchen Unterhandfungen, die Zeitichrift, die das Philan- 
thropin herausgab. Wohl öffneten fich auch fonit Hände zu Geld: 
gaben und wohlthätigen Prämumerationen, und die Sympathie famı 
gelegentlich zu überjchwänglihem Ausdrud; 3. B. fpridt ein 
KBaftor Saunisk zu Grobin (d. 6. December 1781) die Hoffnung 
aus, ba das Philanthropin aud) fein Kind würdigen werde, „da 
& das Glück unferes Säcufi an der Quelle genießen möge”, 
Aber ber weitentfernten fojtipieligen Anftalt Kinder zu übergeben, 
entichloffen fi) nur nod) der Hofrath Stegmann in Libau, 
















116 Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin. 


welder den Sohn felbft nad) Deffau führte, und ein Herr D. 9. 
v. d. Homen auf Neu-Bergfried, der von Mitau her fein Mündel 
dem Philanthropin überwies. 

Auf die übrigen inzwiiden mit Nufland vereinigten Landes: 
theile des Königreichs Polen, in denen die deutfche Nationalität 
nur fchwadh vertreten war, übte das Inftitut geringe Anziehungs: 
fraft aus. Von den Zöglingen, die dorther famen*), trägt einer, 
von Mobdiz lewsfi, einen polnischen Namen; von Aid 
und von Schroeder, beide beutiher Abjtammung, traten 
erft im Jahre 1787 ein, zu einer Zeit, da in den Oftfeeprovinzen 
das Jnterefje an dem Philanthropin fait erftorben war. 


1. 


Der lebendigften Theilmahme erfreute fih unfere Anftalt 
feitens ber deutihen Fivländer: die Gefammtfumme ihrer 
Beiträge blieb nur hinter dem großen Zuichuß bes Fürjten Franz, 
des Landes: und Schupheren, zurüd, und die Philanthropiften aus 
Livfand machten mehr als ein Schstel der Gefammtzahl aus. 
Vermuthlicd Hat dort, wo Unterricht und Erziehung wie in anderen 
Staaten der Neform bedurfte), zuerit der Buchhändler Hart 
Enod in Riga — VBafedow nennt ihn einmal eine Seltenheit 
des Buchhandels — die Schriften und Aufrufe des Pädagogen 
verbreitet und die Nufmerffamkeit auf feine Stiftung gelenkt. 
Als erfter Zögling aus Riga traf — furz nad) den eriten Kur: 
ländern — ein junger Baron von Saden in Defjau ein, 
Neffe des gleichnamigen Kaiferl. ruffiihen Minifters zu Kopenhagen, 
ber aud) jtatt der Eltern für ihn mit der Direktion des Philan- 
thropins forrefpondirte. Die Scele der Agitation für bdajielbe 
aber wurde der Kaufmann Heinrid Schilder in Riga; 
wie e8 fcheint, hatte ihn Joh. Lebrecht Runge mit Begeifterung 
erfüllt, ein Privatgelehrter und SHofmeifter junger Herren von 
Abel, der von Berlin aus öfter nad) Riga fam. 

Schilder übergab im März 1778 feinen Sohn Dichael dem 
Philanthropin. Das weltbürgerliche Inftitut machte den günftigiten 
Eindrud, fo daß er jhon auf der Nüdreife ihm wieberholt feine 
Zufriedenheit und die Abficht zu erfennen gab, feinen Ruf zu 
verbreiten, mo und wie es nur möglich) fei; und von Niga fchrieb 


Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 117 


er an Prof. Molke, den Vicefurator und baldigen Nachfolger 
Baedow's in der Direktion, am 14./: April: „Auf meiner 
Neife habe ich hie und da manden Ungläubigen an dem Guten 
Ihres Injtitutes glüdliherweife befehrt ..... Mit reuben be 
merfe ich, bafi in meinem Vaterlande das Vertrauen täglich zu: 
nimmt; vielleiht jehen Sie bald davon die guten Würkungen. 
Das Befragen und Erkundigen nad diefem und jenem hat fait 
fein Ende, fo daß id) in Antworten zuweilen verftumme, benn id) 
bin wahrhaftig nicht geiciet die Vortrefflichteit des Inftitutes im 
rechten Lichte vorzutragen. Demohngeadjtet aber finde ich dad) 
beym unparteyifchen und vernünftigen Theile Glauben. — Mas 
mir am mehreften verlegen macht, find die Fragen, wie weit die 
älteren Philanthropiften in Wiffenfhaften und höheren Kenntniffen 
wären: fraichement muß id) hierauf geftehen, daß id) davon 
nicht urtheilen fann, einerjeits weil ich es nicht verftche, anderen: 
theils weil id hauptfähfid; auf die moralifde Erziehung ber 
Jugend mein Augenmerk gerichtet hatte und endlid die Zeit 
meines Aufenthaltes zu furz gewefen, um von erfteren recht genau 
Kenntniffe zu erhalten. — Aus der Beylage werden Sie erfehen, 
wie philanthropiih man Hier denft: man hat aus meinem 
Briefe an meine Frau einen Auszug gemacht und ihn dem 
Fublico mitgetheilt.” 

Schilder war fein hochgebildeter Mann, aber der rührigite 
und glüdlichfte Agent. Cr befämpfte bie gegen dasfelbe be: 
ftehenden Vorurtheile, er warb in feinem Verwandten: und Be: 
tanntenfreife wie durch die Nigaer Preffe, durd) die er Artikel 
Wolle’s ober einheimifcher Freunde veröffentlichte, um Zöglinge, 
Subifribenten, Geldbeiträge und Gefchenfe anderer Art. Wenn 
im Jahre 1778 außer feinem Sohne jehs junge Livländer, im 
nädjten wieder jede, im Jahre 1780 gar neun in das Philan: 
thropin eintraten, fo war dies ein fchöner Erfolg und das Lob 
Schilder’s im 3. Jahrgang des Tädagogiihen Journals wohl: 
verdient. Natürlich gebührte der Dank nicht ihm ausichlichlic, 
und den Ruhm, feinen Landsleuten den Weg nad) Dean gezeigt 
zu haben, beanipruchte er für fi, ohne fih zu verhehlen, wie 
wirffam bas Beifpiel hochgeftellter Männer wie des Grafen von 
Manteuffel beim Landesadel war. Diefer jtellte ein größeres 





118 Baltiiche Beziehungen zum Philanthropin. 


Kontingent als ber wohlhabende Bürgerftand. Bon Adel famen 
außer von Saden md zwei Grafen Mantenffel zwei 
von NRönne, cin Baron von Mengbden, von 
Zimmermann, von Helmerien, von Meiners, 
von Eeumern, zwei freiherren von Igelftrohm, ein 
Graf Sievers, drei von Schwengelm, zwei von 
Korff, aus dem Vürgerftande drei Söhne Schilder's, zwei 
Berens, zwei Dahl, je ein Zuderbeder, Grave und 
Thiringk® 

Als Vertreter des Injtituts für Livfand und bie Nachbar: 
ichaft bevollmächtigt, die Anmeldung von Zöglingen anzunehmen 
und, falls Pläge frei waren ober frei zu werden veripraden, fie 
oder die Anwartichaft zu vergeben, bildete fid Schilder die Praris 
aus, die Eltern der fünftigen Philanthropiften bei Aushändigung 
des Garantiefheines um ein Geldgeichent für das Jnjtitut anzu: 
gehen, ihnen „eine Gontribution aufzuerfegen“. Diefe Spenden 
betiefen fich oft ziemlich hoch, nicht nur, da das vorschriftmäßige 
Eintrittsgeld von 20 Thalern doppelt gezahlt wirde, und einzelne 
Väter wiederholten fie Jahre hindurch.  '* 

Aud) feitens der Freimaurer in Niga wünfgte Schilder 
eine Vethätigung zum Velten des Philanthropins. „Eine Reife 
Stoevers [des Stadtjecretärs]*, jchreibt er im November 1779, 
wäre jehr vortheilhaft und würde ben Willen zum Geben wieder 
werden, bejonders in der hiefigen Freimaurerloge Apollo, Hier 
giebt cs zwei Xogen von verjdiedenen Secten. Die authenticitö, 
welde die echte, fann ich hier nicht betailliren, nod) felbjt be: 
ftimmen. Dieje hier ift von der Zinnendorfihen Secte, und ber 
anderen Zum Schwert ijt der Prinz Ferdinand Großmeijter. 
Beide haben für das Philanthropin nod) nichts gethan. Könnten 
Sie nicht veranlajen, da eine mit der Zum Schwert verfchwifterte 
Loge an diefe jchriebe und zu ähnlicher Wohlthätigfeit als die 
Logen in Hamburg aufforderte? Dann würde bie andere aus 
Ehrtrieb nacjfolgen! Ich bin neutral, obgleich) alter Ordens: 
bruder”. Es blich bei dem guten Willen der Zogen, einmal an- 
fegnlich zu ichenfen (Br. vom 18. Jan. 1780.) 

Außer Geldgeichenten gingen dem Jnftitute durd) Schilder 
aud) andere Gaben zu: vom General von Nönne, als er jur 


Valtiiche Beziehungen zum Philanthropin. 119 


Armee nah Polen ging, eine beim legten türfiichen Frieden ge- 
Ichlagene goldene DViedaille (von 20—25 Ducaten an Gewicht), 
Oft. 17785 vom eand. Heermwagen, Hofmeifter auf Alt 
Pebalg, zwei Pädlein Naturalien; vom Kanfıann Eberhard 
Wewel?) in Niga eine reichhaltige Sammlung von Zinn: 
abdrüden der jeit Peter d. Gr. in Rußland geichlagenen Medaillen, 
„vortrefflich geeignet, die jungen Liejländer geiprächsweile mit den 
merkwürdigen Begebenheiten Auflands und ihres Vaterlands be- 
fannt zu machen“; hebräifche Bücher und Naturalien vom Cand. 
Heerwagen [identiich mit dem obigen?], Hofmeifter des Oberften 
Boltho von Hohenbah auf Muremoiie im MWolmarfchen Kirch: 
ipiel, defjen Söhnlein aus eigenem Antriebe zwei Thaler für das 
Philanthropin opferte; von Schilder jelbit „les vies den 
hommes illustres par Plutarque* und andere Werke, von denen 
eingefnes in die Bibliothek des Herzogl. Gpmnafiums zu Deflan 
übergegangen ift; von Grave Abbildungen aller ruffiichen 
Nationen. 

An der Subjtription auf die Pädagogiihen Unterhandlungen‘), 
das Journal für die Erzieher und das Lejebud; für die Jugend, 
dann auf die Jugendzeitung betheiligte man ich jehr rege. Von 
den Unterhandlungen verlangte Schilder 100 Eremplare des Jahr: 
gangs 1779, freilich mit dem VBemerfen, für das Eremplar nur 
nod) einen oder einen halben Ducaten fordern zu fönnen, während 
ihm für den eriten Jahrgang ein oder zwei Ducaten, ein Louis'or, 
ja 10 bis 15 Nubel gezahlt wären. Dabei münjchte er bie 
mwohlthätigen Käufer des erjten Jahrgangs im zweiten nachträglich 
erwähnt zu fehen, da dies der Cigenlicbe jo mancher Perjon 
ihmeichle. Die Lieferung der Unterhandlungen ging durd) Schilder 
auch an Pater Schroeder in Fellin und Palter Grot nad, 
St. Petersburg. (Den Vertrieb der „Zeitungen aus der alten 
Welt“ gab er bald auf, weil „Hartknocd damit im Wege“). 
Schilder lieh Lejemajdinen ommen, beitellte zum Verjtändniß 
des Schaufpiels der Welt im Lejebuch für die Jugend ein 
Planetarium, bezog Crome's Productenkarte von Europa, für deren 
Anfertigung er jelbjt Crome Dienfte geleitet hatte, in 100 Eremplaren, 
Wolfe’s Beichreibung der zum Glementarwerf gehörigen Kupfer in 
50 Eremplaren, Wolte's Lieder fröhficher Gejellihaft und einfamer 


120 Baltifchhe Beziehungen zum Philanthropin. 


Fröhlichteit, Salzmann's Gottverehrungen, Auft's Clavierjtüde, 
die ihm bei feinem zweiten Befuche Deffaus, als er im Oftober 
1780 dem Inftitute au) die beiden jüngeren Söhne übergab, ber 
Komponift felbjt vorgeipielt Hatte. Won ber Schrift Ueber ben 
Nationalharakter, die von Nochow, der Verfaher, dem Philan- 
thropin zum Verkauf übereignet hatte, gingen ihm 20 Eremplare 
durd den Hofrath Stegmann in Libau zu. 

So war Schilder's Haus der Mittelpunkt für den Verfehr 
mit dem Philanthropin, Schriftennieberlage, Anmelde und Aus: 
funftsftelle, dazu Speditionsgeihäft für die Sendungen, Haupt: 
fafje für die Zahlungen nad Deijau. Aud) die Korrefpondenz mit 
der Direktion überließen ihm die Eltern, ein Umftand, der ben 
fonjt auffallenden Mangel an Briefen biefer erklärt und melcher 
die Schilder’schen Schreiben zur Hauptquelle meiner Mittheilungen 
gemadıt hat. 

Gelbzahfungen wurben durch Anweifungen auf das Berliner 
Bankhaus Hagen und Kefler, dann einem Wunfce des Inititutes 
gemäß auf den Yanfier Frege in Leipzig vermittelt. Die An: 
weifung erfolgte in Louisd’or, in Ducaten, Sähfiihem Courant, 
Albertusthalern, Nubeln. Der Padettransport ging über Königs: 
berg und Berlin, oft zur See bis Lübel. Gern wurbe für Geld: 
und Padetfendungen Gelegenheit benußt und diefe oft geboten, 
wenn Gejchäftsleute zur Frühjahrs: oder Herbftmefie nach Leipzig 
gingen, Hofmeifter oder Studirende eine beutiche Univerfität aufz 
fuchten, Zöglinge vom Vater oder eigenen Hofmeifter dem Philan- 
thropin zugeführt wurden u. f. w. Jahrelang beitand ein Ieb- 
hafter Verkehr mit Defjau, und die mündlichen Berichte der 
Augenzeugen über das, was fie hier gefehen, über die huldvolle 
und licbenswürdige Aufnahme, deren fid viele von ihnen aud 
feitens des Fürftenpaares zu erfreuen hatten, erhöhten das Inter- 
effe an der Anftalt?). 

Mit welher Aufmerffamteit man in ber Ferne ihre Ent- 
mwidelung verfolgte und um ihr Gedeihen bemüht war, lehren 
viele Stellen der Echilder’ichen Briefe, die nit nur feine 
Stimmungen und Anfichten wieberfpiegeln. In der Aufregung 
ichreibt er (den 23. Jan./3. Febr. 1779): „Muß denn Trapp 
dem Rufe des Nönigs!") ummiberftehlich folgen? Wenns aber 


Baltifhe Beziehungen zum Phifanthropin. 121 


Trappen’s eigener Mille ift, das Inftitut wegen Verbeilerung 
äußeren Vermögens zu verlaffen, fo muß feine Liebe für bas 
Inftitut fehr Talt fein. Wie fehr wünfdhen wir, da Trapp bei 
dem Injtitute bleibe! Mander jagt: wie? wenn bie guten Lehrer 
fo bald davon gehen, wie kann die Sade lange bejtehen; daraus 
entfteht allmählich; Kaltfinn und Gleichgültigfeit für die Erhaltung 
des Inftituts.“ Gegen Ende des Jahres meldet er: „Das VBuc 
Spisbart!) circuliert hier, eine feine Satyre u. |. w. Mir 
Freunde bes Jnjtitutes wünfden, daß es fi im Journal äußere 
— aber nit in einer ernithaften Rechtfertigung, böfe darf es 
nicht werben; eine behutfame Vertheibigung — aber fein Still- 
ihmweigen!" ; 

Als um diefelbe Zeit die Stelle eines franzöfifchen Lehrers 
neu zu befegen war, bemühte fih Schilder um die Berufung 
Ferdinand Oliviers, bes Hofmeifters bei einem Herrn 
von Dettingen,!?) eines jungen Mannes „von vortrefflichem 
Charakter“, und auf feine Empfehlung hin wurde er, trogdem in 
der Zwischenzeit feiner Verhandlungen jhon ein anderer Erjag ge: 
funden war, zum SHerbft 1780 vom Injtitut angeftellt. Weniger 
glüdlih war feine Bemühung um einen neuen Liturgen, ben 
daffelbe dann in der Perfon des Theologen Salzmann gewann, 
der fpäter die noch jegt blühende Anftalt Schnepfenthal gründete. 

Freudig begrüßte Schilder die Ausfiht, ben “Fürften Franz 
in Riga zu fehen: „Wenn Jr Fürft nad) Rufland reift, haben 
wir uns alfo bas Dergnügen zu verfpreden ihn aud) hier zu 
fehen. Die Liefländer, die jegt mit Deutfhland verbunden find, 
freuen fi) herzlich auf ihr Gfüd“ . Juni 1780). „Wir er: 
warten Ihren lieben Fürten täglih; der Vater von Grave 
behäft fich das Vergnügen vor, ihn hier zu fogiren“ (22. Juli 
1780).13 

Im November empfiehlt Schilder einen jungen Engländer, 
beifen Vater Chef des angefehenften englifchen Haufes in Riga 
war, Her Wale: „Maden Sie ifn mit dem Inftitute genau 
befannt; er geht nad) England zu feinem Vater und fann dort 
nüglich werden.“ 

Im December flöht ifm die Nachricht von einem größeren 
Gefchenfe des Grafen Sievers Bebenfen ein, ob es ferner no) 








122 Balfiihe Beziehungen zum Philanthropin. 


rathjam jei, die Beiträge der Livländer mit dem Namen ber 
Geber umd ihres MWohnortes in den Unterhandlungen anzuzeigen. 
„Die Schrift des Herrn Mori’) fönnte hie und da Beifall 
finden und in der Folge die Negierung darauf aufmertiam werden“, 
Die Beforgniß erwies fi als übertrieben. „Morig,“ fhreibt er 
den 3. Februar 1781, „icheint feine Profelyten zu machen.” 

Zur Zeit des offenen Vruches zwiichen Yafedow und Wolfe!) 
und da die Inftitutsausgaben durch die Einnahme nicht gededt 
waren, juchte Schilder -—- infolge eines Nagebriefes von Wolke, 
für den er nicht mit Unrecht Partei nimmt — nad) Kräften zu 
heffen. „Zuvörderit kann ich nicht umhin Ihnen meine Empfind: 
jamfeit anszudrücen über das Leid, jo Sie tragen müllen, indem 
ich eife der Noth des Inftitutes zum Theil abzuhelfen durch bei- 
gehende remessa von 2285 Thalern Penfionen und Neben: 
ausgaben (zumTheil mein Vorihuß).” Im nicht völlig begründeter 
Entrüftung fährt ev dann fort: „Qerlaffe did) nicht auf den Fürften 
und große Herren — das erfährt das Inftitut. Aber wie hat der 
Fürft feine Gefinnungen jo mit einem Male geändert? Da 
feine Einfünfte durd) den Tod des alten Eugen (feines Oheims) 
fo anjehnlid zugenommen, erwartete ich immer die Fortfegung der 
Woptthätigteit des Fürften gegen das Inftitut. Der Markgraf 
von Baden bezeigt fi auc) nicht noble.!") It das der fo ge: 
rühmte edle Weltbürger und Menfchenfreund? Mir wird ganz 
bange ums Herze, wenn ic) in die Zufunft jche.“ (30. März 1782). 
Verfrügt war die Freude, die er Wolfe im Juli bezeugt: „Es 
freut mich fehr, daf; Ihr Zwift mit Vafedow im Stillen beigelegt 
wird; es ijt die befte partie, die Sie genommen, dem Nathe des 
würdigen Zolfifofer'?) gefolgt zu haben“. Der Streit erneuerte 
fi) mit verftärkter Veftigfeit; die Livländer ftanden auf Wolte's 
Seite. „Herm Duvriers!*) relation“, schreibt Schilder den 
29. März 1783, „habe id) mit Freuden gelejen, weil Ihre Necht- 
schaffenheit darin in Helles Licht gelegt wird, aber gegen Bajedow 
konnte id) meinen Verdruß nicht bergen, jo daß ich auf der Stelle 
fein Porträt, das in meinem Zimmer obenan in [hönvergoldetem 
Nahmen hing, abnahm und für immer in einen entfernten Winkel 
relegirte. Der böje Mann wird mun wohl feine Rolle aus: 
geipielt Haben umd feinen Lohn erhalten. Mindeftens jollte er 


Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 123 


vom Fürften aus Dejjau relegirt werden -— zur Ehre des Fürjten 
und um des Nufes des Jnititutes willen. Neiches relation!?) hat 
uns herzlich divertirt in ihrem Auftigen Tone. Ueber die Längit- 
verdienten Schläge, die Bajedomw erhalten, find wir fehr erfreut, 
aber es teht zu beiorgen, da der Erfah dem Inititute nachtheilig 
werde: Bajedow muß fort, Ihre Unfchuld öffentlich dargethan 
werden“. Damit nit genug; im Namen der Livländer richtet 
er an die Lehrer die Erklärung: „WVerehrte Freunde, Wir Lief- 
länder insgefammt nehmen herzlichen Antheil an dem Nummer, 
den der gute 9. Director Wolfe von Bajedows Verfahren, des 
nunmehr entlaroten Heuchlers, gelitten nnd auch nod) leidet. Wir 
jehen zum voraus, dal Wolfe triumphiren wird, aber wir wünjden 
fchnlicjit, zur Erhaltung des guten Nufes des Inftitutes, 1) dak 
Bajedows Urtheil mit der Nelegation von Deffau verbunden fein 
möge und 2) da unter autorit& Ihres hohen Proteftors bes 
durchlaudtigiten Fürften das Urtheil zur Satisfactio des guten 
Wolfe öffentlich möge gedruckt werden.“ 

Dit foldyen Zeichen des wärmjten Juterejfes und der Hilfe: 
bereitichaft verbinden fid in Schilders Briefen Vorihläge, Wünjdhe 
und aud Beichwerden. Defters legt er dem Injtitute nahe, über 
die Zahl von „50 Penfioniften“ hinauszugehen; noch im Februar 
1781 glaubt er in der Heimat) Hofinung machen zu fönnen, dai; 
es fich auf 70—75 erweitern werde, „wozu, wie 9. Nunge mir 
vor einiger Zeit meldete, Herr von Nodom fepr animirt hätte.“ 
Gelegentlich weijt ev auf die Nothwendigfeit einer größeren An- 
zahl von Lehrern Hin, aud auf die Antellung eines rufii: 
iden Spradlehrers: „Beider Zunahme der fiefländiichen 
Zöglinge des Inftituts in Anbetracht der Neputation deifelben in 
Viefland wie des Nupens für die jungen Liefländer, ob fie dem 
Nilitair oder dem Kaufmannsitande bejtimmt find, eridheint eo 
nöthig, daf das Injtitut einen ruffiihen Sprachmeifter anichafit. 
Belonders iit dies ein Wunidh Er. Ere. des Gen. von Hönne. 
Ju einem befonderen Ufaje wird verlangt, dal; alle Canzellijten 
und Nichter in den deuticen Provinzen Rußlands die ruffiihe, in 
den rufjiichen die deutiche Sprache willen follen. Wie leicht könnte 
defe Mufinerffamfeit zu den Chren der Monardin fommen, 
vieleidgt würdigte fie das „Jnititut einer neueren Unterfudung 


124 Baltifhe Beziehungen zum Philanthropin. 


und dann ihrer gnäbigften Protection. — Die Koften wären zu 
deden durch Erhöhung der Penfion für jeben, der ruffifch lernen 
will, um 80 Thlr.; Gehalt 100 Duc. nebft Koft und freier 
Wohnung! Werde mich eventuell befonders an den Etatsrath von 
Kroof wenden“. (April 1779). 

Mit gejundem Gefühl rieth Schilder von ber Einführung 
der neuen Orthographie ab. „Ich muß Ihnen aufrichtig geftehen“, 
erlärt er Wolfe im Februar 1779, „daß mir diefe Reformation 
nicht gefällt, und follten Sie felbige im Inftitut einführen wollen, 
fo glaube ich, wird diefe Neuerung ihm mehr fhaden als nügen. 
So gegründete Urfahen Kopftod und andere feines Gleichen aud 
haben mögen, die jegige Orthographie zu verdammen, jo glaube 
ich, ift es zu viel gewagt, die einmal eingeführte Schreibart einer 
Nation umfhaffen zu wollen. Jd bin fein Gelehrter, um er 
hebliche Einwürfe dawider mahen zu fünnen, allein mir wider 
fteht diefe Neuerung, und id) halte 8 dem Inftitute für fehr zur 
träglid, der alten Gewohnheit zu folgen. Es wird darüber ge- 
fhrieen werden, wie man geihrieen hat, man wolle im Jnjtitute 
eine neue Neligionsfecte gründen“. Mit Genugthuung bes 
grüßte es Schilder daher, als Wolfe zur alten Rechticreibung 
gurüdtehrte. 

Aber aud Verfäummiffe in dem Unterricht und der Er- 
siehung ber Kinder und Gleichgiltigfeit gegenüber gerechten An- 
fprüchen der Eltern Hatte Schilder zu rügen. Im December 1779 
fordert er eine häufigere Mittheifung der Senatsurtheife über die 
Zöglinge an bie Eltern. Ciner Klage über die Inforreftheiten in 
den Briefen eines Philanthropiften läßt er (im Juni 1779) 
allgemeiner gehaltene Vorwürfe folgen: „Die Lehrer müfen auf 
Neinlichkeit, Ordnung und Einhalten der Briefe mehr Aufmert- 
famfeit haben. Vom fleinen v. 3. fam ein beichmierter Brief; 
der Heine v. ©. jdreibt feinen Eltern die Lehrftunden: „von 8—9 
Xefen, von 9--10 franzöfüd, 11—12 gymnaftiihe Webungen; 
Donn. und Freit. Tangen, 12—1 Uhr Effen, 1-2 frei, 2-83 
ihreiben, 3— 51/2 frangöfiich, —5 Vesperbrob, 5-—-6 frei, 7 Ejien.” 
Ein Feind des Injtituts würde daraufhin fagen: „die Kinder 
lernen hödjitens etwas fchreiben, lefen und franzöfiih, und den 
größten Theil des Tages gehen fie pazieren, wie hier aud 








Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin. 125 


mandjer feichte Kopf urtheilt. Die meiten Briefe find überhin 
geihrieben; aud) erhebt man Klage, daf Sander [einer der Lehrer] 
nicht pünktlich antwortet.“ Dringend mahnt er zu pünftficherer 
Veobahtung der Brieftermine (2. Nov. 1779): „. . . ic) bitte 
es wohl zu Herzen zu nehmen, weil im entgegengefegten Falle 
die Folge dem Inftitute jehr nachtheilig werden fönnte. Bes 
denken Sie einmal, wie jhädlid) es demfelben hier zu Lande fein 
würde, wenn ein Liefländer vor vollendeten Erziehungsjahren von 
feinen Eltern zurüdgeholt werden würde. Lieber Freund, ich 
habe Sie jo jorgfältig gebeten, dab die Liefländer alle Monat 
doc einmal gewiß fchreiben möchten. Sie haben mir es aud) 
verjprochen, aber . . . Abieu, leben Sie wohl, mein Eifer für 
Sie und das Inftitut wird nur mit meinem Leben aufhören“. 
Nichtsdejtomeniger muß er bald darauf im Namen fdmachtender 
Mütter und ungebuldiger Väter feine Vlahnung wiederholen, im 
December anzeigen, da die Gräfin von Manteuffel in drei 
Monaten von ihren Kindern feine Silbe gefehen ober gehört, im 
Juni 1780, dab Verens’ Sohn wohl feit 6-8 Monaten nicht 
geichrieben Habe! Ueber Form und Inhalt der Briefe Magte bei 
Schilder bejonders der General von Nönne: feine Söhne hätten 
nad) langem Aufenthalte nod) nicht einmal einen Brief fhreiben 
gelernt und leifteten weder im Schreiben nod) in der Orthographie 
od im Franzöfifchen etwas, jo daß er an die Ecole militaire 
in Stuttgart benfen müfle. In einem von Schilder an das 
Inftitut gefandten Briefe (Juli 1732) daratterifiert er die Briefe 
der Söhne als leer, jhal, gebanfenlos, ohne Eingehen auf feine 
Materie geigrieben; alle jeien nad) derfelben Schablone gearbeitet 
und vermuthlid) im Unterrichte jelbjt entftanden. 

Dah die Fortfdritte im Franzöfiihen nicht allgemein be- 
friedigten, erhellt auch aus einer Anfündigung Schilder’s, daf der 
Buchhändler Hartknod) bei dem bevorjtehenden Bejuhe Deflaus 
befonders wegen ber Pflege diefer Sprache mit Wolfe zu iprechen 
gedenfe (März 1780). 

Anftoh erregten ferner die auf Meine Verfehen ber Kinder 
gefegten Geldjtrafen. „Was 9. Inipector Dahl darüber jchreibt, 
it begründet. Sie finden wohl andere Strafen” (December 1780). 
Ebenjo mußte zuweilen eine jtrengere Ueberwadhung der Sauber: 


126 Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin. 


feit und Ordentlichfeit gefordert werden. „HS. Landrat) von 
Gampenhaufen, der das Injtitut im vorigen Jahre bejucht 
bat, war mit dem Unterricht vollfommen zufrieden, nicht in An- 
fehung der Ordnung; es ift ihm aufgefallen, dah die Ninder mit 
zerriifenen Strümpfen gegangen find“ (März 1780). Aehnliche 
Beobachtungen machte Scjilder felbft bei jeinem zweiten Vejuche: 
„Meines Michels Unreinlicfeit war mir dort jehr auffallend: 
zwei Tage fam er mir mit ungewajchenem Geficht entgegen, mit 
denjelden Fleden im Gefiht. Auch in Berlin. führten die philan- 
thropiichen Eltern darüber Klage“. 

Turd) foldhe Unvollfommenheiten lich er fid) bis zum Früh: 
jahr 1783 den Glauben an die Vortrefflichfeit der Anftalt nicht 
rauben; das geht nicht nur daraus hervor, daß er in der Hoffnung 
auf ihre Befeitigung die Mängel, die er erkannte oder erfuhr, 
der Direktion offen mittheilte,?") auch unzweidentige Neuerungen 
und Vethätigungen dev Zufriedenheit beweifen es. Auf die An 
frage nad) einer in Kivland gegründeten philanthropiichen Anftalt, 
von welcher ein 9. VBellermann (der P. v. Schmwengelm aus dem 
Nevaliden nad Defjau gebradt) berichtet hatte, erwiderte er 
(Mai 1782): „Won einem liefländiichen philanthropiicen Injtitute 
weiß; ich nur foviel: in Wolmar hat ein verheiratheter Gelehrter 
Heydemann eine Penfionsanjtalt mit zwei Lehrern (diefe wird 
Vellermann gemeint haben); vor einem Jahre hat er eins darüber 
in Drud gegeben. Ic habe fie noch nicht geichen ımd Habe 
fein Sntereffe für fie” Deutliher nod) jpridt ein 
Brief vom 5. November 1782: „Id Habe 9. Dr. Schlegeln 
jeit feiner retour gejprochen, er ijt mit dem Inftitute jehr zu: 
frieden; die Viethoden mären die einzigen und beiten, bejonders 
in Spradjerlernung, die mit Sachfenntniffen zugleich verbunden 
wäre. Aber die Erziehung fei etwas zu frei, nicht Subordination 
genug; Vülhing?!) hätte es aud) bemerft an den dorthin ge- 
fommenen Philanthropiften. Diefe Bemerkungen follen uns hier 
nicht irre machen; 12 zu Diefem Geichäfte fid) fait gänglid) ge- 
widmete Viänner würden dem Mangel fon abhelfen, wenn fie 
einft für die ihnen anvertraute Jugend aus der freien Erziehung 
unglücjelige Folgen abzählen. Dies letere beforgte Schlegel. 
[Darauf jolgt eine Bemerkung über Grave’s Nüdkehr|, Welche 








DValtifche Beziehungen zum Philantrhopin. 127 


Freude ih Habe nihts als Veftätigungen des 
Rühmliden joihvom Jnftitut hier verbreitet 
babe, zu vernehmen, fann id Ihnen nidt 
ihreiben. Mein Herz hüpfte für Freude, be 
fonders das Urtheil des erjteren, das für competent genommen 
wird. 9. Schlegel rühmte jehr die Förperliche Erziehung.“ 

Mit diefer Stimmung ftand es im Einklang, wenn Schilder 
im nädhiten Vlonate dem Fürften felbjt eine Freude zu bereiten 
fucht: „Ich fandte an Ihren Fürften ein Fählein Caviar und eine 
Kifte Hafeljühner und wünide, da; Sr. Durdjlaueht diefer Tribut 
von unferen ruffiichen Yedferbifien gnädig aufnehmen möchten. 
Meine drei Zähne follen en eorps mit der Verficherung meiner 
Ehrerbietung jelbige überbringen, dah Sr. Durcylaucht dieje ge 
ringen Opfer als einen Beweis von Danfbarfeit für das Glüc 
der guten Erziehung, jo meine finder in feinem Yande in feiner 
Nefidenz geniehen, von mir guädig anzunehmen geruhen. Der 
ältejte joll das Wort führen —— lehren ie ihm das Kompliment. 
Caviar und das Wild müjen allmählic) aufgetyaut werden, wenn 
© feinen Wohlgeichmad behalten fol.“ Die Stimmung hielt 
nod) länger an: am 29. März 1783, an dem Tage da er Yajedows 
Relegation forderte, fhidte er einen Wedel von 650 Thalern 
ab, „um aus der Not zu helfen.“ 

Im Herbjte des Jahres aber fahte Schilder den Entihlun, 
feine drei Söhne in der Heimath durd einen Hauslehrer unter: 
tihten zu lafen. Eine Sinnesänderung verrät Ichon ein Brief 
vom 14. Oft; er wirft bie Frage auf, ob die Fortfegung dev 
Pädagog. Unterhandkungen jehr glüclich fein werde, md bemerft 
dagegen: „Die Sadye ift jhon zu alt, und wird man der collection 
für ein und diefelbe Sade überdrüffig, wenigitens die Geber.” 
Um diefe Zeit erwartet er den 9. von Zimmermann, den er 
gebeten in Dean auc jeinen ältejten Sohn zu prüfen, mit 
Ungeduld zurück. Nach deifen Nüdfehr zeigt er (ipäteitens 
zu Anfang des December) dem njtitute jenen Entihluß an 
und tritt in Unterhandlung wegen Berufung eines Hofmeifters. 
Die Anftalt erblidte in dem Püctritt ihres eifrigen Agenten 
einen empfindlichen Verluft, alle Anftrengung jedoch, ihn zu 
halten, blieb erfolglos; auh auf ein Schreiben des Prof. 















128 Valtifche Beziehungen zum Philanthropin. 


Neuendorf im Auftrage des Fürften antwortete er ablchnend 
„unter Mittheitung der wahren Urjade feines feiten Ent 
ichluffes und des Planes, den cr mit feinen Nindern verfolgte”. 
Leider befindet ich diefe Nechtfertigung nicht in unferem Nadı- 
taffe,??) jo dah fi über feine Beweggründe feine volle Gewih: 
heit gewinnen läßt. So viel jteht feit, daß der Bericht von 
Bimmermanns über den älteften Sohn ungünftig lautete, dies [ehren 
mehrere an Wolfe gerichtete Beichwerden über Vernachläffigung 
desjelben bezüglich des geographüchen und franzöfiichen Unterrichts. 
Ob aber die Unzufriedenheit mit dem Inftitute, der Umwille über 
einzelne Lehrer ausichlaggebend war, ericeint doc) fraglid. Der: 
jenige, der ihm Ungünftiges berichtet hatte, lieh; den eigenen Sohn 
noch ein Jahr dort, und Schilder unterhielt den inzwiihen ge 
wonnenen Hauslehrer (einen 9. Mafjon aus dem Eljah), bevor 
er ihn im Mai mit den Söhnen nad) Riga fommen lieh, mehrere 
Monate in dem njtitute, um fih mit dejfen Grundfägen und 
Diethoden befannt zu machen. Denfbar it, daß bie Zurüdnahme 
der Stinder, mad) denen ev fich fehnte, mit feiner zweiten Ver- 
beiratdung??) zufammenhing, denkbar auch, daß die Erziehung der 
Kinder im Inftitute ihm zu theuer zu ftehen kam.) 

As Schilder zu Anfang des Mai die Verbindung mit ihm 
Löfte, dankte er dem Fürften und veriprad) der Direktion immer 
für daffelbe thätig fein zu wollen, (ehmte es aber ab, den Vertrich 
der Zeitungen — wegen des entjeglich hohen Portos und der 
GErome’fchen Produttentarte, weil fie feinen Veifall fände, fortyu- 
fegen. Im Nachlajfe des Philanthropins findet fid) von Schilder’ 
Hand fein Schreiben ipäteren Datums. 

Wolfe, der wenige Monate darauf mit dem jungen Grafen 
von Manteuffel nad) Livland fan, hat Schilder zwar noch ge 
fproden, eine Auseinanderfegung mit ihn fcheint ihm aber nicht 
geglüctt zu fein, da er kurz nach feinem Gintreffen ver 
So freundlich die Aufnahme war, welde Wolfe, dev verdienjt- 
volle und befichte Leiter der Anftalt, in Livland fand, and er 
hatte mit jeinen Werbungen, wenn er fie während feines Furzen 
Aufenthaltes überhaupt verfucht hat, fein Glüd mehr: nur drei 
Livländer wurden dem Xnititute in den legten neun Jahren feines 
Veitehens nod) zugeführt. Dah aber feine Yehrer nicht allen Nuf 














Battifche Beziehungen zum Philanthropin. 129 





einbüßten, dafür zeugt nicht nur die Wahl einiger von ihnen zu 
Führen der Söhne auf der Univerjität — Matthifon be 
gleitete den Grafen Gotth. Manteuffel, Spazier den Baron 
von Diengden —, fondern auch die Anftellung eines derjelben in 
Kiga. As der Mag. Fr. Wild. Göge?") mit einem anderen 
Sohne des Grafen Manteuffel nad Yivland gefommen war, wurde 
er im Jahre 1759 Neftor der Domjdule, drei Jahre jpäter Nettor 
des Lyceums. 
1m. 

In St. Petersburg und dem inneren Nufland verhallten 
Bajedow’s Aufrufe zu Guniten feines Philanthropins zwar nicht 
ungehört, aber ohne die Wirkung einer jtärferen Vethätigung. 
Kaiferl. Aadenie der Witfenicaften hatte ihm auf die Ueber 
jendung feines Elementarwerfes und anderer Schriften ein an 
erfennendes Yeugniß ausgejtellt (vom 9. Tftober 1775; ab 
gedruct im 2. Stüd des Philanthropüchen Archivs). Kaiferin 
Katharina aber, die anhaltiihe Fürftentochter, deren Namen er 
taum in einem Worworte vergah, der zu Ehren er ein Katharinenm, 
ein Philantgropin für Töchter höherer Stände, ftiften wollte, 
wirde nicht gewonnen. Der Pajtor Grot an der Natharinen 
fiche in St. Petersburg fand für die Pädagogiichen Unter 
bandhungen nur einen Heinen reis von Zubjfribenten, und der 
Ztaatsvath) beim Neihscolligio der auswärtigen Angelegenheiten, 
Ereellen; von Nroof, auf den die Anjtitutsfreumde grofie 
Hoffnung fegten, fieh durch Grot wohl Beiträge einichieen, fogar 
feinen achtjährigen Sohn anmelden, jo dal; Grot auf die Wichtige 
teit diejes Vorhabens für die Anftatt wie Rufzland befonders 
aufmerfiam machte?) und die Direktion in ihrer Vorfreude den 
Inhalt des Briefes no am Empfangstage dem Fürfien fund 
gab, aber mit der Anmeldung hatte es jein Benenden, diejer 
junge Rufje ericien nicht. 

Die Ankunft eines anderen bereitete Schilder folgendermahen 
vor ( Jan. Febr. 1779): „Mit Dahl md Helmerjen, die 
geitern abgereift, Fommt ein junger ruffüicher Edelmann, Waffiley 
von Marfoff, Neven des rufliihen Generals von yorig 
(Favoriten, der mit Velopnung von mehr als einer Million feinen 
Ablay erhielt, vielleicht bald wieder die vorige Stelle erhält) und 




















130 Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 


zum Erben bejfelben beftimmt. Der junge Viann foll zum ver: 
gen Vienfchen gebildet werden . . . Er ift bereits Officier; 
fein Intel hat ihm die Uniform abnehmen laffen, cs joll ihm 
nichts zu Gute gehalten werden. Vor allem mache man ihm den 
Aufenthalt annehmlidh und bringe ihm den Gedanfen an den 
Nugen bei. Zunädit find zwei Jahre Aufenthalt in Ausficht ge: 
nommen. Die glüdliche Ausbildung eines jungen Nuffen (dev 
dazu einer jo angefehenen Perfon angehört) muß ohnfehlbar die 
rin aufmerfiam aufs Jnftitut machen, und dann wird ihre 
mächtige Unterftügung and) nicht auobleiben. Wie vortheilhaft, 
wenn die ruffiichen Herricaften dem Beiipiele des Gen. von Zorit 
folgen! Für jegt von ihm ein Geichenf von 100 Ducaten! u. j. 1." 
Allein Waffiley von Markoff jegte den Abfihten des Cheims ben 
Widerftond eigener Neigungen entgegen und fügte fi ichlecht in 
den Zwang des vorgezeichneten Unterrichts umd geihmälerten 
Mediels. Schon im Herbit des nädjiten Jahres nahm ihn Schilder 
mit fi bis nad) Niga zurüd.”) 

Das Inftitut verlor darum Auhland nicht aus dem Auge. 
Gewih; war cs feiner Anregung zu verdanfen, wenn in den Deflauer 
Kirchen zum Bejten eines in St. Petersburg zu errichtenden 
Schulgebäudes - der Natharinenfchule — eine Sammlung 
veranjtaltet wurde, welde die Summe von 230 Thalern ergab. 
Scjilder bemerkt dazu (16. Dee. 1780): „Warum laffen Sie in 
Petersburg nicht einmal fürs Philanthropin fammeln?“ 

Vier Jahre päter fand Wolke in der Stadt Peters des 
Großen, als er fie von Livland er mit der Gräfin von Manteuffel 
befuchte, die günftigite Aufnahme und fein Lehrgeihid eine joldhe 
Bewunderung, dal; er unter Verzicht auf die ihm durch mande 
bittere Erfahrung verleidete Stelhing am Dejaner Inftitute 
Petersburg zur Stätte feines Wirfens wählte, eine befannte in 
jeder Gedichte der Pädagogik verzeichnete Thatfache.?”) 











Raltiiche Beziehungen zum Philanthropin. 131 


Einige genanere Angaben über die Bhilanthropiften ans den 
jest rufftichen Ländern bietet das folgende chronologiich geordnete 
Verzeichnif; derfelben: 








# Ramen. Abgang. | Herkunft. | Stand d. Latersu. [.w. 
Avon Thülen. €.| 1777 Riemahlen | Kannerherr. 
€ 12. März i. Aurland. 








Niemahten | Kammerherr. 


v. Thülen, Heine. 
. i. Aurland. 



































3 von Saden ige. Winiiters 
1 April. Varon v. Kopend. 
N Schilder, Midacl| 177 7 | ai Kaufmann Yeinr. Sch, 
[ee Fra en ige. |feir 178 au Stadt, 
\ en “ saften-Notarins. 
5 Verens, Johann | 1778 | 17m ge. | Rathsherr Sopamı 
Heinrich”) 4. Juli. | Ottober. Chriftovh 
66raf o. Manteuffel| 17 1785 Kiga. |Yandrath Graf Kudw, 
Kiun.), Gotthard) 4. Juli | Juti Schloi | Wild. d. M., verm. m“ 
| Hingen. | Julie, geb. Gräfin von 
| Münnid. 
716raf v. Manteuffell 1778 1786 Ri Yanbdrath) Graf Yudın. 





verim. mn. 





{sen.) Ernit 1. Rovemb.| 17. April. Schloh | With. v. M. 
N Hingen. | Qutie, geb. 6 




















MRünnich. 
| von Nönne (sen).| 1778 1784 Kg | 
! Auguit. | Ende Mai major, Mitter dis St. 
| Seorgorden 
9] von Nonne (jun.| do. do. do. 


10». Dengden, Karl| 1778 
Suitav®) 1. Sftober.) 1. 











Mereo in [Marl Yawig Taron 
Fioland. |von M., Erbberr auf 
Werro, 


























1lon gi 17 1785 Riga. | Ober-Eoniiiterialai 
€. Bernhard. | 1. März, | 1. Aprit. 
I. Helmerien, Bene| 1779 1786 | Yioland. |Eyemat. Raifert, zufl. 
dien6 Andreas. 1. März | 1. Inli. Obröt, Yandr. i.Engels 
hardshoft, Exbhere zu 




















___ Zeitaman. _ _ 
13] Tahı, Karl (sen.) 1785 ige. | Neffe des Nail, ruf. 
Herbit. _|Kicent:{ufpstt. Dapt“') 
14] Bagt,Kriebr. (jun. do. do. BE 
5 von Martofi, Wa 0 | Neffe des 











I fieg. 
16] Zuderbeder, At. 
®. 


1. Rov. | Generals d 





Diga  |sanfmanı. 


























Namen. 







Gras, Lat 
Friedrich 


in 





big 1781 Stadt-Naften 
Notarius. 































18] Steqmann, Gottl.| 1779 Yibau. |Ariedr. St, Fonigl. 
Arien. 20. Anguit voln. Hofrath und der 
b berzogl, furländ. Stadt 
yiban Seereiär, gilt 
1782. 
19| von Meines, | 1780 1786 Kiga. | Napitän. 
I__Arietr. | Aprit, _H. Novemb.) «Yanıdon 24 
20| von Sackitrog, | _ 1780 1785| Tignit im Sarl Suftav Arhr. d. 
Harald. 7. April, | 1. April. devant N 
de Sa 
1j.’Imperatrico dex 











21|von Geumern, Karl) 








Mündet ‚ 
Magnus. Yientenant Hagemeifter 
„Lauf Droftengorf. 
Schilder, \oadim 





_ Eberhard. 
Sayilrer, Dans 











ige. | Naumann Anton Zt. 


3] Toieingt, Arig 02) 
Kondon? 


Leonhard. 


5|Öraf Sievers, Paul 








| Hopfen bei | Naileruf). Chrift, verm. 
| Torpat. | mit einer Gräfin Man: 

















36]von Scawengelm,| do. do. 
Jfob Eberhard. ae 

27|von Schwengelm,| do do. vo. 
Gotthard Ouftan) 
Sorge. 








2sjvon Modszelewsy,| 1781 | Warfpau | Rath; der Obeim cin 
Jofepb. 1. Sept. | 1. Julio. } oder | Chevalier de Malte zu 
| Jarostan. | Warichan. 


























20| von Schwengelm, | 178: dal. 
Peter. R Nr. 1 
30) von Dorimond, 1 Warfchan ? | Mündel d. Tat. pain. 
Antonius. Auguit. | 15. Cr. |Nammerb. ©. ©. v. d. 
} Haweni. Mitan, Nitters 
v. St. Stanislausord., 
furl. 
Herm auf Neu-Berg: 
rich. 
31] Verens, Arend vgl. 
Abraham. Auguit. ir. 5. 






























inteitt. | Abgang. 





1785 Ende 
Birz. 
a9 von Aid, George.| 1787 
| 1. Juli, 












Warfchau. | "oe Gefandter. 

















von Schröder, 1787 Warfcheu | Neffe und Mändel des 
Andrens. ui, 10. |[Aurländers ©. von 
Rönigsfelb i. Warfihau. 
von Korff, Yeter. | 1792 Xnf. Firland. 
Auguit. 
36] von Korff, ers do. 





do. 
dinand 3, 





Anmerkungen. 


%) Her 2. Diederihs in Mitau verdanft Diele Arbeit auch) einzelne 
Berichtigungen und Zufäß: 

2) „Das Bajedowice Elementamwert d. Bb, 2. Aufl. 25. 1787 
S. 140) rügmt aud von Herzog Petrus, dah von ihm „Europa wei, 
wie weit er Iamdeswäterlich und als ein fürftlicer Weltbürger zur Erleuchtung 
der Zeiten aufiwenbet.“ — Der Herzog befudhte 1771 die Serbitjagden des 
Bringen Eugen, des in dhurfächfiicen Dienften ftehenden Sohnes des alten 
Deffauers, zu Heinrigswalde bei Wittenberg und von dort auch, den Fürften 
Franz an feinem Hofe zu Deflau, an dem er aud) im Jahre 1777 wieder ers 
iien. f. v. Verenhorfts Tages-Vemerkungen in den Mitteilungen des Vereins 
für Anhalt. Gefhichte und Altertfumstunde T. ©. 193 1. 202. 

®) Die Lage des Herrn v. TG. wurde fo jänvierig, dahı er im 3. 1770 
iogar für den Unterhalt feiner Söhne um Kredit bat, Schilder fahricb nach einem 
Vejuche in Mitau (15. Juni 1779): „©. ©. TG. it un 4000 Thle. betrogen, 
die er einem Edelmanne in Yitthauen auf jein Out vorgefcpoffen, wofür cr den 
Befig in feinem Gute erhalten follte. Kaum hatte er das Gald ausgezahlt und 
angefangen fi auf dem Gute einzurichten, fo famen 8 polnifche Edelfeute ins 
Gut eingeritten (Einreiten in ein Gut ift eine Gerechtfame nach polnifcen Ges 
fegen und heit durch gerichtliche Deerete Vefit, nehmen), die mehe zu fordern 
haben als das Gut werth it, und da die barbarifchen Gejepe der Polen einem 
Einheimifchen ein unmiderjtehlicies Vorredht über den Ausländer geben, fo iit 
9. 0. TG. um fein ganges Capital von 4000 Tpfen. betrogen und hat feine 
andere Hoffnung, fie zu retten, al$ wenn er durch banres Geld und Accord 
glütich fein follte diejenigen zu bienden (2), die den Pafit} im Gute erhalten 
werden. Nun it das Geld in Aurland jehr var, bei Dielen wohlfeilen Korn 
greifen und doch zunehmendem Yurus und Verjcvendung des Adels aufierhatb 
des Landes, fo dafs es Herrn dv. Ti. fehwer wird eine Hinlänglihe Summe (ca. 





























134 Baltiiche Beziehungen zum Rhilanthropin. 


29 Mille Toten. haben die Polen mit Anterefien und Unfoten zu fordern) bar 
aufammenzubsingen, daher die Profongirung der GM Thfr. und der gewünidhte 
Auffchub für die Noften feiner Minder." Ju der That dauerte es lange, bis er 
einen Verpflichtungen gegen die Anitalı nachlam. 

4: den Jahren TTS6 und ITO famen aus Lublin, veip. Warchau 
wegen Aufnahme eines Sohnes des Grafen Konifier, „Grand Erhanson du 
Grand Duche de Littlinanie, ehevalier de Vordre de Vaigle blane,” die Ichte 
von einem I. de Ponret, aneien garde de corps de Monsieur. geichriche 
und abrejfiert „A Monseigmeur Menseigneur le erteur de 1° Universite 
 Desaw.” 

5) Schilder Äufert fi darüber nur im allgemeinen. „Die Verlegenbeit 
der Eltern hier im Yande in Anfchung der Erziehung roh." Er mag den 
zweiten Sohn der öffentlichen Schule in Nige nicht übergeben, „wo er an Leib 
und Geift unter einem Haufen größtentheils unartiger Knaben verderben würde”, 

9 An Ausficht geftelle wurden dem’ Philantfropin, ohne dafs die Eltern 
die Abficht verwirtlichten, durch Schilder 1779-1781) ein Sohn des Gch.Haths 
Exe. v. Vietinghoff („wenn er nicht in der Erole militaire zu Stutte 
gart Anfnahme findet”), zwei ältere Söhne des Naufmanns Zuderbeder, zwei 
des Herrn von Tunten auf „ocgenhoff, dic, bereits in ruffiichen Tienften, auf 
vier Jahre Urlaub erhalten Batten und, wie der Vater Hoifte, in Deffau wter 
Vermeidung der Gefahren der Univerfitäten eine entiprechende Bildung erhalten 
würden. „Wir Yiefländer erfahren nur zu häufig“, bemerkt ilder, „daß die 
Kinder auf der Univerfiiät das Geld verzehren, nichts weientliches Iernen und 
verderbtes Herz umd neue Moden mitbring cin von Liphard, ein Sohn 
des Nigaer Stadtfecreiärs Stocver, Söhne des Majors Berens in Mosfan, 
des Cbrift Yaron von Pahlen („jeht mit feinem Negimente in NeusHtufsland," 
März 1780), ein Sohn des Generals Drewitz nnd ei de9 Parons von 
Wolff, chemaligen Kitterihaftsieeretärs. 

einem Schwager Schilders, von dm bieler gelegentlich) der Anzeige 
eines Geichentes desfelben von 100 Subeln ichreibt, dafı er das Napital einer 
Erbjeraft von 20,000 Thalern durch Nhederei in den Lepten Jahren, da die Aracht 
der neutralen Schiffe enorm hoch, verdoppelt Habe (Dec. 1782 

% Don den Pränumerantenliften Schilders find einige handicriftlic, er 
Halten. Wom Juni 1778: Ober»Confiftorialafiefior v. Zimmermann, Yandı 
tat Baron v. Schouls, die Vürgermeifter von Wicdan, v. Sci, die Natfs: 
herren Gottfried und I €. Berens, die Seretäre d. F- 0. Wieden, 4. ©. 
Schwarz. Sam. Holit, ©. ©. Stocver, ferner Names Pierfon, Carl Be: 
rens, Eberhard Wrede, Yudıw. Berens v. Nautenfeld, Yicensvermalter Ber 
gerom, Arab. Nolofi, Thom. Zuderbeder, Dan. Voctefuer, I. D. Te 
tenhoi. Jofun Stegmann, Ernit Heidevogel, Hofrarh X. Truhart, FR. 
Martens, X. 9. Herich, Notar Holit, Blumenthal, ©. &. Vencten, Ma: 
jor v. Hagemeiiter, Hein. Krocger, Bar. v. Wolff, cand. theol. Heerwar 
gen, Yandrath v. Helmerfen, Serretin Mord. - Yom Car. General: 
major v. Nönne, Yandraıh Öraf von Wanteuffel, Heinrich Straud, ruf. 
































































Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 135 





fait. Major von Siphard, Paltor Poorten, Nathshere von Irichen, Meier 
». Wrichen, 2 junge Freunde des Iuftituts in Petersburg, €. 6. Scheumann, 
Sber-Notär Jankicwit, Doctor Heinhold Berens, Kammerrath Gufta Be« 
rens, Sandrath v. Helmerfrn auf Engelhardtshof, Cherit-Lcutenant v. Dage: 
meifter, Afeffor Carl v. Nautenfeld; vom Jan. 1779: Licenz-Inipector Da HI, 
Kaufmann Herm. Frommhold; vom Mai: Geheimrath v. Wietinghoff, Paul 
Aroeger, Gorge Remy, d. d. Hardt, M. v. Nautenfeld; vom Der.: Herr 
d. Sieren auf Tünhoff in Kurland; vom Febr. 1780: Hofgerichtsaffefier v. 
Tauffler, Wadame Collins, and. Zimmermann, Xob. Ariedr. Schroc, 
der. — Im Arübjage 1780 meldete Schilder, dafı während des Kandtags um 
Johanni auch General und Graf Manteuffel eine Subieription zum Beften des 
Inftituts eröffnen wollten; von der Ausführung der Abficht aber creibt cr nichts. 
®) Richt unerwähnt möge bleiben, daß; Schilder mehrmals and, Aurifel 
und Fichtenfammen aus Deffau bezog, andererjeits Apfelbäume für den Fi 
dorthin fchickte, die jedoch nicht vecht gedichen. 

’°) zum Lehrer der Pacdagogif an der IUniver] 

4) Sceift von Schummel. Yeipzig 1770. 

2) Für den jungen v. Oettingen wurde der Vefuch der unter Nefemit 
fichenden Schule zu Alofter Bergen in Magdeburg in Erwügung gejogen. 
Ueber Olivier |. Hofäus, Tlivier und Tilfic in den Mitheilwugen des Anh. 
de. f. Geid. VL &. 101. 

) Des Fürften Keile Fam wohl nicht zur Ausführung. Vichleicht bing 
die Nachridgt mit einer Neite des Prinzen von Preuhen zulanmen, der gegen Ende 
95 Muguit Riga poffierie „Bin dur bie Anfunft des Prinzen von reufen 
aufgehalten, denn ich Fonnte mit Grund befürchten, feine Poftpferde vor feiner 

sage zu befommen" (Schilder 15/26 Aug. 1780). 

12) Bermutplich dielelbe „patriotifche Schrift“ von Karl Phil. Norit, 

von der Schilder den 28, Nov. I780 dem Anftitut ein Eremplar zugeiciet mit 


























Halle. 




















dem Hathe fie im nähiten Quartale mit aller Gelaffenpeit zu widerlegen. „Ein 
; eine Erziehungsanftalt, feine Schule, 





beiiger Eifer darin, aber falfches Uri 
Wir haben einem offenen Stopf von einer Ermiderung im i 
abgerathen." 

>) Ausführlich erzählt von dem Streite Nichold, Wolfe als Lehrer 
am Philanthropin zu Defiau. Leipzig. I800. 

*°) Die Aeuherung geht auf die Vorenthaltung eines vom Markgrafen 
seriprodjenen Sapitals von 5000 Gulden, von dem das nftitut die Zinfen 
bereits von Micaeli 1771 bis Jan. 1TS1 gemoffen Hatte. 

1%) reformicten Predigers in Leipzig. 

’) Ouorier, Baledow’s Verfahren gegen Herrn Wolfe, and) ein Vi; 
frag zur Vafcdowicen Yebensbeihreibung. Deflau. 1783. 

79) Reiche, Getrene Vefreibung der Umftände, unter welden Kerr 
oh. Baledom . . . . . Schläge befommen u. |. w. Teffau und Leipzig. 17 

>) Schilder hielt mit feinem Urteil aud über die Yehrer nicht zurüd. 
Radı feinem zweiten Aufenthalte in Deffau drang er auf Entlajiung ds Dr, 


m Wocenblatte 


























136 Baltische Beziehungen zum Philanthropin. 





med. Samfon, der den Zeichenunterricht ertheilte. „Rum haben Sie den Charakter 
ds Juden &. in feinem vechten Lichte gefehen, wollen Sie einen fo 
Ächlecpten Meniepen mod) länger bealten? Entledigen Sie fich dieies elenden Menichen 
und Zeichenmeifters, er madt dem Juflitnt Schande. Die Kinder profi 
nichts bei ihm." — Cine Jeremiade über Die Wirtungen des Turnens, die der 
Scpreiblehrer Duot — aus welchem Anlaf, weil id nicht — an ihn q 
hatte. Ci. leceifen- Maus, R. Jahrbt. f Phil. u. Pad. II. Abu. 1809. 
631) lieh er der Direction zugehen (Juni 17SD). 

=) 9. 3. Bifhing, Ober:Confitorialrath; uod Direetor an Grauen Alofter 
in Berlin. 




















So wenig als jeine Briefe an 
er bei feinem zweiten Yelude näher trat. 

=) Schilder hatte feine erfte Frau zu Anfang des Jahres 1780 nad, 
der Entbindung vom fiebenten Ninde verloren. Im San. 1784 verlobte cu fich 
mit. einer Predigerwittwwentochter aus Marienburg, einer Frau Nofe, geb. Prigbur, 
der Proteltor der Familie war der Vefiher der Marienburgicen Güter, Gch.:Hatb, 
von Vieringhoff. Die Hochzeit fand im Aprif ftatt. 

2) Gelegentltch giebt Schilder Einblide in feine Verhältnifie und fauf- 
männifcjen Unternehmungen. Im Jahre 1779 Hlogt er über jclechte Zeiten und 
Kerkufte, die er durd) den Yanferott eines Nuffen in Wensuna, dem cr für einen 
Hanftontraft 1500 bl. vorgeicoften, und durch die Flucht eines Fuhrmanns: 
fnedhis mit 2500 igm aus Petersburg in einem Fählein zugefchidten Rubeln 
erlitten Hatte. Günftiger „geftalteren figy die nächiten Jahre: er wurde im Mai 
1781 als Nachfolger Grave's, der „wegen erweiterten Handels nud gefegneter 
AUmftände demüfionirte‘, zum Stadt StaftenRotarius, „Oensral: Einnchmer und 
Nentmeilter der Stadtedntraden und Ausgaben“, gewählt — „gegen einen von 
der Vürgeriehaft aufgeiteiften, ftart verichwägerten und Tonft anderweitig alfiirten 
aus der jogen. Yant der Nektejten (aber einen reapten Tropf!)". „Wohl bin ich 
nun gegen alle Roth geficert, habe 750 Thl. Alb. Gehalt und 200-300 Thlr. 
Mebenvorteile.“ Und [con vorher (d. 3. Zebr.) Hatte er eine andere freudige Nach: 
richt mitgeteilt: „Der Himmel war mir günftig bei einer Tobadentreprife von 
Kiga auf Amfterdam, die id von Deffau aus ordomnirte, und bie vermuthlic, 
wegen de Krieges zoifchen Holland und England nod) günftiger werden wird; 
ich Habe einen großen Worrath zu wieheigen Preifen angefauft u. |. wu Zür 
die Jahre 1783 und 1784 Hiegen feine direkten Beweife eines Müdganges in 
Schilders Vermögensverhälniffen vor, beun da; fein Hauslchrer Mafjon über 
Hamburg reifen follte, um bier eine fatale Schuldfordeiung einzutreibn, will nicht 
viel fagen; man Fönnte e8 aber aus dem Umftande folgern, dat cr fidh, wie der 
Vanfier Frege in Leipzig dem Juftitut im Juni 1786 anzeigte, zwei Jahre fpäter 
für infolvent ertlärte, 

2) Vergl, den Brief Wolte’s bei Sledeifen-Maftus a. a. D. 0 

>) Meber Göge |. Schmidts anfalt. Schrifiteller-Leriton. ISO. „Rede 
und Papiersty, Schriftit.- und GelLer der Prov. Livfand, Ehftland u. Kur: 
Hand 2, 79," Cinige Sehrberichte Götzes find abgedrudt im den Mittbeihungen 





ofrath; Herrmann in Defau, dem 




































Valtiiche Beziehungen zum Philanthropin. 137 


Erziegungs: und Sculgefdichte. Yerlin 1892 IT. 





> Zugfeich mit dem Iriefe vom 31. Tee. 1778 überfandte Grot fi 
dic Anftaltshibliothef feine drei erften Aangelreden für die Eininpfung und den 
Man einer von ihm geitificen Sterbefaffe, 

>) Füngere zei veritrich, bis Schilder vom General, der in Sztlon 
gelebt und finanzielle Schwierigfeiten gehabt zu haben fcheint, feine Nustagen 
und die gefäligen Deffauer Juden die an von Marfom gelichenen Summen gurüce 
eritottet. befommen. 

=) Rad) Teffau farm, jo viel ich finde, von Peteräburg nad) einmal eine 
Anfrage (Jan. 17891: ein Mr. d. U. de Creuth, Major du Corps de Genie 
de Sa Maj. Imp., der Deffan im Jahre 1787 befucht hatte, wollte in der 
Erwartung, nach der Nüctehr aus dem Ariege zwifchen dem Nleiche und der 
Türkei bald wieder zu einer Campagne abberufen zu werden, den in Holland 
uutergebrachten Sohn dem Pbilanthropin übergeben. 

>, Schilder, ein Schwager des Nathaheren, nahm biejen Reifen mit ic) 
urüd, der, zucrft im Compteir bei Verens und Zimmermann in Ciba, chen 
TS2 in Königsberg an eimem Hiyigen Fieber ftarb, naddem er die Lehre vers 
laffen. 






























#4) Er kam nad) Teffan mit feinem Hofmeifter Stüder. 

=) vd. Mengden jtubirte unter Führung des Mag. Carl Spazier, der 
fc) jpäter als Schriftiteller beionders durch das Bud) „Carl Pilger, Noman feines 
gebens“ (Berlin 1792 und 1793) befannt machte, das Staatsrcht und die 
Kamsrahviffenigeften. Ein Brief von im an feinen Mufiflehrer Muft it ab 
gedrudt in den Mittheikungen f. Anhalt. Gefc. ILL, 

©) Der Infpeftor Dahl zog fid im Frühjahr 1782, „nachdem er in 
der Bolderan, ogbleidh auf fan Voden feine Schafe gut gemäftet, aufs Land 
es. zwei Meilen von der Stadt (auf Vellendoff) zurüd.” Bei feinem Abichied 
«ts Rail. ruf. Kollegicnaffchior harakterifirt ftarb er im Dex. 1792. 

3%) Die fctstgenammten vier Ppilnnthropiiten befuchten nad) der Aufifung 
ds Zuftitws die Danptfchule zu Defjan, 



































Gin noch ungedeudter Brief mmanuel Kants 
am Chrition Heinrich Wolfe. 


Woldemar von Titmars Nachlah, aus welchem ich bereits 
in diefer Zeitichrift die Jugendbriefe feines Freundes Garl Exnjt 
von Baer veröffentlicht habe, enthält unter Anderem eine ganze 
Neihe von Briefen hervorragender Dichter, Gelehrten, Schrift: 
fteller, Staatsmänner, Feldherren und anderer Perfonen von 
biftorifcher Bedeutung, welche der unermüdliche Sammler haupt 
fächlich wohl während feines mehrjährigen Aufenthaltes in Deutic) 
land (1815 —1818) zufammengebracht hat. Ich nenne nur die 
Namen Schiller, lopjtod, Gleim, Fr. v. Stolberg, Novalis, 
La Motte Fongud, Boron, Madame de Stael, Jcan Jacques 
Roufjeaun, Mojes Mendelsiohn, Gauf, Arel Orenitierna, Canning, 
General York u. a. n. Auch ein Schreiben Friedrichs des Großen 
liegt vor, gerichtet an feinen Lieutenant von Anrep vom Negiment 
Schorlemer*). Den Schillerbrief habe ich Seren Dr. Frig Jonas 














*) Diefer Brief, auf iehr einfachen, grobem Papier geichricen, trägt die 
rejfe: a mon Lieutenant d’Anrep ment de Schorlemer, im Ganı 
tonnirungsquartier bey Wehlau. Der Juhalt deffelben lautet: 

Ich habe Euer Schreiben vom 6. diejes Monaths, worin Kür, wegen der 
von Eu) ang inde, abermahls umb Eure Dimiffion bittet, erhalten, 
und wird Euch darauf hierdurch in Andtwort; daii Ihr Geduld haben foltt bis 
Id nach Preufien fomme, aljdann ur End, darumb wieder bey Dir melden 
Tönnt. Ich bin Euer affertionirter Nönig. Norsvanı, den 13. Mä 

«Tarımner der Namensgug Des grofen Königs und die Bemerfung an den 
Lieutenant v. Aurep Schorlemerjigen Regiments). 



























Ein nod) ungedrudter Brief Kants. 139 


für feine große Ausgabe der Schillerichen Briefe überlafen‘). 
Der umfängliche Brief Arel Oxenftiernas wurde von mir nad) 
Stodholm gejandt, wo eine Gefanmtausgabe der Briefe diejes 
großen Staatsmannes veranfialtet wird. Den für die Geidichte 
der mathematischen Wifienichaft nicht umwichtigen Brief von Gau 
hat mein College Wirtinger, Profeffor der Mathematit an der 
Univerfität Iunsbrud, für eine in Göttingen vorbereitete Ausgabe 
der Briefe des großen Mathematifers copirt. 

Es hat fi) unter diefen Papieren nun aud) ein nicht 
unintereffanter Brief von Immanuel Kant gefunden, 
gerichtet an Chriftian Heinrid Wolfe, den damals 
ich befannten Pädagogen und Schriftfteller auf dem Gebiete der 
Vödagogie, mit welden W. dv. Ditmar während feines Aufent: 
haltes in Berlin i. I. 1815 in freundichaftlihe Beziehungen trat. 
Wolfe wurde i. 3. 1741 zu Jever geboren, jtubirte in Göttingen 
und Leipzig nnd entwarf i. 2. 1770 den Plan zu einer Erziehungs: 
anjtalt nad) einem naturgemähen Stufengange. Hierdurd) trat 
er mit dem befannten Yaledow in nähere Beziehung und wurde, 
als diefer einige Jahre jpäter das Philanthropin in Deljau gründete, 
deifen Hauptiächlichiter Mitarbeiter. Später, nachdem das Philan- 
thropin trog aller Bemühungen eingegangen war, ging er nad) 
=. Petersburg, fehrte dann wieder nad) Deutidjland zurücd und 

















*) Derfelbe ift nad, Dr. Jonas“ ft 
Seinrich Voß (den Sohn) gerichtet und bet 
lautet; 


wahrfcheinticher Vermuthung an 
it deffen Cihelloüberfefung. Er 








Weimar, 20. Dec. 1804. 
Nur zwei Zeiten befter Freumd für Ahren lieben Vricf, deifen Inhalt 
mir jeher viel Freude machte. Der Monolog it rund md nett ausgedrüdt 
md bis auf ein paar eigentlidher Ausdrüde, die wir zufammen wohl nod) 
finden wollen, ganz wie er it zu brauden. Taffelbe gift aud) von dem Anfang 
der Ueberfetung, die Sie mir hier zurücgelaffen, und worüber wir mündlich ein 
weiteres conferiren wollen. 
Mögen Sie mit den rigen cin recht beiteres neues Jahr antreten. 
Der Gatarrly Herrfcht noch bei mir und diefer verwünfchte Saturuıs wird mid) 
wohl auch in das neue Jahr begleiten. 
ir grüßen Dater, Mutter, Brüder, Haus und Hof und auch den Bopel 
mieingeredgnet alferfeits herzlich und id) bin im neuen wie im alten Jahr 
Ihr treuer Zreund 
Stiller. 














140 Ein noch ungebrudter Brief Kants. 


febte feit d. 3. 1801 als Privatgelehrter in Leipzig, Dresden und 
zulegt in Berlin, wo er i. 9. 1825 farb"). Als Ditmar ihm 
fennen lernte, war er jomit ein Greis von ca. 75 Jahren. Ditmar 
fam ihm mit dem ganzen Kiebenswürdigen Enthufinsmus jeines 
Wefens und jener fhönen, echten Pietät entgegen, welche ihn aud) 
in feinen Beziehungen zu Elife von der Nede, Tiedge, Johann 
Heinrich Vol, Jean Paul u. a. auszeichnet. Cr j—eint Woltes 
Herz vafdh gewonnen zu haben, wie er ja überhaupt die Gabe, 
Herzen zu gewinnen, in ganz hervorragendem Maafe bejaf. Oft 
berichtet er in jeinen Briefen an die geliebten Eltern in der 
Heimath voll Begeifterung über den verehrungswirdigen Greis 
Wolte, dejfen edle Eigenjchaften, deijen Güte und Freundlichkeit 
er nicht genug rühmen fann. Weniger nadempfinden fönnen wir 
«5 Ditmar, wenn er fid) aud für Woltes Gedichte erwärmt, die 
mit zum Wımberlichjten gehören, was die deutiche Pocfie bervor- 
gebracht Hat. Wolke war, wie fon der Titel feines Hauptwerfes 
„Anleit“ 2. zeigt”), mit Leidenichaft Spradhreiniger ımd machte 
fih in dem Veftweben, die beutiche Sprade von ihren vielen 
Fehlern zu veinigen, ein eigenes Jargon zurecht, welches die ver- 
beiferte und geläuterte deutjce Zprade darfiellen follte, in 
MWirflichfeit aber als ein geradezu abentenerlihes Product jeines 
zweifellos ehrlichen puriftiichen Bemühens bezeichnet werden muß, 
das Heutzutage zum Glück ganz vergeffen it. In diefem Zargen 
find num au Wolfes Gedichte verfaßt, von denen Ditmar in 
nen Briefen an die Eltern einige mittheilt. Der alte Wolfe, 
deffen Vefcpeidenheit Ditmar nicht genug rühmen fan, beanspruchte 























*) Woltes Hauptwerf trägt den Titel 
ipradje oder zur baldigen Erfenmung wıd Perichtigung einiger (zumenigät 
20 taniend) Sprachfäler in der hochdeutfchen Mundart” u. |. w. (1812, 2 
mit verändertem Titel 1816). Außerdem gab er heraus: „Erite Kenutniffe für 
Ninder“ (Xeipgig 178315 „Beidpreibung der hundert von Chodomicdi zum 
Sicmentarwert gegeineten Kupferiofeln“ (ITSI 87); „uweifung wie inder 
und Stumme zum Veritehen und Sprechen zu bringen find“ 
Ichre“ (IS Wirtheilungen der allererften Spracfenntn 
A805); „Düdspe or fahfiide Sinngedichte USIL; 2. Aufl. 
teisrere Sammlung wollte er auf das Wohfflingende der nied. 
aufmertjam maden. Vgl. $ sgefchichte Wolle 

>%) ef. die Lefte Anmerkung. 


nleit zur deutichen Gefammte 
































Ein nod) ungedrudter Brief Hants. 1 


nicht ein Dichter zu fein, er wollte nur feiner Meinung nad) 
iprachlih correcte Mufter bieten, zur Nahadtung für andere 
Dichter. Was wäre wohl aus der deutiden Pocfie geworden, 
wenn fie fich mac diefen Muftern gerichtet hätte?! Sie fünnen 
heutzutage wohl nur dazu dienen, ein Lächeln oder nod) befier ein 
beiteres Zachen hervorzurufen. Um zu zeigen, dab ich damit nicht 
zuviel jage, teile ich eine Probe der Wolkejchen Pocfie aus einem 
Titmarihen Briefe vom 11. Nov. 1815 (aus Verlin) mit, 
ein Gedicht, das an cine in ihrem Wefen nicht gerade fehr Klar 
hervortvetende Göttin gerichtet if. Cs lautet: 
Wer fan doc) von allen Weilen 
Dich, Gottine! wärdlic”) preit 
Tich, die Gott uns hat gefandt! 
Werde, Schentin hoher Gaben, 
Di di Himmelsgeifter laben, 
Alten Erdnern bod) befant! 
Tu, deS Yenfeitwegs Veblumin, 
Du, des Selpeits Eigentumin, 
Bit di Menfchverengelin; 
Den Verzagten Geifterhebin, 
Den Halbtodten Neubelebin, 
Allen Erdnern Hohsgewin. 
Dir wil id} mich ganıs ergeben, 
Gants nad) deiner Vorfcprit eben, 
Hier amd in der Ewigfe 
Varnin, Trojtin, Yuld und Yibe, 
Du Berebelin der Tribe, 
Di der rohe Menic, entweibt. 
Sit des Sehens Kraft verzeret, 
Mir der Ietöte Wundht gewäret, 
Yift mein Gcift ins Heimatland 
Dan erjeinft du mir zur Freude, 
Macht ein Ende jedem Leide, 
Neichft mir Kebreich deine Hand. 
Ein anderes, fehr deutichpatriotiiches Gedicht athmet Hal 
und Verachtung gegen die „Sranslinge“ (d. d. Anhänger der 
Frangofen unter den Deutfchen) und Vonaparte, welden ex den 

















>) Woltes Verbefferungen für „Göttin“ und „würdig. 


112 Ein nod) ungedrudter Brief Kants. 


„Kölner“ nennt, weil er die Erde in eine Hölle verwandelt habe 
und dgl. ın. 

Wie groß Wolkes Anfehen damals war, wie had) auch feine 
jpracpreinigenden Arbeiten von Diännern erjten Nanges geihägt 
wurden, das zeigt uns das Sejpräch, welches Ditmar bei feiner 
erjten Begegnung mit Jean Paul in Bayreuth hatte. Ditmar 
führt fh mit einem Brief Wolkes bei Jean Paul ein, findet 
diefen gerade beim Studium von Wolfes „Anleit” und Jcan Paul 
fpricht fid) darauf mit wärmjter Anerkennung nicht nur über 
Wolfeo Perfon und Charakter, jondern gerade ipeciell über feine 
ipracjreinigenden Arbeiten aus. Ja, er äußert, wenn er feine 
Opera omnia edire, woran er jept ftarf denfe, jo wolle er 
Wolfes „Anleit“ noch einmal durchjtudiren, um feine Schriften 
nach denelben zu corrigiven! Alles fönne er aber dad) nicht 
annehmen, namentlich die Orthographie nicht”). Das it immerhin 
ein vielfagendes Zeichen der Anerfennung. 

Wertgvoller und bedeutender als Wolkeo Bemühungen, die 
deutiche Sprade zu verbeifern, war ohne Zweifel fein pädage- 
güches Wirken, in weldem er mit VBajedow zujammen ftand. 
Auf diefe Seite feiner Thätigfeit, veip. auf das jogen. Rhilan- 
thropin bezieht fid) nun auch der Brief von Kant, welden Ditmar 
offenbar von Molke zum Gejhent erhalten hat. Wolfe hat in 
jeinem eigenthiimlicen Jargen über denjelben die Venrerfung 
gelept: „Schreiben des verjtandberühmten Heldenfers Nant an 
Wolfe.“ Der Brief jelbjt lautet: 








Verehrungswürdiger Freund! 

Wenn ich hier alle Yobeserhebungen, die nur die größte 
Schmeichelen erfinnen fann, bäufete, jo würden fie wirklich dod) 
nur die aufrichtige und wahre Gefinmung meines Herzens aus- 
drüden. Sie find der lehte Denker, auf dem alle Hofnung der 
Theilnehmer an einer Sadde, deren der allein das Herz auf 
ichwellen macht, ist beruht. Die Veharrlichteit, bey To vielen 


Hinderniffen einen fo großen ‘an ausguführen, erwirbt Shnen 








Nach) DTitmars Neifenotigen, Mai ISI6 (Keile von Tresden nach 
Heidelberg). 


Ein noch ungebrudter Brief Kants. 113 


mit Recht die Bewunderung und den Dank von icdermann, der 
da verjteht, was es heiffe, nad) feiner ganzen Veftimmung ein 
Menih zu jeyn, und wenn Sie aud nur durd) einen feineren 
Ehrbegrif getrieben würden, alle Gemädhlichfeit des Lebens jo 
dem öffentlichen Velten aufzuopfern, jo würde cs überall fein 
gewiljeres Mittel geben, Ihren Namen dem Danke der jpäteften 
Nachfommenfchaft zu überliefern, als das Gejchäfte, dem Sie fi 
weihen und weldes, wie id mit vielen anderen iegt hoffe, feinen 
Zwed (wenn der Himmel Sie nur gefund erhält) fiherlich nicht 
verfehlen wird. 

Ih Habe eben igt das Pad mit den legten Pädagegüichen 
Stüden des erjten Jahrganges erhalten und werde fie gehörig 
vertheilen. Ich muß aber zugleich von einer Veränderung, und, 
wie ich Hoffe, Verbefferung der Art, wie bie philanthropiniidhe 
Angelegenheit fünftig in unjerer Gegend betrieben werden fan, 
Nachricht geben. Die Kanterihe Zeitung, durd welche allein 
gelehrte Ankündigungen im Publitum verbreitet werden Fönnen, 
ift bald in eines, bald des anderen Hände gegeben worden. Jeht 
birigirt fie der reformirte HE. Hofprediger und Doctor Theol: 
Criehton. Diefer fonft.gefehrte Mann hat fich either nicht fonbderlid) 
günftig vors Philanthropin erklärt und, da fein Urtheil, theils 
durch feine weitläufige Belannticaft, theils die Zeitung, weldhe er 
iegt in feiner Gewalt hat, meiner Ihnen gänzlich ergebenen Ges 
finnung ein großes Hindernis in den Weg legen fönte, fo habe 
id, ftatt des frucjtlofen Controvertirens, das Ichmeicdelhaftere 
Mittel ergriffen, diefen Mann auf Ihre Seite zu ziehen, nämlich 
diefes, daß ich ihn zum Haupte Ihrer hiefigen Angelegenheiten 
machte. Diefer Verfuch ift mir gelungen, indem id) ihm, durd) 
die Vorjtelung der wichtigen Verbejlerungen, welde unter HEn. 
Wolf’s direetion am Jnjtitute gemadht worden, einen Weg lies, 
ohne fein voriges Urtheil zu wiederrufen, zu einem ganz entgegen: 
gelegten überzugehen. Ich glaube, daß diefes Mittel aud fonit 
nügfich fein fann: denn die, jo ihren Venfall verweigern, jo lange 
fie nur die zweyte Stimme haben, werden gemeiniglid) ihre 
Spradje änberen, wenn fie das erite und große Wort führen 
fönnen. 


144 Ein nod) ungedrudter Brief Kants. 


Ich habe alio HEn. Hofprediger Doctor Criehton die Liite 
der bisher Pränumerirenden und den Auftrag, den ich hatte, Ihre 
Angelegenheit fünftig durd öffentliche Anfündigung, colli 
und anderweitige Bewerbungen aufs Velte zu treiben, übergeben, 
und er hat folhen gern übernommen. Und nun bitte id) inftändigit 
an gebachten Herren Crichton doc) jo bald als möglich zu chreiben, 
Ihr Zutrauen zu ihm zu äufferen, vornemlih aber, entweder 
fhriftlih von den neuen Verbefferungen die das Jnititut, entweder 
dem Plane oder der Ausführung nad), jeit Jhrer Direktion erhalten 
hat, eine furze Jdee zu geben, oder jolde im nächjten Stüd der 
Unterhandfungen zu veripreden. Denn er jdien über den Vor: 
wand verlegen zu feyn, bey der öffentlichen hiefigen Ankündigung 
feine neue Denfungsart zu rechtfertigen und bedarf gewiile Gründe 
diefer Menderung aus der Sache jelbit, ohne fein voriges Urtheil 
wieberrufen zu bürfen. 

Wir find beyde in den Principien der Veurtheilung eines 
folhen Inftituts zwar himmelweit auseinander. Gr fieht die 
Scgulmifienfhaft als das einzige Nothwendige an und id) die 
Bildung des Menihen, feinem Talente jomwohl als Charakter 
nad. Aber nad) der guten Einrihtung ti? Sie getroffen haben, 
kann beyden genug gethan werden. Ein Cremplar von allen 
Stüden des fünftigen Jahrganges werden Sie and) nicht vergeffen 
vor ihn Fünftig benzulegen, imgleihen dod) zu beforgen, dah die, 
fo bisweilen einige Päce von bdiefer Schrift hieher abzuliefern 
Haben fünftig feine spesen forbern, wie der Jube Hartog Jacohs 
kürzlich that, dem 5 fl. Frachtfojten (mit 24 gr. preußiih aceise 
eingeichlofien) nad) unferem Gelde bezahlt werden mußten, die 
fi) nicht füglid) auf die Interessenten repartiren lafien. 

Db ich gleih mich auf folhe Weife von der hiefigen Be 
forgung Ihrer Angelegenheit loszufagen jcheine, jo it diefes doc, 
Teineswegs fo zu verjtehen. Denn da Ihnen der iegigen Ein 
tihtung unferer Zeitungen, von mir nicht anders als nad) der 
fchon gemeldeten Art gedient werden fonte, jo habe id) mid) dazu 
entfchlofien; gleichwohl Ihrem neuen Gejdäftsträger meinen 
Veyjtand, in allen Fällen, wo es ihm zu viel Beidhwerde maden 
möchte, angeboten, wie id) mid) denn eben fo willig, zu Ihren 





Ein nod) ungedrudier Brief Kants. 145 


anberweitigen Aufträgen und allem was Jhr interesse betrift, 
fernerhin darbiethe und nach herzliher Begrükung von Herren 
Motherby und feiner Frau an Sie und Ihren Sohn mit ber 
größeften Hodachtung bin 
Ihr und des ganzen Jnitituts 
ergebenjter Diener 
J. Kant. 
Königsberg, d. 4. August 1778. 
* 4 x 

Man cerficht aus diefem Briefe, wie hod ein Mann von 
der Bedeutung Kants die päbagogiihe Wirffamfeit Wolfes, die 
mit dem Philanthropin neu angebahnte Richtung ihäpte. Wichtiger 
und intereffanter erjheint aber der Einblid, den wir durd) denfelben 
in den Charakter Kants gewinnen. Der grofie Philofoph zeigt 
ih hier als ein weltgewandter Diplomat, der mit groier Klugheit 
die Schwächen feiner Nebenmenjchen zur Förderung eines guten 
Zwedes zu benupen weiß. So ült der Brief zwar nicht von 
wifienihaftlicher Bedeutung, dafür aber von um jo größerem 
allgemein menjchlihem, piyhologiihem Intereffe, zur Charakteriftit 
Nants nicht ummichtig und daher von jedem Biographen des 
großen Königsberger Denfers wohl zu berüdfichtigen. 


ae 














Ans einer Denkinrift 
des Wrofefors Georg iriedrich Parrot. 





Folgenden Brief des befannten Dorpater Profeffors der 
Phnit ©. F. Parrot (j 1852) an den Naifer Nicolaus -I. ent 
nehmen wir der „Nusifaja Starina” (1895, April ©. 213 ff.). 
Die Umftände, unter denen er gejchrieben worden, gehen aus ben 
Anfanggeilen hervor. 

1839, März 8. (20.) 
Mojejtät! 

IH habe den Bericht des Mlinifters der Volksaufklärung 
vom 7. Juni 1838 gelefen und zwar in der beutjchen „Allgemeinen 
Zeitung” vom 21. Februar 1839*), welche Nummer in Petersburg 
unterdrüdt worden ift. Die Redaktion fügt nichts hinzu in ber 
Ueberzeugung, daß die Sadıe an fid) ihre Wirkung haben werde. 
Sie bemerkt nur einleitend, dab diejes Dofument in zahlreichen 
banbfepriftlihen Exemplaren ruffüc) und deutic) jirfulire, und daß 
Gure Kaiferliche Majeftät mit Vleiftift darauf geichrieben: „Ich 
genehmige es.” 

Dan fragt fi) zunädjit, warum diefes von Eurer Kaiferlichen 
Majejtät gebilligte Nejtript vom 7. Juni 1838 bie zum 27. Fer 
bruar 1839, an weldem Tage e& durd) das Mittel einer deutichen 
Zeitung in Petersburg eintraf, nicht veröffentlicht worden ült. 


*) Neuerdings wieder veröffentlicht im Ra Jahre ruffiicher Ders 
waltung in den baltifen Provinzen“ (Leipzig 1883), ©; . 





Aus einer Denfidrift ©. F. Parrot’s. 147 


Man fragt fid, warum das fremde Blatt, das eine fo gewichtige, 
drei blühende Provinzen Jhres Neid)s aufs Iebhaftefte interejlirende 
Anordnung veröffentlicht, unterbrüdt worden ijt. Curopa muß 
glauben, daß Eure Mojeftät fürchten, Ihren Willen hinfichtlic des 
öffentlichen Unterrichts befannt zu geben. Was mich betrifft, fo 
bin ih wohl überzeugt, daß Sie nicht glauben, ein Interrefle 
daran zu haben, was Sie für die Zivilifation Nußlands thun, in 
ein dunfles Geheimnis zu hüllen. Sie bedürfen feiner Hinter: 
aedanfen für das Gute, das ie thun wollen. Das Geheimnis 
it nur denen erforderlich, die, um Thatlahen und Grundfäge mit 
Gewalt zu verdrehen, Sie zum Jrrthum verleiten und aus diefer 
Urfadhe die Deffentlichteit jo jehr fürdten. 

Eure Majeftät haben von mir Wahrheit verlangt. Ceit 
zwölf Jahren habe ich fie Ihnen ohne Umtleidung geboten. Mein 
Gewiffen fordert mic) faut auf, diefe Pilicht heute gegenüber dem 
erwähnten Bericht zu erfüllen. Geruhen Sie mid) zu hören. 

Der Bericht jagt: Die ruffüche Sprade dringt nur 
mit Mühe und fehr fangfam in die baltifchen Provinzen ein. 

Meine Antwort darauf lautet: So ift e8, und id) denke, 
dafı wenn die Sade fi jÄneller machen ließe, fie fih von felbjt 
gemadjt hätte, da die baltiihen Provinzen wohl überzeugt find, 
daß es in ihrem Interefje liegt, wenn diejenigen, die fi dem 
Dienfte der Provinzen und Nuhlands widmen, das Nuffiihe 
volltommen fennen. Keinesfalls ift ber öffentlicye Unterricht diefer 
Provinzen die Urfahe biefer Langiamkeit. Jede öffentliche und 
private Schule und die Univerfität jelbft hat Lehrer der ruffiichen 
Eprade und Literatur, bie beten, die man finden fann, und zu 
ihrer Aufmunterung hat man ihnen Rang und Bezüge der wiffen- 
Iaftlihen Lchrer verliehen, deren fid die Lehrer der anderen 
lebenden Sprachen nicht erfreuen. Die Univerfität wendet fogar 
Zwangsmahregeln zur Begünjtigung des Etudiums des Nuffiichen 
überall an, wohin ihre Autorität reiht. 

Diefe beftändigen Ausfälle gegen den geringen Fortichritt 
der ruffiihen Sprade in den baltischen Provinzen rühren von 
Perfonen her, die die Dinge nicht fennen und glauben, «6 reihe 
hin, ruffilch zu Äpreden, um ein guter ruffücher Patriot zu fein. 
Sie überjehen, dak heute die Gegenjtände des willenihaftlichen 


148 Aus einer Denfigrift G. 3. Parrot’. 


Unterridts auf Schule und Univerfität jo zahlreih und fo unum- 
gängli) find, da es unmöglid ift, dem Studium einer lebenden 
Spradje mehr Zeit zugumwenden als man fie dem Nufjiichen widmet. 
Sie überjehen, daß eine lebende Sprache fi Teiht und jcnell 
nur da lernen läßt, mo das Wolf diefe Spradhe redet. Der 
Verfafler des Verihts will die Vevölferung der baltifchen 
Provinzen in drei Jahren zum Ruffüdipreden bringen. Glaubt 
er denn wirklich infolge feines Plans die ruffiiche Nationalität 
den Provinzen aufzupfropfen, daß bie ruffihe Sprade als 
folhe dem Herriher und dem Vaterlande ergebene Unterthanen 
made? Dann hätten ja alle die Verräther, die der denfwürdige 
14. Dezember enthüllt hat, fein Wort Ruffiih veritehen müffen. 

Id wieberhole: die ruffiiche Spradye wird in bie gebildeten 
Naffen der baltiichen Vevölferung von felbt eindringen, aber 
langiam und im Verhältnis zum Fortichritt der Wifjenfchaft und 
Literatur in Rußland. Gewaltmaßregeln fönnen nur den Eintritt 
diefer Epodje verzögern. 





Der Bericht beflagt, daß die baltifhen Provinzen 
während eines Jahrhunderts fi Fernruffiichem Charakter 
und fernruffiicer Sitte jo wenig genähert hätten, ohne 
offen zu jagen, worin diefer Charakter und diefe Eitten 
bejtehen. 

Der Charakter eines Volkes hängt vom Einflu des Klimas, 
der Gefeggebung und der Religion ab; jeine Sitte von mehr oder 
weniger alten Gewohnheiten, von feiner Gefdichte und feiner 
Suftweftufe. Sehen wir zu, unter weldjem von all diefen Gejichts- 
punkten ber Balte ji dem ruffihen Charakter und ruffiicher 
Sitte nähern follte. 

Das Klima? Gott giebt es allen; wir fönnen mehr oder 
weniger Mälder verwüjten, Cümpfe troden legen, Korn fäen. 
Aber wir werben nie die Temperatur der Krim oder die Berge 
des Raufafus nad) Petersburg verfeßen oder die Kälte Nord: 
fibiriens in die Nahbarihaft des Ararat. Alio giebt es nach 
diefer Nichtung hin nichts zu mobeln. 

Die Gefeggebung? Sie ift Menjchenwerf und fann geändert 
werden. Will der Verfahier des Werichts, her bie fernruffiichen 


Aus einer Denkihrift ©. F. Parrot's. 149 


Zitten fordert, die Zeiten wieder aufleben laifen, da die Nation 
in ihrem Schoße feinen Dann fand, ber fie zu regieren fähig 
war, und deshalb den Normannen Nurit berief, oder bie Jahr 
hunderte, da Rufland, in mehrere Großfürftenthümer getheilt, fi 
als Beute der Varbarenhorden jah, oder lieber jene neueren, da 
die Streligen die Prätorianer und Janitiharen Ruflands waren? 
Die gegenwärtige Gejeggebung, durd) Peter den Großen begründet, 
bat diefe alten Gitten aufgehoben, und ohne dem ruffiichen 
Charakter unredht zu tum, läht fid) zweifeln, ob ein mohlunter: 
rihteter Nuffe den Verluft jener vergangenen Zeiten bedauert. 

Die Gefchichte? Die neuere Gedichte Außlands datirt von 
Peter dem Großen und hat mächtig auf bie Sitten des ruffilchen 
Volts eingewirkt. Prüfen wir die Wirkung unter den verjchjiedenen 
Regierungen. 

Unter Peter 1. war fie am fprunghafteiten, am gewaltiamften. 
€s Handelte fi darum, Rußland in die Neihe ber europäifchen 
Staaten zu ftellen. Rußland hafte vor diejer Epoche fremde 
Litten und folglich die Ausländer. Cs litt damals nur Kaufleute, 
mit welden «8 den Gewinn bes Handels theilte. Peter 1. wollte 
im Fuge die mecanifhen Künfte und Wifenfhaften einführen, 
welche zur Flotten: und Heeresbildung in Beziehung ftehen. Darum 
die Einführung der Ausländer, der Deutihen und Holländer. Darum 
die Yilbungsreifen bes Zaren und feine Anordnungen, bie Nuffen 
jur Heife ins Ausland zu gewinnen. Dieje Bemühungen eines 
vielleicht zu abjoluten Geiftes haben wohl Schiffe, geihulte Soldaten 
und Feitungen geliefert, aber nicht MWifjenichaft und Aufklärung 
befördert, die doch die Grundlagen der Zivilifation find. 

Katharina 1. nahm das Werk fait an dem Punkte wieder 
auf, wo ihr großer Vorgänger es gelafien hatte. Sie hatte 
gleidjerweife große Ideen und jeßte die Ariege Peters 1. fort. 
Sie begünftigte Wiffenfchaften, Künfte und Handel. Sie triumphirte 
über die Türken, um das jdwarze Meer zu beherrichen, und 
theilte Polen, um die Grenzen des Reichs dem übrigen Europa 
mehr zu nähern. Ihr Auhm war ihr Wille, den Ruffen 
ein Gefegbuch zu geben, und jelbjt hat fie ihre berühmte 
„Snfteuftion“ geichrieben. Sie jcheiterte, weil ihr Volk feine 
Nectsgelehrten hatte, Indeilen gab fie einige Gejege, die in 


150 Aus einer Denkjehrift ©. $. Parrot's. 


Geltung verblichen find, zu Gunften der Bauern, und orga: 
nifirte Rußland in Gouvernements. Der Nuffe reifte viel unter 
ihrer Negierung, nur bildeten biefe Reifen Touriften, die mehr 
auf Vergnügen als auf NKenntnijfe ausgingen. Immerhin lieh 
dieje vorzeitige und überflüffige Zivilifation, die mit jo wenig 
Einfiht erworben war, den Nujien glauben, dah er viel weiter 
vorgerüct jei, al8 er es war. Was Gutes geihah, geichah 
größtentheils durch die Deutichen, die nad) Rufland ftrömten, und 
durd) die Bewohner der baltijcen Provinzen, die fich in Petersburg 
fammelten; unb bie ruffiidhe Zivilifation hätte viel mehr gewonnen, 
wenn die Menge franzöfiiher fogenannter Hofmeifter nicht einge- 
derungen wäre, die nur den Gebrauch, ihrer Sprache fannten und 
das Vorurtheil begründeten, das nod) lange darnadı gewährt hat: 
man brauche nichts zu fernen, wenn man mit Leichtigkeit frangöfifc) 
ipredien Tonne. Die derzeitige Armut; an Unterrihtsmitteln 
Fonnte nicht mit Erfolg gegen diejes bequeme Vorurtheil fämpfen, 
das den Fortgang der Vildung bis auf Raifer Merander 1. auf: 
gehalten hat. 

Erft unter diejer dritten Schöpferiichen Negierung entjtanden 
die zahlreichen öffentlihen Unterrichtsanitalten, die noch heute die 
Grundlage der nationalen Bildung ausmachen. Aber die Haupt: 
träger biefer Bildung waren die baltiihen Provinzen und ‚bie 
Ausländer; der Nationalruffe Fonnte zu diefem großen Werfe nur 
wenige geeignete Perfonen bieten. 

Kaifer Nitolaus 1. wurde über biefen Mangel, wie über die 
verderblihen Wirkungen nationaler Eiferfudt und des Deipotismus 
der Nuratoren, unter dem die Univerfitäten im Innern hinwelften, 
unterrichtet, und nahm den ihm vorgelegten Plan, eine Generation 
junger ruffifcher Profefforen zur Begründung einer wahrhaft 
nationalen Zivilifation heranzubilden, an. Dod) fo ftark jein Eifer 
zum Ausdrud gekommen war, fheiterte er an einem Kunftgriff 
biefer felben inneren Univerfitäten. Cie erklärten, zujammen nicht 
wehr als zwanzig Perjonen für jenes Unternehmen liefern zu 
Fönnen. Indefien nahm feine Standhaftigfeit aucd) diefe geringe 
Zahl an und der anerkannte Erfolg auch diefer Fleinen Minderheit 
läßt bedauern, daß der lan nicht im großen ausgeführt worden. 


Aus einer Denfihrift G. F. Parrot’s. 151 


Die Kulturjtufe? IC mühte fürdten, Eurer Majeftät Ein- 
ht zu fränfen, wollte id) erft zu beweifen fuchen, daß der Rultur- 
grad der baltiihen Provinzen höher it als der des übrigen 
Ruflands. Alle aufgeflärten Huffen geltehen das, wenn aud mit 
Bedauern, zu, und nur einige erhigte und durch mikverjtandenen 
Patriotismus irregeführte Köpfe bilden fi) das Gegentheil ein. 
Wenn aljo der Verfaffer des Verichtes die Annäherung ber 
baltiihen Provinzen an die Kultur derjenigen wünfcht, die er als 
ruffiih par excellence betrachtet, will er, daß die Liv-, Kur- und 
Ehftländer einen Theil ihrer deutjchen Kultur opfern, um fi den 
anderen Provinzen zu aifimiliven. Es fommt ihm nicht in den 
Einn, daß es gerade umgekehrt jeine Pflicht jei, dahin zu arbeiten, 
daf die Kultur des übrigen Ruflands fi) auf die Stufe der 
baltifpen Provinzen hebe. Der Undankbare vergißt, dah er feine 
eigene Bildung einer beutichen Hodichule verdanft ... 


Se- . 























Bolitijhe Sorrefponden. 


Es mag lange her fein, feit ein Minifter im deutjchen 
Neihstage dur) eine hochpolitiiche Nede einen jolden Sturm der 
Anerkennung entfeilelte, ale der Stantsjefretair des Auswärtigen 
am 13. d. M., und die Neichsboten erinnern fi nicht einer 
würdigeren Sigung in diefer Tagung beigewohnt zu haben, als 
bier bei der Verathung über Transvaal und das Verhältniß zu 
England. Die äußere Politik ijt eben das Feld, wo allein nod) 
eine Einmüthigfeit zn gewinnen ift. Und Herr von Maricall 
hat denn aud) feine Sache fo vortrefflich geführt, daf nicht blos 
Anerkennung, fondern ein gewilfes Staunen darüber fid fund 
that, wie diejer Mann, den man vor ein paar Jahren den Diinifter 
tranger aux affaires nannte fid) entwidelt habe und mit feinem 
Amte gewachien fei. Die Nede war, wie gefagt, vortrefflih in 
ihrer Hude, Sadlichfeit nnd Feitigfeit, und wenn die Engländer 
den Wunfd) hegten, fid) von der Unfadjlichfeit ihrer Erregung zu 
überzeugen, jo den fie in Dielen offiziellen Darlegungen alle 
nöthigen Mittel dazu. Die Hauptfache war, da nad) der Ver: 
fiherung des Staatsiekretairs „unfere Beziejungen zu der engliichen 
Negierung feinen Augenbli aufgehört haben gute, normale und 
freundliche zu fein.” Das ift mehr, als was Mande für wahr: 
iheintich hielten, die jeit Wodyen aus englifden Blättern einen 
Strom von Galle fid) ergießen jahen, von dem man annehmen 
durfte, da er doch einigen Einfluß auch auf die Haltung der 
britijchen Negierung ausüben fünnte. Und man hatte zu jolden 
Vefürhtungen um jo beijeren Grund als mandje Yeiter diefer 












Politiihe Norreipondenz. 153 


Regierung einen Ton in ihren Reden angefchlagen hatten, in dem 
faum mehr die diplomatischen Formen der Freundichaft erfennbar 
waren. VBalfour, Chamberlain, jelbjt der Lord auf der Kommando: 
brüce redeten als ob Dentichland gedroht hätte, nicht in Transvaal, 
fondern in Irland zu interveniren, und fie haben ja ohne Zweifel 
ihre Gründe dazu und ihre Zwede gehabt. Denn jelbit ein jo 
ruhig und billig dentendes Volt, wie John Bull, wird doc, endlich 
ungeduldig, wenn es ein Jahr lang Niederlage auf Niederlage 
erleidet, bald hier, bald da, ohne recht die Urfahen zu erkennen, 
marım man es denfelben ausgejegt hat, und da jammelt id) der 
Uerger im Innern auf, und in dem unbehaglichen Gefühl fucht 
man Luft zu befommen durd) tüchtiges Zanfen gegen einen guten 
Mann. Da war denn Deuticland der gute Dann, um jo lieber 
als eo in Handel und Wandel aud) oft unbequem ijt und man 
fi) fchon des Oeftern über „made in Germany“ und dergleichen 
geärgert hatte. So gok man denn aljo als praftiiher Held die 
in Citafien, am Mefong, in Armenien, in Stonftantinopel, in 
Venezuela überreizte Leber gegen Deutfchland, als den ungefähr 
lichjten Nachbar aus und benupte zugleich die Gelegenheit wie ein 
geriebener Börfianer, um die Nothwendigfeit einer bedeutenden 
Vermehrung der Flotte dem engliichen Steuerzahler Mar zu 
maden. Das war jo die Gefühlsfeite in diefer Angelegenheit. 
Hinter derjelben jtedt denn aber dod) aud) ein gut Theil polit 
iher Heafität, wenn man auc) zugeben muß, ba 6 zu wenig ift, 
um den alten guten Nuf Lord Salisbury's als eines Politikers 
des thatkeäftigen Healismus wieder herzujtellen oder felbit um 
diefem SKabinet feine Ropularität zu fihern. Gegenüber den Er: 
Härungen des Herrn von Maridall und den Elaren Thatjachen 
des deutichen MWeihbuches über Transvaal ift es nicht möglid), die 
vorher beliebten Vorwürfe und Drohungen nod) weiter fortzufegen 
oder aufrecht zu halten, und man hat fid) denn aud) fdon vorher 
in der Thronrede, mit der das Parlament am 11. d. M. eröffnet 
wurde, darauf bejonnen, daß cs mit Deutidland gar feinen Kon: 
fitt giebt. Ich wühte mid) feiner Thronrede eines europäliden 
Großjinates zu erinnern und feiner offijiellen Erflärungen, wie 
Lord Salisbury fie im Oberhaufe am jelben Tage der YParla 
mentseröffnung abgegeben hat, welcde idhwere Niederlagen mit fo 





154 Politische Korreipondenz. 


guter Miene der Welt und gethan hätten. Das Spiel bleibt 
darum doc böfe genug und es gehört dazu die ganze engliide 
Selbitzufriedenheit, e6 gehört die englifhe Unbefanntichaft mit der 
Preffe fremder Länder, um fich einzureden, daf; England mit dem 
Gang der Dinge in der Türkei, in Venezuela, in Transvaal und 
Wien zufrieden fein dürfe und Alles zum Bejten ftehe. England 
erfennt ruhig das Necht der Union, fih in die fühamerifanifhe 
Grenzfrage einzumifchen an und der Premier meint ohne mit den 
Wimpern zu zuden, „dah die Einmiichung der Vereinigten Staaten 
in die Angelegenheit Venezuelas befriedigende Nefultate für Eng: 
land fchneller herbeiführen fönne, als cs ohne die Einmilchung 
möglich gewejen wäre.” Die Monroe-Doktrin findet man heute 
fogar ganz annehmbar. Das find, von anderen Demüthigungen 
zu fchweigen, jo jchwere diplomatiiche Schläge als England feit 
hundert Jahren faum ruhig welche hingenommen hat. Aber die 
‚Zeiten find eben andere geworden, feit man aufhörte für ein euro: 
pälfches Gleichgewicht zu Ihmwärmen. Es handelt fi heute um 
ein Gleichgewicht nicht mehr in Europa, fondern in der Welt, und 
da giebt es nur zwei Konkurrenten, die Union und Rußland: mit 
beiden wird auch das „greater Britain“ fid) hüten anzubinden 
ohne jtarfen Nüdhalt, und welchen Bundesgenofien Fönnte England 
etwa gegen die Union in Ausficht nehmen? Vorläufig jedenfalls 
feinen Staat von erheblichen Machtmitteln. Andererjeits aber ber 
deutet ein ernfter Zufammenftoß mit der Union für England ben 
fofortigen Verluft von Kanada, welches, obwohl größer als die 
Union, doc) fih mit biefer Friegerifd nicht meifen fan, nicht 
etwa wegen ber 10 bis 50,000 Dlann Truppen, die Bruder 
Jonathan bereit Hält, jondern wegen deffen fehr überfegener po- 
tentiellen Machtmittel. Inzwifhen hält man es freilid, doc) für 
möthig, in Ranada zu rüften und fi) zu befeftigen —- eine für 
den Erntfall wahriheinlich nusloie Anftrengung. — 

Was England will und trog aller Idmacvollen Behandlung, 
die es fid) gefallen (äht, ruhig weiter verfolgen wird, das it die 
Vefeftigung und Sicherung jeiner Weltftellung. Diefe hängt aber 
davon ab, ob es ihm gelingt, feine Kolonien enger als bisher 
mit dem Mutterlande zujammenzufchliehen, insbefondere ob die 
großen und verfafiungsmäfiig der engliihen Geiegebung nicht 








Politiiche Norrejponden;. 155 


unterjtellten Nolonien von Yuftralien, Napland und Nanada fich 
dazu verftehen werden, an dem Schup des Dutterlandes im Kriegs: 
falle pflihtgemäß fich zu betheiligen und entiprechende Ausgaben 
für Streitkräfte zu übernehmen. Denn bisher jdügt Großbritans 
nien fajt allein feine Kolonieen mit Aufwand bes größten Budgets 
für Heer und Flotte in der Welt. Diefe großen Kolonien aber 
waren bisher jolden Forderungen jehr unzugänglid, weil fie fi) 
von feiner Seite her bedroht jahen, aljo eine vermehrte Kriegs: 
fteuer nur einfeitig dem Dlutterlande oder andern Kolonieen wäre 
zu Gute gefommen. Heute ift Nanada bedroht, aber alle Rüftungen 
würden im Ernftfall gegen die Union unzureichend fein; Napland 
mit feinen Nebentolonieen bedarf ebenfalls verjtärtter riegemacht, 
aber nicht zum Schuge, fondern zur Fortführung der feit zehn 
Jahren in einem feften Plan gejtalteten erobernden Politit, deren 
Ziel it, Afrifa, wenigitens den üben bis hindurch zur Nil: 
mündung für die angejähfiiche Naffe zu gewinnen. Der Gedante, 
daß diejer Plan dur) Deutichland ernitlih Fünnte beanjtandet 
werden, war cs denn aud), was die Times und ihren Anhang 
neuerdings jo in Aufregung brachte. Je weniger Ausficht vor- 
handen ift, Kanada zu Halten, um fo wuchtiger wirft man fid) in 
London auf Afrita, um dort Entihädigung zu finden. Amerika 
hält man bereits für fo verloren, daß man ruhig die Monroe: 
Tottrin hinnimmt, dafür aber eine ähnliche Lage für fi in An: 
ford) nimmt in Nüdjicht auf das jüdliche Afrita. Hier joll die 
englüche Weltjtellung einen neuen Grundpfeiler erhalten, wie ein 
weiter in Aegypten errichtet wird, und um diefe Pläne durdhzus 
führen, wird England vielleicht felbft grobe Nongeifionen in der 
Türkei, in Oftafien maden. AU der Lärm des legten Jahres und 
alle Niederlagen, die England erlitten, haben England nichts ge- 
koftet, wenn man die Meinung der Welt nicht etwa veranchlagen 
will, vielmehr den Beutel des Steuerzahlers geöffnet, mur mit 
einer Ausnahme: in jeiner Stellung zur dritten Weltmacht, zu 
Rußland. Hier ift die Niederlage jehr real und wird ihre Wir- 
tungen wohl noch lange verjpüren laffen. 

Die von der „Pol. Correipondenz“ neulich) gebrachte, von 
den Botihaften in Konjtantinopel zufammengeftellte Weberficht über 
die armenischen Vorgänge des lepten Jahres geben ein etwas 





156 Politiche Korrefpondenz. 


anderes Bild, als weldes man nad) den Berichten der Tages 
blätter fi gemacht hatte. Aus diefen amtlichen Darlegungen 
geht hervor, dab der Angriff in den Hämpfen und Megeleien meijt 
von den Mufelmännern ausgegangen ift. Andrerjeits erficht man 
aus dem engliichen Vlaubuch, da die Mepeleien der Mufelmänner, 
wenn nicht hervorgerufen, fo doch geihärft wurden durd; Provofa- 
tionen von armeniicher Seite. Uud diefe Provofationen wurden 
mit Bewußtfein angeftellt, geleitet von einem revolutionären Ro- 
mit, das Anfangs in Athen, dann in London jah, und von dem 
man jagen darf, dal; eo, wenn nicht unterjtüßt, fo dod von eng: 
licher Seite geduldet worden it. Indeiien find Zuftände, wie 
diefe, wo 25,000 Mtenichen niedergemacht wurden, weil einige 
Morde an Mufelmännern begangen und andere erbitternde An: 
griffe der Armenier gegen die fürfiiche Herrichaft erfolgt waren, 
dad) nad) europäifchen Begriffen foldhe, daß; die Mächte allen 
Grund und eine ftarfe Verpflichtung hatten, einzufchreiten und 
Ordnung aud für die Zukunft möglichjt herzuftellen. Ob es von 
England politiih Hug war, wieder ohme Verbündete hier vorzus 
gehn, wie es Furz vorher ohne Verbündete für Japan eingetreten 
war, bleibt zu erwägen. Der Erfolg zeigt, dah feine anderen 
Mächte in die armenifcen Angelegenheiten ich verwiceln ließen, 
da vielmehr Nufland eine Stellung aus diefen Wirren fi) her- 
ausgeichält hat, wie es feit Jahrzehnten fie am Goldenen Horn 
nicht bejefjen hat. Und dieje Stellung wird fi ohne Zweifel für 
England fehr bald unfiebjam fühlbar machen, vor Allem am Nil, 
wo Nufland auf billige Weile eo in der Hand hat, Franfreid) für 
feine Liebenswürdigfeit abzulohnen. Zum Glück it Deutfchland 
in der Lage, diefen Wahrfcheinlidyfeiten mit vollem Gleidhmuth) 
entgegenzufehen, bis zu dem Nugenblid, wo etwa die Frage 
aufgeworfen wird, wer jtatt Englands den Suezfanal bewachen 
Tolle. Und ehe es dazu fommt, werden wir wohl nod) manderlei 
Meberrafchungen durch die Torungbafte und verftedte Politit Eng: 
lands erleben. Grade dieje Pofition am Euez ift für England 
von jolcher Bedeutung, dal es, wie ic) meine, fie nicht freiwillig 
aufgeben fann, oder auf andere Weife fih die Veherridung der 
Verbindung zwifchen dem Mittelmeer und dem Indiiden Tjean 
fichern muß. Das wird Mar dur) einen Vlid auf die gegen- 


Rolitifche Korreiponden;. 157 
märtige Lage in Dftafien. Sobald Nufjland, was ja vorauszis 
jeben leicht ift, am Golf von Petjchiti beherrichende Stellung ge 
minnt, fobald cs au nur einen guten eisfreien Hafen von Hovea 
erwirbt, ift die jtarfe Stellung, ift der Handel Englands in China 
bedroht, und kommt dann Hinzu, da der Sueyfanal für England 
nicht fiher ift, jo find die englifchen Juterefjen in Oftafien völlig 
in der Hand Ruflands. Ein Hafen, etwa Port Hamilton oder 
Tihufan, würde dann nicht mehr das (teichgewicht Heritellen 
fönnen. Die nenejten Wirren in Söul, wo der Nönig die Ja- 
paner verlafen und fid) in vujjiihen Schuß begeben hat, find eine 
neue und jehr derbe Mahnung an England. Und wenn ‚ich num 
nah einer Seite wenigitens einen Schluß aus dem äußeren Ver 
halten der engliichen Negierung in den lebten Wochen ziehe, To üit 
es der, dah England gefonnen üft, fid) für den Fall der Auflöfung 
der Türfei vorzubereiten durch Lerftärfung feiner Stellung in 
egnpten, und daf cs mit Preisgabe feiner enropäiihen Stellung 
zur Sicherung feiner Seeherridaft alle Kraft aufbieten will, aber 
um diejes zu verdeden die Vorgänge in Transvaal uud das Se: 
ihrei der fontinentalen Preife zum erwünfchten Vorwand nimmt. 
Vie taubenfanfte Thronrede vom 31. Februar jelbit ift ein Zeichen, 
wie ängftlich man fid) in London hütet, feine wahren Sorgen zu 
enthüllen. Sie pafit zu dem großmäuligen Uebermuth der nini- 
feriellen Neben, die vorausgingen, in feiner Weife. 

Gegenüber der Bedeutung, melde das ruffifc:engliiche Ber: 
baltniß im der Politit Heute einnimmt, treten die anderen ns 
tereifen jehr zurüd. Die finanzielle Noth am Bosporus, die Um: 
inlbung des Prinzen Boris, das find Dinge, die jept bereits in 
den Nreis diejes ruffiichengliihen Jnterefies gehören. Co ge: 
fpannt man in Deutichland auf die Balkanhalbinel Hinblickt, To 
glaubt man nicht, da; Aufland, in deifen Hand die Dinge dort 
eben liegen, einen Friegeriihen Konflift geitatten wird.  Gbenjo- 
wenig wahrscheinlich ift, daß Nukland cs in Oftafien ohne zwingen: 
den neuen Zwildienfall zu Stonfliften mit Japan oder England 
werde fommen lajien. Der Friede fönnte mur von England, jei 
es mittelbar, fei cs unmittelbar, gejtört werden, "wenn leßteres 
einen Bundesgenofien findet oder fid) in Negppten bedroht ficht. 

Recht bedentlid; wird die Lage in Cuba und Erythräa. 
Spanien wie Ztalien find nicht reich genug, um jahrelange Kriege 














158 Politiiche Korreipondenz. 


zu führen, und weder die cubaniichen Nebellen noch die abefigni- 
ichen Feinde haben bisher eine Erlahmung ihrer Kräfte gezeigt. 
Seit weniger die Fürften als die Völker die Kriege maden, it 
5 viel jchwerer gemorden, mit einer Schlappe den Kampf aufzu: 
geben: die Ehre des Volks und die Erhaltung des Kabinets jegen 
weit mehr als die Fürften früherer Zeit aufs Spiel um zu fiegen, 
und fo laufen beibe Staaten Gefahr, an biefen Kämpfen zu ver: 
bfuten, was weder für Spanier, nod) Italiener, nod) aud) die Be 
figer fpanischer und italienifcher Papiere eine angenehme Ausficht 
darbietet. Dazu ficht Spanien wenigftens für eine Jnfel von 
großem Werth und altem Vejig, Italien aber um neue Länder, 
deren Werth im Fall der Gewinnung evt erfahren werden fol. 
Das ift für den Dreibund ein ebenfo unerwünichter als für Srank- 
reich ein erwünfchter Vorgang, weshalb denn aud) die Bewaffnung 
der Scoaner vorwiegend franzöfiih zu fein fcheint. 

In Franfreic ift die Krifis pro Februar wahriheinfid 
wieder erledigt — wohl bis zum März. Imdeflen ift doch zu be> 
achten, dab feit Jahr und Tag der Nadikalismus Fortichritte 
maht und e& diefes Mal nicht ein Anfturm blos einer Partei 
gegen den Senat war, wie er jhon oft dageweien, fondern eine 
prinzipielle Gegnerfchaft zwilchen dem Senat und den beiden 
andern Gewalten, die ungelöft geblieben ift. DBejteht der Senat 
darauf, daß das Rabinet feine Verantwortlichkeit zwiiden ihm und 
der Kammer gleichmäßig theilen folle, To fommt es bei nädjiter 
Gelegenheit zu einem Kongreh in Verjailles, der, wie die Regies 
rung heute zufammengejegt ift, dem Senat und damit der ganzen 
Verfaflung ernftlid) gefährlich werden dürfte. Nach außen freilich 
find aud) die radifalften Bourgeois nicht allzugefährlich. 

Defterreih » Ungarn jteht vor dem gefährlichen 
Grempel des zu erneerden Ausgleichs. Und jo wunderbar es 
Mlingt, die Herren Magyaren fceinen jelbit gemaltfam auf eine 
Löfung hinzuftürmen, welde ihnen recht teuer zu ftehen kommen 
würde. Man fann in Cislathanien faum was Befleres wünfchen, 
als daß die ungerecdhte Stenerbelajtung von 1867 dur Ungarn 
jetbft zerriffen würde. Allerdings gehen manche magyariiche 
Wünihe nod) weiter, indem fie einer reinen Perfonalunion zus 
ftreben. Nun, die Zerjegung des alten Neiches der Habsburgis 


Politiice Rorreipondenz. 159 


ichen Yeirathen geht ja jhen länger ifuen Weg, und follte fie in 
unjern Tagen fchon ans Ziel gelangen, jo glaube ic nicht, dah 
die nädjten Nachbarn mehr jo viel Grund zum Trauern haben 
werden, als vor nod) nicht gar langer Zeit. Der Dreibund hat 
mandes an jeiner jpitematiihen Nothwendigfeit in den legten 
Jahren bereits eingebüßt, — vor der fetten Gonfequenz aber 
mird man denn dad wohl felbit in Pet zurücichenen, und vor- 
läufig liegt in der Perfon Naifer Franz Jofef's nad die Garantie 
dafür, daß der mitteleuropäiihe Bund nicht vorzuitig in die Brüche 
gehen wird. 


Berlin, d. 24. (12.) Februar 1896. 





Berichtigung 
zu dem Yuffap „Einiges zur Gefgidte der Toblenjhen Kirche” 
im Januarheft diefer Zeitfchrift, Seite 13, Zeile 18 bis 
Tie erfte Schenkung Terlof von Plates ift nicht vor 1516, 
fondern nur vor 1593 gefchehen; in welchen Nahre it nicht befannt, 
aber nach Dr. Tito, deffen erite Notiz ich mihwerftanden hatte, vielleicht 


nur mehrere Jahre vor 1503, Dr. X. Bielenitein. 

































Kine nene Parftellung der Tivländiigen Bejdicte. 


11%) 

Gejcichte Liv, Er, und Kurlands von der „Aufiegehung“ des 
Landes bis zur Einverfeibung in das ruffiiche Neich. Eine populüre 
fieltung von Ernft Serappim. IT. Band. 1. Abtheilung: Die 

Wrovinzialgeicichte bis zur Unterwerfung unter Nufland von Ernit 
Seraphim. — 2. Abtheilung: Aurland unter den Herzögen von 
Dr. Auguit Scraphim. Neval. Lerlag von Franz Auge 
1806. 714 

Ms Ernjt Seraphim in dem Vorwort zum erjten Bande die 
Hofinung ausjprad) binnen Jahresfriit den zweiten Yand ericheinen 
zu lajfen und mit ihm die Livländiiche Gefchichte bis 1721 fortzu- 
führen, werben die meiften Lefer ungläubig den Kopf geichüttelt 
haben. Es mußte jcheinen, als ob ein joldes Unternehmen, an 
fich Schon äußerft jchwierig, Jahre vorbereitender Studien bedürfe 
und ad) die Niederichrift mehr Zeit erfordere, als fie dem beruflic) 
fiort beichäftigten Verf. während eines Jahres zu Gebote jtchen 
mochte. Wenn mun trogdem der 2. Band zu Weihnachten 1895 
der Deffentlichkeit übergeben werden fonnte, jo werden zunädjt die 
Energie, der Fleih und die Arbeitskraft des Verf. volle An: 
ertennung finden. 

on den 714 Seiten des zweiten Yandes entfallen 425 auf 
den Bearbeiter des erjten. Nun wird ein jeder fi jelbjt jagen, 
da; die Vorftudien zu diefem die Zeit von 1561—1721 umfafjenden 
Theil unferer Landesgeihichte nicht erit aus dem legten Jahre 




















) Rgl. „Balt. Mon.“ 1895, ©. 73 ff. 





162 Scraphim’s liol. Geidhichte. 


ftammen. Was der Verf. bietet, ift vielmehr die Frucht einer 
durd Jahre fortgejepten, mit Liebe und Eifer gepflegten Ver 
Ihäftigung mit der Vergangenheit der Oftfeeprovinzen. Immerhin 
waren diefe Studien doc) nicht mit direfter Nüdficht auf Ver: 
werthung in einer allgemeinen Darftellung der Kivländiichen Gefchichte 
getrieben worden und cs bleibt dabei, dah die fchriftiiclleriiche 
Produktivität Ernjt Seraphims über gewöhnliches Maf hinausragt. 
Dasfelde gilt von Auguft Seraphim, dem es gelungen ift, im 
verflofienen Jahre aufer einer auf gründfichen gelehrten Forfbungen 
beruhenden Doftordifjertation dieje ausführliche Gefichte Nurlands 
für die Zeit von 1561-1795 zu ftande zu bringen. 

Sharakter und Ziwet der Seraphimichen „populären“ Gefammt 
darjtellung der fivländiichen Gefchichte find befannt. Was von 
der Kritit zum Lobe der warmen, zu Herzen gehenden Sprade 
Ernft Seraphims gefagt worden ift, findet aud) auf den vorliegenden 
Band uneingeichränfte Anwendung. Ich behaupte jogar noch ein 
Auffteigen in diefer Linie, obgleidh der Sapbau nicht immer 
tadellos ift und der Stil fi von etlihen feuilletoniftiichen Gepflogen- 
heiten und Anforreftheiten, die fich jhen im 1. Bande gelegentlich 
jtörend bemerfbar machten, nicht frei gehalten hat’). Wenn 
ih, Darftellung und Sprade des 1. Bandes in der Gefcichte 
Vifchof Alberts und des Zerfalls zu befonderer Höhe erheben und 
am meiften gefallen muhten, jo it diefes wohl dem Umftande 
äuzufchreiben, daß diefe Perioden nicht nur Earer vor uns liegen 
und veider an verftändlichen, dharakteriftiichen Einzelpeiten find, 
fondern vor allem Perfönlichfeiten hervortreten lajlen, denen man 
in Liebe und Abneigung gegenüber jteht und deren Schilderung die 
gefhichtlihe Darftellung fo reizvoll macht. In diefer Hinficht hat 














*) 3.9. ©. 81: „Neben den andern Nechten der Stadt, der Gerichtsbarkeit, 
der Verfaffung, der Münze etc. waren die Gefandten angemwiefen, dem vom 
tütauifchen Adel geforderten freien Handel in Riga nicht zu willfahren.” der 
&. 206, wo von dem in den Nieberlanden weilenden Grafen 
Johann von Kafau erzählt wird bnelfentichlofer fih einen im 
Hafen von Lravemi iegenden Yiolandfegler zu befteigen u. Thon am 
12. Juli 1001 betrat er in Pernau den Boden unferer Deimath..." Als ob 
die Trave ein nicderländifces Gewäfter it. Das „Ihen“ flieht aber dem Ber. 
gleichjam aus Gewohnheit , obwohl es doch mr angebracht wäre, 
wenn er den Zeitpunkt des Entfehluffes zur Neife oder der Abfahrt mitgetheift hätte, 














Seraphim’s livl. Geidichte. 163 


aber die Zeit, mit welcher es der 2. Band zu thun hat, vor dem 
Mittelalter unendlich viel voraus. Das Mittelalter bietet bei 
weitem mehr Icere Namen, an die fid) Handlungen fnüpfen, aus 
denen doch nur unter befonders günftigen Umjtänden ein Nücichluß 
auf die Perfönlichkeit geftattet it. Umgetehrt in der neueren 
Geihichte. Wie oft ijt da das geicichtlidhe Creignih in feiner 
wahren Bedeutung erit aus der Nenntnih ber handelnden Per: 
fönlichteit erjchlofien worden. Nun ift ja unfere Geidjichte von 
1561-1721 nicht gerade reidy an überragenden Geftalten. Aber 
wir haben cs doc; mit Menfchen von leifch und Blut zu thum, 
wir erfennen, wie ihr Eingreifen den Gang der Ereigniffe beeinflußt, 
und jchlieglich find doc) in diefem Zeitraum, abgejehen von den 
bervorragenderen Söhnen bes Landes, aud in unferer Gedichte 
eine ganze Anzahl welthiftoriicher Perfönlicjfeiten thätig, die mehr 
oder weniger in den Mittelpunkt der Erzählungen treten. Namen 
wie Stefan Bathory, Guftav Adolf, Karl XL, Karl XIL, Peter 
d. Gr, und andererjeits die ganze Neihe namhafter Patrioten bis 
hinauf zu Patkul, — fie erleichtern cs, früh, farbenreih und 
omüfant zu erzäh Dieje Vortheite hat der Xerf. fi nicht 
entgehen lafien, find der gefammten Darjtellung zu gute ge: 
fommen. Hervorheben möchte id) einzelne Partieen aus der polniichen 
Zeit, insbejondere die Kalenderunruhen in Niga und die Zeit der 
ausgehenden ehwebifchen Herridhaft. Hier ift die Nede von großen 
Leidenfchaften, ergreifenden Natajtrophen, Willfür und Vergewaltigung 
auf der einen, Vaterlandsliebe, Nechtsbewußtfein und Stolz auf 
der anderen Seite. Dieje elementaren und doc) größten Themata 
der Geichichte, die das Gemüth unmittelbar ergri 
jedermann verftanden werden, fie mußten dem Verf. einer populären 
Landesgejchichte am beiten gelingen. Und id) glaube mich nicht 
u täufhen, wenn ich beobachte, dah Seraphim da am beiten 
ihreibt, wo er jelbitändig geforf ht Hat und die Darftellung aus 
dem Nahmen der Kompilation heraustritt und auf jelbitgebahnten 
Begen einhergeht. Für die Kalenderunruen hat Serapfim bie 
von 2. Napiersky hinterlaffene Abichriftenfammfung mit glüclichen 
Erfolge verwertet und für diefen Zeitabichnitt dadurd) die wifien- 
Ihaftliche Ertenntniß der livländiichen Gejdichte aud ihrem Um: 
fange nach erweitert und gefördert, ein Nuhm, auf den er dem 


1 















164 Seraphim’s livl. Gedichte. 


ganzen Plan und Gharafter des Werkes nad für die übrigen 
Barticen versichtet. Befanntlic, bietet S. grundfäglid nicht mehr, 
als was den Fadjgenofien aus früheren Monographien oder um 
fajfenderen Daritellungen bereits befannt war. ch will gleich hier 
hervorheben und anerkennen, dah in und troß diefer Beichränfung 
eine durchaus notwendige und zeitgemäfe Arbeit geleiftet worden 
it. Wenn icon der 1. Yand einem allgemein empfundenen 
Vedürfniß nad Zufanmenfaflung des zerftreuten hiftorifchen Materials 
entgegenfam, wie der in den Annalen unferer Yitteraturgeichichte 
überaus feltene buchhändleriihe Erfolg desielben erweilt, To trifft 
das für den 2. Band in noch höherem Mahe zu. Denn bis zum 
Zufammenbruch des alten Yivlands führte die weit verbreitete und 
gern gelefene Arbeit von Schiemann; für die folgende Zeit fehlte 
es aber an zulammenfajlenden Daritellungen ganz und gar, jo dal; 
diefer 2. Band eigentlich zum eriien Mal dns Fazit aus der 
landesgeichichtlichen Arbeit einer ganzen Generation zieht. Zeit 
dem Erfheinen der Nichterichen Geichichte der Tjtieeprovinzen find 
fait 10 Jahre verfloifen. Welche Majle an gelehrter Arbeit ift 
auch für den in Nede ftehenden Aojchnitt der livländifchen Geidhichte 
geleiftet worden! Nirgends aber Fonnte man fih darüber ausreichend 
und fiher orientiven. Hier ift mın endlich ein Gejammtbild der 
Provinzialgeidichte Yivlands in der polnifchen und fdhwediichen 
Zeit geliefert, deiien Einzelzüge und Farben mühlam aus zeit 
ihriften und Monographien zuiammengetragen werden muhten. 
Da aud die Ergebniffe der neueften Forichung gebührende Ber 
rücfichtigung gefunden haben, jo werden nicht nur „Liebhaber“ der 
Livländifchen Gefhichte nad) diefem Bande greifen, nicht nur dies 
jenigen, welche fi durch eine populäre Darftellung belehren laffen 
wollen, jondern das Seraphimiche Buch wird auch dem ernten Foricher 
bis auf Weiteres ein millfommenes Mittel der Drientirung fein. 
Allerdings fein ansreicendes. Das hat der Verf. aber au nicht 
schaffen wollen und wer in der Yeltüre für feine ji Ion Be- 
dürfnife das Erwartete nicht findet, darf das dem X 
Loft legen. Mit Kecht Tann fid) diefer auf das Vorwort zum 
1. Bande berufen, welches daran erinnert, dai; ein Bud von dem 
Eharatter des vorliegenden nicht auf jede Detailfrage Antwort zu 
geben braucht. 




















Eeraphim’s fivl. Gefchichte. 165 


Ih habe in der tritit des 1. Bandes rühmend hervorgehoben, 
dab aus ihm eine eindrudsvolle und im Allgemeinen richtige Ge- 
fammtanihauıng der fioländiihen Gefchichte zu gewinnen ift, war 
aber dad) genöthigt fejtzuitellen, daß die Juve t im Einzelnen 
feine unbedingte genannt werden fünne und dai; darum bei der 
Benugung einzelner Daten Vorficht geboten fei. In diefer Allgemein: 
heit muß ich das Urtheil für den 2. Band wiederholen. Cs ift 
weder meine Aufgabe, rein äußerlich die Fehler auszuzählen und 
danach das Urtheil zu geftalten, nod) wäre der Sache danıit gedient. 
€s geichieht daher ganz unabhängig von der Zahl der nachjtehend 
geltend gemachten Veanjtandungen, wenn ic) mid) zu dem Eindruc 
betenne, da; diefer Band doch weniger Veranlaffung zu Aus- 
fellungen im Allgemeinen und zu Verichtigungen im Einzelnen 
bietet. Eine unferer einheimifhen Tageszeitungen hat eine Anzeige 
des Buches gebracht, welche die Bemerkung enthält, es jei allerdings 
verbefferungsbedürftig, aber auch in hohem Viafie verbefferungsfähig. 
Diefem treffenden Urtheil Ihließe ich mich vollfommen an und bin 
überzeugt, daß eine 2. Auflage das Werk von den ihm nod) 
anhaftenden Schladen und Unvollfommenpeiten befreien wird. 

Wein Bud) als Ganzes genommen und beurtheilt werden, 
fo wird man das Äufere Gewand, das die geiftige Arbeit des 
Verfaffers vermittelt, nicht ganz unberüdfichtigt lnffen dürfen. 
gewiß Ausftattung und Drud Neußerlichfeiten find, jo gewiß; Fönnen 
fie unter Umftänden und bis zu einem gewillen Grade für den 
objeftiven Werth eines Bud)es von Einfluß werben. Die Aus: 
ftattung des Seraphimi—en Werkes wird mun jeder gern als eine 
durdaus rühmliche anerkennen. Danfenswerth ijt auch die Bei- 
ande der Löwisihen Hifteriichen Karte der Oftieeprovingen; nur 
ift der Mapitab zu Hein. Wie fie hier in 1: 2,300,000 vorliegt, Läht 
fie die Abgrenzungen der Territorien allerdings in wünfchenswertyer 
Deutlichfeit erfennen, die eingejeihneten Namen bleiben aber 
dem unbewaffneten Ange gröhtentheils unzugänglicd. Nun aber 
die Drudfehler! Wie eine böje Nrankheit haften fie dem ganzen 
Werke an und in folder Menge, dafi man den geedrten Verfafiern 
den Ärger über diefe Verunftaltung ihrer Arbeit wahrlich lebhaft 
nadhempfinden Tann. Ein auf bejonderem Blatt beigefügtes 
Verzeihniß der Errata ijt bei weitem nicht erichöpfend und Lüht 




















166 Seraphim’s Tiol. Gejchichte. 


leider die jehr vielen verdrudten Jahreszahfen, bei deren größtem 
Theile ein fachlicher Jrrtfum der Verfajfer ausgeichloiien eridheint, 
völlig unberüdfichtigt. Beim erjten Bi in das Vuc) jtarren dem 
Lejer unter dem Bilde Patkuls die Worte Johann Heinrid 
Patkul entgegen! Es liegt mir fern, wegen joldies Mihgeichids 
mit den Verfaffern zu rechten, aber unerwähnt durfte es aud) 
nicht bleiben. Sehr gute Dienfte leiftet das ausführliche Inhalts- 
verzeichni und erjegt zum Theil das Sadhregiter. Mit diefem 
Dat 06 eine eigene Vewandtniß. Gin „Perfonen: und Sad: 
vegifter“ ift auf dem Titel allerdings angefündigt, im Terte aber 
lautet die betr. Ueberichrift „Perjonen- und Orts regifter”. 
In Wirklichkeit finden fi aud Anjäge zu einem Sachregifter; 
fie find aber jehr fpärfich und durchaus willfürlich, fobah es fait 
ihheint, als ob der urfprüngliche Plan während der Arbeit geändert 
wurde, die einmal ausgezogenen und eingefügten Anführungen aber 
aus Xerjehen tehen geblieben find. Auch find die beiden Verfaiier 
in der Negifterarbeit offenbar nicht nad) gleichen Grundjägen 
verfahren. Das Perjonen und Drtsregifter wird vermuthlid, 
in den meiften Fällen feinem Zwed entipreden. Ich muß aber 
geitehen, dal es mid) aud) wiederholt im Stid) gelahjen Hat. Und 
zwar (äßt nicht nur die Volljtändigkeit zu wünfden übrig, ondern die 
Art der Zufammenftellung ift zuweilen auch irreführend. Mo im 
Terte der Namen Chodfemwicz erwähnt wird, üjt cs nicht jedes 
Mal sofort erfichtlih, ob der evite polnifche Adminiftrator oder 
ein anderes Gfied diefer Familie gemeint ift, da die begleitenden 
Titel wechieln und man gelegentlid den Vornamen vermißt. Aud, 
verichwindet der Mdminiftrator Chobfewic; vom Schauplage feiner 
verhängnißvollen Wirfamfeit, ohne daß der Lefer erfährt, warn 
und wie), Nur aus einer ganz beiläufigen Erwähnung feines 
Todes in einer wörtlid) mitgetheiften Hebe der rigafden Deputirten 
in Warihau v. 3. 1583 ift zu entnehmen, ba er damals nicht 
mehr unter ben Lebenden weilte. Wer num diefen Pafjus, was 
Teicht geichehen Fann, überfieht, muß; fih unwillfürlich fragen, ob 











*) Da übrigens Jan Chodfewiez in Yivand ärger gewüthet habe als 
Ada in den Niederlanden, eine Behauptung. die der Verf. in Form eines Citates 
giebt, wird durch feine eigene Dartteltung feineswegs glaubhaft gemacht. 






Seraphim's liol. Geidhichte. 167 


der zum Beginn des 17. Jahrhunderts auf ©. 183 erwähnte 
„weitgebietende Chodfemwicz“, deifen Schwager Woldemar Farens: 
bad) war, mit dem Ndminiftrator identiich it. Schlägt man nun 
zur Drientirung das Negilter auf, fo erhält man jogar eine 
bejahende Antwort, denn die Anführungen diejes zweiten Chod: 
tewicz erfolgen nicht getrennt, jondern in fortlaufender Neihe mit 
denen des Admin torS gleichen Namens, Ganz ebenjo werden 
die im Tert ©. 580 u. ©. 598 zu den . 1697 u. 1726 
erwähnten beiden Sranz Yefort, von denen der ältere fchon 
1699 ftarb, im Negifter als eine Perjon behandelt. 

Wenn zu den unzweifelhaften Vorzügen der Schreibweile des 
Verf. eine friihe Lebendigkeit und Lebhaftigkeit gehört, jo it es 
doch ebenfo zweifellos, dab diefe nur zu oft in eine üchtigfeit 
ausartet, welde den Autor den einzelnen Ausdrud nicht genügend 
beachten oder feine Tragweite unterfchägen täht. Es ijt ver- 
ftändlic, dab die unerquidlice, nach vielen Zeiten dod) nur 
dürftig bekannte polnijche Periode beionders ichwer zu behandeln 
war. Hier drängen fi mn auch an einzelnen Partien die 
fehlerhaften Stellen. Aus der Geididhte Nigas greife id) das 
Folgende Heraus. Auf ©. 83 wird die am IH. Januar 1581 
zu Drohiegin erfolgte Unterzeichnung des corpus privilegiorum 
Stephaneum erwähnt, das dann der König auf dem Warfchauer 
Reichstage des Folgenden Jahres (1582) mit dem Neichsfiegel 
verfehen läht (. 85... Auf ©. 88 hat der Verf. diefe Angaben 
bereits vergejfen, denn indem er eine Neuerung des Königs vom 
7. Januar 1582 über feine fatholifirenden Abfichten bezüglich 
Livlands anführt, jagt er, dah fie „in eigenthümlicher Weife die am 
14. Januar, alfo fnapp 7 Tage fpäter, folgende Betätigung der 
Privilegien Nigas“ illufteire. Cr fann damit nur jene eben erjt 
zum 14. Jan. 1581 vermerfte Unterjeichnung des corpus 
privilegiorum Stephaneum meinen. Auf &. 99 aber heißt cs: 
„Am 4. Oftober 1582 verfammelten fid die polniicen Yandboten 
zu Warihau....: bereits am 16. Nov. erfolgte, wie eben fdon 
eryählt wurde, die Veftätigung der Privilegien der Stadt.“ 
Hiermit ift offenbar wieder jene oben erwähnte auf dem Neichstag 
zu Warjchau erfolgte Befiegelung der Veitätigungsurfunde gemeint. 
Ganz abgejehen von der Verwechjelung der Jahre 1581 u. 1582 





















168 Seraphim’s livl. Geihichte. 


fann man fic) in diefer Sache faum unpräctier und mißverjtändlicher 
ausdrüden. Ebenjo läht den Verf. das Gedädhtniß im Stid), 
wenn er S. 85 mittheilt, daß... „Rt Kid im Diai 1571 [joll 
heißen 1581] den Verfuch machte, Dr. Welling wegen des 
Drohiceziner Vertrages... zur Nede zu jtellen“, nachdem 
kurz zuvor, S. 81, erzählt worden ift, dah Dr. Melling an den 
Verhandlungen zu Drodiezin nicht Theil nahm, weil ihm wegen 
feiner Tpätigfeitauf derzweiten Legation in 
Wilna Vorwürfe gemacht worden feien, deren Hauptvertreter 
eben jener Nik. Fit war. Es muß dem Verf. überlaffen bleiben 
hier die Korrektur nad) der einen oder anderen Seite vorzunehmen. 

Dan fann € gerne und mit Necht anerfennen, ba Seraphim 
nicht nur Greigniife hübjd erzählt, jondern aud) in der Schilderung 
des AZuftändlichen ein beneidenswerthes jehriftitelleriicheo Talent 
offenbart. Nur wo cs fi um Nechts- und Verfafjungsfragen 
handelt, mo die größte Stlarheit und Präcifion im Ausdrud und 
in der Entwicelung eine Gedantens das erite Erforbernih it, 
bleibt mandes zu wünjchen übrig. Bejonders feidet darunter der 
Abjchnitt über das Emporfommen der Gilden und die Entwidelung 
der jtändifcen Verhältniife in Riga. Wie an einigen anderen 
Stellen wird allerdings audı hier die Benrtheilung erichwert durd) 
bie Vermuthung ober den Wunfch, da Druckfehler vorliegen mögen. 
Schlielih muß aber der Tert dod) genommen werben, wie er 
it. Unpräcije ift von vornherein die Bezeichnung „Zunft“ der 
Handwerker, jtatt „Zünfte”. Gleich darauf werden die Gilden 
für die Zeiten des Wittelalters, aljo wohl ipätejtens für das 
14. Zahrh., das nad dem Zufammenhang allein in Frage fommt, 
als die eigentlice „Oemeinde“ bezeichnet, wie fie denn im 15. 
DJahrh. Kim Tert heißt cs allerdings 16. Jahrh.) zur Berathung 
allgemein ftädtifcher Fragen herangezogen werden. Iener Zeit: 
bejtimmung über die verfaffungsmäfige Bedeutung der Gilden 
widerfpricht aber 2 Seiten weiter (S. 75) der Sap: „Zuerit jegten fie 
um die Mitte des 16. Jahrh. durd, daf... nur die beiden 
Gilden als die Gemeinde anerkannt wurde.“ —- Cs bedarf ferner 
längeren Nachdenfens, um feitzuftellen, wen der Verf. jedesmal 
meint, wenn er auf ©. 77 wiederholt von „den Nelterleuten“, 
„den anderen Welterleuten“ und „den eltejten” jpricht. 











Seraphim's livl. Gedichte. 169 


Sind die „anderen Nelterleute“ und „Xelteftien” identiih, was 
des Verfafiers Dieinung zu fein jcheint, jo wären dieje beiden Be: 
zeichnungen im nterejie größerer Verftändlichkeit wohl befier 
dur) ein „oder“ zu verbinden aewefen. Die Lerwirrung wädt, 
wenn die Bildung der Aelteftenbanf auf derjelben Seite zweimal 
erzählt wird, als ob es fih um zwei verichiedene Fafta handelte. 
Dah; der Nusarbeitung hier nicht die genügende Sorgfalt zugewendet 
worden, zeigt aud das Vorkommen eines fo unfertigen Sabes, 
wie der folgende (2. 79): „Man braucht nur die Forderungen zu lejen, 
die in diefen Jahren üblich find, die ernjtlichen Wünjche, die Aelter- 
fente und der zur Regel gewordene Vürgerausiduß dem Rath, vor- 
legen, der Hohn... den Nathsherren gegemüber..., um den 
Terrorismus der Bürgerfhaft... vor Augen zu haben.“ 

Hecht und Verfaffung erfahren natürlich eingehende VBerüc: 
fhtung auch in der fdwediicen Zeit. Die Entftehung des liv- 
fändiichen Yandesjtantes im 17. Jahrh., die Drganifation der 
Nitterichaft, der ländlichen Verwaltung und der Landesfirdhe find 
im ganzen überfichtlic und verftändlich gejchildert. Yermißt wird 
eine wenigjtens fürzere zufammenhängende Darlegung der ent- 
iprehenden Verhältnifie in Ejtland. Cine nod) nicht ausgeglichene 
Differenz waltet in den Angaben über die Eintheilung Livlands 
in Nreife ob. 49 werden Riga, Dorpat, Bernau, Stofendufen, 
Wenden und jogar Narwa als jolde genannt, &. 259 dagegen 
nur Wenden, Dorpat uud Pernau. Unklar bleibt aud) die Trag- 
weite der durd) Guftav Adolf und die Königin Chriftine erfolgten 
Privilegienbeftätigungen. Zunäcjit it es wohl nicht richtig, wenn 
an zwei Stellen (©. 238 und &. 246) der Negierung Guftan 
MAdolfs eine feindfelige Haltung zum Adel überhaupt nachgejagt wird. 
Bekanntlich hat der König in Schweden die Nechte des Adels nicht 
nur nicht angetaftet, jondern nod) beträdhtlid) vermehrt. Dieje dem 
Adel ungünftige Stimmung habe, fährt Seraphim fort, den König 
im $. 1629 mur zu einer Art Vejlätigung der livländiiden 
Privilegien vermocht. „Die jpezielle Konfirmation einzelner Punkte 
erreichte die Nitter- und Landihaft jedoch nicht.” Endeten folder: 
gejtalt die bezüglichen Verhandlungen mit einem Miherfolge für 
die Nitterichaft, — To fragt es fid, warum die unter der Königin 
Ehrijtine 1648 erfolgte „Oeneralfonfirmation der Yandesrehte”, 























170 Seraphim’s lvl. Geidichte. 


die nad) dem Wortlaute der Darjtellung faum einen anderen Charakter 
als die von 1629 gehabt haben fann, offenbar eine allgemeine 
Befriedigung hervorrief. Die Regierungszeit Narls XI. und die 
Schilderung der Güterreduftion in Schweden und Livland find gleich 
falls von foldhen Stellen nicht frei, die den Vlangel oder die Flüchtigfeit 
der legten Nevifion verrathen. Wie die Neduftion in Yivland 
thatfächlich begann, Läht fih aus dem Buche nicht entnehmen, da 
die betreffenden Mittheilungen auf Seite 292 und 293 wenn 
nicht einen unlösbaren Wideripruch, fo dod) jedenfalls eine Lüde 
enthalten. Was ift 1681 vor dem Zufammentritt des Landtages 
eigentlich gefcjehen und was beabfichtigt worden? Der Verf. jchreibt: 
1681 begann die fcwediiche Regierung aud) hier vorzugehen... An 
den Gen. Gouverneur EHrifter Horn erging der Befehl, die Heduftion 
der fchwebifchen Adelsgüter ins Werk zu jegen, die Güter der Liv 
länder dagegen nicht anzurühren, der König wolle die Entjheidung 
[worüber denn?] auf einen Landtag verweilen.“ Nur im Falle 
der Widerfeglichfeit würde eine umfafiende Neduftion durchgeführt 
werden. Dem Landtag d. I. 1681, dem aljo, wenn ich vet 
verftehe, die Entiheidung über die Einziehung der „ihnebiichen 
Adelsgüter” zuftchen follte, (ag aber eine ganz andere Propofition, 
bie mır eine allgemeine Neduftion ins Auge fahte, zur Verathung 
vor. War das die als Strafe für die Widerfeglichfeit angedrohte 
Erweiterung der Reduktion? Cs jcheint aber, nad des Verf. 
Worten, daß bis zum Zufammentritt des Landtages, ber denn 
doc) erit das wirffame Organ eines Widerftandes war, die heftige 
Erbitterung fid) mod) nicht in Thaten, fondern nur in Worten, 
wie den jarfajtifchen Heimen Guftav v. Miengdens, Luft gemacht 
hatte, jodai die Vorausfegung für die Steigerung der Reduktion 
erft auf dem Landtage jelbft eintreten fonnte. Jh muß wegen 
der Weitläufigfeit, mit der hier ein verhältnigmäßig untergeordneter 
Punkt behandelt wird, um Entjhuldigung bitten. Aber es joll an 
diefem tppijcen Falle deutlid) gemacht werden, worin die Unter: 
laffungsfünde des Verf. beiteht. Der Lefer hat Feineswegs das 
Verlangen, alle Einzelheiten des gefchichtlihen Herganges zu erfahren, 
wohl aber nad) ausreichender Narheit umd Präzifion für das mas 
geboten wird. Cs hätte garnichts geihadet, wenn die Erzählung 
einfad) mit den Landtagspropofitionen cingefegt hätte. Nachdem 





Seraphim’s fivl. Gefchichte, 171 


aber einmal audy die eriten vorbereitenden Mahnahmen erwähnt 
wurden, war es unbedingt geboten, auch zu erzählen, ob und wie 
ein thatjächlicher Wideritand gegen das Vorgehen der Negierung 
Nid) geltend machte. Ueberhaupt wäre cs aber der Nebuftions 
geihihte zu gute gefommen, wenn an einem Beijpiel das Verfahren 
der Reduftionsfommiifion veranfchaulicht worden wäre. Lieles 
wäre dadurch Elarer geworden. Aud) die Wirkungen der Neduftion 
für das praftiihe Leben werden zu wenig hervorgehoben und 
gezeigt. Die Entrüftung über fie lingt dazwiiden etwas nad) 
Deflamation, denn die Erzählung bewegt id) großentheils im 
folher Allgemeinheit, dab man fid) fein Bild von den wirklichen 
wirthbidhaftliden Jolgen, von dem Umfang des Bejik- 
mechjjels und dem Grade der allgemeinen Verarmung machen 
tann. Ext fehr ipät erfährt man, daß +5 der Güter veduzirt 
wurden. Die Erwähnung des Tertials der Arrende hätte dad) 
jedenfalls eine nähere Erklärung dieles an fid) vieldeutigen Aus: 
druds nöthig gemacht. Co ift die Vermuthung nicht ausgeichlofien, 
dab das materielle Elend nicht To jehr groß gewefen jein 
tönne, wenn die Gutsbefiger fih nur in wolbejtallte Inhaber 
perpetueller Arrenden verwandelten. Auch Hier macht fih des 
Verf. Gepflogenheit bemerkbar, wichtige Mittheilungen an einer Stelle 
unterzubringen, wo man fie nicht jucht und wo fie den Effekt, 
den fie haben fönnten, nicht erzielen. Da % aller Güter in 
Yioland reduziert wurden"), eine Mitteilung, welche dem Bilde 
des 1690 vollendeten „materiellen Zerftörungswerts“ in Livland 
erft Licht und Farbe giebt, erwähnt der Verf. nicht zu diefem 
Jahre und überhaupt nicht mit Nadpdrud, jondern nur in Nlammern, 
beiläufig, als Erläuterung zu der Wiedergabe der Begründung 
der den Landesjtaat aufhebenden jcwediihen Verordnung von 
1694. — Im der ganzen Darftellung der Neduftion, in der 
Gruppirung des Stoffes, auch in den manderlei wörtli—hen Ent- 








» Wenn der Verf. daraus weiterhin den Schlaf zieht, baf; die Zupl der 
lichen Evelteute auf !;; des früheren Beitandes herabgelunfen fei, jo muß 
dem die befannte Toatfache entgegengehalten werden, dafs die farweditchen Maguaten 
doc ungeheure Güterfomplere beieffen hatten, deren Meduftion den privaten 
Säterbefit, allerdings fehr jtart, die Zahl der Grunbbefiger aber nur fehr wenig 
verminderte. 





172 Seraphim’s Livl. Geidichte. 


lehnungen titt die Mbhängigfeit von den Vorlagen wieder, wie 
in einigen Bartieen des eriten Bandes, recht jtark hervor. Der 
fompilatoriiche Charakter des Wertes und die Unmöglichkeit einer 
Nachprüfung aller fremden Arbeiten entfchuldigen den Verf. bis 
zu einem gewiffen Grade, aber er geht darin gelegentlich zu 
weit, wenn er durch Uebernahme und wörtliche Anführung fremder 
Urtheile und Behauptungen bemüht ericheint, alle Verantwortung 
für den Inhalt von fih abzuwälzen. Auf mandıe folder entlehnten 
und auf Autorität angenommenen Behauptungen ift der Leer durd) 
den bisherigen Gang der Erzählung garnicht vorbereitet. Zie 
mögen an ihrer Uriprungsftelle als abichließendes Urtheil nach 
längerer Beweisführung ihre volle Berechtigung haben; hier wirfen 
fotche Schlußfolgerungen, deren Prämifien unbetannt bleiben, im 
höchften Grade befremdend. Und doc) treten fie jo auf, alo ob 
08 fi um Dinge von feitjtchender Notorietät handelt, was nur 
jelten der Fall deder ft es von vornherein flar, warm das 
Gpllenfternafche Miligipitem in Schweden bei dänenfeindlicher 
Politit ein Umding jein muite, nad da; die Neduktion „im beiten 
Falle nur ein vorübergehendes Heilmittel“ der finanziellen Roth 
fein Fonnte. Und wenn Seraphim der Neduftion jeden ifbaren 
Erfolg für den Staat abjpricht, wenn er mit Berufung auf 
Schirren, 08 eine Thatjadhe nennt, dal; der Schag bei Karls X. 
Tode leer und Schweden im Angejicht drahender Verwidelungen 
ohne Kredit war, — fo hätte er doch mindeftens feiner Verwinderung 
über diefe merkwürdige IThatfache Ausdrud geben müffen, nachdem 
er wenige Zeilen vorher erwähnt hatte, da Hal allein im Yaufe 
von 6 Jahren der Strone einen SGrundbefis zurücbrachte, deijen 
Jahresrente die für jene Zeit gewaltige Summe von 3,200,000 
Ahle. betrug. Gewih; theile ich des Verf. Meinung, dah eine 
Politik willfürliher Gewalt und brutaler Nechtoverpöhnung jchlichlich 
fih gegen ihre Urheber wendet und zum Lerderben führt, weil die 
moralifchen Kräfte des Staates unterbunden und gelähmt werden. 
Das pflegt aber weder eine ganz direfte, unmittelbar eintretende 
Folge zu fein, noch ift es immer fiher, dal einer folden Politik 
aud) zeitweilige materielle Erfolge verfagt fein müffen. Im vor- 
liegenden Falle hat die bisher Herricende Meinung in Narl XI. 
noch immer den Dann gefehen, der Schweden nad) tiefem Zturje 
































Seraphim’s lvl. Geihichte. 173 





wieder zu achtunggebietender tellung unter den enropäifchen 
Staaten erhob, der Heer und Klotte neu in Stand fette, und man 
glaubte bisher, dah die reichen, durd die Neduftion erfchloffenen 
Geldmittel ebenfolchen Zweiten dienten. Mit diefer herichenden 
Meinung muhte der Verf. fich auseinander jegen, wenn er die 
abjolute Erfolglofigfeit der Negierung Narts N. behauptete, und 
eine Erklärung für ihr unbegreifficyes (hen. Mo blich 
denn das Geld? Mit dem Hinmeis auf den geiftlolen, verfnöcherten 
Despotismus des Nönigs und die moraliiche Verwerflichfeit feines 
politiihen Spitems üft nad) nichts erklärt. Ich bedauere, die vom 
Verf. angezogenen fritif—en Arbeiten Schivrens in den Gel. 
Wöttinger Anzeigen nicht zur Hand zu haben umd auf ein aus: 
teichendes Urtheil über die Art ihrer Benugung durd) Seraphim 
verzichten zu mühen. IH urtheite alfo vom Standpunt des 
Lejers einer populären Darftellung, den nicht eine überlegene 
wiffenichaftliche Einficht, Tondern mr aufmerfiame Lektüre zu diefen 
aus dem Tert felbit fih ergebenden Beobachtungen md Aus- 
ftellungen drängt. 

Es joll nicht veridpviegen werden, dal; die Yijte nicht ein- 
wandfreier Stellen nad um einige Nummern vermehrt werden 
könnte. Aber schlichlich haben derartige Einzelheiten doc vor: 
nehmlich den Ziwed zur Chorafterifirung des Ganzen beizutragen 
Hierbei die Grenze nicht zu eng und nicht zu weit zu ziehen, ift mein 
Vetreben gewefen, nachdem mir durch die ausführliche Anzeige 
des eriten Yandes in diejer Zeitichrift eine eingehende Würdigung 
auch des zweiten zur jelbitwerftändfichen Pflicht geworden war. Es 
wideritrebt mir zu wiederholen, was id) {con einmal gelagt habe. 
IH muß daher für die Veurtheitung des ganzen Buches auf die 
allgemeiner gehaltenen Stellen jener Anzeige verweilen. Denn 
im Grunde genommen bewegen fi Yob und Tadel für beide 
Bände in der gleichen Nichtung. In Vorzügen und Fehlern ift 
Ernjt Seraphim während eines Jahres fein anderer geworden, 
feine ganze Arbeit trägt überall diejelben unverfennbaren Züge. 
Er it derielbe warmblütige Latriot geblieben, ausgerüftet mit 
wohlthuender Empfänglichfeit für jedes Hohe deal, derfelbe liebens 
mwürdige Erzähler, dem man gerne laufdht und dem man co 
gelegentlich aud) verzeißt, wenn er co nicht mit jeder Nleinigfeit 


















174 Seraphim’s liol. Geichichte. 





gleih genau nimmt. Der Polemik it in vorjiehenden Zeilen 
freilich ein unverhältnigmäßig viel breiterer Naum gewährt worden, 
als er für die Empfehlung des Buches in Anfprud; genommen 
wird. Aber das liegt in der Natur der Sadje, zumal das, was 
ein Buch jonft immer am beiten empfichlt, cine das Wefentliche 
hervorhebende Angabe feines Inhalts, bier, meil zwedlos, in 
Wegfall tommen muhte. Das Thema der livländiichen Geihichte 
fpricht für fich felbt. Wohl aber möchte ich hier ausdrüdlicd, 
erwähnen und zum Theil wiederholen, dah nicht nur der Gang 
der politiichen Gefchichte erzählt wird, fondern daß diefe durchiegt 
und belebt ericheint durch charakteriftiiche Züge des Fleinen Lebens, 
dur) vieles Fulturhiftoriiche Detail und eindrudsvolle Schilderung 
der hijtoriichen Perjönlichfeiten. Der Nulturgeichichte it fogar ein 
Napitel: Stadt und Land im NVI. Jahryundert ausichliehlicd 
gewidmet und darf um feines reihen Jnhalto willen befonders 
willfommen geheißen werden. Die fingirte Perjon des nad) Neval 
und wieder zurüc reifenden Fremdlings, dejfen Gefpräde und 
Erlebniffe die Form hergeben, in welde der Verf. mit unleugbarem 
GSefchie einen Theil der fulturhiftoriichen Mittheilungen flicht, hätte 
ich freilich lieber vermieden gejehen. Der Abichnitt gemahnt etwas 
an die Schablone fulturhifteriiher Schilderungen in hifteriichen 
Romanen. Er wiberjpricht dem ernjthaften Charakter des übrigen 
Vuches und erzeugt fo im Leler eine gewille Disharmonie der 
Stimmung, welche den Genuß der Lektüre beeinträchtigt. 
* * 












DieGeihichte des Herzogtdumskurland von 
Dr. Auguft Seraphim muh ale eine überaus werthvolle 
Vereicherung des ganzen Werkes bezeichnet werden. Es hätte, von 
einigen wenigen Verweifungen auf den Inhalt der Arbeit Ernit 
Seraphims abgefehen, ebenjo gut alo jelbjtändiges Buch ericheinen 
fönnen. Unverfennbar trägt es einen anderen, wiflenichaftlicheren 
Gharakter. Auher der gedrudten daritellenden Literatur find die 
Quellen jelbftändig verwertet und auch arcdivaliihes Material 
in erheblichem Umfange zu Nathe gezogen worden. 
Der weientlihe Inhalt der politiichen Geihichte Nurlands 
t fi) nach aufen in dem Verhältnii zum Stönigreic) Polen, 









er 


Seraphim's livl. Gedichte. 175 


nad innen in den unausgefebten Streitigkeiten zwilchen Herzog 
und Adel. Für einen Fremden fann die Gejcichte Nurlands 
fomit nur ehr wenig Jntereffe haben. It es dod nur eine 
Periode, die Negierungszeit Herzog Jakobs, welde die Kennzeichen 
eines wirklichen Aufihwungs trägt, und an jid) der Theilnahme 
weiterer Nreife werth it. Aber die vielverheihende Entwidelung 
des Heinen Staates unter der weitblidenden, fürforglihen Re- 
gierung diejes vortrefflihen Xüriten bricht plößlich mit einer 
gewaltiamen Natajtrophe ab, die einerjeits als unverjchuldetes 
Mingeihid eriheint, andererjeito doc) in der Nonfequenz der un- 
igen Thatjache lag, daß ein völlig madhtloier Staat zu einer 
politüicen Selbjtändigfeit gelangt war, die er aus eigener Nraft 
feinem ernjtliche Angriffe gegenüber behaupten fonnte. Won vorn 
herein waren Nurland nnd Pilten ein Spielball fremder Mächte 
und fie mußten cs in immer höherem Vahe werden, je weniger 
der einzig mahgebende Stand der Vevölferung, der Adel, Ver: 
fändniß für diefe Sachlage zeigte, je rückfichtelofer und erfolgreicher 
er bemüht war, die füritliche Gewalt zu Ihwäden, die dod) allein 
no im Stande gewejen wäre, die Kräfte des Landes zur Wahr: 
nehmung, feiner wichtigften Lebensintereffen zufammenzuhalten und 
zu verwerthen. So jteht man bei der Vetrahtung der Gefdjichte 
Kurlands unter dem peinlichen und betrübenden Eindrud einer nur 
felten unterbrodhenen retrograden Entwidelung, die folgereht mit 
der Selbftauflöfung endet. Auch der Sohn des Kandes wird dieje 
Empfindung theilen. Aber wie die Geidhichte feiner Heimat aud, 
verlaufen it, er wird ihr, weil fie diefe it, das gefleigerte 
Intereife entgegenbringen, das eben die Licbe zur Heimat im 
ihm erwedt, und jo wird er aud dem Verf. Danf willen für 
feine mühevolle gewiiienhafte Arbeit, die auf dem Grunde der- 
ielden Gefinnung erwachien ift. 

Die herzoglice Zeit Kurlands ift ein in fi völlig ab 
geichloffenes, jpezielles Gebiet der Geicjichte unjerer Oftfeeprovinzen. 
Id defenne, daf mir die bejonderen Nenntnifie fehlen, die ich 
nothwendig befügen mühe, um eine eingehende fritifche Würdigung 
der vorfiegenden Arbeit zu verfuchen und id beichränte mich Daher 
auf einige VBermerfungen allgemeiner Natur. Nicht geradezu 
einen Mangel, aber eine Eigenart diefer Arbeit möchte id) hervor 


















176 Seraphim’s livl. Geichichte. 


heben: Der Verf. giebt nur politiiche Geichichte. Ta ill es denn 
ganz außerordentlich zu bedanern, das ein Fulturhifteriiches Kapitel, 
zu dem der Stoff jchon gejammelt war, aus äuferen runden 
nicht mehr aufgenommen werden fonnte. Mir fcheint die Anlage 
der Arbeit ein foldhes ergänzendeo Fulturhifteriiches Napitel geradezu 
zu fordern, jowohl im Intereffe der Darjtellung als für das Ver- 
ftändnif; der geichilderten Zeit. Ich gebe der Vermuthung Raum, 
daf der Verf. abjichtlich jedes Eingehen auf die Agrar: und fonitigen 
wirthichaftlichen Verhältnifie, auf Handel und Wandel an Edel: 
böfen und in den Städten, auf die literäriihen und Bildungs: 
verhäftniffe, ja jelbft auf die Perfönlichfeit und das Hofleben der 
ten vermieden hat, um ihre Schilderung für jenes leider in 
Fortfall gerathene kulturhiftoriiche Kapitel aufzufparen und Wieder: 
holungen zu vermeiden. Co geitaltet fid) das Wild der Furländiichen 
Herzogsgeit vielleicht noch ungünftiger als fie es wirklich war. 
Es muß unter der wenig erfreufichen Oberfläche diefer eigen: 
unpolitüchen und eines höheren Strebens baren Adelsoligardie, 
wie fie in den Verfaflungshändeln hervortritt, doch auch ein anderer 
Seit vege gewejen fein, der nicht nur der Entwidelung fräftiger 
Individuafitäten förderlich war, fondern Nurland auch dem geiftigen 
Kontakt mit dem Miutterlande im Weiten offen bielt und jo dem 
demoralifivenden Einfluß des Polenthums ein ges Gegen 
gewicht bot. Die Veichränfung auf die rein politiiche Geidhichte 
hat zur Folge gehabt, dafs joldhe Gefichtspunfte in der Darjtellung 
ne geftreift find, deren Verückfichtigung aber den unerqwielichen 
Gefammteindrucd gemildert hätte. Vielleicht aber wäre cs doc) 
auch im Rahmen der vorliegenden Anordnung des Stoffes möglich) 
gewejen, wenigftens von den Perfönlichfeiten der Furländiichen 
zöge ein anfdaulicheres Wild zu geben. Celbit eine jo marfante 
tengeftalt wie Herzog Jakob wird dod) nur in den allgemeiniten 
Zügen gefgjildert. Seine innere und äußere ‘Politif fommen ja 
vollauf zur Geltung, der Verf. hat aber darauf verzichtet oder 
verzichten müffen, ihm den Lelern menfchlich nahe zu bringen. 
Gerade als Vejtandtheil einer umfalenden populären Darjtellung 
tonnte diefe Geidichte Nurlands meinem Empfinden nad) eher eine 
fürzere Behandlung der Verfaifungs: und diplomatiichen Geichichte, 
als diefen Verzicht auf die Ausfüllung der nur in Konturen ge- 











































Seraphim's lol. Gefcjichte. 177 


gebenen Bilder der feitenden Perfönlichfeiten vertragen. Dafür 
hat aber der Verf. die Möglichkeit gewonnen, fo mande Partieen 
feiner Heimathsgefchichte durd) die Ergebnifje eigener Forfchung 
zu ergängen, zu bereihern und zu berichtigen und darum darf 
jenes jubjektive Bedauern ber Werthichägung bes objektiven Gehalts 
feiner wiffenfchaftlihen Leiftung feinen Eintrag thun. 

In der Vorrede bemerkt Aug. Seraphim, da es ihm ihwer 
gefallen fei, Die Darftellung auf den Ton zu flimmen, ben der 
Verf. diejes Werkes, fein Bruder, anfchlägt, aber fein ff 
entbehre des großen Zuges, ber dem Autor unwillfürlid bie 
mohlthuende Wärme der Darjtellung ermöglide. In der That 
fühlt man fofort, dah hier eine andere fchriftitelleriihe Indivi- 
dualität waltet. Niemand wird ihrem Stil aber das Zeugniß 
verfagen, daß er dem Gegenftande angemeffen, würdig und durchaus 
entfpredjend it. 





A. Vergengrün. 
Schwerin, Februar 1896. 


re 


Drudfechler 
(bie fich in einige Exemplare eingefchlichen haben). 

©. 166, 3. 7 vu. I. Ehoblemwicz ft. Chobliewig. -- &. 170, 
3.16 ». 0. „worüber denn?“ mu in eigen ftatt in runden Alanımern fichen. 
3.16 0. u. langedropte ft. angedadjte. — S. 171, 3.3 0. 0. I. gegen 
. gegen des. 3. 1 0.0. wohlbeftallte ft. wolbejtellie. — 
174, 3.700. u. ift mach dem Worte „abgefehen“ ein Komma zu feyen, 
desgleichen 3. 9 v. u. nad) „es hätte”. 

















Neber den Begriff der Gntwidelung 
nad Herbert Spencer. 





65 gehört gewiß unter die jhwerjten Aufgaben des will 
Ichaftlichen Denkens, gute Definitionen für allgemeine Begı zu 
geben — und dad) it cs fo auferordentfich nothwvendig folche 
gute Definitionen zu befigen, weil ohne fie ein fruchtbarer Aus: 
taufch von Erfahrungen md Urteilen über allgemeine Fragen 
und fomit jegliche erfolgreiche Förderung derfelben unmöglich wird. 
Wie joll man fich über fompliivte Zufammenhänge verjtändigen, 
wenn man nicht jederzeit genau weil, welche Vorftellungen beim 
Gebrauch eines in einer Auseinanderfegung vorfommenden Terminus 
mit legterem zu verbinden find. Es ift daher vielleicht eine 
danfenswerthe Arbeit, fi gelegentlich genauer über foldhe im 
Vordergrunde des zeitgenöfliichen Denkens ftehenden Begriffe und 
über die Bedeutung zu inftruiren, welde ihnen in der Auffaffung 
ihrer hervorragenditen Vearbeiter und Vertreter zukommt. 

Die folgenden Zeilen Haben den Zwed ein Neferat darüber 
zu liefern, wie der bedeutende Philofoph Herbert Spencer den 











Aufgaben einer folhen Begriffsbeitimmung gerecht wird: es üft 
der Begriff der „Entwidelung“, von dem geredet werden foll, cin 


Wort, dem man bei der Lektüre moderner Werke auf Schritt und 
Tritt begegnet; nennt fi) dod) die Lehre, auf der die ganze 
moderne Naturauffaffung — man möchte jagen Weltanfhauung — 
beruht, „Entwidelungs:“ oder „Cvolutionstheorie.” 


Der Entwidelungsbegrifi nad) Spencer. 179 


Mit echt engliiher Umftändlichkeit, Gewifienhaftigfeit und 
Klarheit, an einer Fülle aus allen Gebieten des Lebens herbei: 
gezogenen Beifpielen verweilend, nie fi) übereilend, nie den 
Faden verlierend und mit unglaublichen pädagogiiden Heidi 
im Geifte des Lefers allmählich feine Gedanken aufbauend — 
geht der große Meijter bei der Lölung feiner Aufgabe zu Werk. 
Er giebt uns nicht gleid) eine fertige Definition, die dann nad): 
träglih anafytiid) behandelt, durd) Umfchreibung und Beiipiele 
erläutert wird — nein, feine Methode ift wie alles natürliche 
Erfahren -— ignthetifh: wir müflen uns durch eine 120 Drud: 
feiten umfajlende, zufammenhängende Gebanfenreihe durcharbeiten, 
bis alle nothwendigen Elemente des Begriffes zufammengetragen 
ud geordnet find — Bis die Formel für den Begriff in ihrer 
gedrungenen, alles Wefentlihe in fürzefter Form enthaltenden, 
abgerundeten Gejtalt vor uns dajtcht. Für den aufmerffamen 
Lejer bedeutet num aber auch und vergegenwärtigt jedes Wort 
den Inhalt einer ganzen Abhandlung, welcher fi auf's treuejte 
dem Gedächtnis einprägt. 

Diefe Formel und unjer Verftändniß dafür deinen bei der 
Lektüre organiid) zu wachen. Das weientlihite, augenfälligite 
Merkmal des Begriffes wird zunächft herangezogen, in einem Sı 
ausgejprohen und jeine durdgehende Gültigkeit bei allen Vor: 
gängen, die wir mit dem Worte Entwidehung bezeichnen, nad): 
gewiejen. Diefes Werfmal, diefer Sap ült gleihlam die 
Keimzelle, aus der das ganze fünftige Gedanfengebilde hervor: 
geht, fid) differenzirt und auswäcjt: bei der nun folgenden Ve: 
fprechung defielben jtellt fich die Notwendigkeit von Ergänzungen, 
Veichränfungen ober weiteren Zufäßen heraus, — am Schluf 
eines jeden neuen Kapitels ijt unfere Formel um einige wenige 
bedentungsvolle Worte gewacien, und jo geht es Schritt um 
Schritt fort, bis der Gedanke jeine volle Ausprägung in der 
Schluhformel erhalten hat. 

Wiffenihaftlihes Erkennen untericeidet fi von fonjtigem 
Wiffen und Erkennen, abgejehen von der größeren Strenge und 
Genauigkeit, darin, dal c3 fich dabei nicht um gelegentliches und 
ungeordnetes Crfajjen diefer oder jener Eingelthatfadhe handelt, 
fondern, daß es Exfenntniffe find, die typiiche Bedeutung haben; 





180 Der Entwidelungsbegriff nach Spencer, 


6 ijt ein Wifjen von Gefegen, von Allgemeinheiten. — — Auch 
bei der Gliederung und Nangabitufung der einzelnen wiffen- 
Ichaftlichen Disziplinen ift es ein enti—eidendes Merkmal, ob es 
fi) um mehr oder weniger umfaifende Allgemeinheiten handelt. 
Die oberjte Stelle nimmt in diefer Hinficht die Philofophie ein, 
fhlechthin als die Wiffenfhaft von den legten und umfaiendften 
Allgemeinheiten. Je tiefer eine Disciplin zu der Vetrahtung und 
Erforihung von Spezialitäten und Einzelthatfachen abjteigt, beito 
geringer ift ihr philofephifcher Giehaft (womit ihr, nebenbei gejagt, 
nichts von ihrem Werth und ihrer Würde genommen fein fol) 

je höher fie andererfeits zu den großen Gejehen alles Dajeins 
auffteigt, defto größer ift derjelbe. Ye mehr ein Schräftfteller, und 
fei es aud) ein Novellift, Romanichreiber, Feuilletonift — in feiner 
Darftellung bemüht ift, die Einzelthatfahen in Natur und Leben 
als von jenen allgemeinen Gefegen beherricht und getragen barzu: 
jtelfen, um fo mehr werden wir ihn einen Philofophen nennen 
können — umd fo it auch im täglichen Leben das Verhalten jedes 
einzelnen Menfchen mehr oder weniger „philofophiidh,” je nadhdem 
er ein zerftreutes Dajein führt oder feinen Erxlebniffen Zufammen- 
Hang zu geben weiß — ob er nad) Zufälligfeiten oder nad) 
been lebt und fein Leben anf—haut. 

In feinem Werke „Die Grundlagen der Philofophie” jucht 
nun Spencer zu den legten, allgemeinften, das gelammte Leben 
des Univerfums wie aud) aller Gingeleriftenzen in demfelben 
begerrfchenden Merkmalen vorzubringen und glaubt in der „Ent: 
wicelung“ und ihrem Gegenjtüd der „Auflöfung“ wie er 
diejelben im Folgenden erläutert — das oberjte Gefeh des Vers 
Hattens alles beifen gefunden zu Haben, was da entfteht, wird 
und vergeht. Die Gedichte jeder Einzeleriftenz, jedes Dinges — 
ift ein Verlauf, der mit feiner Entjtehung anhebt und dann nad 
fürgerev oder längerer Dauer mit feinem Vergehen abichlieht. 
Das ift eine Wahrheit von der größten Allgemeinheit — fo fchr, 
baf fie fait trivial ericheint! 

Was geht denn num aber eigentlid vor fi, wenn ein Ding 
entjteht? In einer eingehenden Prüfung diefer Frage zeigt 
uns Spencer, dah ein ing, jei cs ein Lebewelen oder gehöre 
es dem Neid) der anorganiichen Dtaterie an, nur infofern entiteht, 











Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 181 


als jeine bereits vorhandenen Beftandtheile, die ehedem zeritreut 
und aufgelöjt in der Natur gegenwärtig waren, räumlich zu einer 
engeren Gruppirung zufammentreten, wobei fie einen Theil ihrer 
relativen Bewegung einbüßen; denn cs fönnen Beftandtheile nicht 
zu einem Ganzen fich vereinigen, ohne etwas von ihrer beziehent- 
fihen Bewegung zu verlieren. 

Somit it das erite allgemeine Merkmal der Entftehung 
ober beffer Entwidelung von Etwas gefunden; Spencer faht cs 
in die vorläufige furze Formel zufammen: Integration des Ctoffes 
und damit verbundene Zerfireuung der Vervegung. 

Der der Entwicelung entgegenarbeitende Prozeß der Auf: 
löjung befteht hingegen in einer Abforption von Vewegung mit 
begleitender TDisintegration des Stoffes (die Worte Integration, 
Tisintegration bedeuten, das erftere: Vereinigung zu einem Ganzen, 
das legtere: Aufhebung des Zufammenhanges. Cs fünnen 
vereinigte Theile nicht anders getrennt werden, als duch Mit- 
teilung von Bewegung, daher geht, wie geiagt, bie Auflöjung 
unter Abforption von Bewegung vor fic. 

Die beiden Prozeffe jtellen die Gefdhichte jeber wahrnehm- 
baren Exiftenz in ihrer einfachften Form dar; denn jede Ner- 
änderung, die irgend ein Ding erleidet, ijt immer ein Fortichreiten 
in der einen oder der anderen Nichtung. Alle Dinge wachen 
oder zerfallen, alle Dinge nehmen an Maffe zu oder fchwinden 
dahin, alle nehmen Bewegung, jei es als Wärme oder in anderen 
Formen, auf ober theifen jolde anderen Körpern mit: Furz, jede 
Andersvertheilung des Stoffes oder der Bewegung in einem 
förperlichen Aggregat ift entweber ein Fortichreiten zur Integration 
oder Disintegration, — in der Entwidelung oder in der Auf: 
löfung. Dabei ijt nochmals bejonders in’s Auge zu fallen, dah 
die Integration des Stoffes immer mit Zerftreuung der Bewegung 
verbunden it md umgefehrt die Disintegration des Stoffes mit 
Aufnahme von Berregung. Wo fid Stoff anhäuft, gelangt er 
zu einer relativen Hude: Verwegung wird abgegeben; — durd) 
Vittheitung und Aufnahme von Bewegung wird der Stoff auf: 
geitört, bie Teile eines Aggregats werden verfprengt: — Wenn 
ein Körper beijpielsweile Wärme, d. i. Bewegung, abgiebt, fo 
erjtarrt er, feine Theile lagern fi dichter an einander, er wird 





12 Der Entwicelungsbegriff nad) Spencer. 


integrirt, wenn er dagegen Wärme aufnimmt, fo beginnt damit 
fein Auflöfungsprogeß (alle Verwefung verläuft unter dem Ein- 
fuß; der Wärme fcpneller) — der Körper nimmt durd) die Wärme 
an Volumen zu, feine Theilden rüden von einander ab, bei 
zunehmender Wärme verlieren fie immer mehr ihren feiten 
Zufammenhang, —- derfelbe wird im flüffigen Zuftande ganz labil 
und fhlichlih it im gasförmigen Zuftande die Auflöfung voll: 
zogen, die Theile find gänzlic) veriprengt. 

Die beiden Grundprogefie der Entwidelung und Auflöfung 
gehen an allen Gritenzen jtets gleichzeitig und neben einander 
vor fid); feiner von ihnen fommt im ganzen Verlauf der Geichichte 
einer wahrnehmbaren Griftenz je zum Stillftande. Im eriten 
Abjchnitt einer jolden Geidjichte Herricht im Ganzen die Juter 
gration vor, das Individuum wächjt, dann pflegt ein Abjchnitt 
zu folgen, in welchem relatives Gleichgewicht ift, der legte Ab: 
fehnitt ift durch ein Ueberwiegen ber Disintegration bis zur 
gänzliien Auflöfung gefennzeichnet. In feinem Nugenblic 
jedoch Halten fich Zunahme und Abnahme die Wange, oder nehmen 
fie aud) nur ein Fonftantes Verhäftnif; zu einander an, fondern, 
wie der Nhythmus das allgemeine Gefeg aller Bewegung ift, To ift 
auc) Hier ein ewigeo Schwanfen, ein Steigen und Zinfen ber 
gegen einander arbeitenden Prozeife vorhanden. 

In der bisher gefundenen Formel: Integration des Stoffes 
mit begleitender Zerftreuung ber VBeregung it das. allge: 
meinjte Merkmal der Entwicelung erfi eö giebt feinen Ent: 
wicelungsvorgang, bei weldhem diejes Merkmal fehlte. Wenn- 
gleich 5 jedoch, Entwidelungsprogefie giebt, die außer demfelben 
nichts aufuweifen haben — wie z.B. die Ablagerung eines 
Sediments am Grunde einer Flüffigfeit, -— jo it der Be 
griff damit dod) noch nicht volljtändig erichöpft, denn in den 
allerwenigiten Fällen handelt es fid) um eine derartige „einfache 
Entwidelung,“ fondern fait immer ijt die Entwidelung, wo fie 
aud) auftreten mag, das, was Spencer „zufammengejegte Ent: 
widelung“ nennt. Bevor baher Spencer dazu jchreitet, an einer 
wedmähig geordneten Neihe von Veiipielen das oben gefenn- 
zeichnete Gefeg zu erläutern und fein durchgehendes Zutreifen 
nachguweifen — jucht er, ohne feine Formel vorläufig nad) durd) 






















Der Entwidelngsbegriff nah Spencer. 183 


weitere Zufäge zu vervolftändigen, andeutungsweile eine Bor 
ftellung von der zufammengefepten Entwidelung zu geben, um 
den Eefer dadurd für das Verftändnif; des Folgenden beifer zu 
befähigen. Um cs Furz zu fagen: das Merfmal zufanmengefegter 
Entwidelung it, dai; ein materielles Aggregat während feines 
Aufbaues —- feiner Integration nicht zu einem zufälligen, 
innerlich unterichiedslofen Atlumpen geballt wird, fondern da cs 
dabei eine ausgeiprodene innere Gliederung erfährt. In Spencer's 
Spradje rüctüberjegt heißt das: neben der primären Jntegration 
gehen jefundäre Andersvertheilungen des Stoffes vor fic. 

Die Bedingungen für eine bejonders reiche Entfaltung folder 
iefundärer Glieherungen während des allgemein fortichreitenden 
Wahsthumes jind vorzüglid) in den organiihen Körpern gegeben 
und zwar fieht Spencer diefelden in folgenden Cigenichaften: 

Zunächit darf die Entwidelung nicht jo ichnell vor fid) gehen, 
dab für die mebenbeilaufenden, jelumdären Progeife feine Zeit 
übrig bleibt. Ferner: das Aggregat darf bei feiner Integration 
nicht zu viel Bewegung zeritreuen, fondern muß möglichjt viel 
davon zurüdbehalten, weil die zurücgehaltene Bewegung das 
Zuftandefommen fekundärer Andersvertheilungen erleichtert. Spencer 
führt zum Verftändnih diefer im Webrigen genügend auf Er 
fahrungen gejtügten Ihatfadhe ein bejonders einfaches und inftruf 
tives Beifpiel an: — wenn wir in ein Gefäß voll Getreideförner 
etwa eine Vleitugel thun, jo hat die Echwerfraft jofort das Be- 
fireben, in biefem Lörperfihhen Aggregat eine Andersvertheilung 
hervorzurufen, infofern die Nugel unter ihrem Einfluß die Tendenz 
hat nad) unten zu finfen; -— allein der Widerftand der ruhenden 
Körner it genügend, um die Vleifugel in ihrer Anfangstage in 
der oberei hit zu erhalten. Schütteln wir aber das Gefäß, 
jo wird diefe Widerftandskraft Herabgefegt: die Iabil gewordenen 
Körner fönnen die fefundäre Undersvertheilung nicht mehr hindern, 
die Vleifugel finft allmählid zu Voden. Co würde uns zu 
weit führen, wollten wir diefe Thatjache nad) genauer ver- 
folgen — e8 genüge uns, im Auge zu behalten, daf; in einem 
Angregat, deiien Theile in Vewegung begriffen find, did): 
ihnittlich ein geringerer Widerftand gegen Anderovertheilungen 
vorhanden ill. 























184 Der Entwidelungsbegrift nad Spencer. 


&s find mın befannte Thatiacdhen der PHufit und Chemie, 
dah die flühfigen Körper mehr Vofefularbewegung enthalten als 
die feiten (dev flüffige Zuftand tritt ja aud durd) Zufuhr von 
Wärme, d. i. Molekularbewegung ein) — und daß ferner diejenigen 
Stoffe eine größere Molefularmärme und damit zugleich aud) 
eine größere Zerfeplichteit befigen, deren demifche Zufammen- 
fegung eine Tompfizirtere ift. 

Die Nörper der organischen Wefen zeichnen fi aber gerade 
durch dieje Eigenjchaften aus: fie beftchen vorzugsweile aus den 
Kohlen: und Stidjtoffverbindungen, die befanntlic von ber fom- 
pligirteften —hemifchen Struktur find, und find reich an beweglichen 
flüffigen Veftandtheilen, -- und daf; es gerade der Gehalt an Mole- 
fularbewwegung ift, der den Organismen bie große Entwidelungs- 
fähigfeit giebt, dafür jpricht auffallend der Umftand, welde Nolle 
im Leben der Pilanzen und Thiere Wafler und Sonnenwärme 
fpielen. — Aber nod ein anderes ift es, was die organijchen 
Körper auszeichnet und fie zu einer hodgradigen Entwidelung 
geeignet macht. Diefes läht fid) am beften an einem Beifpiel 
ausführen: -— Wenn heiße Dämpfe fondenfirt werden und fid) 
zue Flüffigfeit integriven, jo wird dabei noch eine gewaltige Menge 
Molefularbewegung zurüdgehaften. Es finden bdementipredend 
in Flüffigfeiten von velativ hoher Temperatur auch energüde 
Andersvertheilungen in Form von inneren Strömungen jtatt. 
Allein fie werben nicht wahrgenommen, jo raid) und umfangreic) 
fie fein mögen, weil fie in der Flüffigfeit feine bleibende Spur 
binterlaffen. „Bei der Annäherung an den fejten Zuftand gelangen 
wir anf einen Punkt, wo der Stoff plajliid wird, mo Anders 
vertheilungen immer noch), aber viel weniger leicht vorgenommen 
werden fünnen und wo diefelben eben der geringen Veränderlichfeit 
wegen, eine gewifie Dauer erreichen, eine Dauer jedod, die nur 
dann vollftändig gefichert ift, wenn weitere Verfeftigung jede 
fernere Anderovertheilung unmöglich macht.” 

Die förperlihen Vejtandtheile der organischen Wejen find 
num im höcjten Grade plaftiich mit ihrer für dieien wet jo 
fehr geeigneten Vereinigung feiter, Geftalt und Dauer verleijender 
und fabiler, eine groie Menge innerer Bewegung enthaltender 
Vejtandiheile, die in ihrem Zufammenmirten die große Fülle 








Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 185 


langfam vor fich gehender, fich genügend verfeitigender, jefundärer 
Andersvertheifungen geitattet. 

Nachdem nun in allgemeinen Umriffen der Begriff der 
Entwidelung gefenngeidhnet ift und hervorgehoben, dal die Ent- 
mwidelung mit Ausnahme der allereinfachiten Prozeiie ftets zweierlei 
umfaßt, nämlich erftens: Verdichtung, feitere Verknüpfung, Anı 
fammfung, mit einem Wort Integration des Stoffes: — Wadio- 
tum, umd zweitens: innere Gliederung und Anordnung der Theile 
des fid) entwidelnden Aggregats: — Organifation, geht Spencer 
jur genaueren inductiven Behandlung der erjten Seite des Ent 
widelungsgefeges über, indem cr uns an einem überaus veicy- 
baltigen Material von Erfahrungsthatfadhen zeigt, da das von 
ihm ausgefprochene Gejeg bei allen Entjtehungs: nnd Entwidelungs- 
progejien feine Bejtätigung findet, feien diefe num Fosmiidher oder 
terrejtrifcher, anorganifcher, organicher oder auch überorganifcher 
Natur (mit feßterem Terminus wird die Welt geiftigen Lebens 
bezeichnet). 

Zunädjft find es die Thatfahen der Ajtronomie, welde «6 
binfänglid wahrideinlih machen, daß die jog. Kant-Laplace'ihe 
Nebular-öypotheie Hecht hat, welche die Entjtehung der Himmels 
förper mit ihren Trabanten aus Konzentrationen Lofer vertheilter 
Nebelmafjen erklärt. Aber abgeiehen von diefer Hmpotheie 
liefert auch das Sonnenipftem Beweie genug: die Sonne integrirt 
fortwährend Stoff durd Aufnahme der auf fie in Diajlen ein- 
ftürgenden Vieteore — ein Schidjal, dem aud) die Planeten und 
die um die Sonne freijenden Stometen langiam entgegengehen. 
Dabei wird unausgejept eine große Dlenge Bewegung in Korn 
von Wärme ausgeitwahlt: die nothwendige Vegleiteriheinung der 
fortdauernden Jntegration der Sonnenmajle. 

Es folgen Beilpiele aus dem Gebiet ber terreftrii—hen Er- 
iheinungen: die Erde fann nod) zur Zeit, wo fie fh an ihrer 
Oberfläche unter die Nothgluthhige abgefühlt hatte, nicht die 
ungeheuren Wajlermaffen auf ihrer Oberfläche gehabt haben, die 
beute drei Fünftel derfelben beberten, fondern diefe müflen damals 
in Form heißer Dämpfe der Atmoiphäre angehört haben: erit 
mit weiterer Abkühlung der Erde find die Waflergafe zur Flüffigfeit 
integrirt worden, was fie nod) in viel größerem Mafjtabe wären, 








156 Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 


wenn bier nicht der Integration ein beftändiger Auflöfungsprozeh 
entgegenarbeiten würde, infofern das Waifer bejtändig durd) Auf: 
nahme von Sonnenftrahlen wieder verdunftet. — 

Die Thatfachen der Geologie ipredhen aud) für eine feit der 
Entjtehung der Erde begonnene und eben nod) fortdauernde jlelige 
Integration derjelben, — mas aud mit den neueften modernen 
Erdbebentheorien übereinftimmt: die Erde wird im Inneren weiter 
fontrahirt, —— die hart gewordene, unelajtiiche oberfte Schicht folgt, 
wird faltig und brüchig — bildet dadurch Tberflächenerhöhungen 
heraus amd ruft beim Verjten Erfhütterungen hervor. Nebenbei 
laufen an der Erdoberfläche unzählige lofale Integrationen, aber 
aud) Auflöfungsprojeije einher: hier wird Yand abgejpült, ein 
Felfen wird abgewaidhen, dort bilden Ablagerungen des Vieeres 
neues Feitland. 

Gehen wir zum organifhen Leben über, deifen Schauplag 
die Oberfläche der Erde ift, fo fehen wir, wie jede Pflanze 
wejentlicd dadurd wäclt, dab fi fie in fi vereinigt, die 
bisher gasförmig in der Atmoiphäre vertheilt waren; denn die 
Ernährung geihieht ja vorzugsweile durch) die Blätter und nur 
zum weit geringeren Theile durd die Wurzeln. — Die Thiere 
unterhalten ihr Wachstyum auch theilweife duch Aufnahme von Gajen, 
aber mehr nod durch Stoffe, die bereits duch Pilanzen oder 
andere Thiere integrirt waren. 

Während des allgemeinen Wachsthums von der Zelle, die 
im Gewebe des Gieritodes eingebettet ift, bis zum ausgewachlenen 
Individunm — gehen ununterbrochen jehmdäre Entwidelungoprogefle 
vor fd. Die Entwidelung eines jeden Gliedes, eines jeden 
Drgans, einer jeden Zelle ift eine folde jefundäre, Iofale Inter 
gration. Das Auswachien und die Lerfeftigung der einzelnen 
Teile geht mit forticjreitendem Alter immer weiter vor fi) (man 
denfe nur an die Vorgänge am menfchlihen Schädel) -— Knorpel 
werden zu Stnochen, unzufammenhängende Stnochen wachjen zu- 
jammen das ganze Gewebe wird dichter und zäher. Dürfen 
wir uns num aud) der Hypotheje bedienen, welde in den niederen 
und höheren Arten und Gattungen der Organismen eine Ent: 
wietelungsreihe erbliht -—- der befannten Darwinfhen Hypotheie, — 
jo fünnen wir in auffteigender Richtung diefer Neide eine Fülle 








Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 187 


von fortichreitenden Integrationen erfennen; ic) erfaube mir hierfür 
einige Veifpiele mit Spencer’s eigenen Worten anzuführen: „Won 
fongitubinaler Integration liefert uns das Unterreid) der Annufojen 
(Gliederthiere) eine Fülle von Beipielen. Die niedrigeren Formen 
deifelben, wie die Würmer und die Taufendfühler, zeichnen jich 
meiftens durch Die große Anzahl der fie zufammenfegenden Segmente 
aus; diefelbe fan in einigen Fällen bis auf mehrere Hundert 
anfteigen. Im den höheren Abtheilungen jedoch, bei den ftruftazeen, 
Infetten und Spinnen, jehen wir dieie Zahl auf 13 und jelbjt 
noch weniger reduziet, während in Verbindung mit diefer Neduftion 
eine Verfürzung oder Integration des ganzen Nörpers auftritt, 
die ihr Extrem in ber Strabbe und Spinne erreicht. Die Be- 
deutung diefer Gegenfäge für die allgemeine Lehre von der Ent: 
widelung wird erit Mar, wenn man berücjichtigt, daf diejelben 
genau den Verfdiedengeiten entiprechen, welde während der Ent: 
widelung eines einzelnen Glieberthieres zur Erideimung fommen. 
Beim Hummer bilden der Kopf und der Brufttheil zuianmen eine 
feite Kapfel, die as der Verichmelzung einer Anzahl von Segmenten 
hervorging, welche im Embryo gefondert erfennbar waren. 

Ebenjo finden wir beim Schmetterling Segmente, die jo viel 
inniger mit einander verbunden find, als fie es bei der Naupe 
waren, daf; fie, zum Theil wenigitens, nicht mehr von einander zu 
unterfheiden find. Aud) die Wirbelthiere bieten in der Stufen 
folge ihrer verichieden hoc ftehenden tlaffen ähnliche Beijpiele 
einer Tongitubinafen Verfhmelzung. Bei den meijten Fiihen und 
bei denjenigen Neptilien, die feine Gliedinahen befigen, verwachien 
die Wirbel nirgends mit einander. Bei den meiften Säugethieren 
und Vögeln dagegen verfchmilzt eine wechfelnde Anzahl von Wirbeln, 
um das Kreuzbein zu bilden, und bei den Höheren Affen und beim 
Menschen verlieren aud die Schwanzwirbel ihre gefonderte Indi- 
vidualität und gehen in ein Kufutsbein über. Das, was wir als 
transverjale Integration unterjcheiden, findet unter den Glieder: 
tieren feine bejte Betätigung in der Entwidelung des Nerven: 
foitems. Abgeiehen von feinen im hödhiten Grade rücgebildeten 
Formen, welche feine deutlichen Ganglien erkennen laffen, it 
beobachtet worden, daß die niedrigeren Oliederthiere und überein: 
itimmend damit die Zarven der höheren, durchgängig eine doppelte 











158 Der Entwidelungsbegriff nah Spencer. 


Ganglienfette befigen, bie von einem Ende des Mörpers zum 
andern verläuft; bei den vollfommener ausgebildeten Slieberthieren 
dagegen verichmilzt dieje doppelte Sanglienfette zu einer einfachen. 
Newport hat den Vorgang diefer Konzentration beidrieben, wie 
ex bei den Injeften vorkommt, und Nathfe hat dafjelbe für die 
Neujtazeen fejtgeftellt. In den frühejten Lebensjtadien von 
Astacus Auviatilis (dem gemeinen Fluffrebs) it für jeden Ring 
des Körpers ein Paar gefonderter Ganglien vorhanden. Won den 
vierzehn Paaren, die dem Kopf und Brufttheit zugehören, vers 
fcmelgen die drei vor dem Wunde gelegenen Paare in eine 
Diaffe und bilden das Gehirn oder das Kopfganglion. Unterdeffen 
vereinigen fid, von den übrigen die vorderften jehs Paare jeweils 
ebenfalls in der Vlittellinie, während die andern mehr oder weniger 
getrennt bleiben. Won biefen jo entitandenen jechs Doppel: 
ganglien verwadjien die vorderen vier zu einer Majle, die hinteren 
zwei ebenfalls, und bann verichmelzen diefe beiden Maffen in eine 
einzige. Hier jehen wir aljo longitubinale und transverjale Inte: 
gration gleichzeitig vor fi gehen, und bei den Höchjten Kruftazeen 
ichreiten beide noch weiter fort.” 

Zu den Integrationen der organifchen Melt muß man aud) 
die Mechielbegiehungen rechnen, in welde die Individuen derjelden 
Art oder aber aud) verfdiedener Arten zu einander treten und 
dadurd) in gegenfeitige Abhängigkeit gerathen. 

„Mehr oder weniger Neigung zu gefellfchaftliher Vereinigung 
ift allgemein unter den Thieren verbreitet, und wo fie jtarf aus: 
geprägt üit, da bejteht neben der einfaden Heerdenbildung nod 
ein gewiffer Grad von innigerer Verbindung. Geicöpfe, die in 
Nudeln jagen, Schildwachen ausitellen oder von Anführern geleitet 
werden, jtellen durch gemeinicaftliches Handeln teihveife ver: 
ichmolzene Körperichaften dar. Bei polygamiid) lebenden Säuge 
thieren und Wögeln geht diele gegenfeitige Abhängigkeit nad, 
weiter, und die gefellig lebenden Infekten zeigen uns Gefellichaften 
von Jndividuen von noc) feiterem Zufammenhang; einige derjelben 
haben ja die Vereinigung jo weit ausgebildet, dal; die Individuen 
vereinzelt garnicht mehr leben fönnen.“ 

Aber auch zwiihen Organismen verichiedener Gattung finden 
folde Integrationen jtatt. Pilanzen und Thiere, Thiere ver: 


Der Entwidelungsbegriff nach Spencer. 189 


ichiedener Gattung, find in ihren Eriftengbedingungen auf einander 
angewiejen, und mit der höchiten Entwidelung des Nultur- 
menschen hat dieje foziale Integration aud ihren Gipfelpmft 
erreicht. 

Mit der legten Betrachtung find wir jchon theiweile aus 
dem Gebiet des Urganifhen heraus und haben uns auf das 
nächjthöhere Gebiet des „Ueberorganüichen“, wie Spencer es nennt, 
anf das Gebiet des Geiftigen begeben. Die Formel: Integration 
des Stoffes mit gleichzeitiger Zerftörung von Bewegung darf nun 
hier nicht mehr unmittelbar angewandt werden. Allein durch den 
engen Zufammenhang, in dem die geiltige Entwidetung mit der 
pbyfiichen fteht, ift cs bedingt, daf die materiellen Vorgänge in 
den geiftigen ihr Wideripiel finden. Wie wir aus dem veränderten 
Abdrud im Siegehvads eine Veränderung des Stempels erfennen, 
fo fchen wir in den Integrationen der fid) fortentwidelnden 
Sprache, Wiilenihaft und Kunft gewiile Integrationen ber fi) 
fortentwidelnben materiellen Veichaffenheit des Menfchen und der 
Sefellichaft fih abipielen. 

Es ift ein Verfahren, das man in den Sprachen aller 
Völfer antrifft, — daß zur Bezeichnung ungewöhnliderer Gegen: 
ftände neue Wörter durd) Jufammenfegung von bereits gebräuchlichen 
gebildet werden, welche die Merkmale des zu Bezeichnenden be- 
ihreiben follen. Diefe Integration pflegt dann fpäter nad) 
weiter vorzufchreiten: Die Wörter fchmelgen zur Untrennbarfeit 
zulammen, fchliehlih find die Vejtandtheile nicht mehr herauszı: 
erfennen. Je unentwidelter eine Sprade it, deito weniger feit 
und bejtändig pflegt bieje Integration zu fein, was man haupt: 
fählih aus der leichteren Trennbarfeit der zulanmengejeßten 
Wörter und aus der großen Anzahl von Eitben erfennen fann 
bei Wörtern, die bejtändig vortommende Dinge und Handlungen bes 
zeichnen. Der Tag heißt in der Paroneefpradhe 
der Teufel tsaheekshkakovraiwah. Die Wö 











Auge, 
Hund, Vogen find mindeitens breifilbig — die einfadren Zahl- 
wörter find zwei: bis fünffilbig, in der Nifaveriprad)e bis fieben: 
filbig. Dei den modernen Nulturfpradhen läht cs fih dagegen 
leicht verfolgen, wie jtets die Tendenz zur Verichmelzung, er: 
fürzung und weiteren Integration bejteht, wie die alten Formen 


190 Der Entwidehrngsbegriff nad Spencer. 


immer jilbenreicher find als die neuen; — am meilten integrirt 
ericheinen naturgemäß die am hänfigften angewandten Auodrüde: 
„Good bye wird aus .„Good be with you“, ftatt „ic wünihe 
Ihnen einen guten Morgen“ fagt man „.moyn 

Es findet hier eine beitändige Verdichtung des geiftigen 
Inpalts ftatt; eine längere Gedanfenreihe, eine reihlichere Anzahl 
degrifflicher Merkmale wird in einen möglicht funzen Ipradhlichen 
Ausdrud eingefchloifen; Anfammlung, Verdichtung, Verfeitigung, 
das ift and) hier der Vorgang wie bei den materiellen Integrationen. 

Auch im Sapban jhreiten die Aulturiprachen in der Richtung 
der Integration fort: die Nede wird zufammenhängender, die 
Sprachperioden werden fefter gefügt, die Wörter im Sage durch Prü- 
pofitionen, lerionsfilben und Gonjunetionen in engere Beziehung 
zu einander gebracht. Wenn man die dinefüiche Sprache in diefer Be 
jiehung mit den europäifchen vergleicht, fo hritt die ftärfere Zufammen- 
Dangslofigfeit der erfteren deutlich hervor. Spencer harafterifirt das 
in folgenden Veifpielen: Wenn wir fatt zu jagen: ich gehe nad) 
Yonbon, Feigen fonmen aus der Türkei, die Sonne fdjeint durch) 
die Luft, uns jo ausdrüdten: id) gehe Ziel London, Feigen fommen 
Uriprung Türkei, die Sonne jcheint Durchgang Luft, jo würden 
wir ungefähr nad) Art der Chinefen ipreden. — Doc) verlaflen 
wir das Gebiet des Spradlichen und wenden wir uns der Ent 
wickelung der Wiffenfchaften zu. Auch hier überzeugt uns ein 
flüchtiger VBlid, daf der Fortichritt im Wefentlichen in einer jtets 
weitergreifenden Verfnüpfung von Einzelerfahrungen zu Sejepen 
von immer größerer Allgemeinheit und von Sefegen zu Spftemen 
von fiets umfaflenderem Umfang befteht. Die Milfenfehaft in 
ihren eriten Stadien beginnt mit der Klaffifizirung von Natur: 
objeften. Schon das Volk vollzieht hier die erite grobe Worarbeit, 
indem cs die verjdhiedenen Naturreihe als da find: Steine, 
Pflanzen, Thiere 2c. ohne Zuhülfenahme eines wifjenfchaftlichen 
Verfahrens untericheiden lernt und innerhalb diejer umfaffenden 
Naturreiche die Cinzelobjefte in eine Fülle von Unterabtfeilungen 
äufammenordnet und jomit in jeinem Geifte integrirt. Durch) die 
Wijfenihaft werden die dermahen vom Volfe geihaffenen, nod) 
größtentheils verworrenen, unzulänglichen und rohen Zufanmen 
hänge vollfommener, auf Grund geeigneterer Merkmale und jhärferer 











Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 19 


Beobachtung fiherer zulammengeordnet und fomit nad) inniger und 
beifer integrirt. Deutlicher noch Lüht fi) diefer Prozeß in jenen 
Niffenfhaften verfolgen, die fih mit der Ermittelung der Gelehe 
des Gefchehens beichäftigen. Wir wählen uns als Veihpiel den 
Entwidelungsgang, den die Phyfit genommen hat: — Zuallererit 
find es Naturgefege von verhältnismäßig fpesiellem Charakter und 
geringerer Allgemeinheit, die alfo eine verhältnism geringe 
Summe von Einzelerfheinungen integriren, die von den erjten 
Naturforichern ermittelt werden, jo 5. B. das Hebelgejeb, das 
nad Archimedes benannte Gefep über den Gewichtoverlujt von 
feiten Körpern in flüjigen Medien x. 2. MWeld) einen Fort 
ihritt in der wijfenichaftlihen Integration bezeichnet c9, wenn ein 
Newton findet, bafz bie von Galilei beobadyteten Kallgeiege jchwerer 
Körper an der Erdoberfläche und die von Kepler beobachteten 
Gelege der Planetenbewegungen um die Sonne jowie überhaupt 
der Bewegungen jämmtlicher Seflirne am Firmament identiüd) find 
und in die eine furze Formel des Gravitationsgefetes zufammenz 
gefaht werben fünnen. 

Ganze Atyeilungen der Phyfit, wie Schall: und Lichtlehre 
einerfeits und die Lehre von der Elektrizität und vom Magnetismus 
andererfeits, ift «8 gelungen unter gemeinjame Gefichtspunfte zu 
bringen, und die jüngften Verfuche des zum Schaden der willen: 
ihaftlichen Welt zu früh veritorbenen Phyfifers Herb find ein 
erheblicher Schritt zur Integration diefer beiden bereits in ber 
oben angegebenen Weije zujammengeordneten Gruppen, da Her 
«8 fehr wahricheinlich gemacht hat, da die vier genannten Ab: 
theilungen der Phyfif in einer allgemeinen Wellentchre fi werden 
jufammenfajjen lajfen. 

Wer einen genaueren Cinblid in die außerordentlich geift 
vollen wiljenidaftlihien Arbeiten unfereo Landsmannes Yicolai 
Baron Dellingshaufen genommen hat, der wird daraus erfehen 
haben, im wie folgerichtiger und Fühner Weile der Verfafier 
derfelben dem Ideale einer fegten und abjchliehenden Integration 
der gejammten anorganiicen Naturichre nadjitrebt: nicht nur 
Akufit, Optit, Cfektrizitätslehre und Magnetismus, jondern aud) 
die Gefege der Medanif, die Erklärung der Gravitation und 











192 Der Entwictelungsbegrifi nach Spencer. 


der hemifchen Vorgänge werden in einer einheitlichen, befonders 
gehandhabten Wellenfehre vereinigt. 

„Und wenn,“ mit diefen Worten fchließt Spencer fein 
Rapitel, „das möglid) ift, was wir hier unter Philofophie veritchen, 
fo muß fi fchliehlich eine univerfafe Integration aller Wifjens 
fchaften erreichen laffen.“ -— Mir Finnen darüber nicht im Zweifel 
fein, daß Spencer das glaubt und daß er mit der Feitftellung des 
univerfalen Entwidelungs: und Auflöfungsgefepes diefes Ziel im 
Wefentlichen gewonnen zu Haben meint, indem er darin bie all: 
gemeinften harafteriftiichen Merkmale aller Vorgänge in der Welt 
der Eriheinungen und des menfehlicen Erfahrens zum Ausdrud 
gebracht hat. 

Zum Schluß diefer Reihe von Betrachtungen fei cs mir 
geitattet, Spencer jelbft noch einmal reden zu Iaflen: „Auch die 
induftriellen und änthetischen Nünfte liefern uns ebenjo jhlagende 
Veilpiele. Der Fortigritt von rohen, feinen und einfachen Wert: 
zeugen zu vollfonmenen, verwidelten und großen Mafdhinen ift 
ein Fortfehritt in der Integration. Unter den jogenannten 
mecjanifdjen Potenzen ift der Uebergang vom Hebel zum Nad an 
der Welle ein Uebergang von einem einfachen Agens zu einem aus 
mehreren einfachen zuiammengeiegten Agens. Und vergleichen wir 
das Nad an der Welle oder irgend eine der in früheren Zeiten 
gebräuchlichen Mafchinen mit den gegenwärtig verwendeten, fo 
fehen wir, dah in jeder von unferen Mafchinen mehrere von ben 
ujprünglihen Mafchinen zu einem Ganzen verbunden find. Ein 
moderner Apparat zum Spinnen oder Weben, zur Verfertigung 
von Strümpfen oder Spigen, enthält nicht blos einen Hebel, eine 
ichiefe Ebene, eine Schraube, ein Nad an der Welle, alle mit 
einander verbunden, fondern mehrere bderjelben find zu einem 
Ganzen integrirt. Ferner war in früheren Zeiten, wo die Nraft 
des Pferdes und des Menfchen fait allein in Anwendung kamen, 
das bewegende Agens nicht mit dem bewegten Geräth verbunden ; 
jest aber find in vielen Fällen beide in eins verichmolzen. Der 
Fenerraum md der Dampffeifel einer Lofomotive find mit der 
ganzen Mafchinerie in Verbindung gebracht, welche der Dampf in 
Bewegung feßt. Eine noch) ausgedehntere Integration ift in jeder 
Fabrit erreicht. Pier finden wir eine große Zahl Tompfizieter 





Ver Entwielungsbeguifi ne Spencer. 103 


Diaihinen, alle dur Triebitangen mit derjelben Tampfunidine 
verbunden, alle mit diefer zu einem qvohen Apparat vereinigt. 

Dan braucht bios die Vianerverzierungen der Ueanpter id 
Afgrier mit modernen hitoriichen Gemälden zu vergleichen, um 
ich den großen Zortihritt in der Einheit dev Nompofition, in der 
Unterordnung der Theile unter die dee des Ganzen flar zu 
madıen. Zolde alte Frestogemäfde find in der That aus einer 
Anzahl von Gemälden zuammengefegt, die nu in geringer gegen 
jeitiger Abhängigkeit ftehen. Die einzelnen Figuren, aus denen 
jede Gruppe beiteht, lajfen in ihren Stellungen nur wwolltennen 
und in ihrem Gefichtsausdrud ganz und garnicht die Beziehungen 
erfennen, die ziwiidhen ihnen obwalten, die einzeinen Girnppen 
fönnten, ohne den Zinn erheblich zu fören, von einander getrennt 
werden, und ber Dittelpunft, an den fid) das Danptintereffe fnipft 
und der alle Theile zulammenhatten foltte, üt oft in feiner Weile 
erfichtlich.  Dasjelbe Weien Fennzeichnet auch die gewirkten Tapeten 
des Mittelalters. Cs mag vielleicht eine Jagdizene darauf dar 
geteilt fein, die Menfchen, erde, Hunde, wilde Thiere, Wögel, 
Bäume, Blumen enthält, Alles vegeilos vertheilt, die lebendigen 
Gegenjtände mannigfaltig beihäftigt und zumeiit ohne dai; ertennbar 
wäre, Dal fie von ihrer gegenieitigen Nähe hraend eine Anna 
hätten. Im den Gemälden aber, die either erzeugt wurden, 
findet fich, To mangelpaft auch manche in dieher Dinficht noch find, 
doch ftets eine mehr oder weniger deutliche Zulammenordming, 
eine Sruppirung der Stellungen, des Anodruds, der Lichter und 
Farben, die daranf abzielt, das Semätde zu einem arganticdhen 
Ganzen zu verbinden, und der Erfolg, mit welchem did) eine 
Vannigfaltigfeit von Bertandtheifen eine einheitliche Wirtung her 
vorgebracht wird, gilt als weientliches Zenyniß für die erlangte 
Vollfommenbeit. 

In der Dinfit macht fih eine fortichreit 
noch mannigfaltigerer Weile geltend. Die einfache, mr aus 
wenigen Noten beiichende Cadenz, welche in den Oefüngen der 
Wilden in eintöniger Weile wiederholt wird, bildet jich bei 
gefitteten Völkern zu einer Inngen Neihe von veriihiedenen, zu 
einem Ganzen verbundenen mufifaliihen Zäpen aus, und jo voll 
kommen ijt die Integration, dah die Melodie nicht in der Witte 



























de ntegration in 








194 Der Entwidelungsbegrifi nad Spencer. 


abgebrochen oder ihrer Schlufmote beranbt werden Tann, ohne dafi 
ein peinliches Gefühl von Unvollftändigfeit in uns hervorgerufen 
würde. Wenn fich zu der Melodie eine Hal, eine Tenor- und 
eine Altftimme gefellen und wenn zu der Harmonie der verfchiedenen 
Stimmen noch eine Begleitung hinzugefügt wird, fo erfennen wir 
darin Integrationen einer andern Ordnung, welche ebenjallo all: 
mählich immer umfafiender werden. Und noch am eine Ctuf 
höher wird der Frogeh geführt, wenn die verichiedenen Coli, 
Nongertftüce, Chorgefänge und Orcheiterwirfungen zu dem großen 
Ganzen eines mufifafifchen Dramas vereinigt werden, deilen 
fünjtferifche Wollendung, um nochmalo daran zu erinnern, im 
hohem (ade von der Unterordmung der Eingehirfungen unter 
die Gejammtwirfung abhängt. 

Endlich erfennen wir auch in den Nünften der litterärtichen 
Darftellung, der erzählenden fewohl wie der dramatifchen, ähnliche 
Verhältniiie. Die Geihichten der früheren Zeiten, wie diejenigen, 
mit welchen die Märchenerzähler des Oftens noch heute ihre Zu 
hörer unterhalten, find aus aufeinanderfolgenden Vorfällen zulammen 
geieht, die nicht allein an fd) umnatürlich find, fondern and) jedes 
natürlichen Zufemmenhangs entbehren: es find mm ebenfo viele 
befondere Abentener, die ofme notwendige Folgerichtigfeit an 
einander gereiht winden. Xn einem guten Dichterwerf der Net: 
zeit dagegen werben bie Begebenheiten recht eigentlich durch die 
Charaktere der unter bejlimmten Dedingungen handelnden Perfonen 
herbeigeführt umd ihre Neihenfolge oder ihre Eigenthüimlichfeiten 
fönnen deshalb auch nicht nach Belieben abgeändert werden, ohne 
die Gefammtvirtung zu Ächädigen oder ganz zu vernichten. 
Ferner werden uns die Charaktere jelbit, die in früheren Dichtungen 
ihre betreffenden Nollen fpielen, ohne baf; erfichtlich wäre, wie 
üpre geifligen Verhältnifie dund) einander oder burd) die Begeben- 
heiten beitimmt werden, heutzutane jo dargeitellt, dafı fie durch 
moralifche Beziehungen zufammengehalten werden und gegenfeitige 
Wirtung und Gegemwirfung auf ihr Welen ausüben.” 

Wir daben uns überzeugen Fönnen, da die Entwictelung 
von ihrer weientfichiten Seite aus betrachtet ein Ucbergang ats 
einer weniger zufammenhängenden Form in eine mehr zuammen 
Hängende ift, welche durch Integration des Stofies zu Stande 

















Ver Entwidelumgsbeariff nach Spencer. 195 





aebracht wird. v Vorgang iit mit pholikaliicher Nothwendigfeit 
itets mit Jeritrenung von Bewegung verbunden; dadurd wird 
das fich integrirende Aggregat zu einem Ausgangspunkt 
von Wirkungen auf die Imgebnug, zu einem aftiven 
Zentrum, und diefe Wirkungen fteigern und vermehren fich mit 
fortichreitender Entwidelung des Aagregato. wiet über das 
Geieg der einfachen Entwidelung. 

Id hoffe durch dieieo gedrungene Neferat ein Wild von 
der Gründlichfeit Spencericher Tarlegungen vor Augen gebracıt 
zu haben. Die zujammengejegte Entwidelung Foll nicht in gleicher 
Ausführlicheit behandelt werden. ch werde cs verfuchen die 
Spencerfche Formel in furzen Worten zu erläutern und werde aus 
der Fülle der erflärenden Yeilpiele, welche Spencer für jeden 
einzelnen Zap feiner Formel giebt, einige befonders inftruftive 
herausgreifen. 

Der nädjite Jufag, den Spencer zu feiner bisher gewonnenen 
Kormel macht, it der, dah der Stoff während feiner Antegralion 
aus einem gleihartigen in einen ungaleihartigen 
Zuitand übergeht; d. h. während des Wachothums, das eine fiht: 
bare Eriftenz in der Zeit feiner auffteigenden Entwicelung erfährt, 
wird dur innere Differenzirung md bejondere Verlagerung des 
fieo eine jteto forticreitende Wannigfaltigkeit des inneren 
Vaneo bewirkt. Jeder thieriiche Nörver beginnt, fo weit wir die 
Sace verfolgen können, feine Eriftenz mit einem winzigen, undiffe: 
vensieten Schleimbläschen, welches, auf den geeigneten Mutterboden 
gebracht und genügend mit affimilirbaren Stoffen verichen, alo: 
bald energiich zu wachen beginnt; aber energiicher noch als das 
Wachsthum it die innere Differenzivung, welde das Wachethun 
begleitet: die eine Zelle ipaltet fih, die Beitandtheile zerfallen 
abermals, und jo geht dao in geometriicher Progreiiion vorwärts, 
während die eingenen neu enfjtandenen ‚Jellen unter einander 
einen jteto ungleichartigeren Gharafter annehmen, lofale Inte: 
grationen eingehen und fich jo zu den höchjt ungleichartigen Geweben 
und Organen eines thierifchen IJndivimumme zufammenicliche 
welch ein enormer Nortichritt zur Ungleichartigfeit Deo inneren Yaucs 
hat fid) in der verhältnismähig Furgen Zeit vollgogen, wenn das 
einftige, einfache, befrudhtete Samenbläschen des weiblihen Cier- 














































196 Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 


ftodes als veife Krncht den Mutterleib verläßt. Ich areife 
nad ein zweites Beilpiel und zwar aus der Neihe der über: 
organifcen Entwidelungsprogefie beraus, um daran die fort 
Ächreitende Differenzivung des Sleihartigen zum Ungleichartigen 
machzwveifen. Cs it die Iyatacbe, dak die verfchiedenen Formen 
der Schriftiprace, der Pinlerei und der Bildhauerfunit, wie Fich, 
das hiftorifch nachweilen fäht, einen gemeinfamen Uriprung haben: 
fie alle find aus den Wandmalereien hervorgegangen, mit denen 
die alten Multuwvölter ihre Paläfte und Tempel jchmülten. Die 
jenigen Aigquren und Viloniffe, welche in diefen bildlichen Dar- 
itellungen fich am hänfigiten wiederholten, gewannen allmählich 
topiich Inmboliiche Bedeutung für gewiiie Vorgänge oder Begriffe, 
und darin war der Anlai zur Entwidelung der Bilderichrift 
gegeben, welche ihrerjeits durd weitergehende Verfürzung und 
Vereinfachung in die Yuchitabenfchrift überging. - Die Um: 
rilfe der Figuren auf den Mandgemätden, wurden, um feßteren 
eine qröfere Deutlichfeit zu verleihen, Häufig in die Wand gerik 
in biefem Verfitren Seat der Srumd zur Entitehung des Nelief's, 
welches mit ver Zeit ausgeprägter gearbeitet wurde, bis die Fiqur 
fih als jelbitändiges Muntwerf von der Wand föfte, während co 
feine Abftammung vom Wandgemälde noch in der Bemafung 
verrieth, welche die älteren plaftischen Yitdwerfe aufweilen. in 
jpäterer Zeit bat fi dann die Plajtif felbftändig weiterentwidelt 
und fic) ihrerieito in ungezählte Yarietäten differen Schliehlich 
hat auch die Malerei fid von der Baufumft emanzipirt und fich 
als jelbjtändige Ntunft in mannigfade Sattungen, als da find: 
biftoriiche, Yandichafts , Marine, Bau, Genre, Thier,, Stillleben 
malerei u. f. m. getrennt. 

„Zo Tonderbar cs aljo auch ericheinen mag, es bleibt nichts 
deito weniger ganz richtig, da alle Formen der Schriftiprade, 
alerei und Bildhauerei in den politifch = religiöfen Aus: 
ichmüdungen alter Tempel und Kalüte ihre gemeinjame Wurzel 
haben. So geringe Achnlichfeit fie auch Heutzutage haben: die 
Büfte, die dort auf dem Zorkel fteht, das Yandichaftsbild, das an 
der Wand hängt und der Abdrud der „Times“, der auf dem 
Tische liegt, find entfernt verwandt mit einander, und zwar nicht 
6103 ihrem Welen nad), fondern wirtlich dur ihre Abftammung. 
















































v Entwidelngsbegriff nad Spencer. 197 





Das metallene Gefidht an dem Nlopfer, den der Poftbote eben in 
Bewegung fegte, fteht in foldem Verhältnis nicht blos zu den 
Holzihnitten der Mustrated London News, die er abliefert, 
jondern auch zu den Schriftzügen des hillet-doux, welches jene 
begleitet. Zwiihen dem gemalten Kirchenfenfter, dem Gebetbuch, 
auf welches jein Licht fällt, und dem Denfmal an der Seite beiteht 
Blutsverwandticaft. Die Bildnijje auf unferen Münzen, die Zeichen 
an den sStaufläden, die Ziffern, welde jedes Hauptbud) füllen, 
das MWappenichild auf der Auhenfeite des Nutichenfchlags und die 
‘Blafate imvendig im Omnibus find nebit Puppen, Blaubüchern 
und Papiertapeten, direfte Abtömmlinge der vohen Bildhauer 
malereien, durch welche die alten Aegypter die Trinmph) 
die Verehrung ihrer Gott-Könige daritellten. Cs lieh 
faum ein anderes Beifpiel finden, daß To lebhaft die 
und Ungleidartigfeit der Eryeugnifie deutlich macht, die alle im 
Laufe der Zeit durch fortwährende Diferenzirungen von einem 
gemeinfamen Grunditod aus entjtehen fünnen.“ 

Der zweite Zufag zur Formel des Entwidelungsgeiebes 
lautet: Jede fihtbare Eriftenz jchreitet während ihrer Entwidehmg 
von einem verhältnismäßig unbeftimmten zu einem ausgeprägteren 
und mehr beitimmten Zuftande fort: es findet ein Mebergang von 
der Verwirrung zur Crdnung, vom Chaos zum Nosmos ftatt. 
Wenn einen gefunden Organismus eine Krankheit befällt, To 
werden durch die entzündlichen Progeffe und die Gewebover 
änderungen, welde die Nranfheit verujacht, in den betreffenden 
Nörper neue Momente der Ungfeichartigleit hineingetragen, und 
doch bedeuten di je Vorgänge für den Organismus nit: Ent 
widelung, jonderı Die ru hat die Tendenz, 
die bejtimmte, ausgeprägte Organiation des gelunden Körpers zu 
vernichten uud die einjt jo fcharf gezeichneten Yinien der Orga 
nifation zu verwilchen. „Nicht anders joziale Veränderungen von 
aufergejegliher Art. Die Mihftimmung, welche einem politiihen 
Ausbruch vorausgeht, bringt eine Yockerung der Bande mit fi, 
durdy welche die Bürger in bejondere Alaffen und Unterklafien 
abgegrenzt werden. Voltsbewegung erzeugt  aufeüihreriiche 
Zufammenfünfte und verichmilt aemöhntich getrennte Nang 
ordnungen mit einander. Unbotmähige Handlungen durchbreden 

































198 Der Entwidelungsbegriff nad Epencer. 
die der Führung des einzelnen geiegten Schranten und ftreben die 
Linien zu verwiichen, welche bisher KHöhergeftellte und Untergebene 
ichiede Dur die Stodungen des Handels verlieren zugleich 
Nünftler und Andere ihre Beihäftigungen, und indem fie auf 
hören durd) ihre Thätigteit unteridjieden zu jein, verlieren fie id) 
in der unbejtimmten arofen Miafie. Und wenn cs endlich zum 
Anfitande Fommt, dann hören alle behördlichen und amtlichen 
Lollmachten, alle Nlafenvorzüge und alle Unterichiede dev Gewerbe- 
thätigfeit auf: die o.nanifirte Gefelfihaft finft in den Zuitand 
einer unorganifirten Zuiammenhäufing geiellichaftliher Elementar 
beftandtgeile zurüd.“ 

&s ift bisher nur von der Jntegration des Stoffes und den 
nebenhergehenden fefundären Andersvertheitungen deifelben geredet 
worden und nur gelegentlich ift dabei auf das Verhalten der Be 
wegung bingewiefen worden. Zwar ift es ausgeiproden worden, 
dah bei einer Anjommlung und Verdichtung des es, legterer 
zu einer relativ größeren Nuhe gelangt, was nicht anders vor jid) 
gehen fann, als wenn Bewegung von dem fich integrirenden 
Aggregat eingebüht und den umgebenden Körpern mitgetheilt 
wird und da, das Angregat auf diele Weile zum Ausgangspunft 
von Nraftleiftungen und Wirkungen auf die Umgebung wird. 
Allein eine zujammengeiepte Entwidelung mit fortichreitender 
innerer Organiiation einer wahrnehmbaren Eriftenz wäre nicht 
denkbar, wenn diejelbe bei ihrer Integration alle die Bewegung, 
welche ihr von den fie integrirenden Veitandiheilen zugeführt 
wird, geritvenen wollte: eo bliebe ja dann nichts nad, um die 
inneren Verlagerungen zu bewerfitelligen. Die bei der Integration 
zugeführte Bewegung muß die Noften jowohl der nad) außen 
gerichteten Yeiftungen als aud) der inneren funktionellen Vorgänge 
beitweiten. Hocentwicelte Gritengen, wie z.B. die Ihiere höherer 
Trdmung halten ein jehr bedeutendes Quantum von Bercgung 
zuwüh, mm ihre inneren Yebensfunftionen aufrecht erhalten zu 
fünnen. Die Wärme des Blutes, die dhemifcen molefularen 
Energieen, die in den Säften und Geweben aufgeipeichert find, 
die Energie des zirfulivenden Blutes und der freifenden Zäfte 
vepräfentiren diefen jurücgehaltenen Worratd an Bewegung. 










































Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 199 


Wie die feundären Anderovertheilungen des Stoffes auf 
einen ebergang von einem mehr gleibartigen und undeftimmten 
zu einem mehr ungleihartigen und beflimimten Zuftande abzielten, 
fo erleidet aud) das Quantum an zurüdgehaltener Bewegung eine 
entfpredende Umformung: aud die zurücgehaltene Bewegung 
wird bei auffteigender Entwieluug immer mannigfaltiger, pri 
und inniger zuiammenhängend. Wir brauchen, un das Gefagte 
zu verftehen, uns nur im (Seife das innere funktionelle Yeben 
im Körper eines niederen Weichthieres neben dasjenige im Körper 
eines hocentwidelten Zäugethieres zu jtellen und an das präsiie 
arbeitende, höchit Tompligivte Ernährungs, Zirfulationo, Wiusfel 
umd Nervenfgftem des lepteren zu denfen. Auch im fogialen 
Organismus jowie im höheren Nerven und Geiftesleben it es 
nicht anders. Wlan denfe an den fompligieten, präziien Bervegungs 
apparat, den ein moderner Staat präfentirt, wie aud hier die 
anfangs diffufen, zeriplitterten Nräfte und Vejtrebungen der Jndi 
viduen fih) bei aufileigender Entwidelung zu immer träftiger 
werdenden Gejammtwirfungen von Körpericaften, Ständen und 
Injtitutionen integriven, immer mannigfaltiger werden und in 
beijeren, präziferen Zufammenbhang fommen. 

Faffen wir jegt rüdblidend die weientlien Momente zu 
jammen, jo ergiebt fi als Endrefultat, dah; der Begriff der 
Entwidelung jeder wahrnehmbaren Eriftenz in ihrem univerjaliten 
Sinn folgende Toeilbeftimmungen in fi faht: &s findet bei 
auffteigender Entwidelung eine fortichreitende Anfamınlung und 
Verfeftigung des Yaumaterials, des Stoffes jtatt; das Baumaterial 
wird in ftets fortichreitendem Vaafe wmannigjaltig verlagert. 
Dieje innere Gliederung der Mafie wird immer ausgeprä 
präzifer md  beifer zufammenhängend. Während der 
anfammlung, des Wachsthums wird durd) die zujammentretenden 
Vejtandtheile dem fid) bildenden Ganzen fortwährend Yewenung 
zugeführt, welche zum Theil auf die Umgebung übertragen und 
dadurd) zum Träger der nach außen gerichteten Wirfungen wird, 
zum Teil aber zurüctgehalten, fich zu inneren Funktionen heraus 
bildet, wobei fie ebenjo wie der Stoff von einer gleichartig unbe 
fimmten zu einer ungleichartig beftimmten Anordnung fchreitet; 
oder mit Spencer's eigenen Worten: 






























200 Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 


„Entwideting it Antegration des Ctofles md 
und damit verbundene Jerjtrenung der Verenumg, 
während welcher der Stoff aus einer unbejtimmten, 
unzufonmenhängenden Gleichartigfeit in beftimmte zu 
jammenbängende Ungleichartinfeit fbergebt, und während 
welcher die zurücgebaltene Bewegung eine entiprechende 
Unmformumg erfährt.” 

Tas ganze, viele Bände umfafende Yebenswerf Zpencer'o 
„Tas Znftem der Pbitjophie” behandelt im Grunde genommen 
nichts weiter al die fvegielle Darloyung des Entwicelungsgefeges 
auf den einzelnen Yebensgebieten, wo bajfelbe natürlid eine 
noch viel font‘ , febendigere Geftalt gewinnt, als ihm hier in 
der Kürze und in allgemeiniten Jünen verliehen werden fonnte. 

Tiefes miverinle Werdegeiep gilt in gleicher Weije beim 
Suftandefommen von Dimmelsförpern, Sonnen: und Weltjuitemen, 
wie bei der Entjtehung eines Npftalls, eines animalifchen \ndi 
vide oder eines Voll; cs beherricht die anorganiihen Ent 
ftehungsprogeiie ebenlo wie die organifchen und überorganichen, 
feien 05 nun atronomifche oder bioloniiche Vorgänge, pindologiiche 
oder jozinle. Nie ehr deutet Tolche univeriale Manmähigteit 
auf das Dervorachen alles deifen, was it, aus dem jchönferiichen 
Willen eines einigen allmächtigen Weiens hin. Doc wir wollen 
nicht Eigenes in die Spencerihe D 




















Darlegung mifchen und nicht den 
Boden frenger Wilfenfchaft verlafen. 

Die Wifenichaft amd ihre oberite Disziplin, die Pbilofopbie, 
fo fehrt uno Spencer, bat 05 nur mit der geiftigen Aufnahme, 
tung umd Ordmung der Erfahrungstbatiachen in der Welt der 
Ericheinungen zu Sie wei wohl von einer unendlichen 
acht jenjeits der Ericheinungen, welche die allmächtige, zeugende 
md deitende Unrfache derielben it; fie it auf das tiefite von 
ihrem Dafein und ihrer Bedeutung Durchdrungen, aber in Demuth 
befennt fie, dal; fie hier vor einem für fie undincdringlicen, 
heiligen Mofterium  ftcht, deiien Schleier fie nicht zu lüften 
vermag. Tas find micht mehr Dinge der Erfenntnis, bier 
ichweigt die Wirtenfchaft, und Dihtung und Neligion greifen ein, 
am dem Menichen geeignete Sombole für das Nnausipredliche 
zu Schaffen. cd fann co mir nicht verlangen, ein paar Verfe 












Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 201 


unferes Dichters Nüdert hierherzufegen, die id in ähnlichem 
Zuiammenhange von Prof. Fricbric) Paulfen zitirt gefunden habe: 
Ein Vorhang hängt vorm Heitigthine 
Geftieit aus bunten Bildern, 
„on Thier und Planze, Stern und Blume 
Die Gottes Größe jchildern. 





Die Andacht fnieet anzubeten 
Vor diejen reichen Falten; 
Ein Lichtitrahl hinter den Tapeten 
Verfläret die Geftalten. 

Ih neige mich zum tiefiten Saume 
Und fü’ ihn nur mit Beben, 
Mir füllt nicht ein im fühnjtem Tramme 
Den Vorhang wegzuheben! 





N von Schulmann. 
































Baron Gduard von der Brüggen. 


Eelten ijt in unjerem Lande eine Nachricht mit jo tebhafter 
Theitnahme und jo fchmerzlihem Bedauern aufgenommen worden 
wie die Trauerfunde von dem unerwartet vajdhen Hinfcheiden 
Eduard von der Vrüggens. Man hatte allgemein das Gefühl, 
daß Nurland einen jcdweren unerjeglichen Berlujt erlitten habe. 
Seinen Freunden, Allen, die ihn perfönlih näher kannten und 
ihn mod eben munter und frisch gejehen hatten, war es zunädjt 
ein faum zu fallender Gedanke, dah er nicht mehr unter uns 
weile. Unter dem Gindruce der friichen Trauer find von ver» 
idiedenen Seiten dem Verewigten warme und pietätvolle Worte 
der Verehrung und des Danfes in den öffentlichen Blättern nad) 
gerufen worden, fie Haben Zeugnif; davon abgelegt, welde Hod) 
ibägung Brüggen unter feinen Yandeleuten genof. Wenn id) 
jest, nachdem der erjte Schmerz gedämpft it, das Gefühl des herben 
Verluftes aber Icbendig fortdauert, es an diefer Stelle unternehme 
dem Dahingeidjiebenen ein Blatt der Erinnerung zu weihen, jo 
erfülle ic) damit zunächit eine Pflicht des Herzens, da eine lang 
jährige Freundicaft mich mit Yrüggen verbunden hat. Cs it 
mir Bebürfniß, mir und andern das Bild des feltenen Mannes 
in voller Frijche noch einmal zu vergegemwärtigen, ehe die Zeit es 
langiam und unmerklid) erblajfen läht, co ift gleichjam ein lepter 
Abjchied, den ich von dem heimgegangenen Freunde nehme. YAuher- 
dem hat ein Mann wie Brüggen darauf Aniprud, von den 



















verichiebenften Gefichtspunften aus aufgefaßt und geidildert zu 
werden. Cs wird nur eine Stige fein, die id) im Folgenden 
biete, nicht Weniges fann darin nur angedeutet, Anderes muß 
ganz übergangen werden. Ein volles Bild von Brüggens Perfönlichfeit 
und Wirken zu entwerfen, ijt gegenwärtig noch nicht möglich. Indem 
ic) mich aber über ihm zu reden anfdjicte, ift es mir, als jähe id) den 
theuern heimgegangenen Fremd vor mir, wie er mich ernjt 
anblickt, und als hörte ich ihn mit dem aufgehobenen Finger der 
Rechten mir zwvinfend, wie er im Eifer zu thun pflegte, Ipreden: 
ic) halle Schmeicheleien und Yobpreifungen. Ic werde ihn darum 
bei aller Verehrung und Liebe fo jcildern, wie er wirklicd war, 
auch jeine Schwächen nicht verichweigen, frz fo, wie id) es ver“ 
antworten zu fönnen glaubte, wenn ihm jelbjt biefe Blätter vor 
die Augen fümen. 

Vergegenwärtigen wir uns zunächft Brüggens dußern Lebens: 
gang. 

Er war am 4. Januar 1822 als das dritte von 6 Ge 
ichwiftern zu Arishof in Kurland geboren. Sein Vater Julius 
dv. d. Brüggen, der damalige Befiger von Arishof, war ein durch 
feine Nechtichaffenheit und Nedlichfeit allgemein geachteter Man 
von aufrichtiger tiefer Frömmigkeit. Seine Mutter, Charlotte, 
geb. Yaroneife Firde aus Heyden, war eine Frau von grofer 
Begabung und guter Bildung; der Sohn hat, wie das jo oft 
vorkommt, die geiftigen Anlagen von der Mutter geerbt. Als 
Neunjähriger j—hen verlor Brüggen die Mutter im Jahre 1831, 
der Vater hat fi über diefen Verluft niemals völlig zu tröften 
vermocht und vergaß zunäcjt in feinem Schmerze allı Da war es 
ein Glüd, daf die Großmutter, Baronin Firds geb. Find von Finden: 
jtein, eine energiihe Frau, fid) der Erziehung der Kinder annahm. 
Der junge Eduard erhielt, nachdem ihm die erjten Elemente des 
Wiffens durch eine Gouvernante beigebracht waren, furze Zeit von 
einem Hauslehrer, dem fpätern Pater Otto in Angern, Unterricht 
und trat dann im Augujt 1836 in die Tertian des Gymnafiums 
zu Witau ein, wohin feine Großmutter mit ihm übergefiedelt war. 
Im Gymmnafium zeihnete ex fihh durch großen Zleih und gewijlen 
bajte Arbeit aus. on jeinen Lehrern hat mır E. 6. Engelmann 
eine tiefere Cinwirfuna auf ihm ausgeübt. Zu Nobannis 1340 























204 ©. v. d. Brüggen, 


verlieh Brüggen nac) wohlbejtandenem NAbiturienteneramen das 
Gymnafium und bezog die Yandesuniverfität, um jura zu jhwdiren. 
Er trat in die Curonia ein und nahm aud) am Burfdenleben 
Antheil, vernachläffigte aber dabei das Studium durchaus nicht. 
Von feinen juriftiichen Pehrern verbankte er am meijten dem hädjit 
anregenden caraftervollen C. DO. von Madai und dem eleganten 
atiniften C. Edumd Otto. 1842 fiedelte Brüggen nad) Berlin 
über, um dort fein juritisches Studium zu vollenden. Der große 
6 3 v. Saviguy las zwar nicht mehr, da er jehr zum 
Schaden der Wiffenidaft Viiniiter geworden war, aber fein Schüler, 
der ausgezeichnete Nomanijt G. %. Puchta, vor furzem nad) 
Verlin berufen, jtand damals auf der Höhe jeines Nuhmes. Seine 
vielbewunderten Vorlefungen übten aud auf Brüggen bedeutenden 
Einfluh aus ud er Ho6 nod) in fpäteren Yebensjahren nicht felten 
hervor, wieviel er Puchta verdanfe. Ob er ad) andere juritiiche 
Brofefioren gehört, willen wir nicht, ebenio wenig vermag id) 
anzugeben, ob er F. N. Stable oder Leopold Nanfes Kollegin 
befucht Hat. Jedenfalls Hat er mit Fleih und Ernjt feinen Fad) 
ftubien obgelegen. Auch mit Whiloiophie hat er fd in Berlin 
viel beic t, namentlich mit der Logik, diefer für den Juriften 
fo wichtigen Disziplin; er hat Adolf Trendelenburg und Karl 
Werder fleihig gehört und aud) ihre Togiihen Werke eifrig ftudirt. 
Das gährende, feidenfchaftlich erregte politiiche Leben im damaligen 
Berlin hat auch Brüggen nicht unberührt gelaffen. Er wurde ein 
Anhänger des fortgefehrittenen Yiberalionms jener Tage, Arnold 
Huges Schriften, Herweghs Gedichte und N. Prus’ Satire: die 
politische Wochenitube (ns er mit Eifer und tebhafter Zuitinmung. 
Van darf dabei nicht vergeien, dal die gefammte Jugend, die 
ideal GSefinnten unter ihr am meijten, damals dem Liberalismus 
anhing, ja fogar dem Nadifalismus begeiftert zujubelte. Brüggen 
zeichnete fih unter feinen zahfreihen Yandsleuten in Yerfin durd) 
die jeltene Neinbeit feines Zinnes und die ideale Richtung feines 
GSeiftes aus; alles Nohe und Gemeine war ihm in tiefiter Seele 
zuwider. Früh gereift erichien er feinen Altersgenofien weit voraus 
in Urtheil und jelbftändiger Auffaflung. Nad) mehrjährigen Auf 
enthalte in Deutichland fehrte Brüggen auf's trefflichlte vorbereitet 
und mit einem reichen Zchab von Nenntnifen ansgeitattet in die 





































€. v. d. Brüggen. 205 


Heimath zurück. Im Mai 1816 begann er jeine Yaufbahn im 
Yandesdiente alo Ajeifor des Grobinjchen Hanptmannsgerichts. 
Die politifchen Bewegungen des Jahres 1848 ergriffen ihn 
lebhaft und beichäftigten ihn in hohem (Srade. 1852 winde 
Brüggen Ajefor des Mitaufchen Hauptmannsgerichte. Auf den 
Landtage von 1854, an dem er als Yandbote für Sellan Theil 
nahm, wurde er in Folge des plöplichen Todes des neuerwählten 
Nitterfchaitsiefretärs zum Protofoflführer gewählt und waltete vieles 
Amtes in jo glänzender Weile, dab nod) lange feiner Sekretär 
thätigfeit gedacht wurde, Schärfe feiner Auffaflung, 
ungewöhnliche Intelligenz machten fich hier zuerit bemerfbar und 
fenften die allgemeine Anfmerkfamfeit auf ihn. Sehr bezeichnend 
ift die damals zrfufivende Anekdote, mande Nedner hätten aus 
Brüggen’s Protokoll mit Vermwunderung erjehen, dah fie am Tage 
vorher viel Hüger und einfichtiger geiproden, als ihnen fetbit 
bewußt war. 1856 wurde er Hauptmann zu Srobin. Hier lebte 
er in regem Lerfehre mit dem Dichter Narl von irds, der 
damals Ariedensrichter des Nreisgerichts dajelbjt war. Brüggen 
nahın an den Lebensfchietialen des Freundes lebhaften Antbeit und 
fprach auch ipäter nicht fetten mit liebevoller Wärme von beiten 
Streben nad) dem Höchiten und feinem ernjten innern Ningen. 
1 wurde Brüggen dann Mitaufcher Tberhauptmann und 1562 
trat er als jüngerer Nath in das Überhofgericht ein. In 
Folge feiner hervorragenden juriftifchen Tüchtigfeit wurde er 
im Mai 1864 zum Vitglied der Sentral + Nuftiz + Reform 
fommijlion in Dorpat erwählt und bat bier cine tiefein: 
greifende Thätigfeit entfaltet. Der Anogang dieler Juftiz: 
fommifiion it befannt. lo dann im November 1865 ein 
berathendes Nomite in Sachen der Nujtigreform beim General 
gouverneu eingefegt wurde, war Brüggen ad) deifen Mitglied, 
trat aber bald aus ihm aus. 1868 wurde er zum Präfidenten 
fltoriums gewählt. Am berhofgericht befleidete er nad) 
einander die altchriwürdigen Aemter eines Yandmarichalls, Oberburg 
grafen, Nanzlers und jeit 1886 das Deo Yandhofmeifters; er Jah 
mit Schmerz voraus, dahı er der fepte fein werde, der dielen 
Titel führte. Im Dezember 1889 nahm das Oberhofgericht mit 
Einführung der neuen Juftizverfaifung ein Ende und damit ichlof; 






































206 €. v. d. Brüggen. 





auch VBrüggens richterliche Thä äfident des Konjijtoriums 
blieb er nody bis 1890, dann legte er and dieies Amt nieder. 
Was er als Mitglied des Oberhofgerichts, in dem vorzugsweiie 
die Zivilprogefie feiner Enticeidung unterlagen, geleitet, welche 
Bedeutung er für die heimiiche Nechtopflege gehabt, das auseinander- 
äufegen und zu charafterifiven ift nicht meines Amtes und Berufes, 
ich muß das Sachfundigen überlaffen. Aber gewih it: das hohe 
Anjehen, deifen fi) das Oberhofgericht in den lebten Jahrzehnten 
im Lande erfreute, war zu nicht geringem Theile Brügaens Ver: 
dienft. Und mit welchem Ernit, Eifer und Fleiß er jeines Nichter 
amtes waltete, wei; Jeder, der ihn näher gefannt hat. ud) mas 
er alo Präfident des No ums für das Wohl der Kirche 
gewirkt und gearbeitet, Tann hier jetbitverfiändlic nicht auseinander- 
geiegt werden. 

Aber noch auf einem anderen Gebiete hat Vrüggen eine 
tiefeingreifende, fruchtbare Thätigfeit entwidelt, auf dem der 
Yandespolitif. Seitdem er zuerit an dem Yandtage von 1851 52 
als Landbote für Grobin Theil genommen, üt ev als Deputirter 
auf fait allen Fandtagen und cbenjo auf allen Nonferenzen der 
folgenden 30 Jahre thätig geweien. Was aber nad) mehr jagen 
will und von feiner Bedeutung und feinem Anjehen auf der 
Landbotenjtube ein glänzendes Zeugnih ablegt, it die Thatiache, 
dah Brüggen nicht nur auf dem Yandtage von 1858 59 einjtimmig 
um Yandbotenmaricall gewählt worden it, Tondern dah er dieie 
Vertrauensjtellung noch viermal eingenommen hat und ihm auferdem 
dreimal das noch ichwierigere Amt des Direktors der brüderlichen 
Nonfereny übertragen worden it. Meines Willens it feinem 
andern Mitgliede der Nitterfchaft während dieies Jahrhunderts eine 
jolhe ehrenvolle Anerfennung und auozeichnende Würdigung zit 
Theil geworden. Der Yandtag von INS] 82 ijt der lebte, an dem 
Brüggen tätigen Antheil genommen hat, feitdem zog er id) von 
der aftiven Vetheiligung an der Yandeopolitif zuüd. Zu einer 
vollen und gerechten Würdigung der großen Verdienfte Yrüggens 
um Nurland wäre es notwendig die bedeutende Wirtfamteit, welche 
Brüggen als Yandbote jowie alo Yandbotenmarjchall oder Nonferenz 
direftor ausgeübt, eingehend zu beleuchten und zu charafteriiiren. 
Alein das ift an diefer Stelle nicht möglich. Einem auferhald 


































€. dv. d. Brüggen. 207 


der Candbotenftube Stehenden fommt cs nicht zu, über die dort 
geführten Verhandlungen und den Antheil eines hervorragenden 
Teputirten an denjelben fih zu äußern; wenn ihm aud) vieles 
von den Vorgängen auf den Yandtagen befannt geworden it, 
er wei davon dad) nur durd) die Berichte Anderer, wenn and) 
Nahebetheiligter. Es wäre fehr zu wünjchen, daß ein Angehöriger 
der Nitterfchaft, der die legten 45 Jahre oder wenigjtens einen 
großen Theil von ihnen als Diithandelnder durchlebt hat, Brüggens 
Sandtagsthätigfeit im Zujammenhange jcilderte. Soviel it 
aber allgemein befannt, dah Vrüggens energifche, von genauer 
Sacfenntnih; getragene Leitung, die Nlarheit und Schärfe jeiner 
Formulirungen, fein durchdeingender, juijtiich geübter Scharf: 
blid, jeine Unparteilichfeit und feine genaue Nenntniß der 
Verfaffung zum gedeihlichen Fortgange der Verhandlungen, 
zur Ausgleichung widerfireitender Meinungen und zur Herbei- 
führung vieler für das Kandeswohl wichtiger Veichlüffe außer: 
ordentlich viel beigetragen hat; grindlid) motivirte Vleinungs: 
äußerungen von ihm haben, jo jagt man, manchmal im lebten 
Augenblide nod) enticheidend auf die Beichlühfe der Yandboten 
eingewirft. Brüggen war allmählid eine allgemein anerfannte 
Autorität in allen Yandtagsangelegenheiten geworden, an bie man 
fih auch jpäter oft wandte und deren Nath man eindolte. 

Mas aber war 6, was Brüggen ein jo großes An: 
iehen im Kande verihaffte, jeine Autorität zu einer allgemein 
anerfannten machte, feine ganz einzigartige Stellung begründete? 
Shne Frage trug dazır feine hervorragende geiitige Begabung und 
fein reiches Wien nicht wenig bei. Sein heller, durd) vieles 
Nachdenfen und Stubium gereifter Geift war auch jÄhwierigen 
Problemen des Lebens wie des Denfens gewachien, fein natürlicher 
durd) Logik und juriftiiche Thätigfeit geübter Scharfiinn vermochte 
auch vermidelte Fäden mit Yeichtigfeit zu löfen, die Originalität 
feiner Gedanfen überrafchte immer von Neuem. Er mar von 
einer auferordentlichen geiftigen Negiamfeit und bejah eine 
umfaffende, in die Tiefe gehende allgemeine Yildung. Yeder 
ihwierigere Fall in feiner richterlichen Thätigfeit, jede ver 
Frage, die ihm als Präfidenten des Moni 
anfaßte ihn zu gründlichen eingehenden Studien, die alle bafiie 












208 €. v. d. Brüggen. 


in Betracht Fommenden Schriften und Werke heramoyg. Aber 
nicht auf feine Kachwiiienfchaft beichränften fich feine Studien, das 
Gebiet feiner geiftigen Jntereiien war ein viel weiteres, Er las 
und fannte die hervorragendften Geichichtowerfe der neueren Zeit 
und ebenfo war cs jelbjtwerfiändlich, daf; er dev baltischen Gejdhichte 
jtet> Lebendiges Anterefie zumvandte. In gewilfem Zufanmenbange 
mit jeiner Amtothätigfeit jteht feine langjährige Beichäftigung mit 
dem Gefängnifwelen, namentlich dem englüchen, das er auf's 
genauejte Fannte. Auch für Geographie intereffirte er fich jehr 
und verfolgte die neueren Entdeungen und Koricungerei 
namentlich in Afrifa, mit großem Eifer 















1, 
Eine Yieblingsbeihhäftigung 
endlich war für Brüggen das Studium der deutichen Sprache; 
er vertiefte fich gern in die Ableitung und den Zulammenhang 
der jegtigen Wörter und Sprachformen mit denen des Altdeutichen 





und ebenjo aud in die Diafeftiichen Cigenthünmlichteiten des 
icen Spracjidioms. So mar Brüggen auf mannigfaden 
Gebieten des Willens heimiich wie wenige im praftiichen Yeben 
ftehende Männer in unferen Provinzen. Cs war daher ganz 
natürlich, daher zum Präfidenten der Gefellichaft für Yiteratur 
und Nunjt erwählt wurde und diefes Amt fait 25 Jahre lang 
innegehabt hat. Welchen regen Antheil er an den Verhandlungen 
der Gefellichaft und an ihren Sigungen genommen, wie windig 
er fie nad) außen vertreten hat, ijt allen Mitgliedern der Gejell 
ichaft bekannt. 

Aber reiches Wien, Geift und Alugheit würden cbenjo 
wenig wie die Nenter, die ev befleidete, allein hingereicht haben, 
um Brüggen die einzigartige Stellung, die er ehmahn, zu 
verihaffen, am wenigiten in Nurland. Geiftreiche Vtenfchen hat 
5 bier nid)t wenige gegeben, ohne dal; fie großen Cinftuh aus 
geübt haben, und Vanche, die ein hohes Fandesamt bekleidet, 
find vorübergegangen, ohne ein Spur zu hinterlaifen. Das, was 
Brüggen jo vielen Einzelnen, was er dem ganzen Yande geworden 
und geweien ift, Hat jeinen tiefiten Grund in jeinem Gharatter; 
exit in Verbindung mit diefem übten jeine giftigen Cigenichaften 
ihre volle Wirkung aus, durd ihn war er die eigenartige Ber- 
fönlichfeit, die wir Alle fennen. Gewife Seiten feines Wejens 
iprangen Jedem, der mit ihm in nähere Verührung Fam, fogleic) 




















©. d. d. Brüggen. 209 





in die Augen und find daher auch) überall hervorgehoben worden. 
Wahrhaftigkeit, Lauterfeit, Uneigennügigfeit, Selbitlofigleit waren 
Grundzüge feines Charakters. Zu ihmen gefellten fi aber nad) 
andere, nicht weniger ausgeprägte Eigenidaften, das waren die 
Feitigfeit und die Ueberzeugungstrene, die abjolute Zuverl 
und das rüchaltloje Eintreten für der als richtig und wahr Er- 
Tannte. Verftellung, Intrigue, Seintichfeit waren ihm ganz 
unbekannt. Gerechtigkeit war das Xeitjtern feines Yebens, er 
übte fie gegen Jeden und ift in dem Streben nad völliger 
Unparteilichteit politiichen und fachlichen Gegnern gegenüber mandı- 
mal wohl zu weit gegangen. Aber diefes gewiifenhafte Bejtreben, 
au) dem Gegner nicht Unrecht zu hun, ift immer das Kennzeichen 
einer edlen hochgefinnten Natur. Brüggen würde fein echter Nır- 
länder gewejen jein, wenn nicht in ihm aud) etwas von der 
Aueifchen Sonveränität des Individuums geweien wäre. Dieje 
aus der Ordensgeit überfommene, did die fange Verbindung 
mit Polen verftärkte und geiteigerte Selbitherrlichteit des Einzelnen, 
diefe Schranfenlofigfeit des Cigenwillens, diefe Abneigung gegen 
jede Autorität find mehr oder weniger im jedem Sturländer 
vorhanden. Oft genug führt diefe Naturanlage zu förperlicher und 
geiftiger Zerrüttung und nicht wenige begabte, vorzüglich, beanlagte 
Naturen find jo durd Maß: und Zuchtlofigkeit, durd) den Mangel 
an jeder Selbitbeherrichung efend zu Grunde gegangen. Wie ganz 
anders war Vrüggens Entwickelung! Von Natur mit einem leiben- 
ichaftlichen, leicht aufbraufenden, heftigen Temperament ausge: 
ftattet, hat er diejem nicht die Zügel Tchiehen laffen, fondern in 
strenger Eelbjtzucht und ernjtem Ningen cs zu befämpfen und zu 
beherrichen gejtrebt. Dah; das, namentlich in früheren Jahren, 
ihm nicht immer gelungen, wird Niemand wundern, der die Vienfchen- 
natur fennt. Hatte er fi) aber einmal von einer Leidenfchaftlichen 
Aufwallung Hinreigen laflen, fo genügte der Appell an feinen 
Gerechtigfeitsiinn, um ihn zu beruhigen und es war rührend und 
ergreifend, wie er dann oft nachher fein Unrecht zugetand. Brüggen 
war überhaupt ein Menid, der fortwährend an fich arbeitete und 
6 zu einer bewundernswürdigen Selbitbeherihung gebracht hatte. 
Bei ben qualvolljten Körperichmerzen, bei ftartem Unwohljein fan 
fein Laut der Nlage über feine Yippen und ebenio verichloh er 


























210 €. v. d. Brüggen. 





Kummer und Scelenleiden tief in feine Bruft. In diefem Sinne 
war er wirklich ein antifer Charakter und die tiefe Verichloiienbeit, 
die ihm zur Natır geworden war, lieh nur jelten und Wenige 
einen Blit in fein inneres Wejen tun. Wlochte er audı bisweilen 
dei fid) vordrängenden Gefühlsäuferungen und mur auf ein under 
ftimmtes Gefühl  beruhendem Handeln über  „Gefühlsduielei“ 
jpotten, er jelbft befah ein tiefes Sefühl, das er aber feujdh in fi 
verichloh, und ein reines tiefes Gemüth. 

Einem alten Adelsgeichlechte des Yandes entjtammend Hatte 
Brüggen wohl ein Gefühl feines Standes, aber alles junferliche 
Weien lag ihn völlig fern; ihm war die durch die Geburt ihm 
gewordene bevorrechtete Stellung nur ein Sporn und Antrieb, die 
damit verfnüpften Pflichten und Aufgaben jeder Zeit in vollem 
Mahe zu erfüllen. Und in der That, hat es je einen echten, 
wahren Edelmann gegeben, jo war co Brüggen, das bezeugt fein 
ganzes Leben. Selbft wahrhaft gebildet, ihäbte er die Bildung 
auch an Andern hoc und betrachtete jeden wirklich Gebildeten als 
einen Gleihftehenden. Er war fd) feines Wejens wohl bewuft, 
wie das bei jedem ausgeprägten € arafter nicht anders fein fann, 
aber nie lieh er andere, zumal geiftig unter ihm Stehende, feine 
Ueberfegenheit fühlen, nie empfanden die mit ihm Verfehrendenjein 
Uebergewicht drüdend; nur die Schlechten und die jelbitzufriedenen 
Toren jceuten die fühlbare Wucht feiner Perjönfichfeit. In 
ihm lebte wahre und echte Sumanität, fie äuferte fih aber weniger 
in Worten als in Thaten und Handlungen md nie hat Jemand 
feine Hilfe angerufen, dem fie nicht zu Theil geworden it. Und 
welches freundliche Wohlwollen bejeelte ihn und welche Liebens: 
würbigteit zeigte ex fait immer, wenn man zu ihm tam. Cs gab 
feinen treuern, feinen zuverläffigeren, feinen  unerichütterlichern 
Fremd alo Vrüggen; wem er feine Fraumdichaft geichenft 
hatte, der Fonnte unbedingt auf ihm bauen, für den war 
er and) jeder Zeit zu jedem Handeln, mochte cs ihm perjönlid) 
nod) jo unangenehm fein, bereit. Jede Art von Menjchenfurcht 
mar ibm vollkommen fremd; fein  ftark ausgebildeter Unab- 
hängigfeitoffun fiel; num das als Autorität gelten, was er adıten 
nd chren fonnte. Er drängte jeine Veinung Niemand auf, und 
war im Allgemeinen duldfam aegen die Anderer, nur wenn 














€. d. d. Brüggen. au 





müberlegter Wideriprud) und unbegründete Ginwendunger nenen 
feine wohlerwogenen Anfihten und Neberzengungen erhoben wurden, 
fonnte er ungeduldig werden oder fertigte er die Wideriprechenden 
mit jarfaftiicher Ironie ab. Cine qutmüthige Jronie wandte er oft 
cd) an, da zeigte er auch die ihm verlichene föftliche 
Gabe des Humors. Starfen Zorn Änferte er nur genen das 
Niedrige, Gemeine, Umwahre, mo 9 ihm entgegentrat und tiefen 
Widerwillen erregte ihm ftets alles Gemacte, Gefpreizte, jede Art 
von eitler Selbjtbeipiegelung und felbjtgefälliger Phraienbaftigkeit. 
in ideal gerichteter Geiit und die Neinheit feines Wollens 
wirkten auf alle dafür irgend Empfänglichen ftärtend nd erhebend. 
Ieder wuhte, das Brüggen uie bei feinem Neden und Thun 
geheime Hintergedanfen hatte, Niemand eifelte, dai, wenn 
Brüggen etwas ausipräch, cs ihm voller Ernft damit war. Dadurc) 
wurde er der Vertranensmann des ganzen Landes und das gute 
Gewiifen Kurlands, wie man ihn treifend bezeichnet hat. Wie: 
viel Streitigkeiten bat er geichlichtet, wie oft hat er als Schieds 
tichter gewirkt, wieviele jhrvierige Fragen perjönlicier und allgemeiner 
Art find ihm zur Entfcheidung vorgelegt worden! Wei feinen 
Ausipruche beruhigte man fi meilt und wenn Brüggen etwas 
für nicht anftändig evflärte, war damit das Urtheil geiprocen. 
Raum je hat ein einzelner Mann bloh durch die Macht feiner 
Perfönlicfeit, die Jpealität feines Charakters ein jo grofies An 
feben in Kurland bejefien wie er, in Nurland, wo man nicht fo 
leicht einer Autorität ih beugt. „Das it Vrüggens Anficht, jo 
meinte aud Brüggen“ oder „Brüggen dentt ganz anders” - das 
waren oft gehörte fehmerwiegende Argumente und ebenfo häufig 
bieh 65, „wir wollen Brüggen um feine Meinung fragen“. Einen 
Pann zu befigen, dem alles jo vertraut, den le jo hochachten 
und verehren, wie dao bei Brüggen der Fall war, iit ein Glüc 
und ein Segen für das Yand, vor allem für die Norporation, der 
er angehört. 

Brüggen war ein fuger, erfahrener Politifer und, co üit 
taum nöthig das noch zu jagen, einer der cdelften Patrioten, der 
mit feinem ganzen warmen Herzen an der Neimatb, au den 
baltiichen Yrovinzen hing. it den Jahren wurde er immer 
fonfervativer, übrigens ohne in irgend eine Parteiichablone fd) 

4 
































zu fügen. Staatsmann im vollen Zinne des Wortes war er 
nicht, ihm fehlte dazu der vorwärtstreibende Schaffensdrang, der 
berechtigte Ehrgeiz Vedeutendes zu vollbringen und befonders das 
diplomatische Talent, das mit wechjelnden Mitteln und auf ver- 
ichiedenen Wegen das Ziel zu erreichen fucht. Es wäre ihn Schwer, 
ja ummöglic gewejen feine Ueberzeugung zurüdzudrängen, das 
von ihm als richtig Erfannte nicht unummwunden auszuipreden 
amd zu vertreten. Dazu Fam, daher fih durd feine lange 
tichterliche Thätigfeit daran gewöhnt hatte, die Gründe für und 
gegen eine Zacbe aufo Torgfältigite und arünblichfte zu prüfen und 
zu erwägen, und daft es ihm in Folge deffen Fchwer wurde vafche 
Entihlüfle zu fallen; das Streben nur ja alle in Betracht 
fonmenden Momente nicht aufer Act zu allen, verurfachte, daf; 
x bisweilen and da zögerte, wo Andere mit Yeichtigfeit zum 
Entihluh famen. 

Brüggen war eigentlich fein Nedner, fcwerflüiig, in ver: 
schlungenen ‘Perioden entjloß die wohl vorbereitete Nede feinem 
Munde. Aber durd den Gedanfenreichthum des Inhalts, durch 
die Macht der Perfönlichfeit machten Brüggens Neden doch tiefen 
Eindrud und waren von grofer Wirhung. 

Dah Brüggen ein tief fittlicher Charakter war, ergiebt ih 
aus der Disherigen Ausführung von jelbit, es fei geitattet noch 
ein paar Worte über jeine religiöfe Stelhung hinzuzufügen. Sein 
Verdättniß zum hriftlichen Glauben hat im Laufe der Jahre 
manche Wandlungen durchgemacht, das lich ih aus vereinzelten 
Andeutungen entnehmen, die er gelegentlid) machte. Ueber religiöfe 
inge fprach er fh, namentlic) in früheren Jahren, nur hödit 
fetten und ungern aus, ev verichloß feine Gedanfen in diefer 7 
jiehung, wie feine Empfindungen, nad feiner Art, feft in fh. 
Ob er allen Glaubensjäsen der Nirche zugeftiimmt hat, lajle ich 
dahingeitellt, aber das fan ich nad) dem, was id von ihm fetbit 
in den legten Jahren gehört und erfahren habe, mit Bejtimmtheit 
ausipreden: Brüggen mar mit Weberzeugung ein evangelifcher 
Ehrift. Wie hätte ih auch fein Charakter jo entwieln und 
folche Früchte bringen fünnen, wenn er nicht auf ewigem Grunde 
geruht hätte? 

















€. v. d. Brüggen. 213 


Vrüggen war unvermählt geblieben und entbehrte daher der 
Rreuden und Zorgen des Jamilienlebens. Als feine Großmutter 
1866 geftorben war, zog er mit feiner Schweiter Lina und feiner 
Tante, der verwittweten Varonin Lina von Saden-Dondangen, 
der Echweiter jeiner Mutter, einer Mugen und hödit originellen 
Dame, zujammen. Er lebte nun jahrelang in einem angenehmen 
heitern Familienfreife und hatte dabei dod) die Möglichkeit nad) 
Neigung und Vedürfnih fih Itelo zurüdziehen zu fönnen. 
Wem 65 vergönnt gewejen ift, namentlid an den Abenden, die 
alle drei Familienglieder beim Theetifch vereinigten, in diefem 
Haufe zu verfehren, der wird der dort herrichenden angeregten 
und munteren Unterhaltung, an der die Tante einen weientlichen 
Antheil hatte, jtets mit Vergnügen fi erinnern. Der Tante, 
wie überhaupt den Damen gegenüber bewies Yrüggen jtets die 
größte Nitterlichleit und Liebenswürdigkeit. Die Schweiter, eine 
fluge, fehr gebildete Dame von großem Wohlwollen, liebte und 
verehrte den Bruder über Alles und war jtets darauf bedacht, ihn zu 
erheitern und aus zeitweiliger Verftimmung nnd Mißmuth heraus: 
gureißen. Diejes idöne gemüthlihe Familienleben erlitt einen 
ihweren Stol durch den Tod der Tante am 30. December 1856, 
und föfte fid) völlig auf. als auch die Schweiter am 1. December 
1891 aus dem Leben fchied. Der Tod der Schweiter war für 
Brüggen ein Schlag, den er aufe fi empfand; er hatte 
immer gemeint, er werde früher als fie jterben. Jept blieb 
er allein und einfam zurück; der einzige Bruder weilte jeit vielen 
Jahren in weiter Ferne. Und dazu war Brüggen feit längerer 
Zeit. fchon förperlich behindert und gehemmt. Cine nicht redtzeitig 
erfannte Anochenentzündung hatte bereits 1879 zur Amputation des 
linfen Yeines genöthigt; der fünftliche Fuh, den er feitdem trug, 
verurjadht immer wieder Engündungen und Schmerzen des Stumpfes 
und machte ihm überhaupt weitausgebehntes und häufiges Gehen 
unmöglid. Brüggen trug dies harte Geihid anfangs jehr cher, 
aber mit der ihm eigenen männlichen Faflnng; die Gebmdenheit 
und Beihränfung in der freien Bewegung empfand er auch ipäter 
iehe femerzlich. Er 309 fich immer mehr von der Deifentlichteit 
zurüd. Nur das Amt des Direltors des mitaujcen Bezirks: 
fomitös der evangeliichzlutgeriihen Unterftügungsfaffe übernahm 








214 €. v. d. Brüggen. 


ern IRHI und bekleidete eo bio zu feinem Tode. Mit 
dem Leben hatte er eigentlich feit dem Tode der Schweiter 
abgeichloifen und fühlte tief die Vereinfamung des Alters. „Die 
mit mir jung geweien, find num meift dahin und die Be 
Tannten aus fpäterer Zeit haben doc) nicht zuiammen mit mir 
daffelbe erlebt, daran merkt man das Alter,“ jagte er 
mir wehmüthig einmal im vorigen Herbft. Und wenn er auf 
fein Leben zuvüdblidte, meinte ev wohl mijmüthig, ev habe die 
in ihm vorhandenen Anlagen doch nicht jo entwicelt und ausge 
bildet, wie er cs hätte thun follen. Solche bjtkritit it die 
Art edler Naturen, denen das, was fie geleiftet und gewirkt 
baben, gering ericheint gegenüber dem ihnen vorjchwebenden Jdeale. 
Dabei blieb aber Brüggen friihen und regen Geiftes bio zu 
feinem Yebensende. Er las außerordentlich viel und jprad mit 
großer Einficht über die ihn gerade intereffirende Yelture; To 
beichäftigten ihm 5. ®. Taine, Les origines de In France con- 
temporaine, Sybels und Treitichkes Geicichtswerfe und namentlid) 
herings Vorgeidjichte des römiichen echtes in feinen legten 
Jahren und regten ihn zu mannigfachen Gedanfen und Neuerungen 
an. Er fonnte in Gefellihaft noch ebenfo heiter jein wie früher 
und fcherzte gern. Den ihm Vejuchenden empfing er mit der 
alten liebenswürdigen Freumodlichfeit und feine Unterhaltung war 
Bis zulegt geiftreih und voll origineller Gedanfen. Nur darin 
zeigte fid) das Alter, daß; er jtiller war alo früher und bisweilen 
in fi) verfanf. Cine Lieblingsbeihäftigung war ihm allegeit das 
Schadjipiel, dem er viele Stunden widmete und in dem er eo zu 
großer Fertigkeit gebracht hat. Wer ihn um die Weihnachtszeit 
des vorigen Jahres geichen hatte, der würde nicht geahut haben, 
da; er uns jo bald entriffen werben würde. Nad) furzem, aber 
ichwerem Leiden ift er am Morgen deo 25. Januar heimgegangen. 
Nun find fie geichloffen für immer, die hellen, flugen, guten 
Augen und was jterblid war von Brüggen, ruht jegt in der 
Erde der Heimath, die er jo warn und tief geliebt. Ein Mann 
wie er wird jo bald nicht wieder erfichen, denn nur unter den 
jen vergangener Zeit vermochte fih eine Individualität 
wie die feinige frei umd ungehemmt zu entwideln und auszugeftalten. 
Diefe Vereinigung von reinem Jdealismus und ccht kurifchem 























€. v. d. Brüggen. 215 


Wefen, wie fie in Brüggen fid) einzigartig verförperte, fehrt 
jo nicht wieder. Wir, die wir ihn gefannt und geliebt haben, 
werden die Lüde, die fein Sceiden in unfer Leben geriffen, 
immer jchmerzlich empfinden und das, was er und geweien, feit- 
halten, bis wir früher oder jpäter ihm nacjfolgen. Aber wenn 
auch Ale einjt dahin find, die ihn von Angefiht gefannt, fein 
edles Bild wird much auf die ipätern Geichlechter übergehen, denn 
nur mit Rurland jelbit kann Ehumd Vrüggen’s Gebädhtnih 
untergehen. H. Diederichs. 





5 


























Notizen. 


Der deutiche Handel in Nowgorod bis zur Mitte des 
14. Jahrhunderts. 

Während die erjten Kämpfe zwifdhen Deutfchen und Ruffen zu Anfang 
des 13. Jahrhunderts an den Ufern der Düna und dann vornehmlich im chit 
nifchen Gebiet ftattgefunden Haben, datiren die eriten deutfch-ruffiicien Besiehungen 
aus früherer Zeit: es find das Hanbelöbeziehungen gewejen. Statigehabt Haben 
fie (etwa von Premen aus) vielleicht fon un die Mitte des 11. Jahrhunderts, 
ficher nadyweistich jedod) erit um die Mitte des 12. Jahrjunderts, zumal fid erit 
um diefe Zeit die deutfche Serrfchaft dauernd am Sühufer der Citiee feftgeieht 
hat. Jntereffant it, dafı damals nod) ruffifche (d. . eigentlich wohl warägiiche) 
Schiffe nicht nur bis Wisby auf Gotland, fondern aud) bis zur deutfchen Stadt 
gübed, welde der Sachfenherzog Peinrich der Yöme 118 an der Stelle einer 
urfprünglich wenbifchen Niederlaffung gegründet hatte, worgebrungen zu fein 
icpeinen. reitich, die ruffiichen Handelsiiffe find fehr bald von ber Titiee 
verihwunden, aber fo zahlreicher erjienen von nun an deutiche Kauf 
feute in den ruffiichen Städten, vor allen im ehrwürdigen Nomgorod am Woldon. 

Diefer „Deutfche Handel in Nowgorod bis zur Mitte 
des 14. Jahrhunderts“ bildet das Thema einer fehr Iefenswerthen, injtruf- 
tiven Abhandlung, melde Dr. W. Bud im Ieptjährigen Programı der St. 
Annenfcue veröffentlicht hat (St. Petbrg. 1805, im Separatabdrud 90 Seiten $91. 
Ihre Letüre fann auch nichtfahmännifchen Areifen beitens empfohlen werden, 
da fie ohne großen gelehrten Apparat in licht fajlicher Tarjtellung einen hübfchen 
Ueberblid über ein intereffantes Stüd deutfcher Aulturgeicichte bietet. Ermwähnt 
fei, dafı der erjte Teil bereits im Jahre 1801 als Berliner Tiffertationsichrit, 
aber doc) mr in wenigen Pflichterempfaren erjcpienen ift und in der vorliegenden. 
Veröffentlichung — wie der Verfaffer in der Worbemertung jelbit angiebt -- 
eine „ziemlich gründliche" Umarbeitung erfahren bat. 



































Notizen. 217 


Den Srügpankt des deutihen Handels in Nowgorod bildste der nad) 
Dr. Bad in den „legten Jahrzehnten des 12. Jabebunder.s” angelegte Deutiche 
Hof oder St. Perershof, fo genann! nad der offenbar TIB4 erbauten 
St. Verritiche. „Ein mit einem Zaun oder Wall umgebener nnd. beieltiger 
Gebäudefompfer, war er bzitimmt, den Kaufleuten und ihren Waaren Unterkunft 
zu bieten, fo dal; fie nur im Fällen ftarken Andranges außerhalb Wohnung 
nahmen? aber auch das Necht gehabt zu habın feinen, beitimmte Göfe zu 
belegen.” Nacgemwiefen wird, sah diele Grindung vom Perein deutfcher Maufe 
leute in Wisby ausgegangen üft, und dab die Gründer vorzugsweile Weitfaterr 
waren. Des Weiteren werden wir über Die verfchiedenen Wege unterrichtet, anf 
welchen die deutfchen Naufleute nach Nowgorod gelangten, und über die Art und 
Weite, wie die Heilen dorthin unternommen und ausgeführt wurden. Mehrfach 
hat der Verfeßr in Folge von Streitigfeiten und Rriegen Unterbredjungen erfahren,. 
welche durch ben Abidhluh neuer Verträge mit den nomgorader Fürften (in den 
Nahren , 1260 und 1269) beendigt wurden. Ausführlicher berichtet der 
Verfaifer über die aus dem 13. Jafrzaudert und der eriten Hälfte des 14. 
erhaltenen Seras oder Schragen, die Sapungen des Deutfchen Dofes. Namentlich, 
zeigt er, mie Wisbn fi jehe bald im die Cherhoheit über den Hof mit Lübert 
bat theilen müffen und epteres fchlichlih das Uebergewicht erlangt hat, und 
ihifdert fehe eingehend die Lerfaffung und Einrichtung des Hofes und die Art 
%S dort betriebenen Handels. Tie zum Schltui; gebotene Ucberficht über Die Dandels* 
artitel und die üblichen Zahlungsmittel iftr freilich im Werhäftnih zur Anlage 
des Ganzen eiwas zu fnapp gehalicn: Schr danfenswerth wäre «8, wolle 
der Werfaifer die Bearbeitung des einmal aufgenommenen Themas um weitere 
andertfalb Jahrhunderte fortiegen, zumal ihm aud, für dieie Periode N. ©. 
Niefentompf in der trefflden Magiiter-Piffertation „Der Deutiche Hof zu Row 
gerod bis zu feiner Schliehung durch Jan Watfiljewinfeh TIL. im Jahre 1404" 
(Dorpat 1854) vorgearbeitet $ 

Bedeutfamer, weil felbftändiger, ift der Inhalt des eriten Teiles — 
gleichwohl ift Einiges aus demielben zu beanftanden. Wenn der Verfaffer gleid) 
auf den erften Seiten im Gegenjaß; zu den bisherigen Tarftellungen den Anfang 
der beutfchen Yandelsfahrten nicht in die zweite, fondern in die erjte Hälfte des 
12. Yahrhunderts fehen will, fo feudhtet feine Beweisführung infofern nicht recht 
ein, al8 nad) Ieyterer Diele erften Handelsreifen auch um die Mite des 11. Jah: 
bunderts_ ftattgefunden haben fönnten; aud) wäre zu dem S. + bezüglich Cübeds 
Berichteten Binzuzufügen, da fAjon Heinrich der Yöine glei) nach Gründung der 
Stadt bie Nuffen zum Befude des neuen Freihafens eingeladen hat (fiche 
Kurd von Schlöger, die Hanfa und der deutiche Ritter-Crden &. 8). ©. 14 
wird erzähft, daf ruffiiche „Raufleute" in der Terra Adgeile überfallen und 
ermordet worben feien; es find daS aber pfesfaulche Tributeinfammler 
gewefen, melde hier, vierzig an der Zahl, im Jahre 1285 von den deutfchen 
Ordensrittern umgebragit wurden (über die näheren Umftände fiche meinen Auf 
fa „Die Tributpflichtigleit der Yanbihaft Tolowa an die Pilestauer" in den 
„Ritth. a. d. Tot. Geichihte" W. XIV, meziell &. 108 j). Wenig glaube 






































218 Notizen. 


würdig ericeint S. 14 Anm. 2 das Zitat aus C. Crosgers fiol. Geidichte. 
€s ift vielmehr binlänglic bezeugt, dafı 5 zwiihen Piga und Plestau einen 
direkten Handelsweg gigeben bat, und aus einer neuerdings aufgehundenen 
Uefunde wiflen wir foger, dal -- allerdings im fpäterer Zeit — bie Stat 
Wenden für den Handel mit und aus Westau als Stapslplay gedient bat. 
geiber eben hat der Werfafer fich binfihtlic der Lvländiichen Beziehungen 
feviglic, mit der Nenntnihnahme der menig zuverläffigen Daritellung €; Erosgers 
umd der von A. CE. Napiersty publizixten „tuffiih-lioländiichen Uelunden” 
begnügt; eine außgebreite'er: Renntniig der livländichen Cuelken um) der 
baltiihen Gefeiih'sliteratur wäre feiner interefionten Schrift fiherlich ehr Ju 
Gute gefommm! 











Friedrich v. Reußler. 























die Eingeborenen It » Kivlands 


im 1. Jahrhundert. 


Die Küftenländer des baltiihen Wieeres find die erjten 
Jahrhunderte unferer Zeitrechnung in tiefes Dunkel gehüllt, 

Die vergleichende Sprahforihung hat feitgeftellt, dah die 
ugro-finnifchen Völfer, welde dem ural-altaiichen Epradftamme 
angehören, fon im erften Jahrhundert n. Chr. mit germanifchen 
Stämmen in Verührung gekommen fein mühen md ywwer in 
jo nachhaltiger Weile, dah; fie einen großen Theil ihres Wort: 
ichages dem Altgothiihen entnommen hätten. Wo und wie aber 
hat dieje enge Berührung der zwei Naffen jtattgefunden? Ptüllenhoif 
nimmt an, dal die Nordgermanen die Finnen bereits in Sfandir 
navien vorgefunden Hätten’). Dagegen führt Meigen in feinem 
großartigen Werke „Siedelung und Agrarweien der Wetgermanen 
und Oftgermanen 2c.“ aus, dal diefe Annahme nicht genügend 
erkläre, wie die Dialekte vieler öftlicher Finnenftämme die ger: 
maniiche Beeinfluifung in fo hohem Maahe zeigten. Die von Ionen 
und Ntosfinnen alo germanifch bezeichneten Stammmörter der 
finnischen Wöller umfahten die wichtigiten Kulturbegriffe?). Cs 
jei ganz unmöglid, dab; durd) blofe Webertragung umter den 














13.8. Müllenhof, Deutjcpe Atertfumstunde, Berlin IN 
>) W. Thomfen, Ueber den Einfluß der germanifcen 
finniidh:lappifchen. Halle 1870. V. Koskinnen, Sur Tantiquitis ı 
vonie. Acta societ. seient, Fennieae Bd. VLIL Th. 11. Helsin 















220 Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh. 


Finnen jelbjt biefe Aulturmörter zu den öftlichen Stämmen gedrungen 
feien. „Diefe Weiterverbreitung würde eine allmähliche Bewegung 
fteigender Bildung vorausjegen, in der mannigfader Wechlel und 
das Schaffen eigener Begriffe unvermeidlich eingetreten wären.“ 

Ebenjo wenig Fünne man annehmen, „dah etwa jämmtliche 
finnifche Stämme bei Ankunft der Germanen in irgend einer 
Gegend Fonzentrirt gelebt hätten,” oder, „da vor unjerer Zeit 
rechnung eine nachbarliche almähliche Wanderung dev Nordgermanen 
längs der Grenzgebiete der Finnen jlattgefunden habe, welche 
diefen die germaniiche Nultur zugetragen hätte.” 

6S bleibt mir übrig, To folgert Meigen, „weitzerftreute 
Niederlaffungen nordgermanifcher Friegerücher Naufberren in allen 
fübticheren, flimatifch bevorzugten finnijchen Yandichaften anzunehmen, 
Niederlafungen, welche durch ihre Nulturhilfsmittel der benadhbarten 
Vevölferung jo große Vorteile boten, dal fie ohne Widerftreben 
und ohne die Nationalität der Finnen an fich zu zeritören, auf- 
genommen wurden,“ ") 























Tiefe einlenchtende Smpotheje gewinnt uns ein ganz 
bejonderes nterefe, wenn wir fie auf die Nejultate der 
bisherigen präbiitoriichen Forihung in den Tftieeprovinzen anzı 
wenden verfuchen. 





Hier zeigen nämlich zahlveiche archäologiche Funde die Spuren 
germaniicher Ziedelung. Bei dem an und für fi) hupothetifc—hen 
Charakter der prähiitoriichen Forihung ijt bioher aber feine 
Einigung darüber erzielt worden, in weldem  Verhältnih die 
Spiren folder germanicer Ziedelung zu derjenigen anderer 
aifen, vornehmlich der finniichen und. litoflaviichen ftehen, welche 
fich — wahricheinfich als gleidhyeitig —— in großer Anzahl nach: 
weijen laffen. Dit andern Worten: Ardologen und Eihmologen 
wien nicht vecht, was fie mit den Spuren germaniicher Elemente 
anfangen jollen. Bedeutende jfandinaviche Gelehrte wie Worfaae 


















9) Kugut Meipen „Siedchmg ud Agrarmeien der Weitgermanen und 
Titgermanen, der Nelten, Mömer, Aünnen und Steven,” (I. Abtheilung von 
Wanderungen, Anban und Agrarraht der Wölfer Europas nördlid der Alven“) 
Verlin. 18 170. 2 1. Wültenhoii a. a. C. ©. 0. 



















Die Eingeborenen Livlando im 13. Jabrl. 221 


Viontelins und Apelin!) gehen joweit, day fie behaupten, germaniiche 
Stämme hätten in den Oftieeprovinzen während der eriten Jahr: 
Hunderte n. Chr. geieilen. Aspelin bezeichnet als Endpuntt der 
rein germanifchen Siedeltung die Sunmeninvajion (um 375), alodann 
feien die Germanen von Finnen und Yetten abgelöft worden. 
Grewinge ?) dagegen nimmt an, dab zwiichen der ugro-finniichen 
Urbevöfferung gothiiche Elemente gefeiien hätten. Cr unterftügt 
feine Annahme aud durd etymologüche Yeweile und meint, da 
als hiteriche Ertlärung diefes Zuiammenlebens der zwei Naflen die 
Erzählung des Jordanis dienen fönne, nad) welcher der Djtgothen 
fönig Hermannarich die Nation der Xeitier fih unterworfen Habe. 
Unter den Xejtiern des Taeitus und des Jordanis jeien in erfter 
inte ito-flaviihe Stämme, in zweiter die Titländer überhaupt, 
aljo auch die finnifchen Urbewohner der Titieeprovinzen zu vers 
itehen. Die Nadrichten des Jordanis ipielen überhaupt eine 
wichtige und, wie mir iceint, unberechligte Nolte in der Daritellung 
diefer dunfeln Epoded). Schon Wattenbach hat nachgewiejen, dab 
Jordanis, der um 550 icrich, für diele Zeit Cassiodors Geichichte 
der Hothen und zwar blos nad) dem Hedächtnif; benugte und dal 
er Überhaupt flüchtig und unzuverläffig it". 

" 














33%. Woriaa, „LVorgeihichte D:3 Nordens nad gleichzeitigen Dent 
mäleen,“ 0. d. Tin. von Mestorf. Yamburg. INT8. & Dr. Muntelins 
Sur le prem es Valtigques de la 
en Pol« on du com inte 
istoriqnes ih Budapest INT6. D. AST. 0 
Aspeli 3 Finno-Ongrien.“ Helsinetorsto. 3.1.3.3 

ı €. Grewingt, ‚Die neolithifdhen Bewohner von Aunda im Ejtlan.” 
Verhandlungen der Gefeheren Ehtwitchen Geieliheft zu Dorpu Q. NIL. 
ISSL. 2.59 fi. al. and deifen „Die Steinichifie von Muihing sc.” Darpat IST. 
8.0. fi. 











s les prov 
Compte-rendu de daS. ses 
Wanthropolagie et d’archeolnzi 























. 8.0. Parrot, „Berjud) einer Entwidehung der Sprache, 
g. dir viwon, Yäten, Geften“ Yerlin 1839 2. 224 nad Era 

ins, Torfens. Diusoss. Berner: St. d. Slöjer „Xivland und 
1 baltüichen Norden“. Berlin 1850, 2.31 u. 4.1. 
. Zeraphim „Gefichte Yio-. Et uud surlands ıc." 9b. 2. Neval IS. &. 11. 
Auch Meipen, Siedelung x. 11. 3. 1451. 154 ziier den Jordanis (oder Jormandısı. 
HB. Watrenbat) „Deuticplands Geicichtsquetlen im Mittelalter bis zur 
Witte des 13. Jaheh.” Werlin INS. &. 47 f. Jordanis fteigert wur die Wer 
wirrung, die jene Vorgänger angerichtet haben, 5. %. macht er and die Stythen 
und Amozonen zu Cohen. 






















2 Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrh. 


Wir müfen daran feithalten, dah uns für dieje Epoche feine 
fiheren Hifterifchen Quellen yu Gebote Neben und daf wir uns 
mit den Forfchungen der Archäologie und Ethnologie begnügen müfien. 

Angenommen mn, dafi fi unpweifelfafte puren ger: 
maniicher Siedelungen in bem Gebiete zwiicen Diemel und Naroma 
finden, fo fragt es fidh jept, wie weit germaniiche Ein 
den eriten Jahrhunderten n. Chr. feitzuftellen find. Ob in ber 
That germanifche Stämme das ganze Gebiet eingenommen haben, 
Montelius und Aspelin behaupten, oder ob blos ein Herrichafts: 
Itnih der Gothen erijtirt Habe, wie andere Foricher, gejlübt 
auf Jordanis, annehmen, oder ob endlich) die Meigenjche 
von dev Niederlaffung germaniicher Kaufleute in den füdfin 
Kandichaften auch auf die Gegenden der heutigen Oftieeprovinz 
auszudehnen wäre. Das muf die nächite Aufgabe der prähiftoriichen 
Forichung fein. 

Wir fommnen jegt zu einer andern frage: In welche Zeit 
fällt die Abgrenzung der Siedelungsgebiete der beiden alien, 
welche die deutihen Eroberer im 12. Jahrhundert in den Oftiee 
provinzen vorfanden? Aud) dieje Frage läht fid) nicht mit abjoluter 
Vejtimmtheit beantworten. Denn and darüber find die Forfcher 
nicht einig, welche Nation zuerit in den Oftfeeprovinzen gefiebelt 
habe — die finnifche oder die lettifche. Gvewingk it, wie oben 
ausgeführt worden, der Meinung, da das ganze Gebiet von 
Preußen bio Finnland oder, wie er co nennt, das „Djtbaltitum“ 
von ugro-finniichen Stämmen befiedelt gewefen fe. Er fommt 
unabhängig von andern Forfchern, die daffelbe behauptet haben, 
zu diefer Anficht ). Dagegen haben Schirren ?) und Nosfinnen ?) 













9) 3. 2. Watfon, „Ueber den Letifen Yölterftanım“. Jahresverhandtungen 
der Aurl. Gefelicaft für Literatur und Nun 
3.20 der Furl 













S. 631. 103, 
geiefien hätten. 
t zweifelhaft. La. 








Nordijche Geichichte”. Halle 17 
18 und AD. 
> €. Scirren, „Nachrichten 
länder des baltifchen Meeres". tig 
®) Y. Koskinnen. „Sur Vantiquites des Lives en Lixenie“, 






Geiscen und Nömer über die Aüftens 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


die Anichauung ausgeiprochen, da eine Jnvafion finniicer Stämme, 
theils auf dem Landwege von Norden, theils zur See von Mejten, 
in tettifdj-litpauiiches Siedelungsgebiet tattgefunden habe. Dieie 
Anfhauung it neuerdings von Vielenftein aufgenommen und mit 
großem Gejchit vertheidigt worden !). Aud) Meiben Ichlieht fid) 
in feinem jüngiten Werfe den Ausführungen Vielenfteins vollftändig 
an und bejtimmt als Zeitpunkt der finnijchen JSnvafion das 6. 
oder 7. Jahrhundert n. Chr, >). 

Was uns die Gedichte über den Zeitraum bis zum 12. Jahr 
hundert bietet ift undeutlich und unzuverk Herodot. Ptole- 
mneus, Taeitus, Plinius fönnen wir bei Seite lafjen, ebenjo 
Cassiodor und Jordanis®). Cie bieten der Hypotheie ein zu 
weites Feld. Als mwarnendes Beilpiel mag das gelehrte Werk 
des Archäologen Krufe dienen *), dem in Bezug auf unwahricheinliche 
und gezwungene Hypothejen nur nod) das Wud) des Finguiten 
Barrot gleichfommt. 

Das Licht der Gejcichte dringt erft fpät in das Dunkel, 
welches über den Dftgefladen des baltiichen Meeres ruht. 

Mit Sicherheit erfennen wir jehr alte Veziehungen der 
Standinavier zu dem „Oefterrife.” Nunenjteine und die alten 
nordiichen Sagas fprechen dafür‘). Diefe Veziehumgen mögen meijt 
friegeriicher, vielleicht aber. aud wirthichaftliher Natur gewefen 














1) Dr. X. Vielenftein. „Welds Bolt Hat an den Süften des Nigichen 
Mesrbufens die hiftorifche Priorität, die indogermaniichen Yetten oder Die mongolifchen 
innen?“ Valtifche Monatsichift. 
Holt in „Die Grenzen des Iettiiche 

& Meipen, Siedefung x. I. 
m:int, dal üi fi 
Yetten von der baltiihen Seefüfte abgedrängt hätten. 

5) Herodot (Hist. Lu MMC. 115). Ptolenaens (Geogr. Tu I. 
Taeitus (Germania Plinius (mad) den Verichten des Phytlens). 
Mist. natur. Lib. NNXVI. € 2) Wal darüber E. Schirren, Radpichten 1. 

45. Steuie, „Urgefchichte des Eitpniichen Lollsitammes“ Mostau 1810. 
Yarrot. a. a. D. 
> Ingooriagn, Seinstsingla, Anglinga-Saga des Suorre Sturleffon, 
talla-Grimfon's Saga. Ueb:r den in Södermannland gefundenen Numeniteiı 
ibungsberichte der „Pete für Geichidhte u. Alterthumstunde der 
Au 20 Kerner: Dr. . Bielenfteiı, 































irenzen 1. 


221 Die Eingeborenen Liolande im 13. Jahrh. 


fein. Auch bier müfen wir an die oben ausgeführte Meigenjche 
Supotheie denfen. 

Eine genanere Nachricht Haben wir erft aus dem 9. Jahr: 
Gumdert. In Nimberts Vita Anscharii werden die Chori im 
jeßigen Nurland (oder in Cefel erwähnt. Wir hören von erbitterten 
Nämpfen der Nordmänner mit diefem Wolfe, Um 850 joll die 
Kurenftabt Apule von dem Schwedenfönig Llaf erobert worden 
jein, naddem zuvor die Dänen, welchen das Land zinspflichtig 
geweien, einen verumglücten Feldzug dorthin unternommen hatten). 

Aus dem 11. Jahrhundert haben wir den Bericht des Adam 
von Bremen. Zwar ijt das, was er uns von Nurland und Ehjtland 
erzähft, noch fehr märchenhaft, aber wir erfahren von ihm, daf 
ein dönifcher Kaufmann auf der Injel Churland eine Kirche gebaut 
babe; das habe er — Adam - aus dem eigenen Wunde des 
Königs Sven Ejtrinfon. (1047-1076 9). 

Ans diefen Nachrichten tönnen wir entnehmen, dah die 
ndinavier chen Fehr feih verlucht haben an den öftlichen 
ten des baltifchen Meeres Fu zu faflen. Mehr ale Wicinger 
ige find cs aber faum geweien. Wir willen, daft die fühnen 
hiten und Nuren ihnen Diele Naubzüge mit gleicher Münze 
zurüchahlten, ja daß cehitmiiche Zeeräuber die reiche Stadt 
igtuna am Mälar verbrannten?). 

on diefen Scoräuberzügen wird noch fpäter die Nede 
Weniger ımdentlich alo die Beziehungen der Cingeborenen zu 
den Sfandinaviern find diejenigen zu ihren öfttichen Nachbaren, 
den Nuffen®). 

Die auf bfoher Neberlieferung beruhenden Nachrichten der 
ruffiichen Ghroniten über die Zeiten bis zum 11. Jahrhundert 
fönnen wir füglic übergehen. 

































1) Ygl. Aurtänbifche Siumgsberichte von 188 

>) Adam von Dramen IV. 16. 17. 19. Ka. Min. 

’ Yal. Scplöger, Yiland 1. 

Rad) A. Yampreht „Deutice 
um HIST verbrannt. 















.. &. 160 wurde Zigtuna 


hen Beziehungen find Mar und überficlich dargeitellt von 
Wuhland, Polen und Yivland bis ins 17. Jahrhundert.” Berlin, 
5 fi. im 10. Theit der I. Danprabtheitung von W. Cnten, 
ine 1c.). 









Atg-meine 





Die Eingeborenen Livlande im 13. Jahr). 





AS fid) die Neiche von Nowgorod und Polozt gefeitiat 
hatten, mögen deren Fürften verfucht haben ihre Herrichaft bis 
an die Oftfeefüfte auszudehnen. Die nad) Neftor benannte Chronik 
(um 1100) berichtet uns, daß Wladimir der Große (080-1015) 
die Dünagegend unterworfen Habe. 

Sicher ift, da; im Jahre 1030 der Großfürit Iarostaw die 
Ehjten befiegte und in ihrem Yande die Stadt Jurjew an der 
Stelle des fpäteren Dorpat gründete. Die ruffiiche Chronif berichtet 
dann weiter, day dem Grohfüriten schliehlic) jemmtliche Wölter der 
Titfeeprovinzen: Ehiten, Yiven, Letten, Semgallen, Yithauer, Samaiten 
und turen zinspflihtig wurden. Das ift jedod) faum anzunehmen. 
Nach Jaroslas Tode einpören fid) die Chften, zerjtören 1061 Jurjew 
und machen fogar den Verfuch Plesfau zu erobern. Jim folgenden Jahr: 
hundert gelingt e8 den Rufen auch nicht dauernd fejten Fuß zu fafien. 
1107 erleiden verbündete füb- und weitruffiiche Fürsten durch die 
Semgallen eine bfutige Niederlage; 9000 Nuffen deden das 
Schlachtfeld"). Allerdings eroberte Mitislaw von Nowgerod 1116 
die Ehitenfeite Odenpäh und 1130 wide den Chften wieder ein 
Tribut auferlegt, aber 1132 jchlugen diefe deu Wiewolod Mitistmos 
Sohn völlig aufs Haupt. „Es geihab groß Unheil,” jagt die 
ruifiiche Chronik, „viel gute Wänner aus Nowgored wurden 
erichlagen.“ Die Erfolge, weldhe Wiewolod 1134 errang, waren 
aud) nicht von Dauer. 1177 wird wieder eine größere Kicderlage 
der Kuffen bei Plesfau din die vereinigten Ehiten berichtet. 
Auch für die fpätere Zeit it eine aktifche Abhängigkeit der Ehiten 
von Nowgorod oder Mesfau nicht madzuweifen?), wohl aber 
finden wir vorübergehende Bindnife der Ehften mit den Kuffen 
gegen die deutjchen Kreuzfahrer. 

Während fi ale die Ehiten und aud die Semgallen der 
wiederholten Unterjohungsverfuche der Auifen erfolgreich erwehrten, 





















x auch Karamfin's Geihichte des Au 
IR und II 

Die Tributpflicrigleit der Yandichaft Tolowa an 
die Plesfauer“. gen aus der livlänifnen Gefhichte" Ad. XIV, 
&. 050. 9% An. und deffelben „yur Arage der Beiehungen der ruffiiden 
provingen im NL a. XI 
Riga, dv. ISOL. 116 f. 


u Reiche, Deutfche 





Ueber‘. Bo. 1. 














Fahrh.”  Zigungsber. d. € 





226 Die Eingeborenen Livlfands im 13. Jahrh. 


gelang co Dielen über den Stamm der eigentfichen Letten, ber 
Yettgallen, mad über einen Theil der iven danernde Herrichaft 
ji gewinnen. 

In welchen Zeitpunkt die Begründung berjelben füllt, willen 
wir nicht. WS im der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bie 
Dentihen in die Diinamündung drangen, fanden fie die Liven 
und etten amı rechten Dimaufer, jewie die Yettgallen in Tolowa 
unter vuffiicher Votmöhigfeit. Für die Wende des 12. Jahr“ 
bumderts find zwei wuiftiche Machtbereiche zu umtericheiden: der 
Mactbereich des irftentbune Polozt an der Tina und der des 
Rrftenthums lesfan, welcher die lettifche Landichaft Tolomwa am 
oberen und mittleren Yaufe der (nländüchen Aa umfahte‘). Das 
Abhängigfeitsverhäftnii; war nur forfer, eo beitand in Tributzahlung 
und vielleicht in Srereofolge. Dierüber wird an anderer Stelle 
noch ausführtich die Nede fein. 

Mir mälen jebt, da wir zeitlich bei der deutichen Eroberung, 
alle am der Grenze mnierer Darftellung, angelangt find, Halt 
manhen amd die eihmogranbiichen Werhältniie ihildern, wie jie von 
den Deutihen im 13. Jahrhundert vorgefunden wurden. 

















N. 


Turrch die umehienden forfchungen des gelchrten Paitors 
und Eimmologen Dr. A. Bielenftein find wir in der Lage uns ein 
siemlich deutliches Bild der etbnograpbifchen Verhältniffe 
Alt Yivlando im 13. Jahrhundert zu machen®). 

Wir haben geichen, dafı Völterjehaften finnüicher. alfo mango- 
licher, und Lertiic-litpaniicher, alto ariücher, Naife die Nüftenländer 
zwifchen Memel ımd Naroma, das jpätere Alt-Livland, befiedelten. 





Ir Kal. % 0. Acubler „Das livifche und dertiiche Timagebiet und die 
ürften von Pologt, Grreife und Kofenbufen am Ausgange des XI. und zu 
Veginm des NN Jahrhunderts.” Mürheil. a. d. Kol. Geidichte. Do. NV, 
& auch deffelb. Triburpilichtigfeit x. von Toloma &. 81 f. 

>) Dr. 9. Vielenftein „Die Grenzen des Ietiiidhen Wolfsitammes und der 
detiichen Sprade in der Gegenwart und im 13. Jahrhundert.” Mir einem Atlas 
von 7 Blättern. teroburg. 1802. 9 ci über Di 
fwiedenen Nationen umd Ztänms, ;. D. die Rarionaliäten.srage der 
om der Ma, werde ich hier bei Seite lafien 












ver: 
enden 












Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahrh. 227 


Die finnifden Stämme nahmen das heutige Ebjtland und 
nördliche Livland fowie die ivländifhe und turländiiche Rüfte ein. 
Wir unterfheiden zwei Hauptjiämme: bie Ehiten und die Liven. 
Eritere jahen in geichlofienen Majfen in Ehjtland, dem nördlichen 
Kivland und den vorgelagerten Infeln, d. h. ungefähr in ihren 
heutigen Grenzen. Lebtere theilten fi) in zwei gefonderte Stämme: 
die eigentlichen Liven, welche einen durchichnittlih 5-6 Meilen 
breiten Küjtenjtric vom Trrobade bis zur Düna und das Gebiet 
am rechten Dünaufer bis hinter Lenewarden einnahmen, und bie 
Kuren an der ftüfte vom Angerniden Sce, bezichungsweife von der 
Dünamündung, bis gegen Viemel und amı unteren Lanıfe der Windau. 

Die Ketten zerfielen in drei Haupfitämme: die Yettgallen 
füdlih von den Chften und öftlih von den Liven in den jepigen 
Rreifen Walt und Wenden, im öftlichen Theile der reife Niga 
und Molmar, jowie einem Theile des jebigen Polnifc-Livland; 
ferner die Selen in einem jchmalen Streifen am finfen Dünaufer 
von Dünaburg bis Zelburg, und endlid die Semgallen. Dieje 
bewohnten das ganze mittlere und füdöftliche jegige Rurland zu 
beiden Zeiten der Semgaller Aa und am oberen und mittleren 
Kaufe der Winden. Sie grenzten alio im Norden und Weiten 
an die Kuren, im Tften an die Liven md im Südoften an die 
Selen. Das ganze Gebiet füdlih von den Nuren, Semgallen 
und Selen wurde von den Lithauern eingenommen, einer ben 
etten nahe verwandten Nation. 

Dit Ausnahme der chimiichen find aber die geographiichen 
Grenzen der Nationen feineswegs fanber durchzuführen, weil 
auch eine ethnographiiche Scheidung nicht immer möglid) ü 

€s ergeben ji) Gebiete, in denen Sprad und Geidic)ts: 
forichurg gemichte Bevölferung annehmen müffen - wenigitens 
im 13. Jahrhundert. Namentlid it das in Sturland der Fall, 
wo wir auf einem großen Theile des finnifchen Siedelungsgebietes 
fettiihe Spuren antreffen. Desgleihen in Livland im Vezirfe 
Zoumen (zwiien Wenden und Lemjal) und an der Düna bei 
Kenemarden. 

Diefer Umjtand wirkt deswegen bejonders jtörend, weil, wie 
wir jehen werden, ein prinzipielle Unterjchied zwiichen der 
Siebelunasmw:ije der finniidhen und lettiihen Wölterjchaiten beitand. 

















Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahr. 


I. 

Es ift mun zu unterfuchen, welcher Art der Nultur- 
zujtand diefer Nationen zu der Zeit war, als die Deutjchen 
mit ihnen in Verührung famen. 

Wir befisen für diefe Zeit eine unfchägbare Quelle in der 
trefflichen Chronit des Yettenpriefters Heinrich, von dem wir mit 
Veftimmtheit willen, dai; feine Berichte über das Zujanımentreffen 
der Deutichen mit den Eingeborenen Alt-Livlande auf Autopfie 
berugen!). 

Es fiegt auf der Hand, dab die Chronit Heinrichs in erfter 

itifche Vorgänge fchildert und fih nicht 
mit ethnologiichen Fragen beichäftigt; eine folhe Betradtungsweile 
(ag ja jener Zeit vollfommen fern, aber wir finden in der forg 
fältigen Aufzählung von Thatfachen nicht jelten Fingerzeige, die 
wir zu unferen Zweden ausbeuten fönnen. 

Natürlich erlangen wir auf diefe Weife feine volljtändige 
Kenntniß der politiichen, fozialen und wirthihaftliden Verhältnifie 
oder gar der ethijchen Vorjtellungen unferer Völfer, auch wenn 
wir verfuchen die Yücen durd Nücichlüjfe aus ipäteren Quellen 
auszufüllen. Das fulturgeibichtliche Wild, das wir gewinnen, 
bleibt unvollfommen genug; aber wir haben doch allen Grund 
unjerem Chroniften aud für das Wenige danfbar zu jein, wenn 
wir bedenfen, wie felten im Allgemeinen glaubwürdige Quellen 
für die Geichichte eines Volfes vor deifen Verührung mit über 
legener Kultur find. Wir befinden uns 5. B. in einem bedeutenden 
Vorteil gegenüber unjerem Nacbarlande Preußen, deifen früheite 
Hiftorifche Quelle über die Zujtände ber Eingeborenen — abgejehen 
von den Fabeleien des Neifenden Wulfitan — Petrus de Dusburg. 























üt, welder feine Chronit ein Jahrhumdert nad) der deutfdhen 
Eroberung ichrieb. 












land.“ 
der Ehronif wird von Hildebrand in die Jahre 


Die Abfaffung 
gelegt, vgl. &. 19. 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Die inneren politifden und fozialen Ver 
bältwiije der Jndigenen lajjen fi aus der Chronik Heinrichs 
von Lettland nicht deutlich erfennen. 

Während wir bereits im 9. und 10. Jahrhundert bei den 
Nord-Slaven politiich jelbftändige feit organifirte Staaten mit 
Fürften und Beamtenthum fonjtatiren fönnen, finden wir bei den 
tettifchen und finniichen Stämmen im 13. Jahrhundert Feineswegs 
organifirte Staatswefen, jondern nur die Spuren jtantenähnlicher 
Gebilde. Die einzelnen Stämme der beiden Nationen deinen 
untereinander nur in jehr loderem Zufammenhange geftanden zu 
haben. Zwar finden wir Bündniffe zweier Stämme, wo eo fid 
um größere Feldzüge oder ernjthafte Vertheidigung bandelt!), 
doch ift das National, oder beifer gelagt: Natiegefühl, To gering, 
daß nicht felten zwei Stämme eines Vlutes in feindlichen Yagern 
fämpfen?). Da wir aud) andererfeits Bündniffe zweier Nationen 
untereinander®), ja jogar mit auswärtigen Nachbaren antreffen?), 
fo brauchen wir nicht einen politifchen Zufammenhang der Stämme 
eines Blutes voranszufegen. Eine Yusnahme macht vielleicht die 
ehjinifche Nation. Cs wird uns nämlich berichtet, dah in der 
Yandichaft Harrien ein Dorf Raigele lag, in weldem die 
ummohnenden Stämme alljährlich) zu einer Verathung zujammen. 
zufommen pflegten®). Yeider ift nicht näher angegeben, welche 
ehjinijchen Stämme fich zu diefem jährlichen „Thing“ verlammelten, 
jedenfalls nicht alle, was ion aus dem Ausdrud „ummohnend“ 
teireumiacentes), jowie ans dem Umftande hervorgeht, daß die 
Injel-Ehften auf einem bejtändigen Ariegsfuhe mit den Feitland- 
Ehiten gelebt zu haben fcheinen®). Immerhin liegt der Gedante 
an einen engeren Zufainmenhang mehrerer Ehftenftämme — eine 
Art Völferbund nahe und wir werden in lebhafter Weile 
an ähnliche Ericeinungen bei den alten Germanen und Slaven 























%) Heinsiei Chr. Lyvo ga bo Hy Dig 16,5 21 2, 
wand, 

> Ebinda IA, 123, Dar 

3.8. cbanda I 





* Der Ehiten mit den Nuffen ef ebenda 20, 2) 
=) Eben 








230 Die Eingeborenen Ciolands im 13. Jahr). 


erinnert. 66 ift übrigens anzunehmen, dal; aud) dieer in Friedens: 
zeiten zu Naigele abgehattene Thing den Zwed gehabt hat, in 
exiter Linie friegeriiche Berathungen zu pflegen. Wir willen ja, 
dah die Ehften feit Jahrhunderten mit ihren mächtigen Nadhbaren, 
den Nuffen, in Kriege verwidelt waren; joldhe Unternehmungen, 
wie die gegen Mestau (1061 ımd 1177), mögen auf der Jahres: 
verfammfung von Naigele geplant worden fein. 

Die innere Organifation des einzelnen Stammes it ebenfo- 
wenig deutlich erfennbar. 

Ieder Stamm zerfiel in eine Reihe gröferer und fleinerer 
Gemeinwefen. Heinrich von Yettland verfügt über mehrere Ve 
jeihnungen für das Land, weldes von einem Stamme bewohnt 
wird, aber er gebraucht diefelben nichts weniger wie prägis. So 
wendet er den Ausdrud provineia bald auf das ganze Siedelungs: 
gebiet einer Nation an, bald auf eine größere Landidhaft, die 
von einem Stamme bewohnt wird, bald auf den einzelnen Bezirk 
oder Gau einer folden Landicaft. 

Für die Hleineren Bezirke findet fd nod) ein ehjiniicher Aus- 
brud „Kylegunda“, welder foviel wie Sauverband bedeutet uud 
den der Chronijt an einer Stelle ausdrüdlich für provineia jegt!). 

Dit Sicherheit fönnen wir annehmen, da das Eiebelungs- 
gebiet einer Nation in mehrere Sandidaften und jede Landichaft 
wiederum in eine Neihe Heinerer Bezirke jerfiel. Ueber die Ent- 
ftehung dieier Gemeimvejen ift aus Heinrichs Chronif nichts zu 
entnegmen. Sie fällt in eine weit frühere Zeit. Möglicherweile 
find die Gauverbände aus Gefchledhtsverbänden hervorgegangen. 
Bei wachjiender Nopfzahl haben die Geihledhter fid) aus wirth- 
ibaftlichen Gründen getrennt und fid) jo räumlid) immer weiter 








Y) Gbenda. 28, In 28, , Hat die Yandichaft N 1a 7 Ayfegunden, 
in 2%, hat diefelbe 7 Provinzen; ef. auch 29, 7 und 30, Der Yusbrud 
Kiligunda finder fih aud) in Nurland. vgl. Bud. 1. 103 u. 104. 
Jegt beifst Kihlakunta im innifchen Bezirt, Kihhelkond im Ehftnülchen 
Kircjipiel. Dal. X. 3. Sjögren, „Heile nad Fioland u. Kurland 1816.“ Peters: 
burg 1847. 5.120 fi. Über d. Eimmologie de$ Wortes vgl. die Ausführungen 
Kunits in Vielenftein, Grenzen 1c. 5. 273. U. 200 u. 207. U, ferner: Y. Meer, 
„Über Ejten und Eftenthum bei Heinrich dem Yetten” in „Ziyungsberidte der 
en Gefellihaft."  Darpat INTT &. 1. 
































Tie Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. ı 


ausgebreitet. Gemeiniame Gefahr hat einen lofern Zulammen- 
hang der Zippen erhalten, nicht feit genug, um zu einer Staaten: 
bildung zu führen, aber doch genügend jtarf, um ein Gemein: 
weien zu bilden, weldes im Falle der Vertheidigung oder eines 
Haubzuges unter einheitlicher Yeitung vorgehn fonnte. 


IV. 

An der Zpige der einzelnen Gemeinweien, jowohl der 
größern Yanbjchaften als der Aleinern aue jtanden Häuptlinge, 
für deren police md befonders fopiale Stellung id feine 
ganz jharfen Umrifie in der Darjtellung Heinrichs finden. 

Er nennt fie meijt seniores: Aeltejte, daneben prineipes 
oder prineipes ac seniores'): parallel gebraucht er die Auo- 
drüde: meliores®), primores. nobiles?). fogar divites'). Den 
Semgallenhäuptling Vejthard nennt er an einer Stelle maior 
natu>). offenbar eine Umfchreibung von senior. jonjt einfach 
dux oder dux et princeps; von Ganpo jagt er: „der gewiller: 
mafen König und eltefter der Liven war“ und an anderer Stelle: 
welcher der Grite der Liven war“°); die Gejamntheit der 
seniores ber Ehjten nennt Deinrid) eaput Estonie: Das Haupt 
Ehitlands?). 

Ob Heinrih den Ausdrud senior aus der Spradje der 
Eingeboreuen übernommen hat, eri—eint mir fraglich. Allerdings 
finden fid) fpäter fowohl im Chitniichen („Wannen“) alo im 
Yettiihen („Wezzafais“) die gleichbedeutenden Wörter, aber wir 
haben feinen Anhalt dafür, daß fie idon um 1200 gebraucht und 
nicht etwa jpäter aus dem deutichen Spradigebraud übernommen 
worden find. Bei den füdjlavichen Stämmen giebt es eine 



























Analogie in den Starojten oder Supanen, den Oxtevorfichern umd 
' Heine. Chrom. Lv. 10, (dus et prineopsb Wis 1.4 
Lee) a (prineipes a 
34,100, 13021 
330, 


4 Mo „Reiche 15,7 (divites et s 

30 1 

% „qui quasi rex et. senior Lyvonum € 
erat (Caupor“ 16,3. 

%) Ebenda. 





res), 





„nor primus 








Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh. 


Semeindehäuptern, welche in lateinischen Urkunden ebenfalls Seniores 
genannt werden. 

Die Bezeichnung des Supans als Aeltejter it nad Weisen 
„füglich nur auf den jlaviichen Begriff des Stareifina, des Zamilien 
Daupts in der Sadruga wie in Bratinvo und Pleme zurücjuführen“ "). 
Wenn wir aljo die jübllaviiche Analozie wenigitens für die tettiichen 
mme anerfennen wollten, jo mühen wir aud bei ihnen eine 
uriprünglihhe Hauefommunion vorausichen. Dafür fehlen nun 
aber, wie fpäter noc) ausgeführt werden foll, alle Yorausiekungen, 
da wir feine Anhaltopunfte für igend welche fommuniftiihe Ein: 
richtungen bei Letten oder Ehiten und Liven haben. 

Eine andere Erklärung der Bezeichnung Senior für die 
Häuptlinge der Eingeborenen ift neuerdingo von A. v. Yulmerincq 
gegeben worden?) Heinrich von Yeltland hätte den Ausdrud 
senior „den ihm nicht unbekannten Verhältnifien in Holjtein und 
auf Gotland“ entnommen. Jun Holftein ımterftand Gericht und 
Xerwaltung den „seniores terrae* unter Führung des Querboden; 








in Gotland biehen die Vorftcher der Yandgemeinde, die Nadmannen, 


ebenfalls seniores. invid) hätte, um die Seniores der Ein: 
geborenen von den seniores de eivitate. de Riga zu unteriheiden, 
erjteren den Zuiap terrae hinzugefügt. Diefe Erklärung jceint 
jedoch unrichtig, den evfiens Fommt der Zufag terrae nur zwei 
Dat vor?) gegenüber ungezählten Malen, in denen cinfad) von 
seniores der Gingeborenen die Nede ifl, und zweitens gebraucht 
Heinrich den Ausdrud senior bei allen Gelegenheiten und im 
allerweiteften nme, um Führer oder Haupt eines Volkes, einer 
Kommune, eines Deerco u. dgl. zu bezeichnen; fo Äpricht er von 
den seniores der Nu »), jo nennt er wiederholt Die 




















Führer des Nreujheeres seniores der Deutichen"), fo jagt er endlid) 
an einer Stelle ausdrüdlih: „merfet und fehet «8 ihr Oberfien 


iden oder der Dänen oder 
‚0. Aus dem 


tprineipes) der Muilen oder der 








dehung und Aprarmefen ıc. IL. S. 233. op. 
. Bulmzrineg, „Sine ira et studio.“ Sipungsberichte dr Oeiell: 
id. und Alterihumstunde d. Tftieeprov. von INH. &. 140 

®) Heine. Chrom. Lv. dıg Mao 

9 23,, wird Herzog Albert von Sadıfen senior genannt. 









Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh. 





GSebrauche des Wortes senior bei 
den Schluß ziehen, da damit di 
Aeltejten im füpflaviichen Sinne gemeint find"), noch dab Heinrid) 
damit eine Vorftellung bejiimmter Funktionen und Anmtspflichten 
hat erweden wollen. Fajien wir dagegen die dem Worte senior 
parallel oder analog gebrauchten Ausdrüce ins Auge, jo find wir 
berechtigt anyunehnen, dai; fi bei jämmtlichen Stänmen der 
Eingeborenen hervorragende Männer fanden die den Deuticen 
als Häuptlinge und wegen ihrer großen Zahl”) zugleich als eine 
bevorzugte Najte, aljo eine Art Ariitokratie, erihienen. 

Was die Aunktionen der Neltejten betrifft, jo tritt uns 
naturgemäß in Heinricho Chronit die Friegeriichie Seite derielben 
beionders entgegen. Die Aelteiten find SHeerführer; als folde 
befehligen fie ihre Volfogenoflen auf dem Zuge und in ber 
Schlacht 9, fie jetteln Verjchwörungen an'), fie chliehen Vündniffe‘), 
Srieden 9) und Unterwerfungsverträge”), fie jtellen Geifeln oder 
werden jelbjt als jolde angenommen‘). 

Die Nompetenzen der Yeltejten in Friedenszeiten find weniger 
deutlich gezeichnet. Jedenfalls jtehen fie bei ihren Yandstenten in 
hohem Anichn, wie es jidh tapfern Hcerführern gegenüber von 
jelbjt verfteht ®). 


einrid Dürfen wir alio meder 
Familien: oder Geichleditsr 



















. Chron Lpv., die darauf deutet, da; mit 
das Alter bezeichnet werden joll, üt wo malor natur 
ior gebraucht üit 

2) Ebenda 
nensis_ proi 









werden 500 „os meliorilus viris ar sen 
ia” getötet, und falten ber 100 seniores 
Meforhen. Die „tere wille de melimihus“ der Lieter in 
md mo;L nur die auge 

 Ebenda 10,10 Hin 
aa Da 
10, 























um 1a 





Yeben Durch Gefchenfe an die weni 
Atobrand tödten wollten, verhinderten c& 
Einftuh Caupo hatte geht aus 16,2 hervor; feine Bedeutung 2, 1- 








234 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrb. 


Ton den Deutihen werden fie ud im rieden als Ver 
treter ihres Wolfes betrachtet; mit ihnen werden jtaaterechtlid)e 
Fragen verhandelt, fie werden zu Verträgen mit fremden Mächten 
herbeigegogen!). Cie mögen als angefehene Vlänner, die das 
allgemeine Zutrauen genojien, auch als Kichter fungirt haben ; 
aus ihrer Mitte wurden von den Dentichen Nichter eingelegt, 
die den Iandesherrlichen Wögten zur Hand gingen und aus denen 
fi das fpäter zu beipredhende Inftitut der Nechtofinder entwiechte?). 
Dan muß fih aber die rihterlichen Funktionen der elteiten nicht 
als geordnet vorjtellen, wie ja überhaupt alle ftaatlichen Gebilde 
durchaus ungeordnet waren. Cie werden in ben mehrfach erwähnten 
Voltsverfammlungen ®) präfidirt und größere Streitfragen mit 
Hülfe der Volkogenojien entichieden haben. Da von geordneten 
Nechtsbegriffen feine Nede fein kann, da überall Selbjthülfe eintrat: 
Ylutrahe, Raub, Recht des Stärkeren*), fo Fönnen die Aelteiten 
nur fraft ihres perjönlichen Anjehns, getragen vom Lolfswillen, 
vermittelnd oder ordnend gewirkt haben. 

An ein geregeltes SHerrichaftsverhälinii haben wir nad) 
alledem faum zu denfen. 

€s fragt ih mum ob die Seniorenwürde, wenn auch wicht 
de jure. d. b. verfalungsmähig, jo dod de farto erblid war 
oder nicht. Id möchte mich dafür ausiprechen. Mehrfach wird 
berichtet, daß Söhne oder Brüder eines Neltejten in die Stellung 
ihrer verftorbenen Verwandten einrücten>), und jehr Häufig werden 
„die Verwandten und Jreunde“ (wognati et amici) eines Zeniors 















Y Gbenda Tyı Ihn Hay 2 
seniores in Heinrichs Augen geht auch a 
a ervor. 

>) Ebenda 9; und Vertrag des Meilters Andrens von Lelven mir den 
Bl. Kiot. Met. Buch. 1.100 1. DIL. 1694. ngl. ferner dal. 1.219, 


12,01 Die Wihtigteit der 
de auf d. heil. Jungiran 












8, 
9 Ebenda Zu 1y 5 Die Ibn 

4) Ebenda 10, 15 

>) Ebenda. Talibald und feine Söhne Hancko, Trivinatde und Waribule 
19,3 30. 36. Die Söhne jcheinen jchon zu Yebzeiten dig Laters Heltefte geoejen 
zu fein, — Unipcwe, Yruder des Yambitu 21, 





Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh. 235 


erwähnt"), woraus ji ichliehen läht, dah bie „Sippe* eines 
jolden in den Augen der Stammesgenojien einen beionderen 
Rang behauptete. Bis zur Entwicelung einer erblichen Kürten 
würde ift aber nad) ein weiter Schritt. Durd) perjönliche Tüchtig: 
feit, vor Allem Tapferfeit und Stätte, wohl aud) durd) Weisheit, 
ragen die Hänptlinge über den freien Wolfsgenofien empor; viel- 
leicht aud) durch Neichthum, durd großen Grundbefi, denn von 
mehreren Nelteiten wiffen wir, dab fie bedeutende Yändereien ihr 
eigen genannt haben, jo vom Yiven Gaupo und vom Yelten 
Talibatd und dejjen Söhnen, die ihrerfeits großen Yandbefit 
hatten?) Wenn, was jelten geichieht, der Beiig näher bezeichnet 
wird, jo treten uno alle Vierfmale eines Bauernqutes entgegen: 
Aeder, Bienenbäume, Badjtuben?). Wir haben uno dieje Ber 
fingen der Xelteten mithin als große Bauerhöfe zu denfen, 
die je nad) der Siedelungsweile des Volfojtammes allein oder 
in einem Dorfe neben den Höfen anderer Volfsgenoffen lagen. 
Der Reichtum  beitand in erjter Linie in Nedern, zahlreichen 
‚Heerden und Bienenbäumen, daneben in angejammmeltem Cdel: 
metall, Familienihimu, Waffen und dal.*). 

Wenn wir aus diefen Betrachtungen aud) fein ganz abae- 
ihlofienes Wild von dem Wejen und der Stellung der Aelteften 
erhalten, jo geht doc) aus ihnen umabweisbar hervor, da wir 
die Derfmale einer jtändiihen Gliederung vor 








26, 15 Compo's Sohn Berthold md 


virtuosus®) Il... Die Yrüder Noboant 


Y) Ebenda 1, 15 
Sarwicgerioßn Wane (-vir fürtix e 
ud Lefo 21,2 ıc. 

3 Ebenda 1a Ul,y) 2, Talibald von 
Tricata (15,3 17,, 18,9) fein Sohn Drivineloe am Mtijenwe (2 
Entfernung von Tricatua, wenn man das Trdengiploi Trienten over and) die 
Burg Yaverin (12,9 am WaidansTee (vgl. Vielenftein, Grenzen &. 78) als 
Arsgangspunfi nimmt, bis zum Afijerwe Burine-Scc) beträgt in der Yuftlinie 
cu. 20 Silo. Vielleicht befanden fd) Die Befigungen des Hameto (ul. Yiul, 
Uet.Buch 1, 70 und Perlbacs Berichrigungen dazu in Mittdkil, a. d. Kol. Deich. 
W. 13 2. 5 u. 13) gwiichen den Ziyen des Vaters und des Bruders. 

3 Ebenda WW, 19,5 

% Neichthum der Zantilie Talibalds an Geld vgl. Hein. Uhren. Lyv. 

3 19,3. Ueber die Wohnfige der Meheften wird bei Beipredung der Heiden 
burgen und der Siedelungsweile noch die Node fein. 





































236 Die Eingeborenen Fivlands im 13. Jahr. 





uns haben. Die Aelteften und ihre Sippe ftanden fojial höher als 
die große Diniie des Volles. An einen privilegirten Stand, einen 
Adel im modernen oder auch nur mittelakterlichen Sinne, miijen” 
wir dabei nicht denfen. Wir haben meines Wiflens fein 
einziges Zeugnüh dafür, dal; ein perföntiches Abhängigkeitsverhältnii; 
zwücjen den Yeltejten und dem Volfe oder and nur einem Theile 
defielben bejtanden habe. Wir finden feine Spuren perjönlider 
Unfreiheit. Alle Vologenofien waren freie. Die zahlreichen 
Stlaven waren Nriegegefangene ober Naufillaven, aljo jedenfalls 
Fremde. 

Der Grumdjas der Gleichheit aller Volksgenofien, die id, 
in der perfönfichen Freiheit ausfpricht, muß; aljo im Auge behalten 
werden; aber es ijt mothwendig, dal; fozinfe Unterfcjiede überall 
da entjtchen mühlen, wo der Sohn vom Vater nicht mr dejien 
Anfehen, fondern auch defien Privatvermögen erbt. Diejen Bor 
gang Tann and uriprüngliche Toginle Gleichheit wicht hindern. 
Angenommen auc, die Yollsgenofien eines bemofratifchen Gemein- 
wejens wählen in Zeiten der Vedrängnih einen Mann zum Führer 
ober Häuptling, der fih nur durd) Tapferkeit, Stärke oder Alugheit 
auszeichnet, der aljo aufer diefen ibealen Gütern nichts fein eigen 
nennt, jo ann fid doch diefer Zuitand nad) jedem glüdlicjen 
Feldzuge volljtändig ändern; der Köwenantheil der Beute fällt ihm 
zu, er verwandelt ihn daheim in Grundbefig und Heerden. So wird 
aus dem tapferen Emporfömmling ein Befigender und im Laufe einer 
tuhmreichen Epoche vielleicht ein reicher Mann. Ex vererbt feinen 
Nindern nicht nur den Nuhm jeineo Namens, jondern aud das 
Anichen und die Wacht, welde Neihthum überall und zu allen 
Zeiten gewährt. Er wird der Aynherr eines vornehmen Geichledhte. 

Daher pricht Heinrid) von melior primores. nobiles 
und divites der Gingeborenen?). Die Prägnanz der Anodrüde 
läht ja Manches zu wünfchen übrig, aber wir verftehen, dah 
damit eine jozial Über der Malle des Volkes jtehende Gruppe, 
die Yelteften und ihre Eippe, bezeichnet werden Joll. 




















Heichen“ ulivites) wird and einmal cin 
ro Molme) erwähnt, der fd, beiten 


1) Am Gegenjalg zu den 
„Amer (puuperem qtten 
läßt. Meine. Chrom. Lyv. 10, 3 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr. 237 


Nochmals mu aber betont werden, da wir unter den 


Acttejten feine Fürften, jondern nur Hänptlinge - chua oje: 
woden — zur verjiehen Haben. Sie waren primi inter pares. 


An einer Stelle nennt Heinrich einen Nelteften auodrülich rusticus, 
alio Yauer!), und damit hat er, meinem Gefühle nach, das 
Nichtige getroffen; die seniores oder Aeltefien find nichts Anderes 
gewejen, als die Angelehenjten, Tüchtigiten und Neichften in einem 
Volfe Feiegerifcher Bauern. 





V 

Wie uns in Heinrichs Chronik die Hänptlinge zunädit als 
Heerführer entgegentreten, jo ericheinen auh die Eingeborenen 
hauptjächlich als Krieger, jo dah wir von ihrem Nriegomeien 
weit bejler unterrichtet find, als von ihren jozialeu und wirth: 
ihaftlichen Verhältniffen. 

Die verfdiedenen Völferihajten Alt-Yivlands befanden fich 
bis zum 13. Jahrhundert in fat ununterbrochenem Kriegszuftande ?). 
Nicht nur die mächtigen Nachbaren, vor Allem die Nuffen nnd 
Lithaner, dann aud die Tänen und Schweden, beunrubigten fie, 
auch unter fi lebten fie in beftändiger Feindicaft. Heinrich 
berichtet uns, daß die Semgallen immer Feindjeligkeiten hatten 
gegen die Yiven von Treiden (10, 1). Von den Yetten erzählt 
er, dah fie dur die Lilhauer oft verheert und von den Liven 
immerdar unterdrückt wurden, gleichwie auch von den Ehjiten 
(11, 3 12, 6). Desgleichen fdhildert Heimic) blutige Naubzüge 
der Ehjten wider die Yiven und umgekehrt. Zogar die einzelnen 
Stämme eines Volkes befriegen jic) untereinander, wie wir oben 
geichen haben. 

As die Friegstüctigiten und mäctigiten eviheinen uns, 
abgejehen von den Yithauern, vor welchen Fogar die Nuflen 
nach Heinrichs Bericht zu fliehen pilegten wie die alen vor 
dem Angefichte der Jäger (13, 4), die chjtnifchen Stämme, ganz 
bejonders die Tefeler und Harrier, während die Wierländer und 

















!) Ebenda 2; 
>) Ebenda 
c 


rustieus. qui fuit. senior eorun.” 
1. Dal. über die unumnterbrochenen Ari 
„Beichichte des Untergangs der amifen Welt“, 









Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahrh. 


Ierwier zahmer als die übrigen Ehjten genannt werden (26, »). 
Unter den fettiihen Stämmen zeichnen id die Sumgallen als 
tapfer ans'ız die Yettgallen dagegen waren „demithig und ver- 
achtet“ md wurden von fänmtlichen Nachbaren jien, Yithauern, 
Liven und Chiten verfolgt und unterdrüct. 

Die Entfiehung der meiften Nriege it unzweifelhaft in der 
Gier nad) Beute zu fuchen; ein folder Naubfrieg zog natungemäh 
einen Nacheyug des beranbten Volkes nad) fi. Falle die frieg 
führenden Stämme fid) einigermaßen gewacyien waren, fonnte 
auf diefe Weile zwiichen ihnen ein immermährender Nriegazujtand 
entftehen. War der eine Stamm offenbar jcwäcer und weniger 
Triegstüchtig alo der andere, jo war er gezwungen die Ueberfälle, 
fo gut es ging, abzuwehren, ohne fie regelmäßig vergelten zu 
fönnen, ja eo fonnte ein oberflächliches Abhängigfeitsverhältnii 
entftehen, das Fi in Tributpflichtigfeit und Heeresfolge äuferte. 
Bei günftiger Gelegenheit, ehva wenn die Unterdrüder in ans 
wärtige Händel verwidelt waren, verfuchten die Unterjochten dann 
Hace zu nehmen, indem fie hinterrüds in das Kand ihrer Feinde 
infielen. 

Sollte ein Keldzug unternommen werden, jo beriefen bie 
Häuptfinge eine Perfammlung*) des wahtenfähigen olfes und 
man berieth das Nähere, entwarf den Feldzugoplan und jchicte 
Voten zu den Stammesgenojien, eventuell aud; Gejandte zu den 
achbarvölfern. Vor dem Feldjuge, wie überhaupt vor ent: 
icheidenden Handlungen, vor einem Sturm oder Meberfall, wurde 
der Wille der Götter durd’o Yoos erforicht. Fiel das Opferthier 
beim Zuiclagen nad rechts, jo waren die Götter dem Unter: 
nehmen günstig gefinnt, die linfe Zeite dagegen bedeutete Ung u. 
War die Antwort der Götter günfig und trafen Zulagen von 
Ztammesgenofien oder Nachbaren ein, jo verichwor man fich zu 
gemeiniamem Vorgehen durch eine fymbolifche Handlung, welche 
Heinrich „Schwertertreten“ nennt). Alsdann verfammelte fi das 









































unten Die Abhandlung 
über religibfe Vorjtsthungen der Cingeborenen. 
16.2 0gle 12,5 Hay 





orum sullatinn 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr. 





Volfsheer, die „malewa“t), an einem beitimmten Orte und der 
Zug in das feindliche Fand begann. 

Meift beftanden die Striegsgüge in plölichen Ueberfällen deo 
ungewarnten Feindes, da cs ja hauptiächlich auf Raub und 
Yeite, Plünderung und Yermüftung abgelehen war, doch finden 
wir ac formelle Abiage durch inmboliihe Handlungen: man 
bedrohte fich negenfeitig mit Zpeeren oder warf einen foldhen 
in einen Strom®). 

Die Feldzüge wurden fajt immer im Winter unternommen. 
Heinrich fagt ausdrüclich, daf die Heiden meift um die Falten 
zeit, alle im Februar, ihre Seerjahrten anzufiellen pilegten®). 
Der Mangel an Hcerftraßen, die viefigen  unducchdringlicen 
Wälder md vor Allem die vielen unpafiirbaren Moräfte machten 
einen Feldzug in einer anderen Jahreszeit, als im Winter, mo 
Schnee und Cis natürliche Wege ihufen, böchit jchwierig, nanz 
befonders foldhe Unternehmungen, bei denen, wie wir fehen werden, 
nelfigfeit der Bewegung die Snuptfade war. Sogar die deutichen 
Eroberer unterwarfen fh aus diefen zwingenden Gründen den 
Unbitden eines Winterfeldzuges"), auch fie haben ihre größeren 
Unternehmungen meift im Winter ausgeführt. 

Das Heer bejtand bei den meiften Völferfchaften aus Neiterei 
und Fuhvolt. Als Neitervolf werden die Yithaner bejonders 
hervorgehoben, doc) jcheinen fie ftets auch Fuhvolf auf Schlitten 
mitgeführt zu haben >). And) die Keiterei der Chiten, vor Allen 
der Defefer und Jerwier, wird vieljah genannt.  Lithauen, 
Tefel und Jerwen zeichen fich ja and) heute noch durch) erde 





































. vielleicht ein alte 


a Hes Wort; 
Heeresfolge bis ins 16. Jahrh. gebräuchlich 





a a 0,1. Die Ghronit Heinridis 
berichtet aber auch von zahlreichen Unterneymungen im den andıen \ahresjeiten. 
Nic jelten werden dann die Schwisrigfeiten beiont, weldhe dar die ungünitig: 
Fabreszeit entitanden, 
+) gl. Ebenda 2. 
>) Ebenda 9,1 11 






Jerwier: 
Dorpat 1 


210 Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahr. 


zucht aus. Bei den Yettgalfen erwähnt Seinvid) mur des Fufvolteo)), 
wie er überhaupt von bieier fricdfertigen Nation, die id folert 
den Deutfchen anfchloi, weniger friegeriiche Einzelheiten niebt, 
do.) wien wir auo der fol. Neimchronit, da and) bei ihnen, jogar 
bei den Frauen, die Zitte des Neitens verbreitet war. Bei vielen 
germaniicen Stämmen gab es befanntlic) eine aus Neiterei und 
Fuhvolf zuiammengejegte Truppe. Der Fußgänger flammerte fc, 
an die Mähne des Pferdes oder ja unter Umftänden hinter dem 
Neiter auf, wodurd eine große Beweglichkeit diefer gemilchten 
Truppe erreicht wurde. Von einem joldhen Brauche finden wir 
bei den livländiichen Eingeborenen feine Spuren ; cs jcheint da; 
zur Erhöhung der Marichichnelligkeit das Fuhvolf anf Schlitten 
gelegt wurde *). 

Die Bewaffnung war mangelhaft; fie bejland mit Aus: 
nahme des Schildes in Trubwaffen, jo dah Heinrich die Ein 
geborenen wiederholt „ungenappnet” (inermes) nennt. Der 
Scpild, welcher bei den Tefelern zwei Dial erwähnt wird und and) 
fonft gelegentlich bei Yiven und Letten, war wahrjcheinich nur aus 
Holz oder aus Fledhtwerf und Leder). Die Schitde der Kuren 
werden ms genau beichrieben; fie beitanden aus höfgernen Tafeln, 
zufammengejegt aus zwei Brettern und gejtügt durd) eine hirten 
ftabartige Nenle >). Bon den Truswarlen wird am häufigiten die 
Lanze erwähnt, die in der Schlacht meilt als Wurfipieh gebraucht 
wird; daneben giebt co beiondere Wurfitäbe oder Wurffenten 9. 
Die zweite Sauptwaife war das Schwert. Die Cefeler, deren 
Ariegsweile uns am Ansführlichiien gejehildert wird, führten ferner: 











33 14, , dagegen Neinchran. 3. 9230. Vielleicht it Meint. Chran. Lyv. 
23, feftiiche Neiterei gemein. 

2) Ebanta 9, 4 vgl. obs 

*) Ebenda 7,5 10, 

4 Gbsnda 15,5 2 
Schild aneinander. 
Srieqswefen der alten Dejeler, Arengburg 10 










ühauer. 
und Ehften), 





=, Lat. ach I. d. Holpmayer „Ciitiana 1. Das 
14 (nad) Heinr. 








Tefcter 
emgalten 


v Yühauer. HI 
>, mo die Wurf 






Chrom. Ly 
uten (,„Flupl 





19, Na. Hemdhron. U. 1 
erwähnt werden. 





Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh. au 





KReufen, Beile, Bogen und Steinichleudern !), deren Gebrauch wir 
aud) bei den übrigen Wölterjchaften vorausiegen Fünnen. 

Die Qualität der Waffen muß; jehr gering gewejen jein; fie 
werden von den Dentichen nicht einmal als Beute betrachtet ?). 
Größtentheils beftanden fie aus Holz und Eifen, doch fönnen wir aus 
Funden in Heidenburgen und auf dem Schladhtfelte von Karnıel 
11266) idließen, daß noh im 13. Jahrhundert Etreitärte aus 
Stein gebraucht worden find). Sobald ces der prähifterifcen 
Forfhung gelungen jein wird, die zahfreichen Funde aus Gräbern, 
Heidenburgen und jog. Sökfenmöbdingern hronofogiic) und ethno- 
Io, wirklich fiher zu beitimmen, wird unfere Nenntnifi der 
Waffen und Geräthe noch bedeutend erweitert werden. Bis dahin 
müfjen wir uns mit dem Wenigen aus Heinrid6 Chronif begnügen. 

Nachdem fich das Heer an einem zuvor beftimmten Orte, 
etwa einem gröferen Dorfe oder einer Yurg verfammelt hatte, 
rüdte man ohne bejondere Ordnung, jolange man in Sreundestand 
marichirte, vor. Auf der legten Najl, in der Nähe der feindlichen 
Övengen, ordnete fi dann das Heer !). Heinrich ment biefe 
Verjammelungs: und Lagerpläge mit einem autochthonen Worte 
maja“, was uriprünglic) jowohl im Lettiichen als im Ehfinifchen 
Heimjtätte, Haus bedeutet ’). 

War das Heer geordnet, fo galt «0, jo fchnell wie möglich 
in das feindliche Gebiet einzufallen. Diefes war nicht fo einfach. 
Meift umgaben breite Wald- umd Eumpfgürtel die Siedelungen. 
66 gab nur wenige und ichmale Wege, die außerdem hänfig durch 




















r. Chron. Lys. 18,5 Neule telava) und Dei, Yogen und 





2) Ebenda mo bios die Waffen der mit den Ehiten verbind:ten 
Auffen als Beute angefehen werden. Dagegen 9, , werden auch) die Wajfeu der 
Kirhauer als Beute betrachtet. 

3) Dt. Gremingl, und. di. Holzmayer „Ciiliona 1.” &. 9 
EN: 61. Dgl. auch: 2. Schn „Nufturpflangen und Hauschisxs in ihrem Uebsrgug 
aus Aien nad) Europa.“ Werlin 187 Ein 

# Heine. Chrom. Ly = 

3) Ebenda 1b: Zr ey. Ehftniich: maja 
Serberge, Geimftätte, fioiich: mai und moi Kachtlage 
von Yeirland Yiol. Ehromit S. 1d. Anm. u. Y M 
di Beincich d. Setten &. 11. 














Teniich: mahja Hans, 
Aal. &. Pabit, Heineihs 
Eiten und Eiten 















Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 





tiefen Schnee die Fortbewegung des Heeres hemmten, indem fie 
die Nrieger zwangen im langer Neihe, einer hinter dem andern, 
einherzuziehn Y). Zudem wurden die Ausgänge der Wege burd) 
Wächter und Kumdfehafter nebütet *. Entdedten dieie rechtzeitig 
den Anmarjc) der Feinde, jo eilten fie in die Dörfer der Ihrigen 
und ihr Warnruf verbreitete fidh val) von Dorfzu Dorf. Gelang 
5 aber den Feinden die Wächter zu überrumpeln oder gleichzeitig 
mit ihnen in die fer einzubringen, To begann ein chredliches 
Vlutbad. Unbarmperzig wurden die Männer niedergemegelt, 
Weiber md Kinder gefangen, die Höfe niedergebrannt, das Lich 
fortgetrieben, Alles, was ivgend Werth bejah, geraubt. Schnell 
verbreiteten fid) die Sieger über das Land, alle erreichbaren Dörfer 
wurden ausgeplündert und von Grund aus verm 

Nach gethaner Vlutarbeit verichwand der Feind jo ihnell, als 
er gefommen war. In langem Zuge, die Gefangenen in der Witte, 
die Beute auf Schlitten verpadt, ging es eilig hinaus aus dem 
überzallenen Gebiete, denn das duch Beute beihwerte Heer hatte 
alle Urjade einen Ueberjall der dem Schwerte Entronnenen zu 
fürdten. Diefe, welche nur ihr nadtes Leben gerettet hatten, 
warfen fih, von Nade und Ylutgier dürjtend, au) die Heim- 
sichenden, iperrten ihnen durch) Verhaue die Ichmale he md 
überfielen die in fnchterliche Enge Zufammengefeitten im Nücten 
und von allen Zeiten”). Bei diejer Gelegenheit tödteten Die 
Ueberfallenen gewöhnlich ihre Gefangenen, da diele in Nampf und 
Flucht nur hinderfih waren, ja fogar gefährlid werden founten, 
wie wir aus der Erzählung Veinridys von den Weibern der Jerwier 
entnehmen, welche 1220 von den Teielern gefangen genommen 
waren, fi während eines folchen Weberfalls befreiten und die 
verwundeten Feinde mit Nnütteln erichlugen 9. Gewöhnlich aber 
gelang «8 den Näubern unbehelligt Heimzufehren, denn, war der 




























hpendia) D,2. Weg längs 
u Gije des Meeres 18, , 





19,80 
„enstodes viaranı 





BEE 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 243 


Naubzug fchnell ausgeführt, die Feinde ungewarnt überfallen 
worden, fo hatte man bie wenigen überlebenden Flüchtlinge nicht 
zu fürchten. 

Frohlocend fchlug das fiegreiche Heer feine maja auf heimatl) 
lichen Boden auf. Dann wurde die Beute an Gefangenen, ich 
und fonftigen Werthgegenftänden geteilt, wobei die Aeltejten 
ohne Zweifel den Löwenantheil erhielten, und jede Schaar zog 
heim in ihren Gau’). Zunädjit aber fonnte man fid) nicht ficherer 
Kube hingeben, denn aller Wahricheinlichfeit nad) unternahm der 
heimgefuchte Stamm noch in derjelben Jahreszeit einen Nachesug. 
Den MWächtern der Wege wurde verdoppelte Aufmerfjamfeit 
anempfohlen, die Wege felbit duch Verhaue geiperrt, die Burgen 
in Xertheidigungszuftand nefegt, Weiber, Kinder und Vieh in 
denjelben geborgen ?). (Fortfegung folgt.) 





%) Ebenda 12,4 


2 Ebenda 12,4 1b; Urs Ira 


I 2 
































Typus und Judividunm in der Litteratur. 


Saffen wir Sefchichte in der Bedeutung von Entwidelung, 
To läßt ich jede hiftoriiche Wiffenichaft in diefem weiteren Zinne 
in zwei Theile zerlegen: 1) in einen rein geidjichtlichen Theil, der 
den Gang der einzelgeichichtlichen Entwidelung idildert, und 2) iu 
einen allgemeinen Theil, der die allgemeinen Ericheinungen zufammen 
jaffend behandelt, die Gelege jucht und auiftellt, die in der be 
treffenden einzelgeichichtlihen Entwideling bemerkbar find. Wan 
Fönnte einen jolchen allgemeinen Theil die Philofophie der dazu 
gehörigen Geichichtowitfenichaft nennen, wie ja auch die Bezeihmng 
„Pbilofophie der Sefcichte” feit Herder häufig gebraucht wird. 
Ebenjo fönnte man aud) von einer Philofophie der Kultwrgeihichte, 
der Runftgeichichte, der Sprachgefdjichte u. i. w. veden. Aber ein 
Ausdrud wie „Whilofophie“ in obigem Zufammenhange it zu 
verjchwommen, zu vieldeutig und zu leicht mihzuverjtehen, als dal; 
man ihn ohne genauere jsbejtimmung jchlechthin gebrauchen 











Fönnte. Denn z.B. unter „Mhilofophie der Gefchihte” werden 
gewöhnlich nicht die in der Gejchichte enthaltenen Entwidelungs- 
geiege verjtanden, jondern vielmehr die allgemeinen Lehren, die 
Nuganwendung und Wioral, die fid as dem Gange der geichicht 
lichen Entwictelung erichliehen Iafien. Ein Ansdrud wie „Rhilojophie 


der Sprachgeichichte” Fönnte leicht mit „Sprachpbifoiophie” verwedhielt 
werden, während beides dad ganz verichiedeng, jtreng auseinander 
zuhaltende Bearifie find. Erftere befot fich mit den fid in der 





Topus und Jndividumm. 245 


Sprachgeichichte zeigenden Entwicelungsgeiegen, (e&tere behandelt 
die allgemeinen Eriheinungen, die allen Sprachen, ganz abgefehen 
von ihrer geichichtficen Entwicelung, gemeinfam find. Mit andern 
ten, die Spradp)ilofophie it weniger die Wilfenfchaft von ben 
Gejegen des Werdens, der Entwidelung in der Spradje, fondern 
eher die Wijjenichajt von den allgemeinen CErideinungen des 
ipradlien Seins, wenn der Ausdrud erlaubt if. Jene Willen 
haft von den Gejeken des Werdens in der Spradie fönnte man 
zum Unterihiede von der Sprachphilofophie, und um überhaupt 
den vieldeutigen Ausdrud „Khitejophie” zu vermeiden, im Anfchluf 
an den (Sermanijten Prof. Hermann Paul in München, beifer 
die „Brinzipiemwiffenicaft der Spradhgeichichte” nennen. Pant 
hat in feinem Werke „Prinzipien der Spradigeichichte” für dieen 
allgemeinen Theil der Spradwviiienihaft eine neue vortreffliche 
Grumdlage geihaffen. In entiprechender Weije wäre aud) zwiiden 
der „Prinzipienwiffenichaft der Nechtsgeichichte“ und der Ned)ts- 
pbilojophie, oder der „Prinzipienwifienichaft der Nunftgeidhichte” 
und der Kunftphilojophie zu unteriheiden, und auch die Literatur 
geidjichte liehe fh jo in einen bejonderen Theil, die eigentliche 
Litteraturgeichichte, md einen allgemeinen, die „Prinzipienwifien: 
ichaft der Yitteraturgeicichte”, zerlegen, welche Leptere fid) zur 
Poetit ebenfo verhält, wie die „Rrinsipienwifienichaft der Sprad)- 
geichichte” zum Sprachphilofophie u. j. w. 

Bisher it man bei der Vetradhtung der allgemeinen in der 
Kitteratur hervortretenden Erfdeinungen und Gefidhtspunfte viel 
zu sehr ausjcliehlih von der Aejthetit ausgegangen, und hat 
dabei außer acht gelafien, da; badurd) ein — id) möchte jagen — 
fremdartiges Element, ein Element, das in der Kitteraturgefchichte 
als jolcher nicht enthalten ift, von außen in diefe Hineingetragen 
wird. Denn bie Aejthetit als die Lehre von den Gefegen des 
Schönen hat nichts mit den realen Erjcheinungen der Literatur 
zu fchaffen, fondern ftellt ideale Forderungen an diele. Die auf 
die Yitteraturgeichihte angewandte Aejthetif unterfucht die Werte 
der Yitteratur nicht daraufhin, wie fie find, jondern daraufhin, 
wie fie fein jollen; fie mißt deren Werth an dem Wiahjtab des 
fi) aus den Gefegen des Schönen ergebenden Jheals. Neben 
und unabhänaig von diefer äfthetiihen Betrachtung der Litteratur 
























Topus und Jndividunm. 





ift eine andere Art ihrer Vehandlung durdans berechtigt, ju 
nothwendig, die nichts von aufen her in fie hineinträgt, fondern 
gerade umgefehrt, von innen heraus, aus den Ginzelheiten der 
litteraturgeicichtlihen Entwicelung, die darin enthaltenen allge 
meinen Gefihtspunfte und Gejepe hervorfucht und Tammnelt. 
Auf diefem Wege kommen wir zu der fdon oben erwähnten 
„Brinzipiemoiifenfchaft der Yitteraturgeichichte”. Sie ijt eine 
mod zu begründende Wiffenfhaft; wir befinden uns hier auf 
einem noch jehr wenig angebauten, fait jungfräufihen Boden. 
Die folgenden Ausführungen follen ein feiner Beitrag zu dieier 
neuen Vetrahtungsweife fein. 

Ehe wir nun zu dem eigentlichen Thema übergehen, ill es 
vor allem wöthig, fi darüber Alar zu werden, mas überhaumt 
unter einem Typus zu verfiehen jei. Vor einigen Jahren Ins 
man in den Zeitungen von einem interefianten Werfudh, der in 
Amerifa gemacht worden ift, je dreißig ober mehr Perfonen von 
gleicher Verufsart auf diefelbe Platte, immer ein Bild auf das 
andere, photographiich aufzunehmen, und auf diefe Meile ein 
Turchichnittsbild aller jener Vertreter des betreffenden Berufes 
zu gewinnen. Das fo hergeftellte Bild enthielt, in rohen und 
groben Umriffen, nur die Züge, die allen photograpbierten Perfonen 
gemeinfam waren, während alle andern nur für den einzelnen 
eigenthümlichen Züge als unweientfich wenfallen mußten. Die in 
dem Durdichnittsbild vorhandenen find die für den betreffenden 
Stand typiihen Züge, die in Wegfall gefommenen imdi 
vidwelle Züge. So gelangen wir zu dem Gegenfage ywiichen 
dem Topiichen und dem Jndividuellen, der das Hauptthema unjerer 
Unterfuhung bildet. 

Auf die focben geichilderte MWeije verfuchte man die Durd) 
jchnittobilder von Srzten, Lehrern, Seeleuten u. |. w. zu erhalten. 
Ie mehr Perfonen bei diejen Verjuchen natürlich innerhalb 
des WVereihes der tehnifchen Mtöglichteit - auf jedes einzelne 
Bild famen, defto cher fonnte man diejes auch wirklich als ein 
von allen individuellen Zügen freies Durchichnittsbild der betreffenden 
Verufsart anjehen. 

Tbiges Verfahren dient vortrefflih zur Veranihanlidung 
dejlen, wie wir uns das Entjtehen eines neuen Topus in ber 








Topus und Jndividuum. 247 


Eitteratur im Geile des Dichters, deiten Ichöpferiiche Thätigfeit 
bei der Aufitellung eine folhen Topus, zu denfen Haben. Diejer 
Vorgang auf geiftigem Gebiete entipriht jenem mecjaniichen 
Verfahren recht genau. Der Topus in der Yitteratur entfteht in 
ganz ähnlicher Weile, indem bei einer Neibe gleichartiger Individuen 
alle rein iudividuellen Charakterzüge ausgeichieden, und nur die 
allen gemeinfamen Cigenthümlichteiten beibehalten werden. Der 
DVegriff des Typus läßt fi aljo mit dem natwwiilenichaftlihen 
Vegriff der Gattung vergleichen. Aber während diefer ein rein 
abjtrafter Sammelbegriif it, gewinnt der Begriff des Topus ihm 
gegenüber dadurd) an Fonfretem Anhalt, dal; beim Typus alle der 
betreffenden Menichengattung gemeinfamen Eigenthümlichfeiteu in 
einer Berjönlidfeit vereinigt werden, gleichiam Sleiich und 
Blut annehmen. Man Eönnte den Typus eine perjonifigierte 
Gattung Mlenfchen nennen. In genauerer Weije fiefe fid) der 
Begriff des Typus etwa folgendermahen definieren: ein Typus 
in der Yitteraturiftderin einer Berfönlidfeit 
dargejtellteinbegriff aller der&igenthümlid: 
feiten, die einer ganzen Neihe von in irgend 
einer Beziehung gleidartigen menidliden 
Individuen gemeiniam find... Je nad der Be 
Äaffenheit diejer gleichartigen Individuen Tann man unteriheiden 
zwijchen Standes: und VBerufstypen, Nationalitätstypen, Charakters 
typen, Alterstypen und Seichlechtstypen. Alle diefe verjchiedenen 
Arten von Typen lafien fid) wieder in zahlreihe Unterarten 
zerlegen; außerdem Fönnen auch mehrere Arten von Typen in 
einer einzigen Werjönligjfeit vereinigt auftreten, wie wir ned) 
weiter unten fehen werden, Ferner laffen ic die Typen eintheifen 
in jolhe von allgemein menjhlider Art, die zu allen Zeiten und 
an allen Orten denkbar md möglich find, und in Typen, die 
bloh eine durd) rein zeitliche oder örtliche, oder zugleich zeitliche 
md örtliche Züge begrenzte Bedeutung Haben. Die leptere Art 
von Typen fann feinen allgemeinen Werth, jondern hödhftens ein 
gewiijes Fulturgeichichtlicheo Zutereife beanipruchen. 

Für alle in den verichiedenen Yitteraturen auftretenden 
dichterijchen Geftalten giebt es zwei Dauptarten von Quellen, 
nämlih 1. unmittelbare uud 2. mittelbare Die 








248 Typus id Imdioibunm. 


unmittelbaren Quellen der Yitteratur zerfallen wieder in a) cine 
innere unmittelbare Quelle: die didbterifde Ein 
bildungsfraft und b) cine äußere: das unmittelbare 
den Dichter umgebende Leben. Die mittelbaren Quellen lajien 
fich aud) wieder in zwei Unterabtheifungen zerlegen, in a)direft 
übermittelude: die (ichriftliche oder mündliche) geihictliche 
Weberlieferung und b)indireft übermittelnde: durcd 
die Yitteratur überlieferte Vorbilder, die jelbit 
auf irgend eine andere Pitteratuquelle zurücgehen fönnen. 
Dichteriiche Gejtalten, die jo aus der Yitleratur jelbjt abgeleitet 
find, find afjo gleichjam als potenzierte Yitteratmwgeftalten anzuichen. 
So erhalten wir im ganzen vier Quellenarten, je nachdem die 
Gejtalten der Yitteratur freie Dichteriiche Erfindungen, oder aus 
dem „vollen Mtenjchenleben“ jelbit gegriffen, oder Darjiellungen 
von geihichtlichen Perfönlichkeiten, oder endlich Nachahmımgen 
irgend welcher litterariicher Vorbilder find. Meine dichteriiche 
Geftalt Läht fi mır auf eine von diefen Quellen allein zurüführen ; 
jtets fönnen minbejteus zwei nachgewieien werden; in den aller: 
meiften Fällen taten fih aber drei von diejen Quellen zugleich 
annehmen oder feititellen. Auch die unbedeutendite und geijtloieite 
Dieptung, das armielige Machwert irgend eines Nadıtreters 
jelbjtändigerer Geifter, muß, wenn co nicht bloe Abichrift eines 
fremden Miufters ift, einen wenn aud) noch jo fleinen Bejtandtheil 
eigener Erfindungsgabe des Lerfaflers enthalten. And) die 
phantaftifchite, unglaublichite, abjtwaftefte Geftalt, die je einem 
Dichtergehirn entiprungen ift, fnüpft in irgend einer Vezichnng 
an die Erfahrung und fonit an das wirkliche Fonfvete Leben, oder 
an irgend eine geichichtliche oder jagenhafte Uebertieferung an. 
Auch der originellfte und jelbjtändigite Dichter ift in Form und 
Inhalt feiner Dichtungen mehr oder weniger an gewife in feiner 
Nunft vorherrichende Ueberlieferungen gebunden, und jomit von 
litterarifchen Vorbildern abhängig. Keine Geftalt aus der Geidhichte 
Ült ganz ohne weiteres für die Zwede des Dichters zu gebrauchen; 
fie Läht fi nicht einfach aus der Gedichte abichreiben, jondern 
erfährt auf dem Wege von der Gefdhichte zur Dichtung verichiedene 
wenn auch oft mr unbedeutende Veränderungen, Yujäße oder 
Weglaflungen, die durd) die Perfönlichteit des Dichters und feine 

















Typus md Inbividinm. 249 





fubjeftive Auffaflung, oder durch die aus der Weberlieferung über 
fommenen Nunjtgejege der betreffenden Didyiungsgattung bedingt 
find. Die geihichtlihe Geitalt bedarf aljo and, um in ber 
Litteratur verwerthet zu werden, der Mitwirfung dichteriicher Phantafie 
oder litterariicher Vorbilder. 

Wenn aud), wie jhon erwäßnt, in jeder in einem Literatur: 
denfmal uns begegnenden Geftalt fid gewöhnlich drei von jenen 
Quellen vereinigt finden, eine joldie Geftalt alio alo das gemeiufame 
Produft dreier Faktoren anzujehen it, jo ift dad) die Stärke und 
der Grad der Velheifigung diefer Faktoren an ihrem Probuft auf 
den verichiedenen Entwidelungsftufen der Yitteratur ehr verichichen. 

In jeder Yitteratur pflegt, bevor ein einzelner Dichter über: 
haupt auftritt und auftreten fann, eine Zeit der Volfodichlung 
vorauszugehen, in der der Antheil des einzelnen an dem bichteriichen 
Schaffen fid) ebenjo wenig nachweiien Läht, wie der einzelne 
Tropfen, der in den Kluf fällt, im großen weiten Meere; wo das 
ganze Volt dichtet, wo aud) die jubjeftivfte aller Dichtungsgattungen, 
die Eyrit, nur den Gefühlen einer ganzen Volfomajje Ansdrud 
giebt, ohme die allergeringiten individuellen Züge. Die Iyriiche 
Digptung einer foldhen Zeit beiteht aus Gebeten, Opferiprücen 
u. j w., die Prieftermund vor verfanmmelter Menge, oder diefe 
jelbjt zu ipreden pflegt. Auf der Grundlage diefer allgemeinen 
Volks: und Majlenpoefie ift überdaupt erjt eine individuelle Dichtung 
möglich, die fich zuerit nur jchüchtern hervorwagt ımd mod ganz 
in den Formen jener allgemeinen Bolfopoefic befangen ill, all- 
mählich aber jid) von ihren feiten ftarren Formen Loslöft, immer 
feder und jelbjtändiger auftritt und die einzelne Berjönlichteit 
immer mehr zur Geltung fommen läht. 

Und jo find wir wohl berechtigt zu jagen, jo widerfimnig. es 
auch anfdjeinend Elingen mag: je voher und unentwidelter eine 
Kitteratur it, deito größer ift die Abhängigkeit des Dichters von 
litterarifchen Vorbildern, von überlieferten Formen ; deito weniger 
Spielraum hat feine eigene Erfindungsgabe ; dejto weniger ijt co 
ihm auch möglicd, feine Seftalten unmittelbar dem Leben, unbe 
einflußt durch andere Litteraturdenfmäler, zu entnehmen. Zwar 
it das Menichenfeben zu allen Zeiten und auf allen Nultwjtufen 
reich genug an mannigfachen erzweigungen und Gejtaltungen, 














250 Topus und Individuum. 


um, wo man's aud packt, intereifant zu fein und jich fitterariich 
verwerthen zu lajlen. Und dad) ift ein jolder Griff ine volle 
Venicpenteben durchaus nicht zu allen Zeiten möglich. Im fiebjchnten 
Jahrhundert, zu einer Zeit, alo Shakipeare die engliiche Yitteratur 
ichon fängjt auf den Höhepunft ihrer Blüte gebradht hatte, hätte 
aud, ein Dichtergenius höchien Nanges fid) in Deutichland durd) 
die nod) jo ungehobelte deutihhe Sprache, und die noch jo wenig 
ausgebildete litterariiche Technik beengt und an hohem luge 
behindert gefühlt. So lange die Korm noch fo große Schwierig 
feiten macht, läßt fi der Inhalt noch nicht reich und tief genug 
getalten; und erit wenn die dichteriiche Gejtaftungsfraft j—hon eine 
hohe Entwicelungsitufe erreicht hat, Läht jid das unmittelbare 
Leben jelbjt wirklich ausgiebig und ganz meingeihränft als reichite 
fitterarifche Quelle. verwenden. 

Gine geihichtliche Perfönligpfeit unbefangen zu erfaiien und 
objektiv zu jhitdern ift ebenfalle unmöglich zu einer Zeit, wo die 
Literatur fid mod) anf einer rohen Anfangoftuie befindet. Zu 
einer folhen Zeit ftedt aud der begabte Dichter noch ganz in 
den engen Anjchauungen feines eigenen Volkes und feiner Zeit, 
und ein aud nur annähernd richtiges Verftändnis für fremde 
Eigenart und fremdartige Verhältniie it ihm unmöglid. So 
erflärt eo fid) leicht, daß der Dichter des altniederdeutichen Gedichtes 
„Seliand“ im neunten Jahrhundert Chriftus darjiellt wie einen 
mächtigen deutichen Herricher; die zwölf Apoftel werden unter den 
Händen des altdeutihhen Dichters ganz von felbit zu zwölf edlen 
Miannen, die auf der Burg ihres Heren wohnen und ihm in 
Treue dienen, 

Ihrem Weien und ihrer Ericeimung nad) zerfallen alle in 
der Yitteratur dargeitellten dichterifchen Gejtalten in zwei grohe 
Gruppen, in Typen und in Individuen. Bei Dielen 
beiden Gruppen, deren Vertmale und Unterjdiede wir fhon oben 
beiproden haben, find nur die beiderfeitigen äuferiten Endpunfte 
reine egenfäge; eine jdarfe Grenze zwiiden beiden Läht fh nur 
in theoretijcher Vegriffobeftimmung ziehen, ift aber thatjächlich 
nirgends vorhanden. Es giebt cbenfowenig ganz veine abjohıte 
Topen, ohne irgend welcye individuelle Yeimengung, wie es abfolute 
Zndividuen giebt, die gar feine mit andern gleihartigen Weien 














Tppus und Individuum. 251 


gemeinjamen, aljo Ippiichen Eigenschaften bejigen. ITupen ganz 
ohne indivibnelle Züge wären beim Zugreifen in nichts zerilichende 
wejenlofe Schemen ohne feite Formen und deutlich erkennbare 
Umriife, blofe abjtrafte Mlegorien, wie bie alo Perfonen auf: 
tretenden Tugenden und Yajler in der „Dioralitäten” genannten 
Dramengattung des franzöftichen und engliichen Mittelalters; ihre 
Worte und Handlungen wären genau jhematifch vorgejeichnet umd 
rein fchabfonenhaft. Kurz, einem folhen Typus würde alles das 
fehlen, was für eine Perfönlifeit weientlic it; die Eigenfchaft 
der Perfönlichkeit aber, die, wie wir oben gejchen haben, ein 
nothwendiger Bejtandtheil des Topuobegriffs it, macht co unbedingt 
erforderlich, da jeder Typus wenigitens mit einigen individuellen 
Zügen ausgeitattet werde. Gerade diefe und nur dieje find das 
wejentlihe Vierfmal der Perjönlichkeit; fie allein rufen aud am 
Typus den Eindrud der Lebenswahrheit in uns hervor. Noch 
viel weniger ift ein Individinm denfbar ohne wenigitens einige 
Eigenichaften, die fid) auf eine Allgemeinheit beziehen laffen, ein 
Individunm, das fih nicht in irgend einer Hinficht mit ähnlichen 
Wejen vergleichen Läht und fomit tppiiche Eigenchaften an jidh 
hat. Wenn wir aljo zwiichen Typen und Individuen untericheiden, 
jo hat eine joldhe Untericeidung nur velative Bedeutung, indem 
bei einigen Geftalten in der Literatur die typiichen, bei andern 
die individuellen Züge vorherrichen. 

Hier bemerken wir mm bedeutfame Unterjchiede in dem 
Verhältnis der verichiedenen Yitteraturgattungen zu dem Typiicen 
und dem „Judividuellen, Unterihiede, die in dem jen der ein: 
zelnen Yitteraturgattungen begründet find: die tupiichen Gejtalten 
überwiegen in den Litteraturgattungen, die das Leben des gewöhn: 
lichen Durcichnittomenjhen zum Gegenftande haben, aljo im 
jogenannten „bürgerlichen“ *) Drama, im „bürgerlichen“ Epos und 
Homan. Ganz befonders wichtig find die Typen für alle Zweige 
der fomifchen Literatur, joweit dieje das Alltagsleben behandelt. 








= Ic gebrancge hier den Ausorud „bürgerlich" in Ermangehung eines 
befferen, weil er fi einmal in der Yitteraturgsfhichte eingebürgert hat, und bes 
merte dabei ausdrüdlich, dafı id damit nicht mur das Veben der mittleren 
m d unteren Stände. fondern das Alltagsleben der Durdhiemittsnsnidhen über: 
Hanpt, aljo ad, der oberen Gefetlihaftstlaffen, bezeichnen will. 








Topus und Indivibunm. 


In den Diehtungen aber, die ih auf geihiehtliher Grundlage 
aufbauen, alfo im geihichtlichen Drama, im Seldenepos und im 
geicjichtlihen Roman, find die Individuen in der Mehrzahl. Weil 
die Sage nichts anderes üft, als die fid in dichteriiche Formen 
Eleidende Geichichtsanffaflung eines no in den Anfängen der 
NRultm ftedenden ganzen Volkes, oder in Tpäterer Zeit, auf höherer 
Nultueftufe, nur der naiv denfenden und empfindenden unteren 
Loltsihichten, find auch die in der Yitteratur auftretenden jagen: 
haften Perjönlichfeiten eher zu den Individuen als zu den Typen 
zu rechnen. 

Die Urfachen für dies Ueberwiegen der Topen einerfeits, 
der Judividuen andrerfeite find Leicht aufsudeden. Als Helden ber 
Dichtungen, die ihre Stoffe der geidichtlihen Neberlieferung ent: 
nehmen, werden meijtens die großen Gejtalten der Geihichte ver 
wandt. An einer großen Perjönlidfeit intereffirt uno 
aber gerade das Indiwidmelle, theilo weil diefeo gerade fie 
vom Durcchichnittsmenfchen unterideidet, und den Nern ihrer 
Sröhe ausmacht, theils weil auch das, was an ihr gewöhnlich 
und unbedeutend ift, durd) den Glanz, der von der ganzen Per- 
fönlichteit ausjtrahlt, mitverklärt, durd) die mächtige Wirtung der 
aelammten Perfönlichleit in eine höhere Sphäre emporgerüdt wird. 
Uimgefehrt intereffirt uns der Alltagomenicd als Individuum 
garnicht; mu diejenigen Leiten jeines Wejeno ziehen ımjere 
Aufmerfiamfeit an, in denen wir irgend eine Beziehung anf eine 
Allgemeinheit endeten fönnen, aljo, mit andern Worten, an einem 
undedeutenden Menichen find mur die typiichen, nicht die 
individuellen Eigenschaften allgemeiner Beachtung wertb. 

Much der Hleinfte Zug aus Viomards Leben, jedes Wort, 
das er jpricht, und jede wenn auch noch jo alltägliche Handlung, 
die er vornimmt, wird in der Prejle ausführlich berichtet; alle 
Schilderungen, die mit feiner wuchtigen Perfönlichfeit in Zu: 
fammenhang jtehen, dürfen fiher fein, ein millionenfaches Leie- 
pubfitum zu finden. Ein gewöhnlicher, den Durcihnitt in feiner 
Weife überragender Tagelöhner wird hingegen die Aufmerkjanteit 
weiterer Nreiie Faum in irgend einer andern Hinficht feileln 
können, alo infofern er fic alo fogialer Tupus auffajlen und 
verwerthen läht. 








Topus und Individinm. 253 


Im Alltagsleben find co gerade die Fehler und Schwächen 
des einzelnen Dienjchen, die id) am cheiten und leichteften auf 
eine Allgemeinheit beziehen Inffen; gerade diefe fallen dem Be 
trachter des großen menichlichen Ameiienhaufens als heruo hedjenne 
gemeinfame Eigenthümlichfeiten all der vielen Einzelwejen zuerit 
und am jtärkiten auf. Die menihlihen Fehler und Schwächen 
eignen Sich jo ganz bejonders zu einer tppiicen Behandlung. 
Nein Wunder, dab gerade der Zweig der Pitteratur, der alle jene 
Fehler und Schwächen zum Gegenitande hat, fie entweder mit 
bitterem Spotte geifelt, oder fi mit guimüthigem Humor über 
fie (ujtig macht, fein Wunder, dal; gerade die Fomiide Kitteratur 
an tnpijchen Geitalten am reichiten. üt. 

Aus dem Obigen Läht fi mun die dund) Erfahrung 
gewonnene Hegel aufitellen, daf; der bramatifche, epiiche, ober 
Romanheld, wenn eine bedeutende Perfönlichfeit in ihm dargeftellt 
werden foll, möglichft veid) mit individuellen Zügen ausgeftattet 
jein muß, um eine jtarfe Wirkung auszuüben. In den Zweigen 
der dramatischen und epichen Dichtung aber, die ihre Stoffe aus 
dem bürgerlichen und Volfolcben idöpfen, ganz bejonders in der 
fomiihen Yitteratur, joweit ihre Gejtalten dem alltäglichen Leben 
abgelaujcyt find, find eie tppiichen Charaktere am wirkjamften. 
Hier joll oder darf das Typiiche über das Individuelle überwiegen; 
die feine Nunft des Dichters zeigt fich aber gerade hier in der 
richtigen Mifhung beider Elemente, da der Typus einen Zujak 
von individuellen Zügen, wie icon hervorgehoben wurde, bio zu 
einem gewijlen Grade nicht entbehren Fann, um den Gindrud der 
frifchen Lebendigkeit, der Perfönlichfeit mit Fleiih und Blut, 
zu erweden"). 

Der Böfewiht war in der englijchen Yitteratur vor 
Shafipeare eine durdaus typiiche Geitalt. Es it eine piychologiid, 
merkwürdige Ihatjache, das unjere abendländiichen Aulturvölter 
das Schlechte jo gern mit dem Fluch des Yäcjerlichen unfleiden. 
&s liegt offenbar ein gewiffer Trojt für die arme, durch das Be- 

















>) Ein anderes Mitel, Einförmigteit in der Geitalung nleicheriiger 
Topen zu vermeiden, üt ihre möglichit manniglaltige Spaltung und Scheidung 
in Unterarten, wobei die verichiedeniten Gefihtspunfte und Eintheilungsaründe 
von mehr oder weniger nebenfächlicher Bedeutung in Beradıt tommen tönnen, 








254 Topus und Individuum. 


mußtjein von Sünde und Schuld bedrücte und gequälte Menichen- 
feele darin, fi über all dieo Elend mit überlegenem Humor 
binwegzufegen, indem man die Figme, die nach chrütlicher Auf: 
falung die Perfonififation und zugleich der Urheber alles Böen 
in der Welt if, mit Spott und Hohn übergieht. So madıt der 
Teufel in der mittelalterlihen Yitteratur des Abendlandes fait 
immer einen durchaus läderlihen Eindrud. Man braucht nur 
in die deutichen Volfsmärden einen Bit zu werfen, um zu 
fehen, wie häufig er überliftet wird und in die Nlemme geräth. 
Aus jolhen Vorjtellungen jiammen nody heute übliche Ausdrüde, 
wie „armer Teufel“, „dummer Teufel“ u. w. Und feinem 
ftändigen Begleiter in den engliihen „Moralitäten“, dem „Lafter” 
(Vice) haftet die Cigenichaft der Fücherlichfeit nod) viel mehr, 
und zwar in jo hohem Grade an, da; er allmählich vollitändig 
zum Haupfträger der Komik, zur Auftigen Perfon des Stüces, und 
Viee jchliehlih mit Clown und Narr gleichbedeutend wird. Erit 
Shatipeare hat in feinem Nicard IL. den Vöfewidht zu einem 
‚Helden nad) der fdlechten Eeite umgeitaltet, und ihn zugleich mit 
feinem Verftändnis für die einem. Helden zufommenden Eigen 
Ichaften jo reich mit individuellen Zügen verjehen, dah wir biejen 
Richard IN. wohl als den bedeutendjten Böfewicht aller Litteraturen 
anjehen dürfen. Wie der Held nicht als Typus gezeichnet werden 
darf, jo it and der Böfewicht, der ja nur eine befondere Art 
Held ift, nicht als Typus darzuftellen; denn ebenjo wie «6 zu 
wenig ft, wenn wir von einer diehterifchen Sejtalt weiter nichte 
lagen fönnen, als dah fie ein Held it, fo ilt au der bloße 
Böfewicht ohne individuelle Eigenthümtichfeiten zu bla und farb: 
105, um einer jtarfen md nachhaltigen Wirkung fähig zu fein. 
Yon diefem Standpunft aus muß ein Franz Door, der alo einer 
der beiden Haupthelden der „Näuber“ zugleich als Charakter der 
Gegenpol des andern ift, verworfen werden, eben weil er weiter 
nichts als ein Bölewicht und zu ehr Typus ift. Einen ähnlichen 
Einwand fönnen wir gegen die Geftalt des Nago im „Othello“ erheben, 
obgleich diejer nicht eigentlich als Hauptheld anzufehen ift. Andere 
GSejtalten verwandter Art find also Wiifhungen von Held md 
Typus aufzufaflen; jo it Ehnlod zugleich Völewicht md 
Kaffentypus. 














Typus und Jndividunm. 255 


Als das hervorragenbite Veifpiel eines tragüichen Helden, 
der durchaus Individuum ift, wäre vor allem Hamlet zu nennen. 
Und zwar ijt diefer jo reich mit individuellen Zügen ausgeftattet, 
dah fein Ween fait unerfchöpflich fcheint, daf die Auffafjung feines 
Charakters je nad) dem individuellen Standpunfte des Beurtheilers 
ad) ganz individuell veridjieden zu fein pflegt. Der Vegriff bes 
Individuums ift reicher an Inhalt, der Begriff des Tupus reicher 
an Umfang in logiihem Sinne. So mu das Individuum als 
verwidelter einzelner Organismus einer viel mannigfaltigeren und 
verfchiedenartigeren Veurtheilung unterliegen als ber allgemeinere, 
leichter verftändliche Typus. 

Als Veiipiel eines bedeutenden Typus im Charakter: und 
Eittentujtipiel, das gegenüber der bfofen Sitnationstomit der 
Pole oder des Luftipiels niederer Art den Gipfel dramatifcher 
Komik bezeichnet, jei Tartuffe angeführt, der berühmtefte Typus 
eines Heuchlers in allen Litteraturen. Sein Wefen erfdheint zwar 
durd) Ort und Zeit begrenzt, denn ex ift nicht jchlechthin Heuchler 
jondern ein echt franzöfticher Heuchler, und noch dazu ein Heuchler, wie 
er nur in ber Zeit Ludwigs XIV. denkbar ift, und bad) enthält 
diefer Heuchlertypus joviel allgemein menfchlice Züge, da er 
auc aujerhalb Frankreide und noch heutzutage eine fprichwörtliche 
Bedeutung befist. Vefanntejtes Beiipiel eines engliichen Heuchlers 
üt Bedsniff in Didens’ Noman „Martin Chuzlewit”, ein 
rein englifder unferer Zeit angehörender Typus. Da e6 einen 
mobernen Heuchlertypus aufer in der eugfifden Kitteratur faım 
giebt, fo läht fi annehmen, da nur in England die Heuchelei 
fich gegenwärtig nod) der Prühe Lohne. Aus den Verfchiedenheiten 
in den Peucjlertypen eines Tartuffe und eines Pedsniff lernen 
wir, dah ein allgemeiner Typus, wie j—hen mehrfad angedeutet 
wurde, wieder nach Zeit, Ort und andern Umfländen in zahlreiche 
Unterarten zerfallen fann. So ergiebt fid für jeden ITnpus eine 
unendliche Fülle von in Wejonderheiten fid)  unterfceidenden 
Erideinungsformen. 

Während in den Trauer- und Schaufpielen, deren Mittel 
punkt ein Held bildet, die Verwicelung dadurd) geichieht, dafs 
diefer Held gerade infolge feiner Heldennatur mit feindlichen 
Vlähten in MWiderftreit geräth, die der freien Entfaltung und 








Typus and Inbividinmn. 


Vethätigung jeiner kraftvollen Individualität hinderfic find, dreht 
fid die Handfung des „bürgerlichen” Dramas nicht um einen 
Helden im eigentlichen Sinne, und überhaupt nicht um einzelne 
Individuen als foldhe; hier find cs meiftens die großen jozialen 
Gegenjäge ganzer Gefellihaftsichichten, die aufeinander plagen, 
wie z.B. in Scillero „Habale und Liebe‘, Standesvorurtheile, 
ober Verfchiedenheiten der Weltanfhaunug, die die Werwicelung 
herbeiführen. Daraus folgt, dah die Gejtalten des „bürgerlichen“ 
Tramas nicht mdividnen, fondern Topen fein mühlen, typüce 
Vertreter eines bejtimmten Standes oder Berufes, oder einer 
bejtimmten Geiftesrichtung. So ift 5. 8. der alte „Stadt 
mufifant Miller“ in „Sabale und Liebe” ein wohlgelungener 
Typus eines ehrlichen braven Mannes aus dem Bürgeritande, 
der als joldher zum Opfer ariftofratiicher Anmahung und Willfür 
wird. Der Nonful Bernid in Jbiens „Stügen der Gejell 
Ächaft“ ift ein topifcher Vertreter der fogenannten „guten Gefellichaft“. 

Ungefehrt im gefchichtlichen Luftipiel. Dier, wie im gefcjicht- 
lichen Drama und Noman überhaupt, dürfen zwar die Neben: 
perjonen mehr jfisziert als forgfältig gezeichnet, cher Tupen als 
Individuen fein. Als Nebenperfonen nehmen fie unfer Interefie 
weniger in Anjpruc, und wenn c6 nicht erfundene, jondern wirtlid) 
geichichtliche Geftalten find, jo find dod) ihre Namen weniger 
wegen ihrer eigenen Behentung, als durd) zufällige Unftände 
der Nachwelt überliefert ; fie find nicht Hervorragend genug, um 
ihr geichichtlicdhes Charakterbild dauernd vor dem alle jeharfen Um: 
riffe verwißchenden Etaube der Vergefienheit zu bewahren. 
find, mit einem Worte, feine Belden *). Aber die Hauptträger 




















Das Vorwiegen indipiduclfer Fnüpft fidh natürlich wicht an die 
der Gefchichte entnommene Dichtung an  fich, Fondern, wie ich nochmals nach 
drüctlich Hervorhebe, wur infeweit dieje eine grole Perjönlichleit, eine Helden: 
manır filvert. Daher fan das Judividuelle ac) cbenjo wohl bei Geftalten 
hervortreien, die dem unmittelbaren Yeben entlchnt, oder frei erfunden find, wenn 
wir mr diefe Geftaften als Helden auf 1 haben ie frei erfundene 
Geftalten, freilich ohne eine fehr plaftiiche Cherafterzeichmung, find 3. 8. die 
icen Wrüber Don Manuel und Don Cejar in Schillers „Yraut 
ma“. Ganz emtfprecheud haben auch die inpiicen Geftalten wicht in der 
Tichtung, oder in der Fomifchen Yitteratur als joldier ihren Pak, 
jomdern nur im den Arten diefer Litteranirgattungen, 























beidcn fei 















Typus und Jndividinmm. 





der Handlung im geibichtlichen Lutipiel dürfen feine Tppen fein. 
Ein Typus it ja, wie id) ion Mar gezeigt zu Yaben glaube, 
niemals das Abbild einer einzelnen Perjon, fondern einer ganzen 
Gattung von Wienjchen. Jene Hauptperjonen wenigitens müjlen 
Individuen fein; denn fie befigen ja, wenn fie aud) Fomifche Züge 
an fi tragen mögen, docd die Cigenjchaften, die den Helden 
ausmachen ; auferdem bietet die Gefchichte in den meilten Zällen 
jo reichlien Stoff für die Veurtheitung ihres Weiens und ihrer 
Eigenart, dah der Dichter fich Leicht aus der Gejchichte jelbjt ein 
deutliches Bild von ihrer Perfönlichkeit macyen Fann. Als pafjendes 
Beifpiel eines Helden im gefdjichtlichen Yujtipiel jei der König 
Friedrih Wilhelm 1 von Preußen in Guskums 
„3opf und Schwert” genannt, diejer gutmüthig polternde Soldateı 
tönig, der dur und durch originelles norriges Individuum it; 
denn ein Original ijt ftets durchaus Individuum, niemalo Typus; 
der jo fomijch und dabei dod) nicht lächerlich ift; denn jonjt wi 
er eben fein Held. 

Der Unterfchied zwiichen der tnpiiden und der individuellen 
Behandlung fällt uns bejonders draftiid in die Augen, wenn wir 
„Wallenfteins Lager“ einerjeits mit den „Biccolomini” und 
„Wallenjteins Tod“ anderjeits vergleichen. Dort das Alltagsleben 
des Nriegelagers, nicht ohne Beimifhung von fomifcen Zügen, 
das buntbewegte Leben und Treiben der gemeinen Soldaten; hier 
die lange Neihe ihrer Führer, geichichtlid) befannter Perfönlichfeiten, 
die als Freunde oder Feinde fid) um die alle überragende Bejtalt 
des Hanpthelden gruppieren. So zeugt es von Schillers dichte 
riichem Feingefühl, daß jeder einzelne Soldat des „Yagers” das 
volfsmähige Abbild feines Iruppenführers it, die Soldaten 
alioden individuellen Hauptdarafteren in den 
beiden anderu Stücden nahgebildete Typen jind. Aud 
die andern Perjonen des „Lagers“ neben den Soldaten, der 
Bauer, der Bürger und der Napuziner, jind, wie don 
aus diefen allgemeinen Bezeichnungen jelbjt hervorgeht, durchaus 
npiiche Vertreter ihrer Stände. In den „Riccolomini“ und in 
„Wallenfteins Tod“ aber, deren Gefialten der Gefeichte entlehnt 
find, überwiegen jelbjtwerftändlich die Jndividuen. So jieht das 
„Lager“ zu den beiden übrigen Theilen der Wallentein-Tritonie, 





















258 Typus und Individumm. 


au was das Tupiiche und das Individuelle betrifft, in ähnlichem 
Verhältnis, wie das „bürgerliche” zum geihiehtlihen Drama. 

Gang entiprechend verhält fi) aud) das Heldenepos zum 
bürgerlichen Epos. Auch im Heldenepos begegnen uns vorherrichend 
Individuen; durdaus als foldhe find die homeriihen Helden 
Achilles, TCdyfieus m f. mw. aufzufaflen, obwohl Neitor 
eher als tnpifcher Xertreter des weilen Alters gelten fönnte, 
Aehnlic) find auch die Helden der „Nibelungen“, Siegfried, 
Hagen, Gunther und Geflalten wie Aeneas, Barzival 
u. a. zu beurtheifen. Die Helden der grofien Volks: und Kunftepen 
find alfo meift als Individuen anzufehen, wenn aud, oft die nod) 
ungeibte Runft der alten Zeit eine fharfe tebendige individuelle 
Chavakterifierung vermiffen läht, und wenn auch, befonders im 
Volfsepos, der Schwerpunkt nicht in den Charakteren, jondern in 
den Greigniffen liegt. Das „bürgerliche“ Epos jebad), als defien 
herrliches Mujter Goethes „Hermann und Dorothea“ zu nennen 
wäre, erjordert feiner Natur nad) vorwiegend typiiche Geftalten. 
Der Wirth zum Goldenen Löwen und jeine Gattin 
in dem genannten Epos find 5. ®. typiiche Vertreter bes gemüth- 
vollen fleinbürgerlichen deuticen Lebens, und zugleich ein topiidhes 
Eltern und Chepaar. Die jtrenge und leicht aufbraufende 
Gemüthsart des Vaters jtcht hierbei zu der janften, verföhnenden 
und vermittelnden Natur der Viutter in jhönem GSegenfag. So 
find die fonjt gleihartigen Typen des Vaters und der Mutter als 
Gejcjlechtstypen von einander gefondert. Dies it au, injofern 
lehrreih, als wir daraus erjehen fönnen, da nicht nur ein 
eingeitlicher Typus, wie der oben erwähnte deo Heuchlers, fid in 
mehrere Unterabtheitungen zergliedern täht, jondern baf; aud) in 
einer einzigen Perfönlidhleit mehrere Tnpen zugleid vereinigt 
werden Tonnen. ehntidh find auch der Pfarrer umd der 
Apotheker in „Hermann und Dorothea” nicht allein als 
Verufstppen neben einander, jondern zugleidh aud als Charakter 
typen einander gegenüber geftellt. 

Die Gejtalten vieler mittelalterlichen Nitterepen nehmen 
eine Mittelftufe zwiichen Individuum und Topus ein. Perfön- 
licjfeiten wie Eref und Jwein bei Hartmann von Aue, oder 
Willehalm bei Woliram von Gicenbad laflen fi als eine 








Topus und Jndividunm. 


Art Zwitterweien, halb als Helden im eigentlichen Sinne, halb 
als tppiiche Vertreter des NittertHums auffajten. 

Als Veijpiel einer feinen individuellen Charakterifit im 
geihichtlihen Noman führe ich die meijterhaft gezeichnete Gejtalt 
des Königs Ludwig Xl. von Frankreich iu Walter 
Scotts Noman „Quentin Durward“ an. In der Periönlichfeit 
diefes Nönige wird ums ein Charakter vor die Augen geftellt, 
deifen geiftige Weberlegenheit über feine Umgebung gerade in bem 
unföniglichen, geradezu ärmlicen Gewande, in dem der Stönig 
aufzutreten fiebt, nur um fo jchärfer hervortritt. Er ift reich 
an abjtohenden und widerwärtigen Zügen, oft Heinlich, und doc) 
groß genug, um das Hauptinterejie des Nomans in feiner Perfon 
wie in einem Brennpunkt zu vereinigen. 

€s giebt aud) eine andere Art von geihichtlichen Nomanen, 
worin der Dichter nicht an bejtimmte Perjönlicyfeiten der Gejdhichte 
anfnüpft, jondern es ihm Hauptjäclich darum zu thum ifl, uns 
überhaupt ein wahres und gefrenes Kultur und Sittenbild der 
betreffenden Zeit barzubieten, wobei die Perjonen, deren Schicjate 
erzähft werden, aud) ganz frei erfundene Geftalten fein fönnen. 
Bei diefer Art des geicjichtlihen Nomans, die eine Brüce zwiichen 
dem eigentlich geichichtlihen und dem „bürgerlichen“ Roman bildet, 
ift aud) eine tppiihe Behandlung der einzelnen Perfonen möglic) 
umd zwar deito cher, je mehr die einzelnen Theile des Romans 
den Charakter von geicjichtlichen Genrebildern annehmen. Sierbei 
fann man die frei erfundenen Geitalten als zur blofen Staffierung 
dienende tppüüche Vertreter ihrer Zeit aufiafen. Einzelne Theile 
von Guftav Freptags „Ahnen“ glaube ich zu diefer Nomanart 
vedinen zu dürfen. 

Da im „bürgerfichen” Noman die tnpifhen Geftalten 
vorwiegen, ichen wir am beiten an einem jo ausgezeichneten 
Werke wie Freptags „Soll und Haben“. Hier erbliden wir eine 
bunte Dienge von durchaus Iypiichen Charakteren; der deutiche 
Kaufmannsjtand einer Provinziiadt von mittlerer Größe 
wird uns in einer Neihe von typiiden und dabei unter fid) 
mannigfaltig gegliederten Vertretern vorgeführt; umd aud die 
Herren Ehrenthal, Veitel Jrig u. f. m. verdienen &6, 
als wohlgetrofiene Tupen bes „auserwählten” Wolfes bezeichnet 





Topus und Individuum. 





zu werden. Zur Vergleihung und als Gegenbild jei hier der in 
der Gejtalt des Mir. Dombey in Didens Noman „Donben 
und Sohn“ dargeitellte Typus eines engliichen Kaufınanns heran 
gezogen, des jtolzen, hohmüthigen, auf jeinen Neichtgum pocdenden 
Sropfaufmanns der Londoner City. 

Je mehr ein Typus allgemein menschliche Züge enthält, je 
weniger ex in feiner allgemeinen Bedeutung durch rein zeitliche 
oder örtliche Züge beichräntt ift, deito länger exhäft er fih, ohne 
zu welfen oder zu verblaifen, auch in der Nadwelt. Shafipeare 
zeigt fh uns nur in einigen fomifhen Typen feiner früheiten 
Jugenddramen noch ganz in dem engen Sejichtsfreis des damaligen 
Englands befangen. Eine Geftalt wie der Spanier Don 
Adriano de Armado in der „Verlornen YLiebesmüh“, cin 
Vertreter des jogenannten „Cuphuiomus“, jenes gegierten jchwi 
Stils, der id, von dem „Marinismus” der Jialiener ausgehend, 
damals in der englijchen Literatur breit machte, kann in unferen 
Tagen fein objeftives Intereiie mehr in Aniprud) nehmen, fondern 
mır als jatirifcher ITopus einer Modethorheit in der Gejdhichte 
der Geihmadsverirrungen einen lab finden. Später hat fid) 
Shafipeare aus den Anfdanungen feiner Zeit und feines Vater 
landes zu den höchften Gebilden der dramatiicen Kumft durd) 
gerungen. Zein berühmter Zeitgenofie Ben Zonfon blieb 
jedoch alo Dramatiker zeitlebens an der heimathliden Scholle 
fleben; feine damals jo body angejchenen Werke jind für uns 
ungeniefbar, weil ihre unzähligen zeitlichen und örtlichen An 
ipielungen ohne einen ausführliden Nommentar unverjtändlic) 
find, und fo einen reinen äftpetiichen Genuß; unmöglich machen. 
Er war zwar ein jehr wigiger und icharfer Satirifer, aber ihm 
fehlten die Schwingen des Genius, die einen Shafjpeare zu der 
erhabenen Sphäre reiner Menfchlicfeit emporgetragen haben. 

Das; aud) rein äußere Umftände einen bedeutenden Einfluß 
auf die Entftejung und Entwidelung von Typen ausüben fönnen, 
fehen wir an den ftehenden Charaftermasfen der mittleren und 
neueren attifchen und der vömijchen Komödie, die die Ausbildung 
von jeiten fomifcen Ippen zur unabweislihen Folge hatten. 
Tiefe jtehenden Winsfen des Alterthums haben fi nicht nur in 
ununterbrochener Nette in den tmpiichen Gtejtalten der heutigen 








Topus und Individuum. 261 





itafienifchen Voltstomödie, dem Hartefin, Policinell u. j. w. fort 
geiegt, Tondern auch durch das Bindeglied des Sumanismus jehr 
befruchtend an der Ausbildung des funjtmäßigen Luftipiels unferer 
modernen ulturvölfer mitgewirkt. 

Ton den erwähnten vier Banptquellen für alle in der 
Kitteratur begegnenden Geftalten fommen Gedichte und, in 
größerem oder geringerem Zufat, eigene Erfindungsgabe des 
Dichters, vorzugsweile für die Individuen in Betracht, foweit es 
bier überhaupt möglich it, Grenzen zu ziehen; für die Typen 
dagegen find das unmittelbare Leben und litterariiche Vorbilder 
von größerer Wichtigfeit *). Die meiften Typen entipreden nicht 
allein, mit mehr oder weniger Aehnlichfeit, irgend einer im 
wirklichen Leben vorkommenden Menicengattung, jondern haben 
zugleich) geile feit überlieferte Züge an fi, die fi dur) 
Nachahmung forterben. 

Ie mehr ein Topus fih mit feinen im wirklichen Leben 
vorhandenen Originalen, der Gattung Vlenfchen, die er baritellen 
fol, dedt, je mehr wir ihn als naturgetreu und febenswahr 
empfinden, dejto mächtiger iit jeine Wirkung auf uns. Oft wird 
dind) einen glüdlichen Griff ins volle eben ein neuer Typus 
geidjaffen, und wenn es feinem Schöpfer gelingt, dem neuen 
Stoff and) eine recht Fräftige in die Augen fallende Form zu 
geben, jo fann er cines großen Erfolges fihher fein. Aber gerade 
der Erfolg lot die Nadahmer an, wie das Licht die Wiotten. 
Jede fitterarifche Neuihöpfung, die einen bedeutenden Erfolg erlebt 
hat, pflegt eine Zeit lang unermüdlich, mit mehr oder weniger 
Geidie, oft ganz blindlings, nadigeahmt zu werden. Die Nadı- 
treter betreiben ihr Handıwert gewöhnlich nod immer mit grohem 
Eifer, wenn der betreffende Typus unterdeiien fon Längjt veraltet 
üt und die ihm im Leben entiprechenden Originale überhaupt nicht 
mehr vorkommen. Während das Leben jeine Formen ewig wechjelt 

















*) 65 fann ailerdings auch cin hervorragendes Jndividunm aus dent 
geben der unmittelbaren Gegenwart digpteriich behandelt werden, aber sinn 
fotchen Jmvividunm möffen wir dann jedenfalls much geichichtliche Bedeutung 
zufgpreiben. Ein jolher Aal würde j. W. vorliegen, wenn jemand Bismards 
Perfönfichteit jeut dichteriich verwerthen wollte. Tiefer Fall iit alio nur jheinbar 
eine Ausnahme, 











202 Typus und Individuum. 


und umgejtaltet, Hält aljo der Topus in der Literatur nicht 
Schritt mit diefen Veränderungen, er hat eine längere Dauer als 
feine Originale; wir bemerfen, dal; die blinde Nahpahmung älterer 
Vorbilder ihm in eine gewijle Erftarrung ber Formen verfallen 
läßt. Eine folde Erftarrung mu ja in jeder tunjt unvermeidlich 
eintreten, die nicht unmittelbar nad) der Natur und nidt immer 
wieder auf diefe zurücgreift. Nur eine jtets erneute Vergleihung 
mit dem Leben und mit der Natur dev Originale, bejtändige An- 
paffung an bie ewig neuen Lebensformen, fann die Typen vor 
der ihnen fo leicht drohenden Erftarrung bewahren. Außerdem 
dürfen wir nicht vergeifen, daß die Topen jhon ihrem Mejen 
nad) zu einer gewiilen Einförmigfeit und Gleicartigfeit ihrer 
Formen neigen, weil aud) im Leben jelbjt immer diejelben Tupen 
wieberfehren. So fönnen fid auch jehr ähnliche Typen ganz 
unbeeinflußt und mabhängig von einander herausbilden, wie wir 
dies 3. B. befonders an den überrafchenden Uebereinftimmungen 
der Topen des indichen Dramas und Shalipeares beobachten. 

Der Typus des zeritreuten Profeiiors in dem 
„Ölienenden Blättern“ ift durchaus nicht mehr das getreue Ab- 
Bild des heutigen deutichen Gelehrten. Iener Typus jtammt aus 
einer [ängft vergangenen Zeit, wo der deutiche Univerfitätsprofefior 
mod in färglichen Geldverhältnifien und in meltfremder Abge 
fchiedenheit nur feinen Wüchern lebte, und für die praftiichen 
Vedürfniffe der Anfenwelt fein Verftändnis hatte. Der Profejior 
der Gegenwart febt meilt in behaglicen Verinögensumftänden, 
ihon deshalb, weil unjere afademiche Laufbahn heutzutage für 
den minder Bemittelten jo gut wie verichloifen ift. Diele ver- 
änderten änferen Verhältniffe haben dem heutigen Profeffor aud) 
in den meijten andern Beziehungen ein neues Gepräge gegeben, 
ihn vielfad) zum gewandten Weltmann umgebildet, und wenn die 
‚erftreutheit unter dem Gefehrtentyum auch jest nod) immer, 
befonders unter den Vertretern der rein theoretiichen, abjeits vom 
praftiichen Leben liegenden Mifenihaften, Häufig genug fein mag, 
fo ift fie dad) feineswegs mehr ber hervorragendite Zug im Wejen 
des heutigen deutihen Profeffors. Windeftens einfeitig wird auch 
in den Migblättern, die für die Fomifchen Tupen des Alltagstebens 
die willfommenjte Heimjtätte darbieten, der Deutihe Student 








Topus und Individuum. 263 


aufgefaht. Nicht mur ber ewig buntige, jeden anrempelnde 
Bummler ft ein danfbarer fomifcher Typus des beutichen 
Studententhums, fondern ebenfo and) der beftändig „odhfende”, 
vor jeinem Profeijor Friechende Stveber, den bie Wipblätter nicht 
fennen, und den der fid) in der Nengeit immer mehr verichärfende 
Kampf ums Dafein doc) leider nicht mehr jo ganz felten hervor: 
dringt. In welcher Weife der unglüdjelige Topus der böfen 
Schwiegermutter in ungähligen gleihartigen Wipen nod) 
immer tobtgeritten wird, das ift icon oft rügend erörtert worden. 

Aus meinen Ausführungen ergiebt fi der merhwürdige 
Miderjprud), da der realifliiche Dichter es im Allgemeinen mehr 
mit den eigentlich doc) abjtrafteren Tppen zu tun hat, während 
die fonfreteren Individuen cher im Vereid gerade des idealijtiüchen 
Dichters liegen. Doc) dürfen wir einen folhen Zap natürlich, 
nur unter Vorbehalt ansipreden. Auherdem ift, wie icon betont 
wurde, nur der abjolute Typus ber Theorie rein abjtraft. Die 
in der Pitteratur wirklich vorkommenden Typen erhalten einen 
Tonfreteren Inhalt durch eine Beimifchung individueller Beftand: 
theile, oder dadurch, daß fie nach verichiedenen Gefichtspunften in 
unzählige Unterarten zerlegt werden fönnen. Und umgefehrt 
entfernen fid) die Individuen oft von ihrer uriprünglichen Non: 
fretheit, indem fie durch Ibealifirung Xeränderungen erfahren. 
&o findet von beiden Seiten eine Art Ausgleic) ftatt, die beiden 
Endpole fehlichen fid im Nreife wieder zulammen, und jener 
Widerfprudh verliert feine anfangs jo auffallende Sonderbarfeit. 
Gerade die befanntejten Typen der Litteratur find auch an indis 
viduellen Eigenthümtichkeiten befonders reid. So ilt z.B. ber 
berühmtefte aller Braplpänfe, Zalitaff, durchaus nicht ihledhthin 
Praplhans, jondern eine Miihung von Prahlhans und originellem 
Individuum. Hingegen fönnen wir die größten Individuen aller 
Literaturen, Hamlet und Faujl, jenen in feinem tieffinnigen 
Grübeln über die Näthjel des Dafeins, diefem in feinem unabs 
Läffigen Streben nad) vollfommener innerer Vefriedigung, auc) 
als typiche Vertreter der gefammten Vienichheit auffaifen. 

Ed. Edhardt, 



































Rolitiihe Korreiponden;. 


Die legten Wochen haben in den zu Berlin tagenden beiden 
Kammern, welche die politifche Leitung im Neid und Staat in 
der Hand haben, einige Debatten gebracht, welche ud, außerhalb 
Deutjchlands auf einiges Interefie Aniprud) maden fönnen. Da 
war erjtens die dreitägige Verhandlung über den Kolonial-Etat, 
die im Grunde ein Angriff auf die Nolonialpolitit des Neihhes 
war. Die Nolonialgegner hatten fi als augenblictliche Blöhe in 
der Feite, den Dr. Peters herausgefuht, und fielen über ihn ber, 
um an ihm die Verwerflichteit der in den Kolonieen angewandten 
Vlittel, die Verlegungen von Hecht und Moral nachzuweilen, aus 
denen fie Vrennftoft für populäre Entrüftung holen fönnten. Die 
toloniale Sache joll dem Volt verefelt werden. Go wurde aljo 
der arme Petero allerlei Schandthaten beüchtigt, die er in Oi 
afrita joll begangen haben und die ich dem Yefer biefer Zeitichrift 
wohl nicht brauche in Erinnerung zu bringen. Cs war weder 
ichön, einen Abwejenden, der auch feinen berufenen Nertreter 
hatte — oder fand, jo gröblic zu beichimpfen, nod) war cs 
erbaulich, das Weibergezeter über Gewalt und Härte und Nohheit 
und Unmoral anzuhören, welche nun dad) einmal nicht zu vermeiden 
find, wenn man dem Folonialen Gewerbe überhaupt nachgehen will. 
Die Bebel und Nichter fpielten zur Abwecjlelung einmal hriftlihe 
Miffionäre und Diafoniffinnen in einer Berliner Miffionsftunde, 





>. 


Pofitiiche Korreipondenz. 265 


und da der Vertreter der Negierung, jeine Stellung mihveritehend, 
feinen Beamten preisgab, To blieb ichlichlicd dem Herrn Bebel 
die Leitung diejes ganzen Stüdes. Denn die Nedner der andern 
Parteien Ihaten — bis auf den Grafen Arnim: Muskau —— jo gut 
wie nichts, m von dem Neichotage die Schimad) diejes Bebel’ichen 
Halogerichts abzuwehren. Mon fragt fi, warm das fo fam. 
Nun, einmal fehlt eine überragende Leitung in der Negierung, 
und mehr nod) fehlt es an überragenden Führern bei den Parteien 
der Ordnung. &s ijt leider ein Symptom bes parlamentarif—hen 
Niederganges, was uns diefe Debatte darbot. Der Keichstag hat 
unter jeinen Gliedern viele Kolonialfreunde und mande Yeute, 
welche Peters, iroß feiner Mängel, für eine in tolonialen Dingen 
ichr brauchbare Kraft halten. Aber fie wagen nicht für Dr. Peters 
und mer fhüchtern für die Fofonialen Intereiien einzutreten, aus 
Furcht, dem Beftande der Partei zu jhaden, die wählenden Polititer 
der Vierbanf zu erzürnen, auf welche die Frauen ihren Einfluß; 
Und die Frauen waren natürlich in feierfiher Tugend: 
tung ob eineo Vienfchen, der —- nun, der jo Flobig mit dem 
ihönen Gefchlecht, wenn eo auch f—hmwarz war, verfuhr. Offen zu 
jagen, dah es eine geichledhtliche Wloral, wie wir fie -— nämlich 
theoretiüch — in Berlin haben, in Mrifa nicht giebt und man 
daher an unfere Afrifaner drüben einen andern moraliichen Maah: 
ftab legen muß, alo an einen Berliner Schulmeifter oder aud) 
Volizeilieutenant, —- dazu fehlt der Muth nicht nur bei Leuten 
wie Yammadher, fondern auch bei Frhr. von Manteuffel. Die 
Zadıe, nicht blos die Perfon des Herrn Peters, litt davon erheblich 
Schaden, denn auch der Vertreter der Negierung wurde von Diefer 
Angitmeierei beeinflußt, und im Wolle jepten fic) faliche Vor- 
ftellungen von den Aufgaben und Zuftänden in unjeren Kolonien 
fet. Und dann ift nicht zu unterichägen, da VBebel der Held der 
Tage wurde. — Diejelde Angitneierei zeigte fi bald darauf in 
den Debatten vom 20. und 21. April über das Duell. Herr 
von Roße, der einfache, in nicht bedeutende Jeremanienmeiiter, 
den hatte man feit Jahr und Tog gehegt mit der Veichuldigung 
Dinge ausgeführt zu Haben, deren im Grunde ihn Niemand für 
geitig fähig hielt. Er ftürzte fh, von allen Seiten umitellt, 
endlich anf den zunächt Stehenden, der erreichbar und angreifbar 











266 Politiiche Korreiponden;. 


war, den Baron Schrader, und erichof ihn im ehrliden Zweifampf. 
Weldh’ ermünfchte Gelegenheit zum Angriff auf Negierung und Heer! 
Ein Zentrumomann interpellixt, Liberale und Sozialiiten jefundiren, 
was ja nicht auffallen ann. Wohl aber fällt es manden Leuten 
auf, wenn man in dem mn folgenden Mehgeichrei über die 
Unfitte des Duellweiens, über die Zündhaftigfeit des Duells, über 
die fchwere Verlegung des Nechtobewußtieins des Volfeo feine 
Stimme vernahm, die alle bieje Nebertretungen auf ein vernünftiges 
Maak zurücführte. Nur Herr von Bennigien trat mäfigend dem 
Geichrei entgegen, leider um fpäter — vielleicht unter dem Drud 
der gegen ihn gerichteten Vorwürfe feine Mähigung zu bereuen 
und jo dem Keichstag zu feinem einmütbigen Veihluß zu vers 
belfen, von der Negierung energüüche Manfregeln zur Abihaftung 
des Duellweiens zu fordern. Der Yiberalismus it in Dielen 
Debatten über das Duell und über Di. Peters völlig von den 
radifalen Führern in Schatten gejtellt worden, die mittleren und 
fonfervativen Gruppen haben ji gefügt einem Urtheil, weldes 
in beiden Fällen denn dod auch von einem liberalen und 
briftlichen Staatobewußtiein ans fehr anfechtbar üt. 

Ueber das Duell it jeit Menfchenalter viel geredet und 
geichrieben worden, und es läht fid) viel Verechtigtes gegen dafielbe 
in der That jagen. Aber es it ein Jrrtjum, wenn behauptet 
wird, das Duell verlepe in roher Weife das Nechtsbewußtfein des 
Volkes und die hriflich-ficchlihen Gebote. Das Duell erhält fh 
erfahrungsmähig bioher in demfelben Manfe, als in einem Lande 
geichlofiene Stände fid erhalten, welche eine beiondere Standes: 
chre pflegen. In Ländern, wo der Unterfchied der Majien nur 
durch das Geld bezeichnet wird, wie in den ange ichen Staaten, 
da wird die Ehre durd) den Nicyter und das fittliche Urtheil der 
Menge gefucht. Aber wenn man jtets auf England vermweilt, fo 
glaube id) nicht, da fd) der Ehrbegriff eines deutidhen Edel: 
mannes ober Offisiers dort jehr gefihert fühlen würde. Diefer 
Ehrbegriff it zu fein, um mit Gefängnifi: oder Gelditrafen fi zu 
begnügen, er it eine fittliche Kraft, die dem Stande einen Halt 
verleiht, wie fein Gefeg es vermag, und die faum zu theiter 
erfauft wird durd die Möglichfeit, da ihr aud) ein Menschenleben 
einmal zum Ipfer gebracht wird. Diefer Ehrbegriff fann aus: 
























Politiiche Korreipondenz. 7 
arten, wie in Frankreich, in England im 17. und 18. Jahrhundert, 
aber er bleibt darum doch ein an fid) unfdägbares Gut. Und 
wenn ein Mann für ihn fein Leben einfebt, fo glaube ich nicht, 
daß irgend ein Vol fih in feinem moralifchen oder gar rechtlichen 
Vewußtiein davon verlett fühlt. Das Volfsbewuhtiein Hat ftets 
den Muth und die Todesveradjtung bei den oberen Kaffen auch 
in der Vertheidigung ber verfeinerten Ehre hochgeahtet, die ihm 
jelbit im Ganzen nicht in gleicher Weife eigen it. Cs bedarf 
dev Verhegung, der Verfälichung des natürlic-richtigen Empfindens 
im Volt um dafjelbe das Duell als ein Unrecht empfinden zu 
Injfen. Und es fit ebenfo eine Fülfchung, wenn behauptet wird, 
eitampf widerfpreche den Grundjägen des Chriftenthums. 
Vielleicht verlegt er das Empfinden und Meinen der Michrheit 
des heutigen Chriftenthums, aber ficperlic hat, feit es Chriften 
giebt, die ungehewe Viehrheit derjelben, und die Kirche einge- 
ihloffen, den Zweitampf für eine nicht unerlaubte, fondern für 
eine hrüfliche und Löbliche Einrichtung gehalten. Wer fih, wie 
das üblich üft, anf das „Du follit nicht tödten” beruft, der weile 
doch and) gleich nad), dab damit das Tödten im Zweifampf ver- 
boten, aber das Tödten in der Schlacht erlaubt jei; oder er fei 
foniequent genug, um fi) den Yehren Yeo Toljtoi's anzuichliehen; 
denn es Äft nichts damit getan, irgend einer Gefühlsdufelei einen 
Say aus der Bibel überzuhängen, um fie al dritlid) ericheinen 
zu Iafjen. 

Wenn der Stant, wenn die Gefellihaft, wenn die oberen 
Stände felbjt gegen das Duell anjireben, jo tum fie recht daran; 
nur jollte man, jollte bejonders der Staat in feinen Geieben und 
feiner Handhabung der Gefege dem Empfinden feiner Zeit und 
dem Ehrbegrifi im Wolf oder Stand Nedhnung tragen, wie das 
ja auch atjächlic in Nücficht der Handhabung der Gelege meift 
geübt wird. Co joll and) Niemand von den Genofien in Volk 
oder Stand zum Duell gezwungen werden. Cin Stand, der feine 
bejondere Standesehre fid bewahren will, möge fie nicht nur 
durch das Duell, fondern and) duch Chrengerichte Ihügen, welche 
die Nöthigung zum Duell, wenn nicht zu befeitigen, dod) in 
Schranfen zu haften vermögen. Was man aber bier in den 
Kreiien liberaler und anderer Cifrer fordert, das ift eine Ver- 























Wolitihe Norrefponden;. 


gewaltigung eines Ehrbemuhtfeins, das nicht allein eine bifteriiche, 
fondern and) jeine rein menichliche Berechtigung hat. Und zulegt 
kämpft der Demofrat gegen das Duell, weil ihm dafielbe als 
etwas den oberen Maffen Einenthümliches verhaft ft: er winfcht 
nur Pöbel oder höchftens Bauern um fidh zu fehen, er erhebt ein 
Gehent ob eines im Duell gefallenen Edelmannes ımd jagt, wie 
Herr Vebel im Neichstage, dad in demfelben Mihem: „ms fan 
85 vet fein, wenn die Edelleute einander umbringen.“ Xer 
pöbehmg -— das üit die Signatur des Öffentlichen Lebens unferer 
Zeit, eine Strömung, die leider ihren Einfluß bis in die parla- 
mentarifchen Körper hin geltend macht. Was ift in diefen 
> Jahren aus dem deutichen Keihstage nemerden! Wie tief 
jteht der heutige unter dem der fiebsiger Jahre! Und wenn wir 
noch weiter zurücbliden: welche Külle hochgefinnter, vornchmer 
Männer fah man 1818 in der Paulofirhel Wie flein find heute 
Gefinnungen und Ziele in diefen Parteien des do ut des-Zpieleo! 

Ich möchte Xhre Yejer mm mac) auf die im dem fehlen 
Tagen jtattgchabten Xerhandfungen des preufüichen Dauies 
der Abgeordneten über die Nornlagerhänfer aufmerfjam machen. 
Die Frage üft jeit fange auf der Tagesordmung der agraren 
Prefie.  Neichs + Lngerbäuler, genofienichaftliche Lagerhäufer mit 
oder ohne Warrants, Zilo oder Bodenipreicer - das find 
die weientlichen ragen, um die cs fich handelt. Die preufiiche 
Hegierung hat mm 3 Mill WE angeboten zu einem Berinch 
mit Lagerhäufern, welche die Yandwirthe oder die fandwirth: 
ichaftlichen Genoifenichaften felbft verwalten jollen. &s joll der 
Kornhandel von der mnlauteren Spehulation möglichit (osgelöit 
und der Produzent in direktere Verbindung mit dem Konfumenten 
gebracht werden. Da in Riga bereits ein Silo-Speicher erbant 
it, jo wird es vielleicht für die baftifehen Yanbwirthe von Wertb) 
fein, der Entwicelung der Frage in Preufen nachzugehen. Was 
bisher fich {chen bemerklich macht, ift einmal der Wunfch der 
andwoirthe, mit diefem Berfuch eigener Yagerhäufer der Gefahr 
zuvorzufommen, dal; der Sandel mit dem Bat eines Nebes von 
Silo Speichern vorgeht und dur Diele Zilos den Kandel mit 
Norm noch mehr als bisher in feine alleinige Verrihaft bringt; 
jerner die Abneigung gegen die Annahme des amerifaniichen 



































Potitiiche Korreipondenz. 269 


Warrant-Epjtems, und zwar wieder aus dem Grunde, weil die 
Ausgabe von Warrants der Vörje es erleichtern würde, die vor 
handenen Vorräthe zu überichen, zu erwerben, und den Preis zu 
beherrschen. Eo viel ich weih, ift der Nigner Tilo ganz in der 
Hand der Börfe und wird vom Landwirt) gemieden; es ift dort 
alio wohl ein faljcher Weg eingeichlagen worden, den man hier 
meiden will, indem man durd) den Bau des Silo nur die Börfe 
gefräftigt Hat zu Ungunjten der Yandwvirthe. Aber wenn aud) ber 
Nigaer Zilo nur für Tranfit-Getreide aus dem innern Nufjland 
jest Bedeutung bat, jo dürfte für die baltifchen Yandwirthe die 
v- Frage damit nicht erledigt fein. Trop mander übler Er- 
fahrungen, die auf genofienichaftlihenm Boden gemacht wurden, 
bleibt Diele doc) der einzige Boden, auf dem eine Vejlerung der 
Lage nicht nur hier in Teutichland, jondern auch in den Oftfee: 
provinzen zu erreichen ift. Genoffenichaftlihe Sites und genoffen- 
idjaftliche Getreideausfuhr werden verfucht werden miifen, To 
ungern man fid auch in feinen (Gewohnheiten ftören läht, und fo 
wenig geichulte Nräfte für folhe Unternehmungen aud) vorläufig 
noch im Lande jeloft fd finden. Der Drud der Noth, der hier 
zu Silos oder Schüttboden- Speichern führt, wird die baltischen 
Yrovinzen nicht verichonen, und je zei v man fich der neuen 
öfonomüjchen Konjunktur anpaßt, um jo weniger wird man von 
der North Schaden leiden. 

Die äufere Politif mag heute nur mit ein paar Worten 
berührt werden, um jo mehr alo id) in derjelben in den legten 
Wochen im Ganzen wenig verändert hat. immer noch wird fie 
von der Frage beferricht, welde Entichlüie England in Oftafien, 
in Südafrifa, am Nil fahen wird. Die großen Geberden, mit 
denen englijhe Viinifter gelegentlich auf „Unternehmungen voll 
Mark und Naddrud“ hindeuten, die in Züdafrifa geplant würden, 
dürfen wohl kaum Jemanden in Schredfen fegen; denn die Herren 
dort pilegen «0 ftets für billiger zu halten, mit Worten einen 
Zwedt zu erreichen jtatt mit Ihaten jo lange das fid) irgend 
Ahun läßt. Dah; England in aller Stille in Walhinton den Vor: 
Ichlag gemacht hat, alle Streitigkeiten zwiichen Großbritannien und 
der Union durd) ein ftändiges Schiedsgericht zum Auotrag zu 
bringen, ijt ein deutliches Zeichen dafür, wie viel England daran 

2 
































270 Politiiche Norreipondenz. 


gelegen ift, nad) jener Seite hin fidh aller Differenzen zu entlebigen. 
Drohungen gegen Deuticpland, feine Einmiichung in Tranevaal 
zu dulden, dürften vorläufig nur ein Verfud fein, Deutichland 
einzuichüichtern. Ebenfo Halte ih den Dongela-Zug nur für einen 
Vorwand, um die Truppenmad)t in Aegypten zu jtärfen, und 
nebenher auch für einen Perfuch, Italien Hilfe zu bringen. 

In Frankreich it die Nrifis num zum Ausbruch) gelangt, 
der Senat hat gefiegt, Bourgeois it gegangen. Herr Faure will 
© mit einem gemäfigten Nabinet verfuden. Der Xerfuch it 
gelungen. bietet aber doch nur geringe Ausficht auf Beitand. 

Ev.d.B 














Berlin, 27. April 189 

















Notizen 


Die Memoiren des Grafen Ernit von Münnic. Herause 
gegeben fonie mit Einleitung und Piographie des Lerfaffers verfehen 
von Arved Fürgenfohn. Stuttgart, Gotta. 1896. XIIT. u. 212 Seiten. 









Graf Ernit von Münnich (geb. 1708 F 188) ift der Sohn des befannten 
zuffiihen Oeneralfeldmarjehalls BurchardChriftoph von Münnich (geb. LOSE FLTETI. 
Seine erfte Jugend verlebte er mit den Eltern auf den Schaupläpen des fpanifchen 
Erbfogefrieges, Fam dann nad Warichau und als der Vater in rufftiche Tienite 
irat, mach Kiga, wo cr die Tomjcrile befuchte. Seine eigentliche Ausbildung 
erhielt er in Genf. 1727 wurde er am Petersburger Hof eingeführt und machte 
nun als Sohn eines der Hewvorcagendften ruffiicen Staatsmänner und Feldgerrn 
cine brülfante Garriire. 1729 war er Cavalier d’Amıbassade in Paris, und 
zwei Jahre darauf vertrat der junge Oraf fon ganz allein die ruffüihen Anters 
effen am frangöfiichen Sof. Doch fehrte cr 17:33 nad) Beiersburg zurüd, belleideie 
mehrere Hofämter, erhielt die höchiten Crden und ftand in glänzender Stellung 
da, als er in den Sturz feines Vaters ig. ITH verwidel und gleichfalls vers 
bannt wurde. Yon IT 1762 führte cr mit feiner Aami irliches. 
Tajein in Wologda. Yon saifer Peter III. zurüdgerufen wurde cr 1763 
Generaldireftor jämmtlicer Heichszölle und ftarb 8 als Präjident des 
Nommerzfollegiums. Beerdigt it er an der Seite des berümten Vaters auf 
feinem Gute Lunia. 

Seine in Wologda i. }. 




















ie ein 














verfaßten Memoiren behandeln die Jahre 
1708 ITH. Bon vorngerein ift anzumehmen, dal Die vebeuserinnerungen 
eines hogefteitien Mannes, der mit alten Leitenden Perfönfichteiten 
geiesten Beziehungen fand, viel amiifantes Detail und auch Hitorifd werthuolle 
Nacjricjten bieten müffen. ‚zu eriterem find die Mirheitungen über Ernit 
Bünnicy’s eigenes Yeben, zu den Lepteren die über feinen Pater zu zählen, ja, 





1 nase 








272 Notizen. 





torfche Antereiie an den Memoiren tonpentrirt ih in der Sanptiadhe auf 
die Yerfon des ältsıen Münnich. Das’ ebrige, mie die Charafterijtiten der 
Kaiferin Ana, Virons, der Nogentin Anna Yeopofdonua und ihres Gatten 
Anton Weich von Bramnjchveig Find dod mehr oder weniger Staflage gnenüber 
der Erzählung von dem ftetigen Emporfteigen des Feldmarfchalls. Die Erzählung 
foieft mit der Enthebung Nünnichs vom Polen eines Premierminifters. Seine 
Verfchidung nad) Sibi rd nicht mehr erwähnt. 

Der Werth der nad) der deutichen Criginaldandichrift beforgten vorliegenden 
Ausgabe des Hemoirenwertes it verichieden für Huffen und für Deutiche. In 
per Ueberfeung find die Memoiren nämlich bereits zweimal IS17 und IND 
gedrudt worden. Unter anderen hat fie Prof. Engelmann fchon 1802 in 90. 
der „Walt. Monatsicrift" für feinen Anfiay über den Aeldmarjcall Ca 
Rünnich beugen Fönnen. Aber and) der nicht ruifiichen Yelcwelt Find nicht alle 
Particen der Memoiren vollftändig neu. Bruchftüde derfelben finden fih mit 
ar wenigen Veränderungen in Wiüfcings Magazin, Theil 9 vom Jahre 1775, 

ter dem Titel: „Atwort auf Die vorhergehende Schrift des Serzons 
von Curland, von einem der nächiten Verwandten des Feldmarichalls 
Grafen von Münnih.“ Sie umfaifen gerade den intereffanteiten Theil der 
Memoiren und behandeln das Ende der Naiferin Anna, die Negeniicaft und 
den Sturz Birons. Verücjichtigt man ferner, daj; der andere wirtlic hiteriihe 
Nachrichten bietende Theil der Memoiren, nämlich die Schilderung der Aeldzüge 
des üeren Münnic) in ruhflihen Dienften, gröftentheils aus den weit ver: 
breiteten und oft gedructten Memoiren Manftins und defien Vorlagen msgc 
irieben üft, fo fchrumpft der Teil. der vorliegenden Ausgabe, welcher einen 
wirflich originalen hitorifchen Werth für fidh in Ynipruch nehmen lan, doc 
techt erheblich ein. Wenn der Herausgeber eiwa 5 Scchfteln des Memirente 
einen hoben Werth als uriprüngticher Celle und jelbitändigen Mittbeifungn 
eines Augenzeugen beimit, fo muß dod) daran crünnert werden, dafı von den 
ca. 150 Seiten Text die eriten 40 von jchr geringen allgemeinen Auterefie find, 
die folgenden en. 54 Zeiten die fon befannten Nachrichten über Münnid's 
Aelpzüge wiederholen und mer das Iepte Drittel im Yicte einer wirklich wertb 
voten uriprünglichen Cuelte erfcheint, und ad diefer Theil it feinem wejent 
ficpen |uhalte nach aus Viichings Magazin fon befammt - dod) wird man 
6 der volfjtändigen Weröffentlichung der Memoiren in ihrem Criginaltert 
immerhin freuen dürfen. Sie bietet immerhin eine recht unterhaltende Yetrüre 
und auch der Wifienichaft it ein jhähensweruher Dienft geleitet, in dem Die 
Bisher zeritreuten Nachrichten nun zuiommengefaht und in der. urfprünglichen 
Folge bequem zur Benubung vorli 

Der Herausgeber hat Feine Mühe geicent, Die Ausgabe handlich zu nt 
ftatten und wijenichafslichen Sweden Dienftbar zu mauhen. Mm die Wentität 
oder die Berwandticaft der cin vorhin genannten Älteren 
Veröffentlicungen und einigen anderen Schriften in jedem Fall temmtlich zu 
maden, it ein fompijirter Apparat von lommern, Anfübrungsgeiden, Texts 
vorianten und verichiedenartigen Topen in Bensogung gejest worden, wie er für 


















































































Notizen. 273 


die Edition älterer Quellenwerte allerdings durchweg nöthig üt, defien Anwendung 
auf diefes Memoiremwerf aber doch in feinem Verhättnii zu der wiffenfchaftlichen 
Bedeutung deiielben jteht. ad Anficht des Referenten hätten quellentritiche 
Notizen und ein Vergeihnih; der emtehnten Stellen, teip. der Paralletjtellen im 
Vorwort genügt. Statt dejfen werden mit ermüdender Weitihweifigleit an den 
ericiedeniten Stellen die tertfriiihen Bernerkungen und die Angaben über die 
Evitionsmeihode ohne erfichlice Nöthigung wiedergolt. „Lorwort“, „biblios 
grapbifche Einleitung“, „Anweihung für den Yefer (vor dem Gebrauch des Memoiren: 
eries zu dejendi" und die Wiederhohmg des in dielen Abichmitten Bigeiheitien 
im den Anmerkungen zum Tert — das ift des Outen zu viel Der Derausgebir 
iin nach den Worten der Lorrede das and zu empfinden, doc, nimmt er bei 
jeinen Yefern ein merkwürdig Ichlechtes Gevächtmih an, wenn er den häufigen 
Wiederholungen doch eine gemife Vercdjtigung zuiprict, die mr dem mit Dem 
Gedächtnis eines Wunderfindes Ausgeitateien unficb jein Fönnten. Jedes Yudı 
kann aber von en Yelern Gruft und Aufmerfiamfeit beanipruden und cin 
normales Cvöchtmis bedarf folder Arüden wicht, welche, wie alles Unnüpe, Di 
ig möchte fagen, Äftherifche Arcude am einer tüchtigen Arbeit, au) einer Cucllen: 
edition, beeinträchtigen. So fehr eine größere Eraftheit und Genauigfeit 
die Ausgabe der Tuellen zur ruffüchen Gefhichte gewünfct werden mu 
iprichlich wäre 6, wenn die ruifiiden Diftorifer das „philologiice” 
Verfahren des Herausgebers unter allen Umftänden zur Nictichnur nehmen 
wollten, wozu er die Anregung geben will. Aud) hier heit es: distinguendun est. 
Bereicpert wird die Ausgabe der Memoiren Ernit Münnich’s durd) eine 

Heihig gearbeitere, ausführliche Wiographie des Lerfaffers, in dem wir eine ver 
iranensiwirdige, wahrheistichende Perföntichleit Temen ternen. Diefes Mrıheil 
wird im Ganzen auch) für die Memoiren zuirefien. Um fo befremdender it co. 
wenn er die Naiferin Ana eine der grojaen Derrfcerinnen nennt, die je auf 
dem zuffiicgen Throne regiert haben. Die auf dieies Sefammaurtheil folgende 
Eharatteritit der Kaiferin im Einzelnen und einige vom Herausgeber migerheitte 
anderweitige Ausiprüde Münnih's Über fie rechtiertigen Dieles Neiheil teineswegs. 
f 
















































wenig 
































Höriwelmann, T. A Andreas Anopfen, der Nefor« 
mator Higas. Ein Beitrag zur Kirgengeidichte Yivlands, 
Leipsig, A. Deicert. 1800. 8". Seiten. 








Die Schrift zerfällt in wei Teile, einen biteriidh:biographiicen und 
einen bitoriihtheologiichen. Der Ieptere bietet eine eingehende Analyfe von 
Anopfens Kommentar zum Nömerbrieh, welder von Yngenhagen i. 3. 1524 in 

die 
5 Thema hielt, Ueber die Veveitung 
ht beachteten Kommentars urtheilt 
'gt uns eine der ältejten 








Wittenberg Heransgegeben wurde. Eutftanden ift er aus den Vorträg 
22 im Riga über die) 
iheotogiichen Wi 





Anopfen + 
des bisher von I 
Höricelmann jolgendermafen: 






enschaft 
u Diefem Kommentar 








274 Notizen. 


uns erhaltenen ewangeliicen Austegungen der für die reformatoriiche Lchre 
bedcutfamiten Epiftel Pauli vor. Und da der Nommenar entiprechend der 
damaligen Art der Schrifibehandhung eine ziemlich, volljtäudige Yehandlung der 
Heilstehre enthält, fteht er als ein bedeutfames Dokument evangelicher Lehr: 
faifung aus der Anfangsperiode der Neformationszeit da.” Somit werden die 
Thcologen denn mit ntereife von den Interfuchungen Börfhelmann's über 
Kuopfen’s Sommentar Senntnifi nehmen, während die der wiflenfchaftlichen 
Theologie ferner Sıehenden cs mit dankbarer Genupthuung begrü 
dafı die Bedeutung des Iiofändifhen Neformators un in ihrem vollen Umfange 
zur Geftung fommt und der Name Amopfen’s jest einer über die Örenzen ber 
Citfeeprovingen hinausgeheuden Werihfcäbung finer Üt. Bon einer Würdigung 
diefes rein theologiiche ragen behandelnden 2. Teites von Börfhelmann's 
Arbeit mh Neferent abiehen. Dagegen mögen den anderen Partieen De6 Wuchs, 
die von allgimeinerem uterefje find, einige Worte gewidiner fein. 

Wenn man den Yebensgang and die Wirffamfeit Anopfen’s überkhaut, 
fo mh man doch immer wieder mit Vedanern feitiellen, dal wir fo wenig 
Nachrichten über die Neformationsgeichichte Yivlands befigen. Wit gewifienbaften 
Alf hat der Verl. alles bemubt, mas an Rachrichten über feinen Helden und 
die allgemeinen Berhäftniffe zu finden war, fomeit ihre Verkctfictigung in feinem 
Plane lag. Auch a ardivaliichen Forfhungen hat ex 5 nicht fehlen Infien. 
Doc war die Ausbeute ehr gering. u Aüftrin, dem Geburisori Amopfen’s 
fonnte nichts ermitelt werden; ja, die Aüftriner Verireter diefes jest mod) blühenden 
Sefchlechts hatten von dem einzigen zu nröferer Bedeutung gelangten Borfahren 
feine Apmung. Auch in Treptow, wo inopfen als Schüler und Yehrer fi auf 
feine veformatorifche Wirfjamfeit vorbereitete, fommte wichts dircht auf ihn Le: 
gügliches emdect werden; nur wurden einige näbere Nachrichten über die beiden 
Schulen dajelbft gewonnen, aus denen fidh Schlüffe auf Anopfen's Verhältmi 
stehen daffen. Erfreulich it dagegen die Entdectung des Danfbriefes des rigahben 
Rates vom 11. November 1523 an Yuther als Autwort auf defjen befanntes 
Zendichreiben am die Ehriften zu Nigda, Revell und Tarbıhe. Der Fundort 
Diefes Schreibens it wieder das reiche revafiche Stodtanhiv. So dankbar wir 
man auch jeden meuen Beweis der direlien Beziehungen zwifchen Winenberg und 
Yioland entgegennehmen, To bietet dad; der juhalt and Diees Briefes feine 
Vereicberung unferer Nenntnih von der Yebensgeidichte Amopfen's oder der O« 
Äsicte der Epode. So üft cs denn dem Verfaffer auch nicht möglich gewejen, 
über Snopfen wefentlich Neues zu fagen. Er üit daranf angewiefen, die wenigen 
Mürheilungen über ihm md die befannten geichicpeticgen Iyatfachen mögliche 
mad allen Seiten zu beleuchten und Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Im 
Ganzen charafterifirt fich der erite Teil des Yirdies als cine ausführliche Nürchen“ 
geicichte Nigas in der Zeit von Anopfen’s (4 155) Wirkiamfeit mit gelegen 
danfenswerihen Ausbliden in die jpäteren Zeiten. Wejondere Yeadtung ver 
woh der 5. Mbfhmiut: Pitege und Crqmifarion der Gemeinde. Hier werden 
in gemeinverftändlicher und AHarsr Tarjteltung der Ausbau des Gotesdienits, 
das Wigafdhe Gefangbuch und die firdliche Verfafiung behandelt, afjo die Durd) 


















































































Notizen. 275 


die Reformatoren ins Leben gerufenen neuen Firchlichen Teduungen, mit denen 
unfer Xefepubliftum naturgemäß weniger vertraut zu fein pflegt, als mit den 
geicichtlichen Tpatfaden der Neformation. 


Wenn der Verf. chwas yaghaft der Hoffnung Ausdrud giebt, feine Arbeit 
werde „vielleicht“ auch) in Areifen Verücfichtigung finden, in denen das wiffen 
Ächaftliche Anterefie nicht das vorwaltende ft, To glaubt Neferent, daf; das Bud) 
og der etwas. breiten und geiftlich reftettirenden Parftellungsmeife einen nicht 
geringer Yeferfreis finden wird. Tie Ausfühtlicheit, mit mwelder einige uns 
fehr geläufige Gefichtspumfte für die Bedeutung der Neformation in Yioland 
erörtert werden, ermedtt allerdings den Anicein, als ob Verf. fih doch nicht, wie 
das Xorwort will, in eriter Yinie an feine Heimathgenoffen, fondern an folche 
wendet, denen das Wein baltiicer Eigenart crit erläutert werden mul. 











Die politifche Gehhichte wird vom LBerf. mur furg geitreift, für die 
Heformationsgeichichte Higas, dem Wirkungsfelbe Anopfın's, wohl zu furz. 
Schon die Mitwirkung Luthers an dem Juftandefommen des Lüberter Bertrags 
von 1529, die verhältnihmähig eingehende Würdigung, welche der Verf. Yohmülfer 
widmet, hätten nadı Meinung des Kefsrenien doch ein näheres Eingehen auf 
diefen Wertrag und das Ipätere Berhältnif; der Stadt zum Exzbilchof erfordert, 
in dem doch ein fehr wefentlices Srüd der rigafgen Neformationsgeidichte 
beichlofien ficgt. 

Eine einfchränfende Bcmerkung möchte Neferent fich über Plettenbergs 
Lerhalten zur Reformation zu dem Urcheil des Verf. erlauben. Görihehmann 
fagt: Wohl hätte eine offene Parteinafmme für die Reformation .... den Auheren 
Fortgang derjelben im nicht geringem Waafe befhleunigt. Aber reicere innere 
Förderung fei ihe ohne Zweifel aus feiner Poliif des neutralen Gewährenlafiens 
erwachien. Die Anhänger der Neformation wurden davor bewahrt, fich auf 
Menfchen zu verlaffen und Fleifd für ihren Arm zu halten und die Führer der 
wangelifchen Gemeinde durd) das Fehlen äufserer Stügen ad weltlicher 
Förberungsmittel in die rein geiftfiche rbeit hineingeleitet. Sind viele Ber 
merfungen in ihrer allgemeinen Faffung wirklich ganz zutreffend? Yaffen fid 
im geiftlicen Sinne fegensreiche Folgen der Piettenbergihen Poltit für das 
xand als Ganzes nacjweijen oder nur vermuten? Neferent ift geneigt, fie mr 
für die Städte gelten zu faffen. Wäre Plettenberg ewangelifch geworden und 
als Folge davon fon zu feiner zeit eine allgemeine Säfularifation eingetreten, 
fo wäre -- die rein politiihen Fragen tommen bier nicht in DBetradt — dem 
Lande eine Mjührige zeit verlogener Zwitterhaftigteit erfpart geblieben, in der 
der evangelifce Glaube der höheren Stände fih nad der fatholicen Dede 
Ätreden mußte, eine Zeit, melde aus äußeren Gründen die ftaatlichsfirclichen 
Formen der innerlich überwundenen Fatholifchen Vergangenheit ängitlidh aufrecht 
erhielt und fo der rechte Nährboden der Entfittlihung und Charatterlofigteit 
werden muhte, bie fidh beim Untergang der Setbitänbigteit jo trojtlos offenbarten. 
Hat denn das Befenntni der Fürften zum enangeliichen Glauben in Nord» 
deutfehland und in Stanbinavien nicht gute Früchte getragen? 




















276 Notizen. 


Scliehlich jei e$ geitattet im Anidyluf an diefe neuefte Darftelfung der 
tigajcien Reformationsgeichichte eine Frage aufzumerfen, Die fid Referenten bei 
Betradptung derielben jedesmal aufdrängt. A allen Daritellungen wird nämlich 
der Bruder Andreas Anopken's Domperr an der Perrifirce genannt. Aus 
Diefer nicht ganz genauen, aber herfömmlichen Bezeichnung gebt hervor, dab bei 
der Petrifirche ein Rollegiatftift beitand und man wird annehmen müfien, dahı 
daffelbe mit den gemöhnliien Torrechten ausgeftattet war, dafj cs aljo jelbit aus 
der Zahl der Slanoniter den ordentlichen Pfarrer oder einen Lifar beitellte. 
Trifft das zu, fo fragt es fi, wie das Patronatsrecht des Wathes damit zu 
vereinigen und wie die Yerufung Andreas Anopten’s zum Archidintonus dur 
den Rath zu verftehen ift. Xag hier ein revolutionärer Schritt wor oder hielt 
ich der Rath in den Grenzen feiner rechtlichen Vefugnifie? Für die Neformations: 
geichihte Rigas iit Die Frage doch von erbeblider Vedeutung und cs fohnte fi, 
wohl, fie einmal näher in's Auge zu fallen. Ben. 

















der Urjprung des altlivländihen Landtages. 


Unfer mittelalterlicher Candtag ift das Zentralorgan des 
lioländiichen Yundesitantes und derjenige Fartor im poli 
Leben der Nolonie, in weldem das ftaatlidie Band, das die Liv: 
ländiihen Territorien umichloi, in erfter Yinie zum Ausdrud fam. 
Unter biejem Gefichtspunfte it die Geihichte des altlivlän- 
diichen Kandtages zu behandeln. Der lvländiihe Yundeoitant 
und der livländiihe Landtag bedingen fic) gegenfeitig, der eine 
iit ohne den anderen undenfbar. 

Eine umfajjende Gejdichte des livländiichen Landtages wird 
erjt dann geichrieben werden fönnen, wenn die Nezefie und Aften 
dejjelben veröffentlicht jein werden. Das veide Material aber, 
das bereite im Kivfändifchen Urfundenbuche niedergelegt ill, 
ermöglicht jehr wohl jcon jet eine Unterfuchung über den Mr- 
fprung diefes Jnftitutes, in dem das politiihe und das Nechts- 
leben der Kolonie einen Mittelpunkt gefunden Haben. 

Die livländiihen Stifter waren in völliger Unabhängigkeit 
von einander begründet worden und auch der Deutide Orden 
errang eine folde im erjten Danziger Frieden von 1366. Dod) 
das Gefühl der Solidarität fnüpfte ion früh ein natürliches 
Yand zwifchen den einzelnen Territorien, das wohl nie fo prägnant 
zum Ausdrud gekommen üft, als in dem älteften erhaltenen 
Bündnisvertrage der livländiihen Landesherren; in der Urkunde 

ı 









Uriprung des altlivl. Landtages. 





vom 1. Oftober 1213 heißt es: -Quum omne regnum in se 
divisum desolabitur et frater. qui adjuvatır a fratre. sit 
detur expedire, ut nos. quos una « 
eademque voluntas immediate sub uno eapite, domino papa. 
xcolendam Domini vineam in gentibus aduna nobis 
issim feramus consilium et auxilium opportunum.”'). Ein 
dauernder Verband ift erft im erfien Viertel des fünfjehnten Jahr: 
bimderts begründet worden und da ift co bezeichnend, dah der 
Uriprung des Landtages und die Anfänge des Bundesitantes 
zeitlich zufammenfallen. 

Ter Yandtag, wie er fh im mittelalterlichen Yioland 
ausgebildet hat, it eine in der Verfalfung begründete und im 
Prinzip an eine gewiife Negehnähigfeit gebundene Berfammlung 
der Vertretungen hünmtlicher Territorien des Yandeo, auf welcher 
die Fragen von allgemeinem Interefie berathen und auf dem 
Wege des Vertrages Veihlüfie gefaßt werden, die für alle 
beteiligten Stantowejen in gleicher Weife verbindlid) find. Damit 
ift num aber auch jehon die Grundlage gegeben, auf welder der 
Bundesjtaat ruht; in der Eriftenz deo Landtages liegt der 
Vegriff deo Vundeojtaateo begründet, infofern cr das politiiche 
und das Nechtsleben der einzelnen Territorien bio zu einem ge 
willen Grade mit einander verfnüpft und die Staatogewalt 
innerhalb derfelben zu Gunften des Gelammtwillens beichränft. 

Zufammenfünfte der Livländiicen Yandesherren aifen jid) 
natürlich jeit älteiter Zeit nacdweiien, völferrechtlide Verträge Find 
bäufig zwiichen ihnen abgeichlofen werden, der Uriprung des 
Yandtages aber und damit aud der Uriprung des Fivländiichen 
Bundeoftantes geht auf eine Taglagımg zurüd, die im Januar 1422 
von den livländiihen Yandesherren in Walt veranftaltet wurde. 

Alle jene zahlreichen Zulammenfünfte der fivländiichen 
Yandesherren int 13. und 14. Jahrhundert, über die fid) in unferen 
uellen Nachrichten erhalten haben, waren durd) vorübergehende 
Vedürfniffe veranlaft worden; weder waren fie in der Verfajlung 
begründet, mod zeigen die geringite Spur einer Hegel 
mähigfeit fie waren feine Yandtage im eigentlichen Zinne. 






































9 Yiot. Urfundenbuch 6, 





Uriprung des altlivl. Yandtages. 279 


Die erite Tagiagung, auf welder nachweislich Beihlüiie gefaht 
wurden, die in das Nedhtslebeu der Kolonie in ihrer Gejammtheit 
eingriffen, fand im Jahre 1374 ftatt. 

Das dreigehnte Jahrhundert ift in Finland das 
der Eroberung, mit dem vierjehnten beginnt der pol 
wirthihaftliche Aufihwung der Kolonie. Während im dreisehnten 
Yahrhundert das Deutichthum alle Kräfte daran fegen mul, um 
Fuß zu faffen im fremden ande und die Grundlage zu legen zu 
einem gedeihlichen Wirthichaftsteben, fällt das vierzehnte Jahr: 
hundert jchon unter den Gefichtspunft eines inneren Anobauens, 
einer organifchen Entwidelung der im Zeitalter der Croberungen 
gelegten Grundlage. Die Zahl der Verührungspimkte ywiicen 
den einzelnen ntereffengruppen ift in itetem Steigen begriffen 
und bald gilt eo bie Grenzen des Nechtszuftandes zwiichen ihnen 
dauernd firiren und dem Nechts:- und MWirthicaftsleben der 
Rolonie eine der Interefienjolidarität entfprechende Nichtung zu 
geben. Die erfte Frage, die hier die livländifchen Landesherren 
nachweislich beihäftigt hat, iit die Münzfrage geweien. 

Die Verfcplechterung der Vrünze in Livland, die feit der 
zweiten Hälfte deo viergehnten Jahrhunderts nachweisbar lt, 
muhte in ungünfigiter Weife auf das Wirthichaftsleben deo Landes 
einwirken; eine Aufbejferung der Münze that hen fehr früh 
dringend not). Am 30. Juni 1374 verfammelten jid) zu Dorpat 
die Vollmächtigen des Drdens und des Bifchofs von Dorpat, ber 
erztiftiiche eneralvifar in Vertretung des an der Kurie weilenden 
Erzbiichofs omie die Sendeboten der Städte Niga, Dorpat, Neval, 
Wenden, Xellin und Wolmar zu einer Tagfahung md verboten 
„van al des Landes wegen Liflande und Ejtlande“ unter Androhung 
itrenger Strafen die Einfuhr fhlechter Dlüngen und die Zirkulation 
jolher Münzforten, die im Lande nicht „genge und geve” wären. 
Die Biihöfe von Tejel, Nurland und Neval waren nicht vertreten, 
dagegen aber waren bie Städte, die an einer Ordnung des Münz- 
wejens bejonders interejfirt waren, herangezogen worden, die Gebiete 
der genannten drei Biihöfe fpielten im Wirthichafteleben der Kolonie 
noch eine jo untergeordnete Nolle, da in Dorpat jehr wohl aud 
ohne Heranziehung derjelben Beichlühle gefaft werden fonnten, 
die für das ganze Land verbindlich werden jollten. Der Neych 

p 


























250 Urfprung des altfivl. Candtages. 


diefer Tagsjagung, die nad) nicht alo Yandtag im eigentlichen Sinne 
aufzufailen üt, hat fid im Nevater dtardhiv erhalten '). 

Die inneren Unruhen, die um die Wende des vierzehnten 
Jahrhunderts in Yivfand herrichten, Icheinen weitere Verfammlungen 
der livländiihen Landeoherren behufs Berathung und Beihluß- 
faiiung über allgemeine Landesinterefien unmöglich gemacht zu 
haben. Erjt die Gefahren, die nad der Schlacht bei Tannenberg 
dem Lande drohten, haben die unter einander zerfallenen Fürften 
wieder jufammengeführt und eine fegensreiche Neformperiode ver: 
anlaft; und wieder ift eo bier die Münzfrage, die im order 
arunde deo allgemeinen Juterefies ficht. 

Im Mai 1415 erfahren wir, dab bis anf Weiteres die 
Prägung der jog. Artige und Kübiihen verboten worden war; 
obgleich aud aus dem Schreiben des Trdensmeifters an den 
Kevaler Rath, dem wir diefe Nachricht entnehmen, nur hervorgeht, 
dah erilerer und der Biichof von Dorpat für ihre Territorien eine 
diesbezügliche Lerpflihtung übernommen >), jo fönnen wir dod) 
nicht daran zweifeln, dafj hier eine für das ganze Land verbindliche 
Mafregel in's Leben gerufen war: Denn aufer Neval und Dorpat 
befaß nur nody Niga einen Vünzhammer, das Erzitift aber befand 
fi feit 1394 in Abhängigkeit vom Orden, wird ihm alfo wohl 
ichwerlich in der Münzfrage entgegengewirft haben; zu bem hatten 
io radifale Mahregeln, wie die Einjtellung der Prägung überhaupt 
nur dann Ausficht auf Erfolg, wenn fie für die ganze Molonie 
verbindlid waren. 

Auf NReminiscere 1416 hatte der Trdenomeilter mit den 
Prälaten des Yandeo einen „Fruntlicen tag“ vereinbart, 
der zu Walt „umme des beiten und gemeinen nuß 
es landes zu betrahten“ jtattfinden  follte ®). 
‚Hier war anodrüclic die Vetheiligung der Viichöfe von Dorpat, 
Tofel und Nurland in Auoficht genommen, doc wird eine Ver 
tretung des abweienden Erzbiichofs jedenfalls nicht gefehlt haben. 
Dit diefem „Tage“ ift wahriheinlid eine Verfammmlung identifch, 

















!) Yiol. Urfundenbuc, 3, unc- 

ENDE. ao O0 nie 

302 letere Urtunde, die dem Jahre 1116 angehört, it 
im Urfundenbuche, iutfa (HAIS) Datirt, 








Urfprung des altlivl. Landtages. ası 


die vor dem 5. Juni 1416 zu angenbruggen am Heinen Embadh 
itattgefunden hat und auf welcher Beitimmungen über die Prägung 
der fog. Lübiichen getroffen wurden }). 

Auf den 12. Februar 1419 war in Walk ein „Tag“ der 
Eandesherren anberaumt; in Ausfiht genommen war die Be 
tbeitigung des Ordensmeilters, des Erzbiihofs und der Biihöfe 
von Dorpat und Defel. Tb diefe Tagfahrt zu Stande gefommen it 
und was auf ihr verhandelt wurde, willen wir nicht. Doch da eine 
Heranziehung der drei großen Städte Nige, Dorpat und Neval 
erwartet wurde, fo ijt es anzunehmen, daf; auch diefe Verfammlung 
der Plüngfrage gewidmet wart). 

Ann 1. Auguft 1419 follte eine durch litaniiche Veziehungen 
veranlafte Verjammlung des Erzbiihofs und der Biihöfe von 
Dorpat und Defel in Walt md zu Neminiscere des folgenden 
Jahres (3. März) eine Tagfahrt wegen Aufbeijerung der Münze 
gleichsfalls in Walk jtattfinden, an weld letteren Berjaminlung 
Äh der Meifter, der Erzbiichof und der Bichof von Dorpat 
betheifigen wollten); die Biichöfe von Tefel, Kurland und Neval 
famen nicht in Betracht, da fie feine Münzhämmer befahen. Ueber 
das Zuftandefonmen diefer beiden Tage wiflen wir nichts. 

Am 8. Juni 1420 famen die Vollmächtigen des Ordens 
meijters und des Viidhofs von Dorpat beim Exzbiichof in Yemjat 
äufammen und trafen hier eine für das ganze Yand verbindliche 
Bejtimmung: imter Androhung der jtrengiten Strafen wird geboten, 
überall im Lande von Ct. Johannis ab die Münzprägung auf 
zwei Jahre zu filtiren!). Diefem Beichlufe lag wohl die Abficht 
zu Grunde, Zeit zu gewinnen, um durch ein möglichit vollfommenes, 
allen Theiten gerecht werdendes Negulativ der Verichlechterung der 
Münze, die die wirthfhaftlidhe Entwicelung des Landes zu hemmen 
drohte, ein Ende machen zu Fönnen. Und wirklich follte eine fin 
den Februar (Mittfaiten) 1421 in Ausficht genommene Tagfahrt 














282 Uriprung des altliol. Landtages. 


in Wolf fih mit der Verbefierung der Münze befhäftigen!). Ob 
fie zu Stande aefommen ift, willen wir nicht. 

Die Verfammlung der Landesherren, die zu Ende Januar 1422 
in Walk ftattfand, hat nicht nur Beichlüffe im der Münzfe 
gefaßt, jondern ih aud mit Mihitänden auderer Art befaht; ein 
Nejeh, der vom 28. Januar datirt it und fi im ichwediihen 
Neichsardiv erhalten hat, trifft Vetimmungen, die die Kirchlichfeit 
und Eittlichfeit der Eingeborenen heben jollten, und verbietet dem 
Landesfeinde Pferde und Waffen zu verfaufen; Über die Veichlühe 
dinfichttich der Münge it ein zweiter Nezeh aufgelegt worden, ber 
fih) aber nicht erhalten Hat. An der Tagfahrt betheiligten fic, 
der Erzbiichef für jein Stift und in Vollmadt der Biihöfe von 
Cefel und Kurland, der Bilder von Dorpat für fein Stift und 
in Vollmacht des Biichofs von Neval und der Ordensmeijter für 
feinen Orden und gleichfalls in Vollmacht des Biichofs von Teiel. 
Das ganze Yand ift vertreten, die Nezeffe Ichaffen Normen, die 
für das ganze Land verbindlich find?) 

Der Nezeh vom 28. Januar 1422 hat den liv- 
(ändiihen Landtag geihaffen md damit die Grund- 
lage gelegt zum Livländiichen Bundesitant. An den Nezei ift ber 
folgende Beihluß; aufgenommen worden: um größerer Cinigfeit 
willen gedenfen Grzbiichof, Büchöfe und rdensmeifter jährlid) 
einmal zufammenzufommen an Ort und Stunde, melde der Erz: 
Bifchof beftinmmen toll; „in welfer tosampdefominge men 
overiprefen, handelen, nad vormöge jhiden und 
richtigen fall alfodane brofelicheit geyitlifer und 
wertlifer adte, de dejiem lande jdedelid ebir 
unbequeme fyn mochten, und be to jhidende nnd 
to mafende, als man denn tor fennende würde 
deiiem lande notürftig und nutte to |unde.“ Diejer 
Veihluh hat in die Verfaffung der fivländiihen Staatowejen 
ein meines Inftitut eingefügt, er Hat die Tagfahrten ber 








erseichn 
Archiven uud Bibliorhefen, 
Jahr 1442 gefept) und U. D, 


ivtändifcher Gejcichtsquelten in fchwebiichen 
14 Nr. 125 (jälidtich don Schirren in das 








Urfprung des altlivf. Yandtages. 283 


Eandeoherren, die bisher von Zufälfigfeiten und vom guten Willen 
der Vetheiligten abhängig gewejen waren, jtabilirt und in ihnen 
ein Organ geichaffen, in dem das politische und das Nechtsleben 
der Kolonie in ihrem ganzen Umfange einen Biittelpunft fand. 
Damit ift der Landtag, wie er fi uns in der Folge daritellt, 
geihaffen, eine in der Verfaflung begründete und im Prinzip an 
eine gewiife Negelmähigkeit gebundene Berfammlung der Vertreter 
der einzelnen Territorien, deren Veichlüfe für die Mulonie in 
ihrem ganzen Umfange verbindlich find. 

Der Regeh macht cs den Landesherren, wenn dieles auch 
nicht ausdrüdlicd ausgeiprodhen wird, zur Pilicht, fi an der vom 
Erzbiichof ausgeichriebenen Tagfahrt zu betheiligen. Es wird eine 
aljährliche Veranftaltung des Landtages geplant und wenn die 
geitverhältnifie eine Ginhaltung diefer Veftimmuma aud) oft 
unmöglich gemacht haben, jo war doc) im Prinzip eine Neget 
mähigfeit gegeben und damit der verfafiungsmähige Charakter des 
Landtages zu prägnantem Ausdrud gebradht. Der Verathung und 
Beichluffaffung auf dem Landtage follen „aljodane brofe 
liheit genitlifer und wertlifer adte, de deiiem 
lande jchedelih edir unbegueme Iyn mochten“, 
unterliegen, alfo nicht nur Fragen der Gejeggebung, jondern aud) 
vorübergehende Streitigkeiten zwiihen den Kontrahenten, ja, die 
innere und answärtige Politit in ihrem ganzen Umfange. Der 
Landtag wurde nicht mur eine berathende, jondern aud) eine 
beichließende Injtitution; das ergiebt fih aus den Worten „nad 
vormöge ididen und richtigen“ Obwohl num hier, 
wie überhaupt im Vittelalter an eine Unterordnung der Minderheit 
unter den Willen der Viehrheit nicht zu denfen ift umd mithin 
die Beichlüffe des Yandtags, wie diejenigen der früheren Tag 
fahrten, mu als Nompromiije zwiichen den Betheiligten anzuichen 
find, fo hat dad erjt die prinzipielle Unterordnung der Kolonie 
in ihrem en Umfange unter die Beichlüffe des Landtags dieiem 
in der Verfaifung des Yandes denjenigen Pla eingeräumt, den 
er in der Folge eingenommen hat, Die übliche Bezeichnung für 
diefe in der Werfafiung begrimdeten Tagfahrten ift Yandtag, 
Yandestag oder gemeiner Yandestag, jeltener gemeine Tagesleiing 
oder gemeiner Tag. 

















281 Uriprung des altfiol. Yandtages. 


Infofern mun der Landtag zu einem in der Verfaifung 
begründeten Jnititut erhoben wurde, das die veridiedenen Theile 
der Ntolonie dauernd zufammenfaßte und jeine Mirfamteit über 
das politifche wie über das Nedhtsleben der einzelnen Territorien 
in gleicher Weile ausdehnte, it an jenem denfwürbigen 
28. Januar 1422 aud) der livländiihe Yundesitaat fonjtituirt 
worden. Wohl war das Band ein loderes, doch hier fommt cs 
auf das Prinzip an. Exit der fortichreitende innere Ausbau ber 
Nonföderation befejtigte das Band, das die Kolonie fortan umfcloß, 
und nur allmählich prägte fich in greifbarer Geftalt der Charakter 
des Bundesjtaates aus. 

Haben wir jomit den Zeitpunkt firiren fönnen, in welchem 
der fioländiiche Yandtag und mit ihm der Yundesjtaat entitanden 
find, fo liegt co uns jest nach ob, die Entwidelung zu verfolgen, 
in der die Grundlagen zur inneren Geftaltung dieier 
Schöpfungen gelegt worden find. Zu dem Zwed mihlen wir bie 
GSejchichte des Yandtages in den näcjjten vierzehn, auf den epodhe- 
machenden Tag von Walk folgenden Jahren betrachten. 

Aus einem Wiemorial, welches die Yandjtände bei der 
Unterwerfung unter Polen im Jahre 1 dem Bevollmächtigten 
des Mönigs, dem Fürjten Nadzuwil überreichten, erjehen wir, da 
fich der Yandtag bei den Deliberationen nicht nad) Territorien, 
fondern nad Ständen in vier Kammern oder Kollegien theilte, 
in deren jedem die gefammten gleich benannten Landjtände aller 
Territorien gleicham einen vereinten Etand bildeten; den erjten 
Stand, aud Nurie genannt, bildete der Erzbiihof nebjt den 
Viihofen von Dorpat, Tefel, Hurland und Reval, dann folgte 
der Trdensmeifter mit feinen Sebietigern und Nittern, den dritten 
Stand bildete der Adel des gejammten Yivlands, mit dem die 
fürjttichen Näthe fi vereinigten, den vierten und legten Stand 
aber die Städte Niga, Dorpat, Neval, Bernau, Wenden, Wolmar, 
Narıwa, Fellin und Nofenhufen, mit denen zulammen aud) die 
Schloßhauptleute jtimmten"). 

Dies Vierfurieniyftem geht in feinen Anfängen in 
die ättefte Periode des livländiichen Yandtages zurüd; fie beruht 
of. Dr. ©. & 
Dr. & 0. Nottbed. 








dt. MHedhtsgefchichte Yio-, Ehfte u. Aurlands; 


Is1/108 5. 





Isa. 


Urfprung des altlivl. Landtages. 285 


auf der Deranziehung der Landitände als gleid) 
berechtigter Faktoren, wie fie bereits in der Yandeseinigung, die 
am 4. Oftober 1435 in Walt abgeichloifen wurde, rechtlich firirt 
worden üft. 

Der Urfprung der landjtändiichen Verfajung üt in die exite 
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zurüczuführen und Mmüpft 
gerade an die Geidhichte des Landtages an. In der Verfailung 
war nur eine Beeinfluflung des Landesherrn durd) das Dom- 
reip. Orbensfapitel begründet. Nun hatte aber eine Entwidelung 
ziveier Jahrhunderte die zu Norporationen ic zufammenicliehenden 
Vafallenihaften des Erzitifts, der Viothümer Dorpat und Tefel 
und der Lande Harrien und Wirlend, jowie die dem Hanfabunde 
angehörigen Städte Riga, Dorpat und Heval zu einer fo mächtigen 
Pofition erhoben, daf; ihnen auf die Dauer eine Betheiligung amı 
Negiment nicht verjagt werbeu fonnte, zumal fie den der livlän- 
diichen Heimath nicht entiprojienen Landeoherren gegenüber als 
die natürlichen Vertreter der Landesinterefen gelten mußten. 

In den Urkunden und Briefen, die auf die erjten Tagfahrten 
des fünfyehnten Jahrhunderts Bezug haben, eridheinen die Yandes- 
herren nod) als unbejchränfte Vertreter ihrer Territorien. Dod) 
icon die Materie, die dieie Tagfahrten beihäftigte, veranlaßte 
eine Heranziejung der Städte: die Aufbeiferung der Yalıta war 
nur durd) Roneifionen jeitens der großen im Vefige von Mlünz 
hämmern befindlichen Städte möglid. Es ift befannt, dah zur 
Tagfahrt im Februar 1419 der Math von Niga und zum März 1420, 
zum Februar 1421 umd zum Januar 1422 der Nath von Neval 
geladen war, und es jcheint, da 1419 und 1420 aud) die Magi- 
itrate von Neval und Dorpat von ihren Kandesherren Aufforde- 
rungen erhalten haben; 1419 waren aud Vertreter der Harrifch- 
Wiriihen und der Dörptichen Nitterihaft und des Dörptichen 
Domfapitels anwejend!). Wie weit diefe Stände die von den 
Landesherren gefahten Beichlüjje beeinfluit haben, willen wir nicht. 

Ein Einftuh der Stände zeigt fi) erit im Nezeh des in 
Wenden veranflalteten zweiten Landtages. Dieje Urkunde 
ift vom Auguft 1422 Datirt und trifft Bejtimmungen über 









VWB 5, zu me ar m ai mir 


286 Unjprung des altlivl. Landtages. 


die Müngprägung. 6s reyefliren hier der Erzbiihof, der Ordens: 
meifter nebjt einer Anzahl Gebietiger, aud in Vollmacht der 
Yifchöfe von Defel, Kurland und Neval, jowie eine Vertretung 
des Viichofs von Dorpat „noch vade und volbort und 
willen allen unien underfaten, als capittelle, 
rittere und fnedte und derjtede in Lifflande, 
der wi alle ere vullmehtigen boden bi uns 
achat Haben"! Zum Landtage vom Januar 1424, deiien 
Nezeh fih nicht erhalten hat, waren and) die Domcnpitel von 
Niga, Dorpat und Defel, jänmtliche Nitterfchaften, fowie Bürger 
meifter und Nathmannen in Walt verammelt?). Der Rezeh vom 
. Oftober 1424 ift von den Landesherren, beziehungsweile von 
ihren Vertretern „für fid und in Vollmadt ihrer Unterjajlen“ 
ausgejtellt); ein Artifel diejes Mezeiles lautet: „Und wes 
dejulven dejfes landes herrn denne na rade und 
autdundende erer getrumwen eyndredtidlifen 
orbenerende und ihidende wurden... batmen 
fiob denne furbat darna ridite.” Demgemäh find 
au die Veichlüfle des Yandtages von 1426, die am 18. Januar 
vegeffirt wurden, von den Landeoherren „nad rade unde 
vulbort unfer rede unde ghetrumwen dejies 
landes“ gefaßt"). Somit find die Yandesherren vom Augujt: 
landtage des Jahres 1 ab in ihren Beichlüffen vom Nath 
und Volbort ihrer Stände abhängig, während die Nejeffe nach wie 
vor mr von ihnen unterfiegelt werden. 

Einen gewifien Abfchluh hat diefe Entwidelung in der 
Landeseinigung gefunden, die am 4. Dezember 1435 auf einem 
Kandtage in Walt abgechlofjen wurde und in der die Grundlagen 
zum inneren Ausbau des Landtages und des Yundesjtaates gelegt 
worden find"). 

Die Yandeseinigung von Walk bewegt fi 
vollfommen in dem Nahmen, der dem Verfafiungsleben der Kolonie 

















YUD 5, gar 
YUDT, 

YA DT, du 
BT, 
YUBS, 


Urfprung des altlivt. Yandtages. a87 


durch die Vegründung des Yandtages gegeben war, und ift Iediglich 
als eine Phale im Ausbau des Bundesftaates anzuichen. Es 
entiprad) vollfommen den Aufgaben, die dem Landtage bei feiner 
Gründung 1422 zugewiefen worden, wenn hier in Walt die auf 
dem Landtage vertretenen Faktoren fid) gegenfeitig ihren Nechts- 
zuftand garantirten und die Beitimmung trafen, daß fortan alle 
Streitigfeiten unter ihnen, bevor die Parten den Nedhteweg ein- 
icplügen, einer aus den unbetheiligten Gliedern des Landtages 
beitehenden Austrägalinftang vorzulegen feien, daß fernerhin mit 
vereinten Kräften alle „Selbitgewaft” unterdrüct und feind 
liche Einfälle abgewehrt werden follten und daf jchliehlih Angriffs 
friege nicht ohne Nath und Volbort der Nonföderation unter 
nommen werden dürften, wollte die friegführende Partei fid aufs 
Land jtügen. 

Die eigenartige Form, in der dieje Veichlüffe ins Leben 
traten, — eine auf jed)s Jahre abgeichlofiene Yandeseinigung 
erflärt fih einerfeits daraus, daß die Eriftenz des Yundesftantes 
den Zeitgenoffen noch nicht zu Alarem Vewuftiein gefommen war, 
andererjeits aber daraus, da; die fontrahirenden Parteien bei den 
unficheren politifchen Werhältnifien im Lande daran zweifeln 
mußten, daß Beichlüjie, wie die bier auf dem Yandtage gefahten, 
von längerer Dauer fein fönnten. Schon 1 drei Jahre nad) 
dem Yandtage, der den Yundesftant geihaifen, fand der Abihluß 
einer Landeseinigung in Ausficht, cbenfo im Sommer 1429); 
in der Folge find wiederholt Kandeseinigungen abgefchlofien worden, 
die fid) in der Form an diejenige vom d. März 1435 anfehnten. 

Zeit dem Yandtage vom Auguft 1422 ericheinen die Yandes 
herren in ihren Veichlüfien von dem Math und Volbort ihrer 
Stände abhängig, in der Urkunde vom 4. Dezember 1435 rüden 
die Stände den Kandesherren als gleihberehtigte Nom 
trahenten zur Seite. Schon eine zeitlich nicht mehr zu bejtimimende, 
den Jahren 1413 bis 1433 angehörende Einigung der Dorpater 
Stiftsfände beruhte auf einem WBertrage zwilden bem 
Landesherrn und jeinen Ständen). Ju Walk ift ein Vertrag 






































HUB. a dr 6 
UBS u 


288 Urfprung des altlivl. Fandtages. 


zwifchen Landeöherren und Ständen des ganzen Landes abge 
ichloffen worden. nn der Urkunde vom 4. Dezember 1435 
eridjeinen die Kontrahenten in folgender Neihenfolge: der Erz 
bifchyof, die Viihöfe von TDorpat, Tefel, Kurland und Neval, 
Pröpfte, Defane und Domfapitel der genannten Stifter, ber 
Ordensmeifter mit einer Neihe von Gebietigern, die Vollmächtigen 
der Nitterihaften des Erzitifts, der Visthümer Dorpat und Tefel 
und der Yande Harrien und Wirland, jowie Bürgermeiter und 
Rath der Städte Riga, Dorpat und Neval. Die Urfunde ift 
von jünmtlihen Kontrahenten befiegelt worden. 

Deutlich unteriheiden wir hier fünf Gruppen: bie 
Prälaten des Yandes, ‚ihre Domkapitel, den Trden, die Nitter- 
ihaften und die drei Städte. Wenn wir nun von dieien fünf 
Gruppen die 





Domkapitel ftreichen, deren politiiher Einfluß im 
Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts ganz auf die Stiftsräthe 
überging, jo haben wir hier die Gruppirung, wie je fi für den 
Ausgang der angejtammten Periode aus dem 2 dem Fürjten 
Nadziwil von den Ständen überreichten Memorial ergiebt. mit 
it, wenn wir von einigen Modifitationen abjehen, ichon auf dem 
Landtage vom Jahre 1435 die Grumdlage zum Bierkfurien- 
ipftem gelegt worden, das für den altlivländichen Landtag 
harafteriftiich it und Analogien zur Urganijation des deutichen 
Neichstages bietet. 4 dv. Gernet. 














ae 























Die Eingeborenen IL = Kivlands 
im 13. Jahrhundert. 


Rortfegung.) 


Im jedem Gebiete befand fid nämlich eine Anzahl befejtigter 
Mäpe, Burgen, welde den Umwohnern als Zufluchtsort in 
geiten der Gefahr dienten. 

Solche Burgen, welde Heinrich von Lettland castra nennt, 
und die im früheren Satein auch alo tes bezeichnet werden, 
finden id im großer Zahl über ganz Mittel und Oft-Europa 








jerftreut, befonbers auf dem Zicdelungsboden der Weililaven'). 

Diefe og. Heiden: oder Yauerbirgen waren im alten Liv: 
fand an möglichjt unweglamen Orten angeleat, fo dafi die Natur 
die Verteidigung derjelben erleichterte. Natürliche Bodenerhebungen, 


Bergfuppen oder Yandzungen an einem See oder einer Fluhibiegung 
wurden ausgejucht und dann fünftlidh befeitigt. Nicht felten lagen 
die Burgen anf Voraftinfeln, wie fie häufig hierzulande vor: 
fommen, md mur eine female Fünftliche Strahe aus Eichen: 








%) Yitteratur fiber Yurgwälle, vgl. P. Jordan, „Beiträge zur Geographie 
und land." Anhang „eher die Yanerburgen.“ Neval, 
1850. &. 84, Anm. Ci in der St. Emmeraner Urfunde (zw. 66 u. 800). 
Bl. Mei ü h Nimbert, „Vi rül” Stap. 30 
braucht eivitas und urhs_ prom ivitates der Cor werden wohl 
ud Burgen gewejen fein. 















290 Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahıh. 


ftämmen, eine Art Knüppelbrüde, dazwülden auch ein gepflaiterter 
Damm führte dahin"). 

Die Burgen feinen alle nach demfelben Prinzipe angelegt 
worden zu fein; die Unterichiede erklären fih durch die Ver: 
jchiedenheit der topographiichen Verhältnifie und des Baumaterialo, 
fowie durch Größe und Stärle. Ein meift vunder oder ovaler Wall?) 
aus Erde und Steinen mit jehr breiter Yafis, nad) oben jchmäler 
werdend, wurde zunächit mit BYenupung natünficher Yodenerhebungen 
am gewählten Trte aufgeführt und zwar jo, dab der Boden des 
Jnnenraumes höher alo die äußere Umgebung war. Die Um: 
walfung hatte meilt zwei Zugänge oder Thore, zu welchen fchmale 
Auffahrten hinaufführten. Oben auf dem Walle befand ic eine 
jtarfe Vrufmvehr aus Paliffaden, jeltener aus Steinen, welche 
legtere, je nad) ihrem Material dur, Erbe ober Moos verbunden, 
in Art eines Eyflopenbaues aufeindergeichichtet waren®). In den 
ftärferen Burgen scheint innerhalb dieler Bruftwehr noch eine 
zweite gewefen zu fein, jedenfallo wieder ein ftarfer Kaliffadenzaun*). 
Das Innere der Burg, in welcher fid ftets ein Brunnen oder 
eine Quelle befanden"), war durch hölzerne Gebäude eingenommen, 
in denen Dienichen und Vich während der Winterfälte Unterkunft 
fanden und der nöthige Proviant aufbewahrt wurde. ®). 

















Sat ER 
in Kin: und d Ehjtlon 
and Latrel (Mich) 


eben. Die el mai Verbreitung der Eichen 
1i. Qei Warbola (darrien) 
gl. Jordan, Bawerburgen. 











Die Aorm eines a 

. Duni 805. Nr. I 

®) Ueber Bnrgenbefeftigungen vgl. Heinr. U 

30, md 1. ac. auch Neimdronit L. i 

Holymayer, Cfiliane 1. . 

9 Heinr. Chran. Lyv. 15, 1: 

&) Ebenda Kal. Holzmayer, RM. der in 

alten Burgen Teiels Brunnen fand. Tesgl. Graf Y. 4. Mellin in Warbola. 
Bgt. Hupels „Nord. Miscell.“ Wo. 1 zo, 

% Heine. Chrom. Lyv. 16, 3 


Korwall. Lyl. „Dün 























Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 291 





Die Größe der Burgen war fehr verichieden; hing von 
den gegebenen topographiichen Verhältniien ab. Meift war fie 
nicht bedeutend, denn dem Bejtreben einen möglichit großen Raum 
zur Unterbringung der geflüchteten Weiber, Ninder und Heerden 
zu gewinnen, frat der Umftand entgegen, daf; die Bef 
nicht zu ausgedehnt fein durften, da das die Vertheidigung 
erichwert hätte!). 

Daher finden wir bei mehreren Burgen eine Art Vorburg, 
welche, im Scnpe der eigentlichen Yurg gelegen, mehr oder 
weniger befejtigt war. Die Befejtigung derfelben bejiand meijt 
in einem einfahien Hagen. Abgefehen von jolden Worburgen, 
welche duch ihre günftige Yage den Charakter einer zweiten Yurg 
hatten und die deshalb wohl aud) jvı tiger be] 1 wurden, 
waren die meilten derfelben nichto weiter wie befejtigte Dörfer. 
Der lateinische Ausdruc für diefelben war suburbium. Heinrich 
erwähnt ihrer nur bei drei Orten: Dolme, Diefothen und Wenden’); 
doc) braucht er au mehreren Stellen den Ausdrud urbs von 
‘PBlägen, die er jonft nur mit eastrum bezeichnet ®), und, da fd) bei 
fajt allen diejen Plägen neben der Burg Vorburgen nachweilen 
tajien, jo it es möglid, dal er damit die bewohnten suburbian 
meint. An te im eigentlichen Sinne it nicht zu denfen; 
Heinrichs Bezeichnung für Stadt it übrigens eivitas"). Die 
livländ. Neimcronif nennt die befeftigten Dörfer bei einer 
burg „Hadjelwert.* Der Name rührt von dem Hagen her, der 
fie umgab; er wird von den deutichen Groberern auf die Fleden 
übertragen, welche fih im Schuse fait aller ihrer Burgen bifdeten 
und aus denen jpäter die Heineren finländiichen Städte hervor: 



























4) Die Gröhe einiger Heidenburgen nad ihrem lädeninbalt it berechnet 
worden von Wick n „tümberis Apulio.“ Magazin d. Yettijdhe 
Seiellichaft. ynitan, 1 &. 10. 

„menia suhurhana” 10, 9. X PREV 
99. und y I1, 5 Renemorde. IL u 
(Waliaı. 

4 Dal. Pabit, Se 
Tüiliona 
Apulia, 






> 
estote). 30, , (Monc). 









dh von Yetrlands Chronit, 
urbes in Deel für Stäbe 
. 9 erklärt die urbes für Yafchwerte, 


Anm. Holymayer, 
Kimberts, 









202 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jabrh. 


wuchien. Noch jest wird in den Oftfeeprovinzen ein leden, der 
feine Stadtrechte befigt, Hafelwerf genannt’). 

Abgejehen von den Vorburgen, welche nur den Zwed hatten, 
den fehlenden Flädhenraum der eigentlichen Burg zu ergängen, 
waren die meiften aljo befeitigte Dörfer am Fuhe des Burgberges 
und natürlich aud) in Friedengzeiten bewohnt, während die eigent: 
liche Burg nur in unruhigen Zeiten bezogen wurde). 

Dean hat gemeiniglid) angenommen, da; die Burgen jugleid) 
Wohnfige, gewilfermaßen die Nefidenzen, der Neltejtien gewejen 
feien, indem man gewohnte Vorftellungen von mittelalterlichen 
Verhältniffien anderer Völker auf unfere Eingeborenen übertrug. 
Zugleich fügte man fi) auf Deinvich von Lettland, der die 
niores nicht felten nad) den Yurgen benannte. 

Id möchte mich aber durchaus dagegen auoipredhen. Die 
Aelteften waren als Heerführer die Kommandanten der in ihren 
Gebieten belegenen Burgen. Es it Nichte natürlicher, alo dal 
Heinrich fie daher mit dem Namen der Burg bezeichnet oder 
umgekehrt eine Burg nad) ihnen benennt. Zugleich giebt er aber 
den Xetteften den Namen ihres Gaueo oder jogar der ganzen 
Sandfchaft, während er andererjeito mehrere Leute als die Aelteften 
einer und derielben Vurg bejeichnet. Co lajfen ji dafür zahl: 
reiche Veihpiele anführen, jo wird der Yette Talibald nad) der 
Landichaft Tolowa (18, »), nad) jeinem Gau Tricatun (15, 7. 
17, 19, 3) und jchlichlich nad der in Tricatun belegenen 
Vurg Vewerin (12, 6) benannt’); als Yeltejte der Letten von 
VBewerin werden aber auch Dote und Paike angeführt (15, 7). 
Während Heinrid alfo den Hänptlingen den Namen der Burg 
ihrer Gebiete giebt, um fie als Befehlohaber der Burgen zu 














') Liol. Neimdronit. 9%. 91H, 11010 (Doblen. 0576 (Terwercin). 
11045 (odeten. 1 gdobrem. Allgemeiner Gebrand von „hachelwert,“ 
11357 12€. Bei Riga finder fi jchen 1210 eine Art Safehwerk. 
. Chrom. Lv. 1b, z Suhurbia ud Satelwerfe in ipäterer Zeit, 
d. Gutzeit, „Wörterfchag der deutjcgen Spradie Yivlands“ 1. 3. Wiga, 
IN7T, 169 5. 

) Heine. Chrom. Lyv. 15, „ferner: 12, 4 

® Aenn es noch einen Crr oder eine Burg 
v. senfiler, „Zur Geographie At-Livlands" Mittbeit, 
N annimmt, jo wird der all noch fompligirter, 




















a. d. Kiol, Geich- 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh 293 


tennzeichnen, bezeichnet er nicht jelten den Wohnort derjelben als 
villa. alfo Dorf oder Hof, ja von dem mächtigen und angejehenen 
Tatibald wird jogar erzählt, da er nad) dem Abzuge der brand: 
ihapenden Chiten aus feinem Waldverjted heimgefehrt fei zu den 
„Bädern“ (ad balnen), womit unzweifelhaft feine gewöhnliche 
Heimftätte gemeint it!) 

Es ijt natürlich nicht ausgefchloiien, daf der Wohnjit, 
der Hof des Hänptlings in der Nähe der Burg Ing, mas ja aud) 
wünjchenswerth war, damit er im falle der Gefahr gleich 
am Plage fein fonnte. Wenn aber die Yurg, wie jo häufig, 
mitten in einem Morajte erbaut war, jo it der Sedanfe von 
vornherein abzuweilen, dafj der Häuptling, fern von feiner Ader- 
und Viehwirthichaft, am feuchteiten, heihejten und ungejundejten 
Orte der Gegend leben follte. Kießlich ift eo nicht unmöglich, 
ba ein Häuptling feinen Wohnfis in der Burg felbjt aufne: 
ichlagen hatte, falls ihn das in feiner VBeichäftigung als „Bauer“ 
nicht weiter ftörte. 

Wir haben uns aljo unter den Burgen der Eingeborenen 
eine Art jtehenden befeftigten Lagers vorzuftellen, das im Allge- 
meinen unbewohnt war, vielleicht au durch eine geringfügige 
Bejagung bewacht wurde?). Der Zwed derjelben it: der Bes 
völferung mit ihrer Habe Unterfchlupf vor Nriegswettern zu 
gewähren. Das Zyftem der Anlage ift in Folge deilen immer 
bas gleide: ein durd) die Natur möglichit unzugänglider Ort 
wird durd) Wall und Graben mod) mehr befeitigt, jo da er der 
primitiven Velagerungsfunft der Eingeborenen widerftehen kann). 

















%) Heinr. Chron. Lyv. 19, 3. Ueber die Bedeutung der Bapitube für 
bas Haus der Lehen und Finnen wird in dem Hapitel über Siedelung ausführlich 
die Aede fein. 

& Kielteicht it fo He 
icdehung, II. &. 237. 
3) Ygl. P. Jordan, Vauerburgen. Ucber Burgen in Cefel: vgl. Dr 
IM. x. v. Luce, Notizen zur topograph. Geichichte der Aufel Cejel. Mittheit, 
a. d. fol. Gef. V. und Holymayer, Ciiliana I. Ueber die Yurgen in Yivkanıd 
und Surland nichts Zuiammenfafiendes. Acinere Auffäge von A. vd. Yöwis 
Mitheil, Ir. Hucdt (Berhamdl. d. Gel, Ehitu. Sei. I. Vielenftein (Leit. 
Magazin 14 u. Br ıc. Wgl. and Meipen, Siedehung. II u. I. 


© 12. 





7. Chron. Lv. Hs a zu verftehen. Dal. auch 














294 Die Eingeborenen Fivfands im 13. Jahrh. 


In welche Zeit der Yau der Heidenburgen fällt, entgeht 
inferer Kenntnih. Sie werden nicht viel jünger fein als bie 
iedelung der Eingeborenen überhaupt. 

Die Anlage diefer Burgen zeugt zugleich von niedriger 
Kultur und großer Energie der Exbauer. Da die Eingeborenen 
die verbindende Nraft des Wlörtelo nicht Fannten!), jo waren fie 
genöthigt, ihre Wälle dammartig aus Erde und Steinen mit jehr 
breiter Bajis aufzuführen, was ungeheure Majien an Dlaterial 
und mithin jehr viel Arbeitskräfte erforderte. Man hat für die 
Burg Warbola in Harrien die Anfuhr der Steine auf über 
32,000, für Narmel in Dejel gar auf über 60,000 Fuhren ange: 
Ichlagen ?). 
Trog der nicht geringen Anzahl folder größerer und Fleinerer 
Burge fonnten Diefe dem Bedürfnih nad Schub nicht immer 
entipredden, denn einerjeits genügten fie räumlich nicht bei 
zunehmender Bevölkerung, und andererjeito waren die einzelnen 
Gebiete doc jo ausgedehnt, dal die entjernter Lebenden bei 
plöglichem Mriegslärm nicht mehr hingelangen fonnten. In diefen 
Aüllen boten die mächtigen jumpfigen Urwälder den gewünichten 
Schug. Hier müffen die Eingeborenen fihere, nur ben Dorfgenoiien 
bekannte Schlupfwinfel gehabt haben, wohin fie ihre Weiber, 
Ninder und Hecrden brachten. Schr häufig erzählt uns Heinrich 
von den „Verteten der Wälder“), in welden die Gingeborenen 
Sicherheit fanden, ja in welche fie jogar flüchteten, wenn ihre 
Burgen ihnen nicht mehr ficher genug erichienen’). Da cs aber 




















4 Heinr. Chron. Lyv. 1a 
>) Warbola nad, Mellins Angaben. 






Nord. Wise. NY. 32,300 Aubren. 
Die Angabe it aber zu gering Lt. jordan, Yauerburge SL. Für Narmel 
bat Holymager Ciilione 1. 6 Merhordiger Weiie 
wird Narmel in der Fol. Neimhronit als Hagen begeidmet. U. 6196 ff. Ebenfo 
in Yalth. Nüffows fol. Eronit. 
bl der Wurgen Ächeint ehr grois newelen zu fein. Taitor 
md €. o. yövis find im DBencfle eine Nrbeit über diejeiben 

Bat. „Neue Dörptihe Zeitung“ 1895, 26. Sept. (Nr. 218). 
;gaboden allein vermutbet 2 1 über 9 Burgen. 
10, 4 aaa 3: „silvanım 
Iatehra” 9, .. „tutiora Jen memoris" $, jr 

99,5 10, zus Sogar Hufen IL, 9 





















Die Eingeborenen Sivlands im 13. Jahrh. 295 


dody vorfam, da die raubenden Feinde die Maldverjtecte aus- 
fpürten, fo wırden fie, falls die Zeit dazu reichte, durch Lerhaue 
in Feitungen umgemwandelt!). Won ben SHarriern berichtet uns 
Heinrich, daß fie fi in unterirbifhhen Höhlen vor dem Auge ber 
Feinde verbargen (23, ı0). 

Fanden die einfallenden Feinde die Vevölferung mit ihrer 
Habe in den Burgen veridangt oder in die Mälder geflüchtet, To 
fonnten fie ihren Feldzug als mißfungen betrachten, denn, da «6 
ihnen in erfter Linie auf Beute anfam, fo hätten fie die Burgen 
erobern und die Maldverftecie aufluchen müjfen, um dazu zu 
gelangen. Es jcheint aber, dah fie fi nur jehr jelten daran 
machten, eine Yurg zu belagern, da eine joldhe in den meijten 
Fällen für uneinnehmbar galt. Ein erfolgreicher Sturm Tonnte 
bei der primitiven Ariegsfunft der Jndigenen nur nad) Verbrennen 
der hölzernen Theile der Vefeftigungen verjudht werden. Dabei 
mußte aber fchnell operirt werden, da das Belagerungsheer jich 
in der von Lebensmitteln entblößten Umgebung, zumal bei jtarler 
Kälte, nicht lange halten Fonnte. Außerdem fürdhtete man, wie 
schon oben auseinandergejegt worden, einen veripäteten Nückzug. 
Heinridy berichtet nur von einer Belagerung der Yettenburg 
Bewerin durd) die Ehjten, die j—hon nad) einem Tage refultatlos 
aufgehoben wurde (12, n), ferner von der Belagerung der alten 
Burg Wenden durch die Ehiten 1210, die jhon ernjthafter war. 
Die Velagerer bauten große Holzgerüite, unter deren Schub fie 
die Baliiinden der Yurg in Brand zit fegen juchten. Exit am 
vierten Tage zogen fie ab, als jie hörten, daß Entjag nahe (14, 7). 
Aehnlich verlief die Belagerung der großen Yurg Gaupoo dınd) 
die verbünbeten Ehiten 1211. Die Heiden umjchloffen von allen 
Zeiten die Burg, begannen die Wälle zu unterminiren md 
ihleppten Holzhaufen zuiammen, um die Vefejtigungen zu ver: 
brennen. Währenddeilen wurden einige der tapferiten Krieger in 
die Umgebung geidjiet, um zu fonragive 

Da die Liven fi redtzeitig in ihre Burg zurüdgejogen 
hatten, jo mühjen die Ehiten die Werjtece der Zurückgebliebenen in 

















93 Ebenda 15, 7. Lgl. fiot. Neimchr. 8. 3009 fi. und fi Die 
Verhaue oder Hagen (indago) fpielten noch im Ehftenaufftande 1313 eine Holle. 





296 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahıh. 


den Wäldern gefunden haben, denn cs gelingt ihnen Gefangene 
zu madyen und Vieh im ihr Lager zu treiben. Die Belagerung 
verlief jedod) erfolglos, da das deutice Entjasheer die Chjten 
in offener Feldihladht und auf der Flucht fait gänzlich, 
aufrieb (15, a). 

Die Verteidigung der Yurgen wurde ebenio energifd) und 
funjtlos geführt wie die Belagerung. Die von den Velagerern 
gebrauchten Schupdächer werden von oben durch Fener zeritört, 
indem Schlitten mit Brandjtoff oder Fenerräder darübergeftürzt 
werden. Die anftirmenden Feinde merden mit Steinen und Balken 
überfhüttet, die in Brand gerathenen Paliifaden der Bruftwehr 
auseinander gerüifen und durd) neue erjeßt, die Nrieger, welche 
den Wall eritiegen Haben, mit Lanzen hinabgeitofien. Zugleid, 
geichehen Ausfälle in größeren und Heineren Trupps, wobei die 
Anlage der zwei Thore den Wertheidigern zu ftatten Fommt?). 

Alles das fonnte genügen, um den Anjlurm eingeborener 
Feinde erfolgreid, abzuwehren, da Bewaffnung und Kriegsfunit die 
gleiche war und die Vertheidiger den Vorteil der gededten und 
erhöhten Stellung hatten. 

Gewöhnlic hielten fi daher die Eingeborenen mit der Ber 
fagerung der Burgen nidyt auf. Sie zogen fdhnell durch das 
Land, verbrannten die leeren Dörfer und verfuchten die Mald: 
verftede zu entdeden und diejenigen Flüchtlinge abzufangen, die 
auf der Sude nad) Vlundvorraih fich zu den verlafienen Dörfern 
zurüdiwagten ?). 

Offene Feldihlachten Famen bei diefer indianerartigen Nriegs- 
führung nur jelten vor. Stiehen aber zwei KHeere aufeinander, 
jo wurde mit großer Exbitterung und Tapferkeit gefämpft. Da 
Jedermann über die Ninge fpringen mußte, falle er nicht fiegte 
oder fiel, fo focht man mit wahrer Todesveradhtung. Der Angriff 
jelbft war ungeftüm und mit geojem Sejchrei und Yärm verbunden. 
Heinricd) fagt, daf es Sitte der Heiden geweien jei, Schwert umd 
Schild aneinanderzuichlagen und ein Nriegsgeichrei auszuftohen, 











1211 bei Hein. Ch 






ng von zelfin 
von None I 
10.2 Wpl. 15, | und 


15, , von 
nl. 









Die Eingeborenen Livlands im 13. Yahrh. 297 





wenn fie auf ben Feind eindrangen!). Kurz vor dem Neil 
ichlenderte man einen Hagel von Speeren über diejen, dann gi 
man zum Schwerte und der Nahfampf begann. Zahl und Tapferteit 
entichieden den Sieg, von Taftif oder Strategit finden fich jo 
aut wie feine Spuren?) 

Die Kampfesweile der Lithauer, die überhaupt den ehitniihen 
und fettijhen Stämmen überlegen ericheinen, jchildert uns Heinrich 
anicaulid. Als die Kreugfahrer mit den Semgallen 1208 einen 
Zug nad Yithauen unternommen hatten, fanden fie alle Dörfer 
verlafen. Die Vevölferung war alfo rechtjeitig in die Burgen 
geflüchtet. itte folgend, machte fi) das Strenz, 
heer fofort zum Nüczuge „US die Yithauer das bemertten, 
flogen fie auf ihren ichnellen ferden allerjeits um fie her und 
jagten, wie es ihre Gewohnheit ift, rechts und finfs umher, indem 
fie bald flohen bald verfolgten und durd den Murf ihrer Lanzen 
und Stäbe gar Viele verwundeten” (12, 2). Die Rampfesweile 
eines echten Neitervolfes! An anderen Stellen wird uns berichtet, 
daß die Lithauer auf ihren feinen Nojjen mit Leichtigfeit breite 
Ströme paifirten, ja jogar im Frühlingshocwailer die Düna 
durhihwammen?). Sie find das einzige Wolf, welches den 
deutichen Groberern gefährlid werden follte und ihnen mehrfach, 
> ®. in ben bfutigen Schlachten an der Saule (1236) und bei 
Durben (1260) jcdhwere Niederlagen beibradhte. Die übrigen 
Völker wurden in offener Feldichladht, auch wenn fie in über 
wältigender Ueberzah auftraten, und troß ihrer wilden Tapferfeit 
fait regelmäßig. geichlagen‘). 





















>) given 2, , Litpaner 11, 5 Oefeler und Ehften 15, „ Leiefer und 
o Yiven umd Leiten 28, 5. 

>) Am chejten bei den Yhmiern. gl. Hein. Chrom. Lyv. 9 5 
und fonit. 

®) Ebenda 17, 











18, . Das erinnert am den Vericht des 
Maurieins Strategiens (Lil 'ap. 5) über die Ariepsmweile der Donaus 
Staven. Bat. R. Henning „209 Beutice Baus. ahburg, i./E. 1850. 
. 100. und Müllenhof, a. a. T. 













& Yejonders die Ehjten jcilbert Geinrich al6 ehr anpfer, up. 15, , 1. 4 
19,5 nic Schlacht bei Starmel (12H) in Heimehronit %. 6106 ff. 
Auch die Serngallen müffen vühmend hervorgehoben werden; den Tertilgungstrieg 





gegen biefelben fhildert die livl. Reimdpronit. Erit 1290 find fie völlig bejiegt. 


208 Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrb. 


Hatte bei einem Ueberfalle oder in einem Zujammenftoß 
ein Stamm den andern befiegt, jo wurden alle Wiänner nicder- 
nemegelt oder gefangen genommen. Die Gefangenen fowie die 
aanze Beute winden in die Maja der Sieger gebradit und hier 
zur Feier des Zieges Spiele mit großem Gejchrei und Schlagen 
der Schilde angeitellt . Dabei ging es wild md blutig her. 
Ganze Schlitten waren bepadt mit den Nöpfen der Feinde *). 
© gefangenen Männer wurden auf das Graufamjte gemartert, 
lebendig gebraten, verjtümmelt, mit Striten auseinandergerifien, 
wohl auch den Göttern geopfert”). Während die Yeihname ber 
Feinde liegen bleiben ober den Kunden vorgeworfen werden *), 
fammelt man die eigenen Gefallenen jorgfältig zur Vejtattung. 
ie finnijchen Völfer verbrennen diefelben, wobei fie die Todten 
feier mit vielen Nlagen und Trinfgelagen abhalten >). 

In der Natur diefer Naub: und Nadefriege liegt es, ba 
fie fajt nie aufhörten, doc) fonnten äußere Umftände, wie beider- 
feitige Ermattung, allgemeine Hungersnot und Seuchen ober 
Yerwidehung der Sieger in auswärtige Kämpfe, einen Frieden 
herbeiführen ®). 

Der Friede wurde, wie die Abjage, durch inmboliiche Hand- 
tungen geichlojien. Man jchiete fd) zur Verjiherung deilelben 
aegenfeitin Yanzen zu, worauf die Verhandlungen durch blutige 
Opfer beftätigt und befräftigt wurden ?). 

Es bleibt nur nod übrig das Kriegsmweien der 
Eingeborenen zur Zee zu beipreden. 

Vorausgeicit muß werden, da dabei, gemäß der geor 
wraphüichen Sruppirung, ausichliehlic die finnifhen Wölferihaften 
in Betracht kommen. 

Schon mehrfach, ift erwähnt worden, da die Venohner der 
ojtbaltüichen Stüften, bejonders Die Nuren und Tejeler, als Sees 
N Heinr. Chron. Lv. 

> Ebenda 9, .. 

®) Ebenda 10 Ars Fun 

9 Ebenda 26, 5 und u. 

>) Ebenda IH. z (suren), 
über Netigion. 

© Ebenda 1, 5 1 je 

?) Ebenda %, 5 I. 




















6 20, g (Ehiten). gl. unten das Kapitel 


Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 





räuber im Mittelalter berüchtigt waren. Die alten ffandinavifchen 
Sagas und Chroniken erzählen uns von fortdauernden Kämpfen 
mit den Piraten des „Tejterife“, von Naubzügen derjelben in 
Schweden md Dänemard, von Nachezügen der Nordmänner in 
ihren Landichaften. Die Ghronit Heinrichs bejtätigt diefe Nach- 
richten. Sie berichtet uns wiederholt von den Zceräubern Tefels 
und Nurlands. Als Biihof Albert im Frühjahre 1203 mit 
Kreuzfahrern nad) Yivland jegelte, fand er eine Piratenjlotte der 
Dejeler im jüdlichen Schweden, welche dafelbjt das Yand verheert, 
eine Kirche verbrannt, Gloden und fonjtiges Nirchengeräth geraubt 
und Menfchen in großer Zahl erihlagen ober gefangen hatten, 
„lo wie die heidniihen Ejten und Kuren“, fügt Heinrich hinzu, 
„bisher in den Nönigreihen Dänemard und Schweden zu thun 
gewohnt waren“ }), 

Ans den vielfachen Zufamenjtößen, welche die Kreuziahrer 
mit den Piraten hatten, fönnen wir Einiges entnehmen, was und 
die Tedpnit des Seemejens derjelben verdeutlicht. Seinrich unter: 
icheidet zwei Arten von Naubfcifen; die eine nennt er pyratica, 
die andere liburna®). Die pyratiene waren mit Segeln und 
Rudern ausgerüftet 9; fie müflen yiemlich groß geweien fein, da 
Raum für eine Bejagung von mindejtens 30 Mann und für 
Gefangene, lebendes Vieh und fonitige Beute hatten +), Dabei 
waren fie leicht und von geringem Tiefgang, To dal; die Piraten 
die flachen Flußläufe der Trepder Aa und der Salis meilenweit 
Hinauffahren fonnten®). Was SHeinrid) umter liburna verjteht, 
it aus jeiner Darjtellung nicht erfichtlich. Im Alterthume ver 
fand man unter navis liburna ein Schiff mit zwei (ipäter bio 
fünf) Huderreihen umd leichter Tafelage, nad dem Mufter ber 
























NT Bl 14, 2 und 50, 2. Vgl. auch über die Cejeler Neimchronit 





Eh 14 1 Törameae Lilmmas 10, 205 
%3 Ebenda T, 2 R 
2 werben 








+) Ebenda Mann in einem Schiff erichlagen und «5 
bleiben 8 übrig. Ju zwei andern werden 60 Mann erfchlagen. Gefangene und 








4, 

ı Hua 
3) Ebenda 3: Die Ehften fahren bis Treiden. 19, 11: ie 

Deieler jayren auf der Salis bis zum Yurtned-See. 





300 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh. 


Schiffe der als Sceräuber berüchtigten iburner . Wahricheinlich 
will Heinrich mit liburna ein Fleineres und leichteres Naubichifi 
bezeichnen, denn an anderer Stelle nennt er neben den p} 
nocd) minores oder aline naves?). Jedenfalls wurden die liburnae 
ebenjo zum Sceraub gebraucht, wie die pyratiene. 

Die Zahl der Naubichiffe jcheint jehr bedeutend gemeen zu 
jein. 1211 erbeuteten die Deutihen bei Ihoreiba nicht weniger 
wie 300 große Naubjchiife und viele fleinere Schiife von den 
Ehjten. Als die Nreuzfahrer fh 1215 durd eine Flotte der 
Defeler durdhjichlagen mußten, zählt Heinrich etwa 200 Naubidiffe, 
jo daß „das ganze Meer wie mit einer büftern Wolke überichattet 
erichien.”  Diefe 200 Schiffe hatten fid) über Nacht verfammelt, 
es find aljo bei der Nürze der Zeit gewifi noch viele Schiife nicht 
in Aftion getreten 

Ob die Infel- und Strand-Ehiten einen befonderen Hafen 
für ihre Naubdiffe, alfo einen Ariegshafen, gehabt haben, wie 
behauptet worden ift, muß dahingeftellt bleiben +). 

Ueber fürmliche Seeihladten, welde die Chjten und Kuren 
liefern, berichtet uns Heinrichs Chronit mehrfad. Wir finden 
bier joger Spuren von Taktif. Die Flotte wird in zwei Treffen 
geordnet, um die feindlichen Schiffe zu umzingeln; oder die Raub- 
Ähiife werden je zwei und zwei nebeneinander in Zwifchenräumen 
aufgeftellt, fo dah die Kühne der Angreifer in dieje eindringend 
eingejchloffen werden fünnen. Dabei werden die Vordertheile der 
Schiffe entladen, wodurd) fie ji heben und den auf ihnen poftirten 
Ariegern den Lortheil gewähren, von einer erhöhten Stellung 
herab ihre Gegner zu befümpfen In der Schlacht werben die 
Schiffe ausschlichlich durd Ruder fortbewegt und zwar mit großer 
Schnelligkeit und Nraft 9. Ob die Naubichiife eine oder mehrere 
Nuderreihen hatten, willen wir nicht. 


























9 %gl. €. Guhl u. W. Noner, „Das Leben der Oriedhen und Römer.” 





BL 4; 






66 je. 


®) Heinr. Chron. (Zefeler), 14, z (Kuren). 


9) Xgl. ebenda 19, 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 301 


Auch die Velagerungsfunft im Seefrieg it vecht ausgebildet. 
Zwei Mal berichtet uns Heinrich von förmlichen Blodaden. Holz: 
Hlöje und ausgediente liburnae werden, mit Steinen bejchwert, 
in das Fahrwafier verjenkt. Gegen die im Hafen eingeichlojienen 
Feinde werden Brander ausgeichidt, Flöfle, auf denen, Scheiter- 
haufen aus trocdenem Holz mit Fett übergoifen, fodern !). 

Wenn die Seeränber in der Schlacht eine Niederlage voraus: 
fahen, jo festen fie jchleunigit Segel auf und flohen ü 
WDieer; wahrjcheinlih waren ihre leichtgebauten NRaubjchiffe den 
Ihwerfälligen Koggen ihrer jfandinavifchen und deutichen Gegner 
in Beweglichfeit und Schnelligkeit weit überlegen. 

Wie weit die nautijhen Nenntnifje der Seeräuber und 
t der ojtbaltiihen Küjtenbewohner reichten, fünnen wir 
tellen. Offenbar müfjen fie nicht gering gewejen fein, 
denn Sonft hätten fich die Piraten in ihren leichten Fahrzeugen 
nicht über die Tjtjee nad) Schweden und Dänemark gemwag 
noch jeßt gelten ihre Nahfommen als fühne und geiciehte Schiffer, 
wohlvertraut mit den Bildern des geftirnten Himmels ?). 














vl 

Wir wenden uns mun zur Unterjuchung der wirth: 
Ihaftliden Zujtände der Eingeborenen. 

Der Umitand, dal wir es mit zwei ganz veridhiedenen Naifen 
zu thun haben, fällt hierbei weit mehr ins Gewicht als bei der 
Vetradhtung der politiihen und friegeriihen Verhältnifie. Denn, 
da die Beziehungen der Nationen zu einander jo gut wie aus 
ichließlid, friegeriicher Natur waren, mußten fich die urjprüngliden 
Unterjdiede der Kriegsführung der finnifchen und Tettiicen 
Stämme joweit wir nämlich folhe bei dem niederen Kultur 
itande berjelben vorausjegen fünnen — fat ganz verwiiden. Ab- 
geiehen von geringerer oder größerer Nriegstüchtigkeit, wie fie id) 
aus Gharafter, geographiicher Lage und Gejchichte jedes Volfes 








ber haben bei den ‚nfel-Ehiten eigenthümliche, wahre 
ieinfich uralte, Namen; jo heit der Polarjtern „Nagel des Kopfes“ oder „der 
erlöjggende Stern“, die Mildhitrahe „Steg der Vögel“ 1. gl. Holzmayer, 
Dfiliona I. &. 80. ä 





302 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrd. 


oder Stammes herleitet, it die Art der Kriegsführung, Bewaffnung, 
Burgen Anlage u. |. 1. diefelbe. Menigitens in den Mugen des 
deutfchen Ghronijten. 

Achnlich war c6, wie wir gejehen haben, mit den politischen 
und jozialen jältniifen. Auch hier haben wir eigentlich 
mahgebende Unterichiebe nicht jeitftellen fönnen. Die Hechts: ' 
vorjtellungen waren jo ungeordnet, dah von einer Verfaifung der 
einzelnen demofratiichen Gemeinweien nicht die Nede jein fann. 
Wo fein Nect it aufer dem Nechte des Stärferen, da find aud) 
feine Vorrechte, außer jolden, welche perjönlice Stärte und 
Viacht verleihen. Im diefem Zinne haben wir die Stellung der 
Hänptlinge, der Neltejten, aufgefaßt. Da in derjelben die rohen 
Keime einer fozialen Gliederung liegen, ijt betont worden. Zu 
einer Entwidelung von Ständen mit feit umriffenen Prärogativen 
waren aber die Keime zu jchwad), die Yebensführung der Einzelnen 
zu wild. Was heute oben war, fonnte morgen unten jein; c6 
gab fein feites Vejtehn, keine organiihe Entwicelung. 

Der Schatten ewiger Mriege fällt auf das Leben der Ein- 
geborenen Alt -Yivlands. Naub und Mord, Feuer und Blut 
brüden ihm ihren Stempel auf. 

Wie ein vother Faden zieht jid) der Einfluß des ununter: 
brodenen Nriegszutandes and durch die wirthidhaftlicen Wer: 
hältwifie der Wölfer; auch bier verwildht er mande nationale 
Xericjiedenheiten. Tas giebt uns die Möglichkeit, die wirth: 
ihaftlihen Zuitände der finniichen und lettijhen Stämme gleich 
zeitig zu beipreden. Dabei joll die nationale Eigenart jedes 
Volfes, joweit fie uns deutlic) erkennbar entgegentritt, jorgfältig 
betont werden. 

Der Nulturguftand der Eingeborenen war foweit gediehen, 
dah fie aus der Phaie des Nomadenthuns in die des Aderbaues 
übergetreten waren, und zwar jeit geraumer Zeit. 

Im 13. Jahrhundert finoen jid) überall feite Siedelungen. 
Schon oben ift der prinzipielle Gegenfab in der Siedelungs- 
fe der finnifchen und fettifhen Stämme berührt worden. 
Grjtere wohnten in Dörfern, lestere in Einzelhöfen. Dieie Ver: 
Äcjiedenheit der Ziedelungsweile finden wir bio in die neuejle 
geit. Exit in unjerem Jahrhundert ift fie im Begriffe zu ver: 

























Die Eingeborenen Livlands im 13. Jadrh. 303 


fchwinden, jeitdem man begonnen hat, die ehjtniichen Dörfer treu: 
zulegen. Mo wir in früheren Jahrhunderten Ausnahmen von 
der regelmäßigen Siebelungsweile treffen, find jie in den meijten 
Fällen auf fremde Einflüje oder außergewöhnliche wirthichaftliche 
Verhältnifie zurüchzuführen '). 

Heinrid) von Lettland macht feinen Untericied ywiiden 
dorfartiger und einzelhofartiger Siebelung; er nennt beide villa, 
feltener villula. Vielleicht will ev mit leßterem Ausdrud, ber 
zweimal für die Siedelungen der Yettgallen gebraucht wird), 
Einzelhöfe bezeichnen. Dagegen betont die livländifche Neimchronit 
ausdrüdlic, daß die Letten in Einzelhöfen wohnten. Sie jagt: 

dA nad) liet ein ander lant, 

die fint Letten genant. 

die heidenihaft hät Tpehe fite, 

fie wonet nöte ein ander mite 

fie büwen bejunder in manden walt?). 

Dafı dagegen die Ehften in grofien und volfreichen Dörfern 
lebten, geht aus vielen Stellen der Chronit Heinrichs hervor. 
&s werden jogar im Dorfe Garetjen in Ierwen Strafen und 
Häufer aufgeführt. Wir haben uns jedod unter den Dörfern 
der Ehiten feine planvolle Dorfanlage mit geraden Straßen und 
geichloffenen Dörferreihien vorzujtellen. Was Tacitus von den 
Dörfern der Germanen erzählt, tät fi auch auf die Dörfer der 
Chiten übertragen’). Sie beitanden ohne Zweifel in einer Reihe 













9 Xal. A. 0. Tranfehe-Hojened, „Öutähere und Yauer in Yioland im 
17. u. 18. Jabeh.“ Strafiburg, 1890. S. 11 f. Semgalfen: fiebe weiter unten. 
a1 3; dagegen villulae bei Ehiten (Walgatabatwe): 24, „und 










villae bei Yett 
zeichnet die Tex 
Behöft. Bat. R. 
S. 196, Anm. 4. 

DE 5. Spöbe fie feltfame Sitte, nöte -- ungern. Weipen, 
Ziedehung I. 3. 184 bezieht dieje Stelle jätichlic auch, auf die Ehiten. 
89. 15, 5 „villa Carethen pnlcherrinm et magnn et popu- 
ent omnes ville in Gerwen et in tota Estonia fuerunt.” Ferner: 


1, 5. Der Sprachgebrauch it überhaupt unfidher, 1. ber 
a Cum 500) mit villa bald ein Dorf, bald ein einzelnes 
Schröder, Lehrbuch der deutjchen Nechtsgeichichte. Yeipzig, 1880. 


























Pe 
3) Germania NVI. Vgl. Henning, d. deutihe Yaus, &. 
Siedelung I. &. 46 f. 





und Reigen, 


304 Die Eingeborenen Livfande im 13. Jahrh. 


von Höfen, welde an einem Fluhlaufe, oder font in geeigneter 
age, weilerartig jufammengerüdt waren. 

Die dorfartige Siedelungsweife der finniicen Stämme muf 
fehr alt fein. Vielleicht ijt fie gleich beim Webergange aus dem 
Nomadenthum zur fejten Siedelung entjtanden, der in eine jehr 
frühe Zeit fällt. Nosfinnen jagt in feiner Finnifcen Geihichte: 
„Die Zeit, in welder die kota (das Zelt) des Kappen bem Finnen 
zum koti (Haus und Hof) ward, gehört ber Sejchichte nicht mehr 
an; denn jchon die ältejten Spradjichäge deuten auf einigen Aderbau 
und feite Wohnfige hin“). 

Da wir im 12. und 13. Jahrhundert die lettiichen Stämme 
in Gingelhöfen, die finnifchen in. Dörfern finden, jo fünnen wir 
annehmen, dal die finnifchen Stämme die dorfartige Siedelungs- 
weile fon vor Berührung mit den Yetten gehabt haben. Denn 
s ilt fauım anzunehmen, daf fie bei den jonjtigen Veeinfluilungen, 
welche fie durd) die lito-flaviide Nation in Bezug auf ihre Wohn: 
tten erlitten, ihre Siedelungsweife geändert hätten, während die 
Ketten die ihre beibehielten. 

Der lettijhj-lithauiiche Einfluß auf das Haus der Weit: 
Finnen ift deutlich) erfenndar. Mir finden nämlich neben der 
Urform des finnifhen Haufes, der aus der Jurte der Nomaden 
bervorgegangenen kota oder koda, einer zeftfürmigen mit Yaum: 
rinde gededten Stangenhütte, die pirtti?). Die pirtti ijt ein 
vierediges Vlodhaus ohne Nauchfang mit einer Feuerjtelle aus 
loder übereinandergeihichteten Steinen. Das Wort pirtti fommt 
aus dem Lithauifdh-tettiihen und bezeichnet Yaderaum, Nod) jebt 
heit die altlettiihe Yadtube pirts. Die Art des Yabens ift bei 
den fettiihen und finniichen Stämmen diefelbe: durch Begiehen 
der glühendheifen Ofenjteine wird ein ftarfer Dampf erzeugt, jo 
daß die Vadjtube nad) Schliehien der Thüre und etwaiger Fenjter- 
fufen zu einem Dampfbade wird. Der lithauijch-lettiiche Typus 
der Pirte hat fi) aljo bei den finniichen Stämmen eingebürgert 
und die dortigen Kaus-Typen, kota und saum verbrängt. Der 








3) 9. nosfinnen, „Sinnifche Geichich 

2 Ngl. Meiven, Ziedelug II. ©. 1 
„Baus und Hof in ihrer Entwidelung mit Bezug auf die 
Neipgiq, 1888. s, 





Ad. Schwer. Leipjig, IN7I. &. 16. 
ud}. von Hellwald, 
Wohnfitten der Wölter.” 








Die Eingeborenen Sivlands im 13. Jahrh. 305 


saun oder die sauna war eine in den Voden gegrabene Höhlung 
mit einem Ofen in der Dlitte und einem Dade über der Erde, 
aljo offenbar aus der Gamme, der Erdhütte der finnifchen 
Nomaden hervorgegangen. Neben dem ITppus der Pirte, weiche 
zugleich Vadjtube und Wohnhaus war, haben id) bei den Chiten 
Bis auf den heutigen Tag kota und saun erhalten’). 

Da der Hauotypus der Pirte fid) aber aud) bei den eigent: 
lichen Finnen nadhweilen läht und fehr alt jein muß, da das 
finnifhe Nationalepos, die Ralevala, ihn fennt, jo it eo immerhin 
möglich, dah er hen vor Berührung der finnijchen Stämme mit 
den Yetten im jpätern Yivland eriteren befannt geweien üt?). 

Eine zweite Veeinfluffung des finnischen Haujes durd) die 
Letten findet fich, wie mir jheint, im Worte maja. m Lettiichen 
heißt mahja Wohn: oder Heimjtätte, dann Haus, Yeimath; im 
Ehjtniichen ebenfalls Haus, Wohnung; im Liviihen bedeutet mai 
oder moi Nachtlager. Nach Aylaniit it das finniiche Wort maja 
dem Lettiiden entnommen’). m 13. Jahrhundert war der Aus: 
drud maja jedenfalls üblich. Heinrid) von Lettland nennt, wie 
wir gejehen haben, den Verfammhungsort, das Lager, der indigenen 
‚Heere maia }). 

Wenden wir uns num zu dem Hanje der Letten. 

Bezzenberger hat in feinen Lnterfuchungen über das 
fithaniiche Haus feitgeitellt, da das ättejte Lihawische Wort für 
$aus nämas ijl’). Nämas, lettiid) nams it der Heerdraum, 
das Nauchhaus. Paltor 5. VBeuningen meint, daf der als Rüde 
und Rauchhaus benugte Flur des ältern turländiichen Haufcs, der 
ivegiell namıs genannt wird, ebenfallo als Kern des altlettüichen 
Haufes anzujchen ijt’). Wie der miprüngliche nams der lito- 








Y Ueber kota und saun ugl. A. Aplquit, „Die Aulturwörter der weite 
finnifchen Spraden,“ Deutihe Wusgabe. Belfingfors, IN73 
Äerner: Meipen: Siedehung II. &. 199 fi. III. 

2 Bl. %. Ahlgwiit, Rafturwörı 

>) Ueber moja vgl. Ahlquift, Nut 
feuiiche Haus.“ Magazin d. Lett. 

Hd, ; 2, z und. Lt. oben ©. 2L. 

5) A. Berzeuberger, „Ueber das Fitaniihe Haus." Altpreufiiche Monats« 
fehrift 23. Nönigsberg, ISS. S. 41 und - 

*) Beuningen, d. leitiiche Haus. 















3. Beuningen, 
Mitan, 1804 








3 





206 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


flavishen Stämme aber ausgeiehen hat, wird von feinem Noridher 
geiagt. Bielenjtein vermuthet, dab eine Art Sommerfüce, mie 
fie dazwiihen in Livland (nicht in Nurland) vorkommt, „der allers 
ältefte Typus der lettüchen Wohnungen it.“ Er beichreibt diefe 
Sommerfüche, welche nams oder naminsch genannt wird, als 
„vom Wohnhauie abgeiondert, oft nur von fpit zuammengeitellten 
Stangen erbaut). Das iit aber, wie mir jeint, weiter nichts 
wie die altfinnifche Fota. Ihr Vorkommen in Yivland würde fc, 
auf altliviihem Siedelungsboden ohne Weiteres erklären lajien; 
follten jie fi) auf alttettiichem Gebiete finden, jo wird man eine 
inätere Webertragung diejer einfahren und praftiichen Gebäude 
annehmen fönnen ° 

Id möchte mich aber dagegen ausiprechen, dai der Topus 
der KRota der Urtppus des Lühnnifch-tettiihen Haules geweien it. 
Sollte diefer vielleicht nicht in der Pirte zu juchen jein? 

Zwar werden, nad) Bezzenberger, die Pirten „in den 
älteften Quellen nicht erwähnt, obgleich eo unzweifelhaft ift, ba 
diefe Häuschen jhen in fchr früher Zeit vorfamen, da fie einen 
echt litawifchen Namen führen und mit demjelben (pirts) aud) von 
den Leiten benannt werden“ ®), aber wir müflen doc annehmen, 
dafı der Typus der Pirte nicht nur jehr alt, jondern aud) Herrichend 
gewefen fein muß, da er zu den Weitfinnen übergehen umd deren 
urjprünglichen Haustypus verdrängen fonnte). Dah der nams 
aus dem pirts hervorgegangen fein fann, it um fo leichter 
möglich, alo zwiichen beiden in Form und Yanart eigentlich Fein 
Unterichied bejteht. Das Spezifüche, weldhes beide gemein Haben, 
it der Heerd, der Ofen, welcher nicht nur zum Wärmen und 

















93 Anmerfung zu Veuningen, d. Ic. Haus Auch in Vezzenberger, 
d. fü. Haus. 

>) oc) jegt finden wir überall in Finnland und Ehftland folde Sommers 
füchen, die aud, den alten Ramen fota bewahrt Haben. Bal. Ahlquiit, Rulture 
wörter. 5. 101 f. u. 120. 

3%) D. litauifce Saus. 12 

9 And zwar nicht nur als Baditube, denn cine folhe heit blos im der 
Gegend von Abo pirtti, jonjt saun oder sauna. fondern als Wohnftube, Haus. 
Das ift umfo bemerfeuswerther, alo die Finnen die Sitte des Dampfbadıs 
ebenfalls von den Litojlaven übernommen haben. pl. Ahlquüt, Aulturwörter, 
8.1. 












Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 307 


Speifebereiten, fondern auch zum Dampferzengen dient, ferner 
zum Dörren bes Getreides, wovon ned ausführlicher nehandelt 
werben wird. 

&s ift alfo immer derfelbe Nam, welcher je nach feiner Funktion 
pirts, nams oder rija (Norndarre) genannt wird. Mit zunehmender 
Rultur verändert id das Haus joweit, daf gefonderte Räume und 
fogar gefonderte Hänfer diefen verichiedenen Zunftionen dienen, 
doch gehört diefe Entwidelung einer fpäteren zeit an und fällt 
aus dem Rahmen dev vorliegenden Arbeit. 

Für das 13. Jahrhundert glaube id annehmen zu Können, 
daf das Haus der Letten wie der Ehjten und Viven in einer 
Pirte bejtand, welche zugleich Wohnraum, Badjtube, Nauchtammer, 
Korndarre und wohl and Stall war. 

Id möchte mich dabei, aufer auf das oben Angeführte, 
noch auf zwei Stellen in Heinricho Chronik jtügen. Diefe berichtet, 
dah“ die Düna-Liven 1198 nad Abreife der Kreuzfahrer „de 
balneis eonsuetis“. d. bh. aus den gewohnten, üblichen YBädern 
bervorgefomimen jeien, um bie Chrijtentaufe abzuidwören; ferner 
erzählt fie, da die Ehiten 1215 den Yetten Talibald gefangen 
hätten als er aus feinem Waldverfte zu den Bädern heimgefehrt 
jei („ad balnea rediisse*)'). In beiden Fällen ericeinen ums 
die Bäder oder Badjtuben alo MWohntätte, Yehanfung. Dah dem 
deutichen Ehroniften die harakterifttiche Eigenschaft des autochthonen 
Hauies als Babitube auffiel, it meines Grachtens bezeichnend. 

Die abgejonderte Baditube (pirts. saun) fehlt aud) heute 
auf feinem lettifchen oder chimiichen Bauerhofe. In vielen Fällen 
wird fie noch bewohnt, theils als Altentheit, theilo als Tagelöhner- 
wohnung. In Finnland bringen die Banerweiber ihr Wocenbett 
am tiebjten in der Yadjlube zu). Nach ihr führte früher eine 
ganze Nlajfe der bäuerlichen Nnechtebevölferung Yivlands, die jog. 
Lostreiber, den Namen Badjtüber ’). 












2 Dgl. fiot. Reimehronil, 8. 1202 [., 






be der Ehiten erwähnt wi 
Ahlgwät, Nulturwörter, 

®) Yapjtüber, let. pirtine 
herr und Yauer. fm 05. 


107. 
ehitn. saumamees. Lat. Traniche, Gutse 









308 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Wir müjlen uns aljio den Hof der Eingeborenen im 
13. Jahrhundert ale eine jehr primitive Wohnjtätte voritellen. 
Er beitand in ber Hauptiadhe aus einen mähig großen Bochanfe 
ohne Rauchfang und wohl auch ohne fenfterlufen. In dent 
bunfeln rauderfüllten Naume drängten fi im Winter um ben 
wärmenden Heerd Menjchen und Vieh. Die Kleinen zottigen und 
abgehärteten Pferde verbradjten den größten Theil des Winters 
im freien, wie diefes mod) jept bei den ugrifchen Wölfen der 
Fall it). Neben dem Haupthauje befanden fi Bei den Wohl: 
habenberen vielleicht ned) einige Meine Lorrathehäufer. Im 
Finnifchen führt eine Art von Vorrathsfammern, welde zum 
Schug gegen Naub: md Nagethiere auf hohen Pfojten errichtet 
wird, den genuinen Namen aitta. was auf hoheo Alter derielben 
deutet, obgleich der Pfoitendau auf Einjfüile des jfandinaviichen 
Nordens weilen Fönnte). Der gewöhntiche Aufbewahrungsort 
des Getreides und jonjtiger Lebensmittel bejtand bei der Unficherheit 
der Zujtände in jiloartigen Gruben. Nad) Deinricd) von Lettland 
fanden die Areuzfahrer bei den Yiven von Holme in verichiebenen 
Gruben große Mailen Getreide und and) andere Speifevorräthe (4, 2). 
Dieje Art umterirdiicher Speicher ift jehr alt. Sie gehören zu den 
älteiten Yauwerten der Steppe und chen die Alten berichten uns 
von den Thrafern und Sfythen, dah fie in jolhen Zilos ihren 
Weizen aufbewahrten 9). In Livland hat fich der Gebraud) diefer 
Xorrathogruben jehr lange erhalten. Der Neitende Brand findet 
fie bafelbit nod) 1693. Er erzählt, dah die Silos mit Virfenrinde 
und Stroh ausgepolitert waren, dah Getreide und Efwaaren, wie 





I Dal. Ahlanift, Aultrwörter. und 119. 

>) Aitta bei Ahlquit, Aulimemörter. &. 103 und 119. Ueber jlandie 
navifche Vorrathshäufer Kioften, jog. Stolpeboden, vpl. . 
©. 08 umd Meipen, Ziedelung, I. 3. 18%. Der Name für die Vorratbse 
häufer der. fiteslettiichen Stämme kletix. deutich: Aete, it nach Bergenberger 
(Das Hitauifche Haus, >. 42 und Magayin d. lettlitterär. Geh. NIX. 3. &. 121) 
nicht geuuin. 

Kal. Dehn, Aulturpflanzen, 
in. &. 118. 






















ISS und Meigen, Siedelung, 


Die Eingebovenen Livlands im 13. Jahrh. 309 


Schinfen und Sped, darin verwahrt wurden, und daf; man das 





Erdreich darüber zur größeren Sicherheit zu bejäen pilegte ). 

In den furzen und heißen Sommern lebten Vienjden und 
Vieh wohl im Freien. Die finniüchen Stämme zogen nach uralter 
Gewohnheit in die leichte, mit Vaumrinde gededte Sommerfota, 
die fich überall aufihlagen lieh, wo wirthicjaftliche Zwede: Nobung, 
‚Feldbejtellung oder Beauffichtigung der Neerden es erforderten. 
Wie leicht beweglich im Sommer aud) die Letten waren, gebt 
aus Heinrich Chronif (23, 5) hervor, die erzählt, dah die Yetten 
von Aufenoys ihre Pilüge verliehen und das Yand der Aufien 
von Plesfau bewohnten, indem fie dafelbjt den Männern allenthalben 
auflauerten, fie tödteten und ihnen „Pferde, Vieh und Weiber" 
fortnahmen. 

Das Leben der Eingeborenen, joweit «6 nicht auf dem 
Kriegopfade verbraht wurde, bewegte ih in bäuerlichen Geleifen. 
Die Hauptbeihäftigung war die Yandwirthichaft. Wie alt der 
Aderbau bei Finnen und Yetten it, läßt fi nicht nachweilen, 
jedenfalls reicht er im jehr frühe Zeiten. Tacitus erzählt von 
den Aejtiern, dah fie fleihiger Getreide bauten, als die trägen 
Germanen’). Die finnischen Völkericaften fannten einen primi- 
tiven Aderban wahricheinlic ihon vor ihrer Berührung mit indo- 
germanifchen Elementen. 

Es muß an diefer Stelle eine Bemerkung über das Studium 
der prähiftoriichen Kulturgeichichte eingeichoben werden. Was wir 
von der Nultur der Finnen in den Jahrhunderten bis zu ihrer 
Ehriftianifirung wiilen, beruht größtentheile auf Vermuthungen 
der vergleichenden Spradforihung. Cs it am Anfange diefer 
Abhandlung ausgeführt worden, daf die von Thomfen und 
Rosfinnen als germanifch bezeichneten Stammwörter die wichtigiten 
Nulturbegrifie umfahten. Die Unterfuchungen Ahlqvifts bejtätigen 
diejes. Daneben aber finden fid) unfır je der jlaviichen 
und (ito-tettifhen Nationen, weldhe jedenfalls früher zu jehhafter 

















72.3.% v0. Vrand’s Neifen durch di 
d, Yiefland, Plestovien ı. Welt, 1702, 
Verbreitung der Cijen in Yin 


Mark Brandenburg, Preufen, 
gl. d. Lünie, 
Dorpat, 1824. 










Germania, Cap. Ad. 


310 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Lebensweiie gelommen waren, alo die Finnen. Es liegt auf der 
Hand, af; der Zeitpunft der Beeinffuflung ebenfo jhwer zu finden 
üt, alo der Ort, am weldem fie ftattfand '). Und fchliehlich find 
Jertjümer in der vergleichenden Sprachforichung gar nicht zu 
vermeiden; das zeigen deutlich die jo Häufig auseinandergehenden 
Meinungen der Ehpmologen über einzelne Wortjtänmne N. 

Tiefe Erwägungen erjhweren der Gefhichtsihreibung die 
Benugung der aus der Sprachforichung hervorgegangenen Nefultate. 
Au) die gewiflenhaftefte fritifhe Unterfuhung Tann irren, wenn 
ihre Grundlagen jchmwankend find. 

Wir haben oben die Siedelungsart der Eingeborenen unter: 
jucht und gefunden, dafı die finniihen Stämme in Dörfern lebten, 
während die etten nad dem auodrüdlichen Zengnih; der lvl. 
Heimchronif die einzelhofartige Ziedelung hatten. Ferner ült 
erwähnt worden, da die Grenzen zwiichen den einzelnen Nationen 
nicht fauber auseinander zu halten feien, weil wir gröhere Gebiete 
mit gemifchter Bevölkerung annehmen mühlen. Auf foldhen (He 
bieten wäre eine gegenfeitige Beeinffufiung der Nationen voraus: 
zuiegen. Im der That lehrt die Spradhforihung, da; die Höhere 
lettische Rultur die niedrigere liviiche ftarf beeinflußt habe; die 
Liven hätten dann das Erworbene den übrigen finniichen Stämmen 
weiter übermittelt). Da die Yetten ihrerfeits durd) die ver- 
hätt alte Nultur ihrer Stammesbrüder, der Lithauer, 
beeinfluht worden find, unterliegt wohl feinem Zweifel. Cine 
genauere Unterfuchung diefer Beriniujfung würde uns aber zu 
weit führen; ebenjowenig Können wir die Unterfchiede ywifchen den 
Hochlerten im jegigen Yivland und den Niederletten im jegigen 
urland jcharf hervorheben. Dah; die Semgallen ein ganz anderer 






































99 Vezjenberger meint, geftügt auf Thomjen, Beröringer sc. dal die 
tihoniichelettifchen Aiiten fon in den criten Jahrhunderten m. Chr. fricolich, 
neben finifcen Völleen in den jeinen 1 hätten. al. 
Magazin d. Iendiuerit. Sch. NIX, 

2) Nie, Anderfon Ipricht fich ge itettung von Entfehmngen 
den finniicen Sprachen aus und meint, dafı fi Vieles 
defchaft der mralsaliaiilchen und inde-germanifchen 
wachen zurüctjühren Taffe. UBerh. d. Gel. Chin. Sei. IN. Torpat, 18791. 

% Yal. Aplgpift, Aulturmörter. 153, ferner: EIN 
10, 18,58, 61, 71,75, 17 u. % 



























Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahrh. sıl 


Menjchenichlag waren wie die Yettgallen, ijt mehrfach betont 
worden; an diefer Stelle mu noch hinzugefügt werden, dah bie 
mgallen jedenfalls and; dorfartige Siedelung gekannt haben; 
ihre Dafelwverfe, welde die livl. Neimchronit jo häufig erwähnt, 
waren ja befetigte Dörfer, nicht Einzethöfe ". 

Wir haben nun den Landwirthichaftsbetrieb der Eingeborenen 
zu unterjuchen. 

Vorausgeichidt mu werben, bafı fi derfelbe bei Ankunft 
der Deutjchen auf einer jehr niedrigen Stufe der Entwidelung 
befand. Denn obgleid der Aderbau den Eingeborenen jeit vielen 
Jahrhunderten befannt war, hatte er fid) nicht aus den rohejten 
Anfangsgründen erheben Fönnen, da eine Neihe von ungünjigen 
Faktoren feine Entwidelung verhindert hatte. Zunächit fehlte 
volljtändig die nachhaltige Berührung mit einer abjolut Höheren 
friedlichen Nultur, wie das weitliche Curopa fie durd) Nom erfahren 
hatte. Aodann war die friegeriihe und wilde Lebensführung ein 
Hemmnih für den normalen Ausbau wirthihaftliher Verhältnifie, 
denn fein Wirthichaftobetrieb ift To jehr abhängig von friedlidyen 
und geordneten Zuftänden als der Aderbau, da er dauernde Ans 
fprüde an die Zeit und Arbeitskraft der Menjchen ftellt. Auch, 
das Klima muß damals jehr ichlecht geweien fein; es hat lange 
Zeit gedauert, bis die niederjächjiichen Nreugfahrer, die doc) wahrlich 
nicht verzärtelt waren, ih an den endlojen nordiichen Winter 
gewöhnten. Nach dem geugniife Heinrichs von Yettland, der fivl. 
Neimcronit und vieler Urfumden, bededten im 13. Jahrhundert 
riefige, oft undurcdringlice Wälder und Dioräfte das ganze Land. 

Die Bevölkerung war daher nur fpärlich. Man hat früher 
das Gegentheil angenommen, da nad) Heinrid) die Heere der 
Eingeborenen meijt fehr jtarf waren). Aehnlihe Schlüfje find 
au von den großen Germanenheeren auf die Vevöfferung und 
die Intenfität der Landwirthicaft Deuticlands gezogen worden. 
Scyon Noicer ?) Hat nachgewiefen, daß eine derartige Schluß: 









%) Die alten Preufien deinen dorfartige Siedehung gehabt zu haben. 
Il. 3. Yohmeger, Geicüchte von Tit- und Weftpreufien. Gotha, INS. &. 3. 
2?) 3.2. Parrot, a. 
3) . Hofer, Anfihten ver Loltswiihihat Leipzig, Pl, 





312 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 





fofgerung falich it, und Lietor Hehn jagt: „Gerade der umgefehrte 
Schluß it richtig: je höher die Yebensform, die ein Volk erreicht 
hat, dejto geringer der Prozentiag, den cs zu friegeriichen Zügen 
verwendet; bei noch unjtäten Wölfen wandert und fümpft jeder 
erwachfene Mann“ !). Die jtarfen Heere bei Yeinrid) von Lettland 
deuten aljo weder auf dichte Vevölferung no auf lebhaften 
Aderbau. Allerdings betont Heinrich mehrfach ?), daß die Dörfer 
und Landihaften Chitlands, bejonders Jerwen und Wierland, 
volfreich waren, und fpricht von der großen Zahl der Tänflinge, 
doc) Haben wir allen Grund anzunehmen, dal; der eifrige Miffionär 
die Zahl der Neophyten zur größeren Ehre Gottes übertrieben 
hat, aud) wenn wir vorausiegen, dal; einzelne Theile von Jerwen 
und Wierland im 13. Jahrhundert dichter bevölfert waren, wie 
das übrige Yivland. 

Die ununterbrodhenen Kriege forgten überdies dafür, baf die 
Bevölferung nicht ammachien fonnte. Wir haben geichen, dafı die 
Nrieger — und jeder erwachiene Mann war ein folder — 
erichlagen wurden, fallo fie lebend in Feindeshand fielen; mr 
felten theilten fie dos Loos der Weiber und Ninder: in die Ger 
fangenfchaft geführt zu werden. Wie gründlid die Blutarbeit 
verrichtet wurde, zeigt der Bericht Heinriche über das Jahr 1215: 
„Die Yetten hatten nicht Ruhe, bis fie deifelbigen Sommers mit 
nem Heericjaaren Ugaunien durch Werwüftung verftört und ver: 
ödet hatten, fo dal fih weder Penfchen nod) Speifevorräthe mehr 
fanden.“ (19, 9. 

Diangelnde Nultweinflüffe böher gefitteter Völker, friedloie 
Lebensart, rauhes Nlima amd fpärliche Bevölferung find die 
Hanptfaftere, welde auf das Wirthichaftsieben der Cingeboren 
bemmend wirkten. 

Die mächtigen Urwälder bildeten im 13. Jahrhundert die 
Signatur der livländiichen Yandichaft. Um den Wald drehte fich 
der ganze Mirthichaftsbetrieb der Eingeborenen. Der Wald war 
ihnen Alles; aus ihm gewannen fie durch Nodung den Ader für 




















Y sultuepilansen 
2 Chran. Luyv. 
Eigen 2.110 j. 


INS. 





6 ro zc Vgl. mh Lörwis, 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Nahrh. 313 


ihr Getreide, die Weide für ihr Vieh; er gab in unerichöpflicher 
Menge fein Holz zur Fewerung !) umd zum Bau der Hütten; jein 
Inneres barg unzühliges Wild, deifen Felle eidung und Tauich 
mittel fieferten; und im alle der Roth boten die „büftern Ver 
itede der Wälder“ die lete umd ficherfte Zuflucht, 

Mitten im Walde ing der Hof oder das aus mehreren Höfen 
bejtchende Darf der Eingeborenen. Die Neder entjtanden in der 
Nähe, wie 0 das augenblidliche Bedlrfnih des Einzelnen gerade 
erforderte. Das gerodete Stü Waldes, der Maldader, gehörte 
feinem Pearbeiter nach dem natürlichen Rechte der erfien Vefit 
ergreifung (jus primi oceupantis), Der Wald felbii, die aroe 




















Nährmntter Aller, war Kiemandes Eigenthum (res nullius), d.h. 
er gehörte jedem, der ihm muyen wollte. 


viel die Quellen uns erfennen laffen, eriftirten feine 
toimmuniftiichen Einrichtungen 2). Abgeiehn von Wald und Waller 
gab «6 fein Gemeineigenthum. Cs jdeint fogar fein gemein 
ihaftliches Eigenthum der Kamilie im Zinne einer Dausfommmmion 
gegeben zu Haben. Wir finden den Talibald und feine Söhne 
auf geiondertem Pefi; auch erwähnt Talibatd jelbit ausdrüdlich 
des Geldes jeiner Söhne’). In Urfunden des 13. Jahrhunderts 
wird nicht felten individuelles Ghrumdeigenthum Eingeborener 
erwähnt’), dagegen niemals anderer Gemeinbeig als an Wald, 
Water und in jpäteren Zeiten an Weide und Mieien. Tai eo 
Gemeinweiden gab, Läht fi dadurdı erklären, dal; urjprünglic, 








yı Chru 
ienorum) im Dorfe Garetben. 

3%. Sjölin in Helfingfors jdein eine Art agrarifcien Kommunismus 
bei den alten Ainnen anzunehmen, doch fagt cr ansdräclich: ein weinde» 
verband wie der grofeufflice Mir beftand niemals. Lat. Meiten, Siedelung 
1 h ir irgend eine joziale Vereinigung, 
Genoffenichaft ud dgl. giebt cs nach Ahlaniit (Multurwörter 
im Finnifchen wicht, blos pitäjt (irchipieh) „heint Die gewine Benenmang 
irgend einer Kommune zu fei 

DR 


9 erwähnt der Haufen Bremuholz (runs 





















5 Ann. 
1. auch Wittbeil, 





tiot. Gef. 1 . 
hereditas-Erbe. Lgl Liv. U. BL. 25 Tai audı die Si 
den ehitnifcyen Dörjern jo hieien, geht deutlich hervor aus Yivl. U. B. I. 475. 





314 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh. 


der Wald jelbjt die Weide bildete". Marfgenofienichaft, Allmend, 
Feldgemeinjchaft mit Klurzwang ober gar mit Verlofung der An: 
theile, furz alle die Formen fommunitifcen Srumbeigenthums, 
icheint es weder bei den lettiichen nod) bei den finnischen Stämmen 
gegeben zu haben ?). 

Die Tednit des Aderbanes war äußert primitiv. Cs 
herrichte ganz allgemein die wilde Vrennwirthidaft, die man als 
eine Art nomadijchen Aderbanes bezeichnen fann. Die Waldbrenn: 
wirthichaft bejteht darin, da an einer belichigen Stelle des Ur 
waldes die Yänme niedergefchlagen und an Ort und Stelle ver- 
brannt werden, wodindh ein freier, Luft umd Ficht zugänglicer 
Pag geichaffen wird, der dann zum Ader gemacht werden fann. 
Der Wald wurde im Sommer geichlagen, im darauffolgenden 
Frühling wurde das Holz verbrannt md der durch die Wiche 
gedüngte Boden oberflächlich aufgerifien und nad) einem Negen 
bejüet. Im Auguit fand die Ernte jtatt, dann blicb das Yand 
den Winter über fiegen, um im Frühling abermals bejäet zu 
werden. Das dauerte folange. bis der Yoden volljtändig erichöpft 
war; alsdann wurde diefer Acer verlafien und eine neue Nodung 
in Angriff genomme Das verlaffene Land, meldes fid, 
allmählich) mit einer Grasnarbe und Gejträud bedeete, diente — 
wie übrigens der ganze Wald - - als Weide, bis cs vielleicht 
wieder einmal durd Rodung in Feld verwandelt wınde. An eine 
Negelmäßigfeit der Aubung haben wir beim Ueberflujle jung: 
fräntichen Bodens nicht zu denfen. 

Eine Abart diefer einfachjten und natürlichjten Brennfultur, 
welche im europäichen Norden jedenfalls die ältejte Wiethode des 
derbaues daritellt, war das jog. Schwenden der finniichen Völfer. 


























1) Ueber die Ausbildung der Eigenthums- u 
geborenen unter deutfcher Herrichaft wird an anderer 
werben. 

>) 8. Samprecht (Deutfche Firteratur + Zeitung. IND2. Nr. 6) feht bei 
den Eingeborenen Alt-Livlands fommuniftifce Einrichtungen voraus. Cb bios 
nad) Anologiefchlüffen oder auf Grund mir unbefanmer hüteriider Tuelten, 
weiß ich nicht. 

>) 2gl. W. Kocher, Nationalöfonomit des Aderbaus. Stuttgart, 1885. 
&. 80 f. Weiten, Siodclung I. &. 60. 


Vefitverhäftnifie der Ein: 
le ausführlich gehandelt 














Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahrh. 315 


Diefe ebenfalls nralte Diethode der Brenmwirthichaft beiteht darin, 
dah; das niebergeichlagene Waldholz, befonders da Straudwert, 
in regelmäßigen Haufen über die Holzungsfläche verbreitet, mit 
Erde oder noch beifer mit Nafen belent und dan angezündet 
wird. Die verbrannte Gaasnarbe macht die Ajchendüngung nocd 
intenfiver, jo dah es möglid) wird, bis 4 Ernten nacheinander zu 
erzielen. Allerdings verwandelt fi der feiner Srasnarbe beraubte 
Boden noch langjamer in Wuichland oder gar Wald als der 
gewöhnliche Rodungsader. Da aber die Waldäder Mein waren 
und fi) daher jdmell befanıten, jo fonnte aus ihnen in 20 bis 
30 Jahren immerhin wieder Wald werben). 

Die rohe ertenfive Brennfultur hat fi in Yivfand bis in 
unjer Jahrhundert erhalten. Zie mul bei den Eingeborenen das 
ganze Mittelalter Hindurd bis in die Neuzeit üblich gewejen fein, 
denn viele Schriftiteller des 17. Jahrhunderts, wie Einhorn, Kelch, 
Dlearins, Gubert ımd Hermann?) preden von ihr, ebenlo die 
öfonomifcen Schriftiteller des 18. Jahrhunderts 9: Hupel, Friebe, 
Füicher, und nod) in unferem Jahrhundert veranfaftte diefer Naubban 
lebhafte Klagen *). Schluß folgt.) 











1) Meiten, Siedehung. II. S. 132. Ahlai 
und 264. Die alte finnüce Vegeihmung für den April it Suhwandmonat 
Ebendaf. 3. 259. €. ©. Geiger, Gefchichte Sapwedens. I. Hamburg 1832. 2.191. 

>. Einhorn. Hiftoria leticn x. (IM) Cap. 10. Seript. n 
Livon. IL A818. G. Neid, Liefländiiche Hiftoria 1. Hevall 1095. &. 7. 
Adam Tlearüi ausführliche Veichreibung der - Meile nach Mustan ıc. Schleswig 
1663. 32. 101,105, 156. Salumonis Guherti Stra oniieuam x 
Kiga 1688 43. Aufl.) S 101 j. Joh. Hermann von Neidenburgs Yejflindiicher 
Landmann. Niga 169. ©. 14 f. 17. 
9X. W. Hupel, Öfonomifches Handbuch. Kiga 1796 1. SE. 1 j 
38. v. Filher, Yiol. Yandwirthiciftsbud. Halle 17. =. 4. W. 
ner — Lerbefierung der Yandwirahigaft in Yivs 
































fand. Riga 1802. IV . 

9 v. Sievers, „die Bufcpländer in Yioland durch Feuer verheert.” Yin. 
Jafırb. d. Yandwirıhichaft Bo. VIIT 3, fl Upl. (N. v. Huch) Ta 
fteitung der Tandwichidaitt. I, io» und Gurland. 1545 
&. 77 ji. Yöwis, Eigen. SE. 113 5. BL. 























Bolitiihe Norreipondenz. 





Sejtatten Sie mir heute einmal, von den großen Ange 
tegenheiten der Ztanten und Völker auf das Gebiet perfönlichen 
Intevefjes abzuichwenfen. ch darf bei \hren Yefern gewiß warme 
Theitnahme für den Verluft vorausfegen, welchen jeder Deutiche 
in und auferhalb Dentichlands durd den Tod Heinrichs von 
Treitfchfe erlitten hat. Und genau genommen, wäre fein Er: 
eignif in Verlin, in Deutihland, aus der jüngiten Zeit zu ver: 
zeichnen, welches von jo eminent politiiier Bedeutung wäre, als 
diejer Todesfall. Welder Deutiche Fennt den Namen, die Werfe 
tichke'o nicht! Aber nicht jedem ift es aleidh Mar, wie groß 
der Einfluh diefes Viannes auf unfer Volf war; erit der Tod 
wird Vielen feinen Werth für Denken und Fühlen der Menge, 
für das ganze nationale Leben zum Bewuhtjein gebracht haben. 
Denn wenn feine ichriftitelleriichen Werfe in weiten reifen mit 
ihrem von Patriotismus geläuterten Stoff wirften, jo vermag 
Niemand des reinen Feuers zu vergejfen, das ihn einmal von der 
Hand Treitjchtes jei 09 im Hörfaal, fei cs bei gelegentlichen 
Neftreden, oder aud im privatem Verkehr vorangeleuchtet Hat. 
Andere mönen feine Schriften beurtheilen; für mid) jland der 
Denich höher als feine Schriften, und je länger je mehr empfinde 
ih) die Yücke, weldhe mir perfönlich dort Hafft, wo ich feit nunmehr 
etwa zwanzig Jahre gewohnt war, ihn zu jehen. 

Tas Donnerstag Nränzchen!  Einft unter Führung von 
Julian Schmidt, dem Yitterarbiftorifer, in der Potsdamer Strahe 
bei Schulz, ein Stelldichein von etwa 20 Männern verichiedenen 
Varufs, meift Gelehrten, Nünjtlern, Beamten, aber and Offizieren, 
Jonrnalijten, Abgeordneten, oft bejucht von Pr ven und 
Nünjtlern von auswärts, eine zwangloje Geiellichaft, die fi Abends 
































Politische Korreipondenz. 317 


an jedem Donnerstag, zwiihen 9 umd 12 oder 1 zufammenfand. 
Welche bunte Mannigfaltigfeit! ben der feine wortfarge, bibige, 
derbe, frz entjcheidende, treue, biedere, Srog trinfende, fnorrig 
torannifche „Julian“ mit den großen Brillengläfern und dem 
wie eine Perrüde den Kopf umgebenden Haar; daneben der 
alatte Berliner Hermann Grimm; bejien Bruder Nudolf; der 
ichneidige Vürgermeifter und fpätere Viinifter Hobreht und fein 
Bruder, der Baurath; Meigen, der Nationalötonom; Tiedemann, 
der Zefretär Bismar!'s; G. Schmoller, 3. Hehn, Brunner, der 
Germanit, MWehrenpfennig, N. Nösler, Mar Weber, Zünmer 
mann, Treitichfe; der Dichter Heinrich Nrufe, von Guny, ber 
Stantsredhtler, gelegentlich auch der Maler Dengel, B. Auerbach, 
g. Pietid), furz, eine Neihe von Männern von lang, die wieder 
andere Hinbrachten, Abgeoronete, meilt nationalliberale, etwas 
antifemitifch angehaucht, auswärtige Profeffore während der Ferien. 
Rad Schmidts Tode jehmolz der reis jtark zujammen. Demm 
jo anziehend die mun führende Perjönlichfeit Treitichte's war, jo 
fehlte die jammelnde, bewuhte, leitende Hand Sı midt“ 's, und io 
fand man jeit Jahren wenige Nejte von dem früheren Nreiie 
draußen im Albrechtshof am Kanal. Aber jobald um Ysıı Uhr 
Abends fi die Ihür öffnete und Treitichte's hohe, volle Gejtalt 
mit einem freundlichen Lächeln und warın tönenden „guten Abend“ 
beseintrat, beiunfte es nicht neuer Säfte mehr. Die fonnige 
Heiterkeit, der imerichöpflihe Quell der Erzählung, der Zauber 
diejes Mannes war uns Allen genug um Stunden bei Wein oder 
Vier zu plaudern, bis der Wirth die Yausthür den legten Gäjten 
aufichliefen muhte. Wie Viele ihrer da feit zwanzig Jahren 
verfehrt haben 8 war Neiner, der an Treitichte — für mein 
Empfinden — heranreichte. Plaudern! Ja, das fonnte man 
dod) im eigentlichen Sinne nidyt mit Treitichke, denn im fechiten 
Lebensjahre hatte er alo Folge eines Scharlady's das Gehör ver- 
toren, und jobald er an den Tiidy hertrat, framte er vor Allem 
aus mehren Tajchen Blocdpapier und Vleiftifte heraus, die raid) 
fi) über den Tiih hin vertheilten: wer ihm mas jagen wollte, 
frieb hajtig einige Zeilen, ihob fie iym hin, er warf einen Blic 
drauf, und dann nicte er mit einem langen „Ah” dem Schreiber 
zu, oder antwortete lebhaft, oder brad) in lautes, herzlides Kachen 





















318 Politiihe Norreipondenz. 


aus, oder die Jaujt dröhnte auf den Tiid) und day erflang ein 
Kraftwort, wie „Diefe verftuchten Bierphilifter, die fenne ih) von 
‚Heidelberg her“ u. 1. m. Die ganze Mraft des Mannes, und 
die ganze Tiefe und Zartheit dieles Gemüthe und die ganze 
fonnige Heiterfeit diejer Seele und die ganze fryftallreine Schönheit 
diefes Herzens das Hang Icbem aus jedem Mort, jedem 
Lachen Treitichtes entgegen. Welde Fülle des Willens, und 
dod) wie fern allem Dünfel, aller Zalbung, aller prunfenden 
Lehrhaftigkeit! Welder Schag angeborener Größe ud anerar- 
beiteter Erfahrung! Welche Fülle des Wohlwollens und welcher 
Gruft der Yeidenichaft für das Schöne wie gegen das Hähliche! 
Wie unnahbar war ihm das den Tauben jo leicht bejchleihende 
Vißtrauen! Wie feuchtete aus ihm die Wahrhaftigkeit! Wie 
fpürte man immer und in Allem den Mann, edel, hilfreich und 
aut! Wie unverwüftlid der Humor, ein teter Quell ergöglicher 
Sefchichten aus Vergangenheit nnd Gegenwart, ein dantbarer 
Hörer und Lader für den Erzähler. Treitjchle hat fange geglaubt, 
zum Dichter berufen zu fein, er hat eine Eammlung von Ge: 
dichten herausgegeben und erjt als reifer Mann und unter dem 
Sturm der umwälzenden Politif Bismards fid) der Gejchichte 
ganz zugewandt. Er war fein fritiid”zerfegender Geijt; meta- 
phnfüichen Haarjpaltereien hat er ic) ficher nie gern hingegeben. 
Er war vor Allem ein fchaffender GSeift, darum  verneinte er 
ungern und bewunderte er gern, darum ift jein Geidjichtwert 
fo veal bauend, jo perjönlich darjtellend, und aud) jo leicht und 
jtürmifch über Fehler und Zweifel Hinwegblidend. Er war Port 
und wäre er co nicht gewejen, jo wäre er nicht der iächtig 
wirfende Hitorifer geworden, deiien Schriften erheben durd) die 
Kraft der Darftellung, deifen Nede aber fortrii in der Wucht des 
nationalen, des filtlichen Empfindens. 

Er fchrieb, wie er oft tagte, fer, mit Anjtrengung, aber 
das lebendige Wort floh ihm leicht von den Lippen, und padte 
darum mehr als die Schrift, ob es num in ben bichtgefüllten 
ilen der Univerfität oder an fröhlider Tafel in humorvollem 
jermon erflang. Und dabei welche Veicheidenheit, welche ein 
fache Natürlichteit! Vor Jahren jah id an einem der Donnerjtage 
einmal B. Auerbad) gegenüber, der ohne viel zu reden id) ‚damit 





















Politische Norreipondenz. 319 


beichäftigte, auf Papierfegen immer wieder etwas hinzufrißeln ; 
endlich fragte fein Nachbar ihn: „Auerbad, was jchreiben Cie 
da?" — „Ich fchreibe Autographen“ (richtiger wäre wohl Auto: 
gramme geweien) — „wollen Sie eins haben?“ mud jdob ihm 
einen der Zettel Hin. Das it das Gegenjtüc zu Treitichfe, wie: 
wohl die Eitelfeit Auerbad;s zu oberfläclidnaiv war um mehr 
als ein Yächeln hervorzurufen, um feine herzlih-gutmüthige Natur 
zu verderben. Von folhem Wahne aber Mlebte an Treitichte aud) 
nicht der geringite Tropfen. Bei gefunden Selbitbenußtfein feine 
Spur von Eitelfeit; umd was das beoentet, wuhte Wismard als 
er meinte, man müfje, wenn man den Werth eines Wlannes 
wiffen wolle, alle guten Eigenihaften jummiren und die Summe 
gegen feine Eitelfeit abwägen: was dann nachbleibe, das fei jein 
realer Werth. Bei Treiticfe wäre faum etwas von der Tugend- 
funme abzuziehen gewejen. Er hatte nichts Meinliches an nod) 
in fd, weder jene bemumderungsfücjtige Citelfeit, noch felbjt die 
tleinen Bewegungen des Körpers; er dachte, fühlte groß, er be 
wegte fich, trug fi in großen und einfaden Formen. — Treitichfe 
war bei derber, guter Einnlichfeit ein froher Zecher, ein enicher 
ohne jeden Schein noch Zimperei, ein ftets veger Beobachter, ein 
Haller des leeren Zwanges, der Heuchefei, jeder Art von Muderei; 
zugleid) aber ein Mann von tiefer Neligion, ein Ndealift in allen 
Dingen, ja mehr nod,, ein Schwärmer. Aber feine Schwärmerei 
war mie auf eitle Dinge, ftets auf Grofies und Schönes md 
Edles gerichtet, und wo er in jeinem MWirfen irrte aus diejen 
Trange der Leidenschaft, da irrte er in dem Wege zum Guten, 
nicht in dem Guten jelbft. Er war das Gegentheil von einem 
Dofteinär und Hat deshalb feine Meinung oft geändert — ein 
Nuhm, der ihm vor nur zu vielen großen Namen unjerer Zeit 
auszeichnet, und der eben mr dem blüht, dem cs möglich iit, die 
Eitelfeit des einmal gefälten Urtheils dem Sctbftbefenntniß der 
geläuterten Einficht zu opfern. Sein Jdealismus, fein flürmender, 
ruhig und fcarf zeraliedernder Beurteilung nicht sehr geneigter 
Geift waren nicht immer dem praftichen Urtheil günftig. Co 
3. B. wenn auf Engländer und engliche Yolitif die Nede fanı. 
Heringsfrämer, Heuchler, und wie er fie nannte — jtets war && 
der unideale, auf Geldgeichäfte zielende Sinn, den er in der 











Politiiche Korrefponden;- 





engliichen Politif mit zormig-laenden Worten traf; und in 
diefem gerechten Zorn achtete er oft nicht derjenigen Cigenfchajten 
der Engländer, welhe dieies Volt jo gro gemacht Haben und es 
auch) Heute vor Andern auszeichnen. Pit weld jugendlicher Yicbe 
und Verehrung hing er anderjeits an Deutichland, an den Dohen- 
zollern, vor Allen an Wilhelm dem Alten; mit welcher Begeifterung 
an den großen Männern von 1870, an biefen Zeiten und Vor 
gängen! Aus einem alten fächiüichen Soldatengeichlecht entiproiien 
und als Rind für den Nriegsdienft bejtimmt, Iebte die Soldaten 
natur bis zulegt in ihm. Mit Begeijterung fprach er von ber 
Verrlichfeit des Nrieges, er Telbjt durchglüht von den edlen und 
erhebenden Yeidenichaften des Nampfeo, der Schlachten, des Helden: 
ums, der Aufopferung für eine große und edle Sache, unfühig 
der feinen, jentimentalen Friedensfeligfeit unterer Tage, welche 
im Nriege nur immer den Verhuft an Gut und Blut nach Pfennig 
und (Gramm genau zu berechnen weiß. Darum it Niemand da, 
der ihm erfegen Fönnte in dem ftürmiichen Schwunge, mit dem er 
die Jugend zu Selbitlofügleit, Dingebung, Gröhe binriß, in dem 
veredelnden Einfluf, mit dem er Taujende emporhob aus bem 
Tagesjiaube. Um die Summe zu ziehen: ich bin nicht von denen, 
die leicht oder gern die Fehler bei Anderen überjchen oder ver 
dedten; ich weiß; aber nichts, was ich bei Treitichfe hätte miljen 
oder zulegen mögen. Und das ijt mehr al ich von einem andern 
Danne jagen Fönnte, 
„Er war ein Dann, nehmt Wlles mur in Allen, 
I werde nimmer jeines Gleichen jehn.“*) 

















Wenn id) heute nod) einige Zeilen der qroßien Politif glaube 
widmen zu dürfen, fo wünfche id) das Bild feitzubalten, weldes 
in ungewöhnlidem Viaahe einheitlid geichloiien die gefammten 
Beziehungen der europätichen Mächte in diefem Augenblid wieber: 
giebt. Die Nrönmgsfeier zu Mosfau mit ihrem Prunf amüfirt, 
intereffirt Viele; es it wohl das großartigite Feit, welches jemals 





"1 Dieier Tage wird ein Mufruf zu Sammlungen für ein Denkmal 
itichte'S ergeben. 





Politiiche Norreipondenz. 321 





in der Melt gefeiert wurde. Denn war in Wien zur Zeit des 
grojen Kongreiies aud) die gefammte politiihe Macht Curopa’s 
in feinen Fürften verfammelt, jo hat man doch nie eine joldhe 
Menge von huldigenden Vertretern fremder Völter des Erdenrundes 
beifammen geliehen, als im heutigen Mootau. Aber nicht das 
üt 08, mas meine Gedanfen nad Moskau fliegen Kieß, nicht in 
der Aurcole des äußern Scheines liegt die heutige Bedeutung 
Nuflands, jondern in der at dentlichen Konzentration großen 
Ginffufies auf die gegenwärtig wichtigiten Fragen der europälicen 
und außerenvopäifchen Politit. Das Vewußtfein hievon drüdt id) 
allenthalben in der Meinung aus, dab die Entwidelung der poli- 
tijchen Beziehungen heute jüille jtehe, weil man in Moskau mit 
der Krönung bejchäftigt jei, umd dal nad) der Krönung eine neue 
Aera beginnen, oder wenigitens wieder Leben in die erjtarrte 
politifche Welt fommen werde, Man hat da jo unrecht nicht. 
Von dem Willen Nuflands hängt e3 ab, ob irgend ein Staat 
weiter in Frieden leben oder in den Namıpj um bie wichtigften 
Interefien geftürzt werden joll. Ein Wink genügt, um die 
Franzofen gegen Deutjhland zu entfejleln. Gin fräftiger Griff 
in Cftafien wirft dort Chinefen, Japaner, Engländer durcheinander; 
ein fedeo Vorgehen in Periien entfacht einen englifch:ruflichen 
a die armenifchen Gräuel Tönnen jdhnell und ficher nur durcd) 
tuifiicheo Eingreifen beendet werden; eine rufiiche Flotte braucht 
in aller Stille fi vor stonftantinopel zu legen, und die 
Türtei fliegt, fobald die bulgariich-ierbiichen Vinen angezündet 
werden, in die Luft, Byzanz wird ruifich; an zehn Punkten fann 
Tefterreih von Nufland verwundet werden, ohne dai; «s Ti, 
wirtfam auf friedlichen Wege dagegen chügen Tann; in Aegypten 
wartet man auf das ruliiche Nommando um gegen England vor: 
zugehen. Dieje Fragen find der Hauptinhalt der Politif im heutigen 
Europa, und jie Fönnen alle durd Nuland zur Enticheidung 
gebracht werden, aud wenn andere Mächte « nicht dazu 
wollten kommen lajien. Niemals jeit Napoleon 1. ijt eine folde 
Dienge politischer Interefien, politiichen Stoffes in einer Hand 
vereinigt geweien. Umd co giebt darunter Interefien, welde zu 
einer Enticheidung drängen. In früheren Norreipondenzen habe id) 
darauf hingewiefen, dab nachdem Auhland in jo feite Verbindung 



































322 Politiiche Rorveipondenz. 


mit der Pforte gelreten it, die Mirfung davon jid bald in 
Agppten werde jpüren laffen, und ba; die meilten färmenben 
Nımdgebungen, die England zu Haule und auerhalb, in Europa, 
Afrifa, Afien veranflaltet, nur oder großen Theils dazu dienen, 
mm jeine Furcht vor einer Nataftraphe in Aegypten zu verdeden; 
daf; endlich der Feldzug in Dongola dazu dienen werde, die Streit: 
fräfte in Aegypten zu verftärten. Das trifft nun ein, man fann 
in Paris die Veendigung der Nrönungsfeite faum erwarten in der 
Ungeduld, die ägyptiihe Szene zu öffnen: indiihe Negimenter 
werden nad) Zuafim geworfen, die Dort frei werdenden 
Truppen an den NE vorgefchoben, und in Paris wird das mit 
Vergnügen auf die große Nehnung geiekt, die, wie man hofft, 
vedht bald den Engländern wird präfentirt werden. Dieie Aus: 
fichten wirken wieder zurütt auf dao Verhalten zu Deutichland 
und erleichtern co dem neuen Minifterium gemähigter Männer, 
die Veziehungen zu Berlin nicht von ber jteten Nüchicht auf 
galliichen Chauviniomus md Nevanchelujt trüben zu Iniien. 
Diefes hat eine erhebliche Veruhigung der Gemüther diesfeits 
und jenfeits des Wasgau's zur Folge, Nimmt man hinzu, dal; 
Malien mit überrafhendem Glüd und wohl aud) Gejchid zu der 
Ausficht gelangt üt, ans dem leidigen Sumpf des Krieges in 
Abeiignien berauszufommen, und da; co ihm ebenjo glüclich 
gelungen it, feine Finanzen in Ordnung zu halten, fogar zu 
befjern, jo verjteht man die Veruhigung auch auf jener Seite der 
Alpen und die Stille, welde im Ganzen in Europa jegt bericht. 
Freilich darf man fi darüber nicht täuihen, dal dieie Stille 
weniger durd) allgemeine Befriedigung der Wünche, als durd, die 
Erwartung diefer Befriedigung herbeigeführt wird. Co fit die 
Spannung, mit der man, der Ruhe des Maffenjtillitandes fd) 
bingebend, der Eröffnung entjceidender Kämpfe entgegenficht. 
Und für diefe Zukunft bahnen fi) Wandlungen in den Beziehungen 
der Mächte an, die vielleicht dauernd die alten inatlichen Kombis 
nationen verändern werden. 


Verlin, den 25. Mai 1896. E.v.d. B, 


2 



































zeitgeift und Bolfögeiit 
in der naturalifiihen Pihtung. 


Das naturalijtiihe Wahrheitspringip, das von je her mit 
dem ibealifliichen Schönheitsprinzip um die Herrichaft über bie 
Dicytung gekämpft Hat, ift in diefem Nampfe niemals jo fiegreich 
gewefen, wie in unferer Gegenwart. Hat aud) die litterariiche 
Partei, die den Naturalismus im engiten und ftrengiten Wortfinne 
vertritt, den Höhepunkt ihrer Macht und ihres Anfehens bereits 
überjchritten, jo dauert ihr Einfluf dod) immer noc) fort und zeigt 
fich namentlid) darin, dajs jelbjt die vorwiegend idealiftiihe Dichtung 
der Gegenwart mehr als die irgend einer früheren Seit mit 
naturaliftiichen Vejtandttheilen Durchiegt ift. Ohne Zweifel gewinnt 
baburd) der dichteriiche Naturaliomus eine Fennzeichnende Bebentung 
für den gegenwärtig herricenden Zeitgeiit. 

Nun find aber die Träger der geiftigen Eigenthümlichfeiten, 
die wir unter dem Worte „Zeitg sufammenfajlen, nicht bloß 
menfehliche Einzelwejen, die durd) irgend eine Art geiftiger Ueber: 
fegeneit ihre Zeitgenoffen beherrichen, fondern in noch) höherem 
Grade menichlihhe Gefammtheiten, namentlic) tonangebende Völker, 
bie in Vezug auf irgend einen Nulturzweig oder aud) auf ı 
zugleich die Führung und Vertretung der gefammten zeitgen 
Kulturwelt übernehmen. Das gilt von der Kunjt faum weniger, 
als von der Nleidermode, und nicht am wenigften von der Dichtung. 

So hat im Zeitalter des modernen Klajfizismus das fran- 
zöfiiche Volt für die gelammte Aumjtbichtung Europas den Ton 

1 











324 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 


angegeben, während im darauf folgenden Zeitalter der Neuromantif 
das beutiche Volt den übrigen Litteraturvöffern tonangebenb voran: 
ging. Wie verhält es fi) num mit unferer Gegenwart? Welches 
Volt Hätte darauf Anfprud, in Bezug auf den Naturalismus, der 
die ihr eigenthfimlice Dichtung tennzeichnet, als tomangebend zu 
gelten? 

Befanntlicd ift diefe Rumftrihtung bei den verjchiedenjten 
Völkern fait gleichzeitig zu Tage getreten und hat bei mehr als 
einem von ihnen fo hervorragende und einflufreiche, zugleich aber 
auch fo eigenartige Vertreter gefunden, dah die Entfcheibung 
darüber unmöglic, ericheint, welches diejer Völker den andern 
gegenüber die Führerrolfe fpielt. An eheiten nad) haben die 
Franzojen Anfpruch auf die Ehre, wenigitens im zeitlihen Sinne 
des Wortes an der Spige der modernen Naturnliften zu jtehn, 
denn auf franzöfifchem Boden find fchon im Zeitalter der Neu: 
romantif eingelne Schriftiteller aufgetreten, die neben entichieden 
vomantiichen Zügen fdon eben jo entidieben naturatiftiidhe auf: 
weifen, und von Diejen hat namentlich Yalzac einen weit über 
fein Yatertand Hinausgehenden Einfluß; auf die Folgezeit ausgeübt. 

Aber der Naturalismus diejer Folgezeit untericheidet fich 
von dem aller früheren Zeiten nicht blof dur, eine viel weitere 
Verbreitung, jondern and) durch eine viel rücjichtstofere Folge: 
tichtigeit in der Anwendung feines Nunftprinjips, und zu den 
entichiedenjten Vertretern diefes rücjichtslofen Naturalismus gehören 
and Angehörige joldher Völker, die alo Gefanmtheit von je her 
eben fo enticiedene Vertreter eines idealiftiihen Nunjtprinzips 
gewefen find. 

Sollte der Nationalgeihmad diefer Völter jo veränderlich 
fein, daß er im Stande wäre, einer modifhen Nunftrichtung zu 
Liebe feine ganze Vergangenheit zu verleugnen? Ober jteht ber 
Privatgeichmad der einzelnen Vertreter diefer modiihen Runjt 
richtung in einem ausgefprochenen Gegeniag zum Nationalgeihmad 
ihrer Völker? In feinem diefer beiden Fälle hätte der nationale 
Gejammtgeift irgend eines Volkes darauf Anipruch, alo Veherricher 
und Vertreter bes weientlich natwraliftiichen Zeitgeiftes der gegen: 
wärligen Litteraturperiobe in bemjelben Sinne zu gelten, in welchem 
der franzöfifche Wolkögeift während der nentlaffijchen und der 











Zeit: u. Volfsgeiit in der naturaliftifchen Dichtung. 


beutiche während der neuromantiichen Litteraturperiode den Geiit 
der Zeit beherrichte und vertrat. 

Wird aber der Geift unferer Zeit, fofern er in der Dichtung 
Sich offenbart, nur dur) die Einzelgeifter der naturaliftiichen Dichter 
aus verjdiedenen Völkern vertreten, wie läht fich dann die Ueber: 
einftinmung zwifhen ihnen in Vezug auf die allen gemeinfame 
Runftrichtung erblicen? Das überall gleihmähig gefühlte Bedürfnih 
nad) einer Neaftion gegen die Ausfchweifungen der Neuromantit 
wäre nod) fein ausreichender Erflärungsgrund für diefe Ueber: 
einftimmung, da eine folde Reaktion jehr mannigfaltig gedacht 
werben fann. Eben fo gut wie zum Naturalismus hätte fie die 
Franzofen zum Naffizismus zurüd, die Deutfcen zu einer neuen, 
geläuterten Art von Nomantif vorwärts führen fönnen. Warum 
führte fie nun die Dichtung beider Völker, den nationalen Ueber- 
lieferungen beider zum Trog, gerade der Nunftrichtung zu, die 
der Haffiichen wie der romantiichen gleich entichieden widerfpricht? 
Hierauf fäht fi Folgendes antworten: Der Zeitgeihmad, d. b. 
der Zeitgeift, jo weit er auf äfthetischem Gebiete zu Tage tritt, 
wird nicht nur durd) ben Nationalgeichmad tonangebender Völter 
in feiner Eigenart bejtimmt, fondern zugleich durch die Gefammt 
fultue der Zeit, da alle Nulturzweige unter einander im Verhältnii) 
der Wecjlevirfung jtehn. Ja der Gefammtkultur der Gegenwart 
aber fpielen Wiffenfhaft md Gewerbe, die in vafhem und jtetigem 
Fortihreiten begriffen find, eine viel maßgebendere Rolle, als die 
ichöne Kunjt, die ihrem Wefen nad nur langjam und fprungweile 
fortzuichreiten vermag, jofern die zeitlichen Veränderungen, die mit 
ihr vorgehn, als wirflide und nicht als blos iheinbare Fortichritte 
gelten fönnen. Demgemäh hat dev Zeitgeichmad einer Wandlung 
unterliegen mühjen, die dem innerften Wejen der fchönen Stunjt 
weniger gerecht wird, als denjenigen ihrer Seiten, die ihr mit 
der Wilfenichaft und dem Gewerbe gemeinfam find. In der 
That fäht der dichteriihe Naturalismus nicht nur dem Wahrheits- 
prinzip, das die tunjt mit der Wilenihaft teilt, jondern and) 
der fünftleriichen Tednit, d.h. dem Handwerfomähigen an der 
Nunft, eine größere Würdigung zu Theil werden, ale dem 
Künftlerifchen im engften und eigentlihjiten Sinne des Worts, 
d. H. der Ichöpferifchen Thätigkeit der Phantafi 











je 





326 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung. 

So richtig aber das alles ill, — cs bleibt dabei immer 
noch unerflärt, warum der moderne Naturalismus im Gegenjab 
zu dem aller früheren Zeiten jo weit geht, geradezu das Hählidhe 
vor dem Schönen zu bevorzugen, und zwar in ber Wahl feiner 
Stoffe eben jo gut, wie in deren Behandlung. Weder im Wejen 
der Wilfenfhaft, noch in dem des Gewerbes läht fihh etwas ent: 
deden, mas zu einer folhen Bevorzugung des Hählichen in der 
‚„Ihönen“ Kunft verführen Fönnte. Sollte fie auf einer bloßen 
füntleriichen Willfür der modernen Naturalijten beruhen, d. h. eine 
übermüthige Sefchmadslanne fein, wie fie hier und da fchon bei 
einzelnen Neuromantifern, namentlich jranzöftihen, in allerlei 
fragenhajten Gejtaltungen fich gefiel? 

In diefem Falle wäre jeder weitere Verfuch, den modernen 
Naturalismus piycologiich zu erklären, völlig ausfichtsles; denn 
die reine Willfir fäht fih eben fo wenig piycologiichen Gejegen 
unterordnen, wie den Gejeen des Staats. 

Oft aber ift das, was uns als bloie Willfür ericheint, nur 
ein Gejegmäßigfeit, bie als folde von uns ned) nicht erfannt worden 
üt, und bei näherer Betradytung dürfte eo jid) erweifen, daß aud) 
an den Ausicweifungen des modernen Naturalismus das freie 
Belieben der einzelnen naturaliftiichen Dichter wenigitens nicht allein 
bie Schuld trägt, fondern zum Teil auch die zwingende Gewalt 
äußerer Umftände, wie fie den gelammten Gang ber Fulturgeichichtlichen 
Entwidelung — bald hemmend, bald fördernd beeinfluffen. 

Um das zu veranfhaulichen, mag der Hinblid auf den 
normalen Entwidelungsgang eines Nufturzweigs dienen, ber mit 
der jhönen Numft zwar wenig, aber doch das gemein hat, worauf 
es hier anfommt. 

Wenn auf jungfräufichem Voden Aderbauer fich anfiedeln, 
dann nehmen fie den danfbarjien Theil diejes Bodens zuerft in 
Angriff. Exit fpäter, jobald die Zunahme der Bevölkerung und 
ihrer Behürfniffe fie dazu nöthigt, wird aud) das weniger Danfbare 
Aderland bearbeitet; dann aber dringt der Vodenanbau immer 
weiter und weiter vor, bio er in irgend einer Wüjte feine natürliche 
Grenze erreicht. 

Einen ähnlichen Entwidehungsgang, wie die Kultur des 
Bodens, nehmen and die übrigen Glieder des Nulturganzen, 








Zeit: u. Voltsgeiit in der naturafiftiichen Dichtung. 327 


Selbjt die jhöne Kunft — die Blüthe der Geiftesfultur — zeint 
hierin ihren Zufammenhang mit dem Aderban — der Wirzel 
aller Kultur überhaupt. 

Je weiter wir die Entwicelung der Nunft in dev Nichtung 
nad) ihren Uriprüngen Hin verfolgen, um jo danfbarer erweilen 
fi uns trog aller Schwankungen des Zeitgeihmads — die 
von ihr bearbeiteten Stoffgebiete, d. h. um jo weniger widerftreben 
dieje der fünftleriichen Vearbeitung im engiten umd Höchiten Sinne 
des MWorts: der fünftlerichen Jdealifirung. 

Ganz beionders deutlich zeigt fih uns das in der Gefdjichte 
der Dichtung, die als die zugleich uriprünglichite und entwidelungs 
fäbigfte aller jhönen Künfte für deren Gejammtentwidelung am 
meiften impiiche Bedeutung hat. 

Aus der identen Wunderwelt der ältejten Volföpoefie, deren 
Helden Götter und Halbgötter find, fteigt die Dichtung der europäilchen 
Völfer überall auf weientlich gleiche Weile in die weniger ideale, 
aber immer noch) vornehme und feiertägliche Welt herab, der nicht 
nur die Höfen Dichter des Alterthums, des Wittelalters md 
der Nenaiffanee, jondern ad) die Haffüihen und remantiü—hen Kunit 
dichter der Neugeit ihre Stoffe entnahmen, —- dann aus diejer in 
die bürgerliche Alltagswelt, die erit lange um ihr Dafeinsredht im 
Neiche der Tihtung fämpfen muß, ehe fie in der nadroman- 
türen Zeit -- zu vorwiegender Geltung in ihr gelangt. Zeit 
diefer Zeit aber, d. d. etwa jeit den dreifiiger Jahren unjeres 
Jahrhunderts, fucht die europätiche SKunftdichtung in fortwährend 
jteigendem Mahe flat des Tüchtigen und Gefunden, das fie 
anfangs aud) in diefer Stofjwelt aufzufinden weil, lieber das 
Schwächliche und Nrankhafte, das Niedrige und Rohe aus ihr her: 
vor, bis fie in der Welt des profetariichen Elends und des gemeinen 
Verbreherthums bei einem Stofigebiet anlangt, wie es dichteriich 
undanfbarer wohl faum gedacht werden fann. 

Diefer Entwidelungsgang der Dichtkunft läht fih aus den- 
jelden Urfadhen erklären, wie der entiprechende des Aderbaus. Die 
fortwährend wachienden und wechfefnden Vebürfnifie des Menichen 
möthigen biefen zu immer wieder erneuten erfucen, bisher 
unbeachtete, weil als undanfbar geltende Stofigebiete zu ihrer 























328 Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 


Befriedigung zu verwertben, und zwar der äfthetüichen Bedürfnifie 
eben fo gut wie der leiblichen. 

II ein derartiger Entwidelungsgang als ein Fortichritt zum 
Befleren zu betrachten? je Frage darf man nicht vorichnell 
verneinen; denn an dem Werthe von Kulturerzeugniffen jeder Art 
bat die menfchliche Arbeit feinen geringeren, an dem Werthe von 
Kumftwerfen fogar einen unvergleichlich viel höheren Antheit, als 
der naturgegebene Nohitoft, - und gerade die zunehmende Undanf- 
barkeit der noch umbearbeiteten Nohitoffe bildet einen Hanptanreiz 
für die menfehliche Kulturarbeit, ihre Leiftungsfähigteit fortwährend 
zu fteigern, nm den fich fortwährend exhöhenden Schwierigfeiten 
gewachfen zu bleiben. In Folge defien wird die Grenze des Ader- 
fandes immer weiter in Urwald und Steppe vorgeichoben, md e6 
tät füch nicht abfehn, 06 nicht einmal and Sand: und Stein- 
wühten gezwungen fein werden, bem Herrn der Erde ihren Tribut 
zu entrichten. 

Sollte auf dem Gebiete der Kunft nicht etwas Achnliches 
der Fall jein? —— Sollte die fortwährende Verfchlechterung des 
Nosftofjs nicht in der Dichtung eben fo gut, wie im Aderbau, 
eine fortwährende Verbeiferung der Arbeit im Gefolge haben? 

In der That ift dies bis zu einem gewiien Grade der Fall. 
Die dichteriche Technit ann fich einer fait eben fo tetigen Fort 
entwictelung rühmen, wie die Tednit des Aterbaus, und nur 
dadunch ift es der Dichtfunft möglich geworden, immer weitere und 
weitere Stoffgebiete für fich zu erobern. 

Wenn es nun dem Dichter gelänge, die von Natur abflohenden 
Gegenftände, die der moderne Naturalismus bevorzugt, durch feine 
Arbeit jo weit umzuichaffen, daß fie einen gewifien Grad äfthetifcher 
Anziehungsfraft gewinnen, dann dürfte er fi) eines ähnlichen 
Erfolges vühmen, wie der Adderbauer, dem cs gelungen ift, eine 
e urbar zu machen. 

Diefer jchwierigiten aller dichteriichen Aufgaben ift aber die 
bloße Tecnit der Dichtkunft — jelbft auf der denkbar höchten 
Stufe ihrer Entwicelung — nicht gewachien. Wenn irgendwo, 
jo bedarf es hier der fpesifiich fünftleriichen Fähigfeit des Dichters 
d. h. der jelbftichöpfertichen Dichterphantafie. Diefe aber ift — im 
Gegenjag zur techniichen Fertigkeit jeder Art — weder erlernbar 

















Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 329 


noch entwicehmgsfähig im geihichtlihen Sinne des Wortes; — 
fie iit ein freiwilliges Geichent der Natur, das fid als joldes 
gerade mit ben uriprünglichiten Zuitänden der Sejammtkultur weit 
beijer verträgt, als mit den höchitentwidelten. 

Im Jugendalter der Wölfer wie der Eingelmenfchen vent die 
Phantafie am freiften und am fräftigiten ihre Schwingen; 
ipäter wird fie durd) den immer mehr erftarfenden Wirklichfeits- 
und Nüglicfeitsfinn immer mehr in ihrer Flugbahn beengt und 
in ihrem Aufichwunge gehemmt. Es ftände daher jchlimm um 
die geicichtliche Fortentwideung der Dichtfunft, wenn nicht auch 
der Schönheitsfinn unter günftigen Bedingungen fid) zu entwicteln 
und genugfam zu erjtarfen im Stande wäre, um die didhteriiche 
Phantafie in feinen Schu und Dient nehmen zu fönnen. Was 
aber die Technif der Dichtung anlangt, fo erfüllt fie nur dann 
ihre Aufgabe als fünjtleriiche Technit, wenn fie eben fo gut, wie 
die dichteriiche Phantafie, der ealifirung des Darjtellungsgegen- 
itandes und damit dem Echönheitszwede dient, durch den fich das 
dichteriiche, wie jedes andere Nunjtwert, von den nichtfünjtleriihen 
Nufturfchöpfungen unterjcheidet, 

Die Jpealifivung felbft folder Gegenftände, wie fie der 
moderne Naturalismus in die Dichtung eingeführt hat, ift nicht 
undanfbar; aber fie erfordert nicht nur ein um jo größeres Mai; 
ichöpferifcher Phantafie, fondern aud) einen um jo höher entwicelten 
Schöndeitsfinn, je leichter die hodhentwicelte Technik der Gegen 
wart den Dichter dazu verführt, mit ihrer Hilfe unfünftleriiche 
Zwede zu verfolgen. 

Die modernen Naturaliften machen daher nur aus der Naoth 
eine Tugend, wenn fie grundfäglic) auf jede Jdealifirung ihres Gegen- 
ü ichten und in der Theorie die Anficht vertreten, dab 
ice Wahrheit in der Kunft mehr als hinreihenden 
Erjag biete für den Mangel an idealer Schöndeit. 

Mögen fie aber hierin aud) irren, — darin haben fie Necht, 
daß eine gemwiffe Art der Wahrheit ein wejentliches Element in aller 
Kunft ift, und es läht fich nicht Teugnen, daß der moderne Naturalismus 
durch jeine entfhiebene, wenn auch einfeitige und übertriebene 
Geltendmachung des Wahrheitsmoments in der Nunjt fi ein jehr 
ihägenswerthes Verdienjt um deren Kortentwidelung erworben hat. 


























330 Zeit: u. Volfsgeift in der natwraliftiichen Dichtung. 

Zur äftbetiichen Bedeutung des Naturalismus gefellt fd aber eine 
auferäfthetiihe, die vielleicht noch höher anzuichlagen it; feine 
Vebeutung für die Völkerpiochologie. 

Zwar üft der Dichter immer und überall das Glied irgend 
eines Volfes und nod) vieler andern Gefammtheiten, von deren 
Seifte er mehr oder weniger beeinflußt wird, und jchwerlid, dürfte 
fich ein folder finden, in deifen Werfen fid nicht Spuren diejes 
Ginflufjes nachweiien liefen. Aber zwiihen dem idealiftiihen und 
dem natwaliftiichen Dichter ift in diefer Beziehung dod ein 
wejentliher Unterichieb vorhanden. Während jener in der Wahl 
wie in der Behandlung feiner Gegenftände zunädjit und vor Allem 
feine Perjönlichfeit zur Geltung zu bringen fucht, drängt dieier 
die jeinige zurüd, um möglichit fachlich zu verfahren. Er verzichtet 
darum auf frei erfundene Stoffe ganz und beichränft fid am 
tiebjten auf jolche, die einer ihm genau bekannten Wirklichfeit 
entnommen find. Die Folge davon ijt, daß jeine Dichtungen in 
der Negel auf dem Boden jeiner Heimath fih abipielen und die 
in ihnen auftretenden Perfonen und Verhältnijje feinem eigenen 
Wolfe umd feiner eigenen Zeit angehören. Da ihm zugleich das 
Wahrheitsprinzip feiner Rumftrichtung dazu drängt, allen von ihm 
geicjilderten Perfonen und Zuftänden eine möglichjit typiiche Bedeu: 
tung zu geben, jo gewinnen diefe in demjelben Mafe in weldem 
ihm feine Abfiht gelingt, ein zunächjit ethnographiiches Interefie 
für alle diejenigen, die dem Lande und Xolfe des Dichters ferner 
ftehen als er jelbit. Dies Intereffe aber vertieft fid) zum völfer- 
piochologifchen nicht mur in Folge des Umftandes, da der Dichter 
als Xolfsgenofie der von ihm geidilderten Perjonen einen tieferen 
und unmittelbaren Einbli in deren feeliides Innere befigt, als 
ein Fremder, fondern aud in Folge beifen, dah er in alledem, 
was er bei der Darjtellung feines Gegenjtandes wider Willen 
von feinem eigenen feeliihen Innern verräth, nicht fowohl feine 
perfönlihe Eigenart zur Anfdauung bringt, als vielmehr die 
Gefammteigenart feines Volkes und feiner Zeit. Er jdjildert alio 
nicht nur nationale und zeitgenöffiiche Typen, fondern ex jildert 
fie aud) von einen nationalen und zeitgenöfiihen Standpunfte 
aus und in nationaler und zeitgenöjjiicher Färbung und Ber 
deutung, To ehr er dabei aud) bemüht fein mag, feinen Dichter: 





Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung. 331 


werten bie objeftive Wahrheit eines willenigaftlihen Wertes zu 
verleihen. 

Zwar fennt aud) die Kunft eine Wahrheit und eine Objektivität; 
aber dieje beiden Bezeichnungen bedeuten für fie etwas ganz anderes, 
als für die Wiflenihaft, da fie fih nicht, wie bei diejer, auf den 
Inhalt, jondern nur auf die Darjtellungsform des Werkes beziehen. 
Die Wahrheit des wiljenfhaftlihen Werkes beruht auf der Ueber 
einftimmung feines Inhalts mit dem Wefen feines Gegenftandes, 
die Wahrheit des fünftleriichen dagegen nur in der übergeugenden 
Sharafteriftif, mit welder die Aunftform nicht fowohl den Gegenjtand 
jelbjt darftellt, als vielmehr dejien Auffallung durd) den Künjtler. 
Diefe aber ift ihrem MWefen nad) immer fubjeftiv. Wenn trogdem 
von fünftlerifcher Objektivität die Nede it, fo meint man damit nur 
jene tebendige Anfchaulichkeit ber Darftellung, welde die Perjön- 
fichfeit des Nünjtlers allerdings zurüctreten läßt, aber nidıt Hinter 
das Wefen feines Gegenftandes, fondern nur hinter die Runftform 
feines fertigen Wertes. Eine jolde Art von Wahrheit und 
Objektivität verträgt fic) aber and) mit einer idealiftiipen Auffaffung 
und mit einem märdenhaften Stoffe, wie nicht wenige der Balladen 
Soethes beweiien. 

So ift 3. B. Goethes Fiiherballade ein Mufter von fünftleriicher 
Wahrheit und Objektivität. Das Wafer ericeint hier allerdings 
in mpthiicper Perfonififation als Nire; aber was der Dichter in 
diefer Ballade darftellen will, it nach feiner eigenen Angabe aud 
nicht das Wafjer in feiner finnlihen Griheinung oder gar in 
feinem inneren, nur willenichaftlic erfahbaren Wejen, jondern nur 
der Neiz, mit dem das MWaffer an einem heihen Sommertage die 
Menichen zum Bade ladet, ben Vlenichen d. H. zunädjit ben Dichter 
felbft. Diefer lodende Reiz num fann mit dichteriihen Mitteln 
unmöglich überzeugender haratterifirt und lebendiger veranschaulicht 
werben, als dadurd, dal; fid) das Wafjer in den Nugen des 
Fiihers zu einem jdönen MWeibe vermenfc)licht, welches zu ihm 
wie zu jeines Gleichen fpricht und jingt, und zwar mit dem 
berüdenden Wohllaut Goethe'idher Verje und Neime. 

Wenn nun der naturaliftiiche Dichter, jtatt nad) ber Ipezifiich 
fünjtlerifchen Wahrheit und Objektivität eines Goethe, nur nad) 
Sadligfeit im Sinn der Willenihaft jtrebt, fo bfeibt er bad) 





332  Zeite u. Volfsgeift in der natmwaliftichen Dichtung. 

hinter diefem Ziele um jo weiter zurüd, je mehr er Künftler d. h. 
je mehr er geeignet und geneigt ift, jeinen Gegenftand mit dem 
Gemüthe und der Phantafie, jtatt bloj mit dem Verftande auf- 
zufaien. Wenn cs ihm auch bis zu einem gewiffen Grade gelingen 
mag, bei der Auffafung und Darjtellung feiner nationalen und 
zeitgenöflüchen Typen die perfönliche Theilnahme zurüdzudrängen, 
die er jedenfalls für oder wider fie empfindet, jo geidieht das 
doch nicht zu Gunften der falten, weil rein verftandesmähen Unpartei: 
lichfeit, die der Wiffenihaft eigen it, Tondern mur zu Gunjten 
einer Parteinahme, die ihm jelbit verborgen bleibt, weil fie nad) 
tiefer wungelt, als in feinem perlönlichen Semüthe, nämtich im 
Sejammtgemüthe eines Ganzen, von dem er jelbt cin lebendiges 
Glied ift, das chen deshalb von allen Hegungen desielben mit- 
erregt wird, ohne «9 zu willen und zu wollen. 

Wo die naturaliftiiche Dichtung den Namen einer Dichtung 
wirklich verdient, da it ihre Wahrheit und Objektivität weientlic, 
derjelben Art, wie die Wahrheit und Objektivität der Volkspoefie, 
in welcher ebenfalls der individuelle Geijt der einzelnen Dichter 
hinter irgend einem Gejammtgeifte verihwindet. 

Was aber diefe beiden Arten der Dihtung in völferpipd)o- 
togicher Beziehung von einander untericheidet, it zunächft die Art 
ihrer Entftehung. Das Erzeugni der Volfspoeie ift wirklich das 
gemeinfame Werk irgend einer menfchlichen Sefammtheit; denn 
viele einzelne Dichter, vie nicht felten durch Zeit und Naum weit 
von einander getrennt und nur durch den Geift einer alle gleidy- 
mäfig umfajfenden Gefammtheit vereinigt find, haben an feinem 
Entitehen, wie an feinem MWacothun und feinen jonjiigen er: 
änderungen, ihren Antheil. Das naturalittiche Dichterwerf Dagegen 
ft nur das zeitlich beidhränfte Werk eines Einzelnen, weil der 
Dichter mit bewufter Mbficht fchnweigen Läht, was jein Geift an 
perfönlicher Eigenart befigt. Dieje Art von Selbftverlengnung it 
aber für ihm bei Weiten nicht in dem Grade erreichbar, wie fie 
für die ungenannten Dichter der Lolfspoefie nicht nur möglich, 
fondern fogar unvermeidlich ift. Denn in den jugendlichen Kultur 
zuftänden, die dns Entjichen der Volfspoefie vorausiegt, iteht die 
perfönliche Individualität des Tichters no auf einer zu tiefen 
Entwicelungsjnfe, um fih der Herrichaft des Gefammtgeiftes, der 

















Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 333 


ihm in Sitte, Recht, Neligion und Sprade verkörpert entgegen 
tritt, jo weit entziehen zu fünnen, wie das die hodentwidelten 
Kulturzuftände, aus denen der moderne Naturalismus erwacien 
it, dem Einzelnen nicht nur gejtatten, jondern bei einem gewillen 
Vildungsgrade desjelben jogar zur Nothwendigfeit machen. Was 
aber beide Arten der Dichtung nad) weiter von einander entfernt, 
üt der Umitand, dah die Volfspoefie als Erzeugnif; eines jugend- 
ficen Kulturzuftandes mich die Vorzüge der Jugenblichteit an fich 
trägt, indem fie zu einer phantafievollen und wefentlich optimeiftiihen 
Auffaffung der Dinge neigt und demgemäh lieber die Lichtieiten 
ihrer Gegenftände hervorkehrt, als deren Echattenjeiten, während 
bei der naturalijtifchen Dichtung als dem Erzeugnih einer phantafie- 
armen, zur Vertandesfritif und zum Pelimismus neigenden Alters- 
periode der Nultur das Umgekehrte ber Fall ült. Der gröfte 
völferpipchologiiche Begenjag enblic, der wenigjtens die aus alter 
Zeit ftammende Volfspoejie von der naturaliftiichen Runftpoefie der 
Gegenwart trennt, fiegt darin, daf; jene als das Erzeugniß vieler 
verfchiedener Generationen einer und derjelben Gefammtheit mehr 
deren bleibende Grundzüge d. d. den Lolfsgeiit, biefe dagegen als 
das Erzeugniß einer litterarifchen Partei, deren Nunjtprinzip in 
unferer rajchlebigen Zeit — wie jede andere Mode — fdhnell von 
einem Volfe zum andern übergeht, mehr nur eine Eigenthümlichfeit 
des überall herrichenden Zeitgeiftes zum Ausdrud bringt. 

Dod) da die nationale Gejammtheit des Wolfes als die 
durdicnittlid am jhärfiten abgegrenzte und am vollfommenften 
organifirte auch die widerjtandsfräftigite aller menichlihen Gefammt- 
heiten üft, To läßt fich der Volfsgeift nur ehr unvollfommen vom 
geitgeift zurücdrängen. Menigitens gilt das von allen den 
Aeuferungen des menjcjlichen Geifteslebens, in denen die Zub: 
jeftivität eine enticeidende Nolle fpielt, jo namentlich von der 
Kunjt im Gegenjag zur Wiffenihaft. Wie diefe wejentlid, inter- 
national it, weil ber Verftand fid bei allen öltern gleicht, jo it 
jene wejentlich national, weil das Gemüt, die Phantafie und felbit 
der Geichmad bei allen Völkern verjcieden find. Mag die 
naturaliftiiche Theorie als wihenichaftlihes, aus dem natura: 
liftiichen Kunftprinzip logiich entwideltes Snftem bei den ver: 
idiedenjten Völkern Europas gleihmähige Anerkennung finden, — 














334 Zeit: u. Volfsgeijt in der naturaliftiichen Dichtung. 


die Prario der naturaliftiichen Nunft fäht überall die nationale 
Eigenart mehr oder weniger deutlid, hervortreten. 

In diefer Beziehung ift es bezeichnend, dal diejenigen natura 
liftiihen Dichter der Gegenwart, deren Namen man am hä 
und meijt zufammen nennt, um mit innen zugleich drei ver 
Mobififationen des Naturalismus zu bezeichnen, nämlid) Zola, 
Ibfen und Leo Tolftoi, nicht nur drei veridhiedenen Völfern, fondern 
zugleich den drei ariichen Hauptvölferftämmen Europas angehören, 
und in den verfchiedenen Modiftfationen ihres Naturalismus zugleich 
die Verihiebenheiten ihres Volts- und Stammescharakters vertreten. 

Wenn ımter diefen Dreien der Franzoje Zola bisher den 
jtärfiten Ginfluh auf die ewropüfche Kitteraturwelt ausgeübt hat, 
To ift dies nicht etwa die Folge fünjtlerifcher Weberlegenheit über 
die beiden Andern, jondern mr des Umftandes, dah ev dus 
natwalifiihe Pringip mit vüdjichtöloferer Folgerichtigfeit vertritt, 
als fie, und zwar nicht blof als Dichter, fondern mehr mod) als 
Theoretifer und Aritifer. Hierin aber zeigt er einen echt fran- 
zöflihen Charafterzug, der den internationalen Einfluß Franfreichs 
aud) auf andrem, als dem äfthetiihen Gebiet erflärt. Gr beiteht 
in der Neigung, jedes für richtig gehaltene praktische Prinzip in 
togiicher Geradlinigfeit anf die Spige zu treiben. Wird cs dadurd) 
auch nicht jelten ad absurdum geführt und in diefen Falle nur 
allzwleicht mit dem entgegengejegten Prinzip vertaufcht, das dann 
ebenfo anf die pipe getrieben wird, jo imponirt doch die ogi 
Folgerichtigfeit, jowie die Entichiedenheit und Najchheit eines folden 
Vorgehens überall den Mafjen des Volkes mehr, als ein mahvolleres 
Vorgehen, das auf das geichichtliche und natürlihe Ned)t des 
Veftehenden Nüdjicht nimmt und deshalb langjamer und auf 
gewundeneren Wegen fein Ziel verfolgt. Welonders it dies bei 
romanif—en Völkern der Fall, die fi alle mehr durch logiüchen, 
als durd hiftorischen Sinn und dur Naturfinn auszeichnen, und 
deren politiidjeo Leben deshalb, aud) unabhängig von franzöftichen 
Antrieben, mur allzu leicht zwiihen den entgegengeiegten Ertremen 
der Pöbelerrichaft und der Säbelherrichaft fich hin und her bewegt. 
Die Nachfolge, welde die vericiedenen franzöfiichen Nevolutionen 
auch aufierhalb der romaniichen Länder gefunden haben, und die 
Weltgerrihaft der franzöfiichen eidermoden, beweifen allerdings, 














Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung. 335 


dai; die moderne Nulturmelt überall für die Reize der Abwechielung 
empfänglich ift, aber zugleich audı, dab fic dabei dem Einfluß der 
veränderlichiten aller großen Stulturnationen unterworfen bleibt, 
weit diefe in der pratifchen Initiative mit der fie allgemein gefühlten 
geitbedürfniffen abzuhelfen weih, den übrigen Völfern immer um 
einen Schritt voraus üt. 

Auf dem Gebiete der Litteratur zeigt fid) diefer tonangebenbe 
Einfluß Frankreichs, owie der nationale Charakterzug, auf dem 
er beruht, chen feit dem Zeitalter der Krenyzüge, aljo ungefähr 
fo fange, als das franzöfiiche Volk überhaupt befteht, — am ent- 
Ichiedenjten aber im Zeitalter Ludwigs NIV. Nirgends erreichte 
die Höftfehe Nonvenienz der neuklaffiihen Geichmadsrichtung einen 
fo hohen Grad engherziger Beihränktheit, wie in der franzöfiichen 
Eitteratur diefer Zeit. Dafür aber waren die Whantaftereien der 
neuromantifhen Dichtung auch nirgends fo ausjhweifend und 
unmahr, wie in Frankreich, alo diefes fi) endlid) entichloi, mit 
dem Prinzip des Klaffiziomus zu breden. Die Uebertreibungen 
des romantischen Prinzips aber haben, eben jo gut wie die des 
Haffüchen, den Litteratureinftuß Frankreichs auf das übrige Europa 
eher gefördert als gehemmt. Ganz dajfelbe ift nun aud) mit den 
Ausichweifungen des Zolajchen Yaturaliomus der Fall. Dieje 
itammen zum nicht geringen Theile geradeswegs aus der franz 
zöffichen Neuromantit, von der Zola jtärfer beeinflufit ill, ale er 
eingeftehen will. Selbjt in Bezug auf feinen Kultus deo 5 
find die franzöftihen Neuronantifer feine Vorgänger. Während 
aber dieje das Hählidhe vorwiegend zu rein äfthetiihen Kontrajt: 
wirfungen benugten, jtellt Zola daffelbe meift ohne jeden Gegen- 
fag hin, der im Stande wäre, es äfthetiich zu ergänzen. Er thut 
dies im Intereife der „objektiven Wahrheit” jeineo „erperimentalen 
Romans,“ und jucht diefem durch den trodenen Exrnjt, mit dem er 
in igm natur: und fozia-philofophiihe Lehrmeinungen verbildlicht, 
einen „wiffenfchaftlichen Charakter” zu geben, weil ber moderne 
Roman „das moderne Leben wicderjpiegeln® mühe und „die 
Wiffenfaften die Führung des Jahrhunderts übernommen haben.” 
Was aber Zolas Romane an unzweifelhafter Wahrheit enthalten, 
ift nicht wiffenfchaftliche, fondern höchitens fünftleriiche Wahrheit, 
and von diefer entyält Ihon das altfranzöfiiche Nolandsfied, trag 












336 Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 


feiner mittelaltertichen Wundergeidhichten, wenigitens cben jo viel. 
Für den franzöftichen Volkogeift aber ijt dies alte Wolfsenos noch 
weit darafterijtiicher, als die Nomane Zolas. Aud) diefe berichten, 
indem fie den Verfall der franzöfiihen Gefellichaft unter dem 
zweiten Kaiferreich jchildern, nicht jowoht IThatjächliches und Be: 
weifendes, als fie vielmehr den niederihlagenden Einituh befunden, 
den das Unglüd Frankreichs im deutid-franzöfihen Kriege auf 
das franzöfiiche Volt hervorgerufen Hat. In feiner muthlojen 
Schwarzieherei zeigt Zola Hier zugleich den Einfluh des modernen 
Pellimismus, während dod) die unaustottbare franzöfiiche National 
eitelfeit fi barin bei ihm äußert, daß er gleich der Mehrzahl 
feiner zeitgenöffiichen Landsleute für alleo nationale Unglüd der 
legten Zeit nur einzelne Verräther verantwortlid) macht. ud) 
das Rolandslicd zeigt jchon diejen echt franzöfiihen Charafterzug. 
Ohne Verrat; wäre jhon zur Zeit der Nrengzüge eine Niederlage 
der „großen Nation“ ein für biefe undenkbares Ereigniß geweien. 
Aber die unbekannten Dichter des Nolandolicdes jtanden unter 
dem Einfluß des mittelalterlihen Jdealismus und der religiöfen 
Begeifterung der Nreuzzugszeit, und das franzöfiiche Volt, das 
damals wirklid) und in vollerem Sinne des Worts, als jemalo 
fpäter „an der Spige der Zivilifation” marfdirte, hatte zu dem 
muthvollen Glauben, die vereinzelte Niederlage bei Nonceval durd) 
eine ganze Reihe glänzender Siege rächen zu können, um jo mehr 
Veranlafung, als jeine Nationalfeinde zugleich die Feinde der 
ganzen Chriftenheit waren. Seitdem haben fid) die Zeiten jehr 
wejentlich geändert; der franzöfiihe Nationaldharakter aber it jid) 
wefentlich gleich geblieben. Auch heutzutage it der Glaube an 
eine glorreiche Zukunft Frankreichs und an einen fiegreichen 
Nachekrieg gegen den Nationalfeind im franzöfiichen Volke wadı, 
und die fittlicen Zuftände Franfreids find feineswegs To fhlimm, 
wie fie in der peflimiftiichen Daritellung Zolas ericeinen. Im 
Grunde ihres Herzens find die Franzofen, als Gejammtheit 
betrachtet, and heutzutage noch eben folhe Optimiften, wie im 
Zeitalter der Nreuzzüge, und eben folhe Xerehrer Hlarer und 
geichmadvoller, wenn aud) vein konventioneller und damit unwahrer 
Formen, wie im Zeitalter Ludwigs NIV. Am frangöftichen 
Naturalismus der Gegenwart aber iit nichto franzöffch, als die 












Zeit u. Volfögeift in der naturaliftiichen Dichtung. 7 
rüdfichtstoje Folgerichtigfeit in der Anwendung des natualiftiichen 
Kumftprinzips. Der franzöfiiche Kormenfinn verfeugnet fi aud) 
bei ihm nicht ganz; aber an die Stelle des älthetiichen Formalismus 
der franzöfiichen Nlaffifer tritt bei ihm ein bloß Logiicher, und 
wenn ihm im Gegenjag zu diefem die Wahrheit mehr gilt als 
die Schönheit, fo gilt ihm doc) die Narheit noch weit mehr als 
die Wahrheit. 

Wenn Zola unter allen Gattungen der Dichtung den Homan 
am höchften ftellt, mährend er in der Fprif nur „eine Mufik für 
nervöje Frauen“ ficht, „eine dichteriiche Ueberipannung, die Feine 
Anatyje geitattet amd an den Wahnfinn grenzt,“ io befindet: fid) 
hierbei jein naturaliftiiches Glaubensbefenntniß nod im Einklang 
mit dem franzöfiihen Nationalgeichmad, denn die zugleid) beliebiejten 
und bedeutendjten Erzeugnüfe der franzöfiichen Yitteratur gehören 
der Broja und innerhalb diefer dem Nomanc an; zugleich aber 
verräth er damit die Grenzen feiner perjönlichen Begabung für 
die Dichtkunft, denn nur der Noman gejtattet das aufergewöhnlid) 
große Mah epiicher Breite, mit der Zola jeine Stoffe behandelt. 
In den oft nur allyu weitläufig ausgeführten Schilderungen, die 
nur zum Theil dem „wiiienfhaftlichen“ Zwede feiner Nomane 
dienen, tritt Die mehr maleriiche als dichterifche Kunjtbegabung 
des franzöfiichen Volks hervor. Dagegen hat Zola von dem 
franzöfiihen Zinn für das Thentraliiche nur ehr wenig an fid. 
Das Drama weil; er allerdings zu jchägen; aber jeine Neigung 
zu breiten Analyien jteht mit dem Wejen der dramatiichen Technit 
allzu jehr im MWideripruc, als dah er auf der Bühne Hätte 
heimiich werden fönnen. 

Um jo beffer it das dem Norweger ofen gelungen, deiien 
internationaler Einfluß aber viel beichränfter als derjenig 
Zolas. Auherhalb der jfandinaviichen Yänder Hat er nur in 
Deutichland groije und nachhaltige, wenn aud nicht unbejwittene 
Erfolge errungen, jonjt überall nur blohe Achtungserfolge. Sein 
Publikum ijt alfo ein vorwiegend germaniiches. 5 aber hängt 
damit zufammen, daf; er trag mancher Cigenheiten, die er mit 
Zola theilt, 3. B. der Neigung, moderne Vererbungstheorien 
dichterifch zu verwertgen, eine durch und durd) germanijce Natur 
ift. Dies verrät fi) namentlic) in der eigenfinnigen Selbjtän- 
























338 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 


digfeit feines Wefens wie feines Dihtens, die beide weniger burd) 
den Verjtand, als durd) den Willen bejtimmt erfheinen. Auch er 
verfolgt in feinen Dichtungen mehr Ichrhafte als fünjtleriiche 
Zwede, aber jeine Lehrhaftigkeit ift weniger willenshaftliher als 
ethiiher Natur; denn cs handelt fi in ihr nicht um eine wifjens 
ihaftliche Erklärung der phyfiiden und moraliihen Schäden, an 
denen die moderne Gefellihaft frankt, jondern um die fittlihen 
Probleme, die aus dem Vorhandenjein diefer Schäden für den 
Einzelnen erwachien, dem beven Heilung, oder falls diefe unmöglich, 
fein follte, feine eigene Gefundheit am Herzen liegt. 

Für die Darftellung des Gegenfages zwiichen dem Einzelnen 
und der Gefellichaft, auf die er in Folge diejer Abficht angewiefen 
it, eignet fid) aber feine Dichtungsart jo gut, wie die dramatifche, 
für die Jofen nicht nur ein großes tedhniches Gehdhie, jondern 
wenigitens eben jo viel natürliche Begabung hat, wie Zola für 
den Roman. Während bieje epifdhe Litteraturgattung das gröhte 
Ma breiter Schilderung aller Auhenfeiten des Lebens verträgt, 
verlangt das Drama den höchiten Grad ftraffer Nonzentration. 
Liegt eine jolde dem Willensmenichen an fi) ihoen näher als dent 
Verjtandesmenichen, jo wird fie doc) zugleid) nicht wenig durch) den 
Latonismus des Ausdrucs begünjtigt, den Ibfen mit der Mehr: 
zahl feiner norwegiichen Landsleute theilt, und der innerhalb 
weiterer Grenzen eine Cigenheit der germaniichen Völfer über- 
Haupt ift. Nicht nur die echtgermanifhen Dramen Sheafespeares, 
des größten Dramatifers der Neuzeit, fondern aud) die englifchen 
Volfsballaben die chenjo wie die Gejänge der altnordiihen Edda 
einen wejentlic dramatifden Charakter haben, verbanfen ihre 
energiiche Wirkfamfeit zum nicht geringen Theil der bünbigen 
NRürze, mit der in ihnen das äußere, wie das innere Gejchehen im 
Wechielgeipräch der dabei betheiligten Beronen blof; angedeutet 
wird. Diefe Kürze aber ift nur eine Aeuferungsform der germa: 
nifchen Innerlichfeit und darum bem rein Iprif—hen deutichen Kiede 
nicht weniger eigen, als der engliihen Ballade. Cine andere 
Aenperungsform diefer Innerlichfeit ift die Neigung Ibiens und 
feiner Dramenhelden zu grübleriic—her Verfenfung in das eigene 
Id, um fih eine individnelle Weltanfhaung und ein jelbftändiges 
ethiihes Prinzip zu erringen, Sie beruht wefentlid) auf derjelben 


Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 339 


Geiftesrichtung, aus der auf wiflenjchaftlichem Gebiete die deutiche 
und die fehottiiche Philofophie, auf religiöfem der germaniiche 
Protejtantiomus eriwadhfen it, und wurzelt gleich diefer in dem 
germanifcen Vehitrfnif; nach individueller Unabhängigkeit, einem 
Bedürfnii, welches nur allzu feicht zum Sonderlingsweien, zu 
jelbjtfüghtiger Enghergigfeit and zu jpiehbürgerlichem Partikulariomus 
führt, aber auch zu ächtefter Charaftergröhe und zur höchjten fitt: 
lichen Ihattraft führen kann. Dieje germanifhe Neigung zu ver: 
einzelnder Unabhängigkeit, die auf den einfamen Hocebenen Nor: 
wegens einen eben fo günftigen Woden gefunden hat, wie die 
germanishe Schweigiamteit, steht im entichiedenjten Gegenfag zur 
tomanifchen Gejelligfeit und Gefpräcigfeit, die in Franfreid) eine 
geradezu Fünitlerifche Ausbildung gewonnen haben und auf die 
franzöftiche Profalitteratur einen faum geringeren Einfluf ausüben, 
als die entgegengeiegten Eigenheiten der germanifchen Wölfer auf 
deren Lyrit und Dramatik. Derjelbe Gegenjag trennt aud Joien 
von Zola. 

Der norwegüiche Dichter behandelt die geielfichaftlichen Zu 
feines Vaterlandes nicht weniger natwwaliftiih und peflimiftifch, 
als der franzöfiiche diejenigen Frankreichs; beide fümpfen für die 
Waprheit, md gegen die Füge, die das moderne Geiellfichaftsleben 
überall beberricht, und beiden gelten mur die Schattenfeiten der 
Wirklicleit als Wahrheit. Aber Zola fucht durch) ausführliche 
Schilderungen zu wirken, die an derber Deutlichteit nichts zu 
wünfchen übrig Lafen, Jofen dagegen durch eine fehlichte und 
bündige, oft bezeihnende oft aber aud) dunkle Auodrucoweile. 
Bola, der in oder bei Paris, dem Zentrum der franzöfiichen Gefell: 
ihaft lebt, beurtheilt alle Einzelericheinungen derjelben vom Stand- 
punft bes gefellihaftlichen Ganzen aus, während Xbjen im der 
möglichten Wahrung der individuellen Freiheit gegenüber der ver- 
fogenen gefellichaftlichen Convenienz das einzige Heil für den filt: 
lic, Strebenden erblit und, getreu diefer Ueberzeugung, zerfallen 
mit der Gefellichaft feines Vaterlandes, meilt im Auslande lebt 
und in Folge beffen immer tiefer in die Gefahr geräth, ein fub- 
jeftives Zerrbild der vaterländifchen Zuftände, wie co unter dem 
Einfluß peffimiftiicher Verbitterung in feiner Phantafie fi) malt, 
für deren wahrheitsgetrenes Bildniß zu halten. 

















340 Zeit: u. Volfsgeift in der naturalitifc—hen Dichtung. 


In Bezug auf dieie eigenfinnige Vereinzelung jtcht Ibien 
nicht nur zum Sranzofen Zola in einem entichieenen Gegeniab, 
fondern aud) zum Nuffen Tolitei, der in jeinen dichteriichen Werten 
eben jo gut, wie er, ethifch-didattiiche Ziwedte verfolgt. Aber das 
ethische Prinzip Tolftois ift im Gegenfag zum individualiftiichen 
Ibjens ein entichieden fozialiftiiches. Nicht in der freien Eelbit- 
bejtimmung des Einzelnen ficht er das filtliche Jdeal, jondern in 
der Verleugnung des eigenen Selbit zu Gunften eines gejell 
ihaftlichen Ganzen, deffen Nrbild er in der altchriftfichen Gemeinde 
zu finden glaubt, und da unter allen jozialen Gebilden der Gegen 
wart die vujfiiche Torfgemeinde diejem Urbilde am nächjiten fommt, 
fo ftcht fie auch feinem Herzen unter allen am nädjten. Deohalb 
lebt ex, nachdem er die Zuftände feines Yaterlandeo in verichiedenen 
Stellungen fennen gelernt, und die nichtigen Freuden der vor 
nehmen Welt, der er durd Geburt und Erziehung angehört, zur 
Genüge gefoftet, ihen jeit geraumer Zeit fern von diefer Welt 
auf dem Yande mitten unter feinen Bauern, wie ein Vaner mit 
niedriger Handarbeit beipäftigt, und feine Schriftftellerei beichränft 
fich jeitdem fajt ausihlichlic auf das Abfalen voltsthünlicder 
Lehrichriften, die immer mehr den Gegenfag hervortreten Iafen, 
der ihn von allen übrigen, namentlich aber den nichtruffischen 
Vertretern des modernen Naturaliomus trennt. Der volfsthüm 
lichen Wirkfamfeit zu Liebe Heidet cr feine Zittenlehren am liebjten 
in die Form von Legenden, die mehr durch Wunderberichte als 
durch Vernunftgründe oder did Berufung auf das Gewiflen zu 
überzeugen fudyen, und in fester Zeit Hat jeine Ethif ein Ent 
michelungsziel erreicht, das mr jceinbar mit der Schopenhauer: 
ihen „Verneinung des Willens zum Leben“, in Wirkliceit aber 
mit dem deal möndiidher Aofefe übereinftimmt. Dierin aller 
dinge jteht er jelbjt unter jeinen ruffschen Yandsleuten und deren 
ilaviicen Stammverwandten vereinzelt da, jofern diefe nicht durch 
die Küche zu ähnlichen, wenn aud) weniger folgerichtig ausgebildeten 
ethiichen Anfchanungen erzogen find. Dagegen zieht er in der Art 
jeines gemeinnügigen Wirfene nur die äuferiten praftifchen Nonie 
auenzen einer Zinnesrichtung, die von je ber die Eigenart der 
ivezifiich Hlaviichen Ethit beftimmt hat. weitherziger 
Nechtsfinn, der Jedem das Zeine läßt, giebt für diefe den Ton 














Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 341 


an, jondern ein warmherziger Gemeinfian, der im Gegenfat zum 
weitenropäifchen, fid) weniger in verjtändiger Erwägung deo für 
das Ganze der Geielfichaft Nütlichen äufert, alo vielmehr in der 
unmittelbar natürlichen Nächitenliebe eines mitleidigen Derzens, 
welches auch die jelbjtverjchuldeten Leiden des Armen und Unglüc- 
fichen (ebhaft mitempfindet, während co ‚die eigenen Leiden als 
wohlverdiente Strafe geduldig erträgt. 

Wie die EihiE Tolfteio ans allgemeinflaviichen Neimen ent: 
inrofien it, jo wurzelt fein vefigiöfer Ölaube im VYoden des ruffiichen 
Volfes. Tbgfeih er ein Gegner alles orthodoren Nirchenthums 
üt, und fein Chriftenthum, das auf jelbjtändiger Bibelforihung 
beruht, wejentliche Elemente mit dem weitenropäiichen Nationalismus 
gemein hat, jo fteht er doc, im Gegenfag zu Diefem, außerhalb 











aller Fühlung mit der Sefammtentiwickelung der modernen Wiffen- 
ihaft und hat eine entfchiedene Neigung zum MVyftigienms aus 
den Firchlichen Ueberlieferungen feines Volkes ih bewahrt. So 


tief mgeft Tolitei in feiner Heimat) und in feinem Lolfsthun, 
dafi er troß der weitherzigften Sumanität der Gefinnung, in feiner 
Leradhtung der weitenropäiichen Nultu und in feinen Vorurtheilen 
gegen den Weiten übergaupt, den er nur jehr oberflächlich, Fennt, 
wejentlich mit den Slavophilen übereinftimmt. Je mehr er aber 
nicht nur in den Kräften, Tondern and in den Schranfen feines 
Wefens ein echter Vertreter feines Volfeo ift, um jo beifer ift er 
im Stande, aus dem Herzen feines Volles heraus zu dichten, wie 
zu fühlen und zu glauben. 

AS Künjtler it er Fowohl bien als Zola weit überlegen ; 
aber er verdanft diefe Ucberfegenheit viel mehr jeiner angeborenen 
Begabung, als feiner äftpetiichen Bildung. Auch er befennt fich 
mit aller Entfchiedenheit zum naturaliftiichen Wahrheitprinzip und 
bleibt diefem Prinzip auch in feiner dichteriichen Praris jo treu, 
also es einer hodbegabten Dichternatur überhaupt möglich iit. 
Aber er darf fi cher an die dichteriiche Daritellung abjtojender 
Gegenftände wagen, als Zola und Jbfen, weil er jenem an 
ethiichem, diefem an äfthetiichem Takte, beiden aber an Schöpfer 
fraft der Phantafie überlegen it. Nicht mr im der Behandlung, 
fondern fchon in der Wahl feiner Gegenftände bewährt 
fünjtleriiche Ueberfegenheit ; denn neben den Schattenfeiten ruflüicher 






























342 Zeit: u. Vollsgeift in der natnraliftifchen Dichtung. 
Zujtände und BVolfotypen det er aud deren Lichtjeiten auf, und 
wenn wir von der Leftüre feiner Dichtungen eheiden, fo geihieht 
das nicht mit dem bitteren Gefühl der Hoffnungsfoiigleit gegen 
über einem materialiftiichen Jatum, oder mit dem bitteren Gefühl 
der Unzulänglichleit and) des edeliten md tatfräftigiten Cingel- 
menjchen gegenüber der Engherzigkeit, Nurzlichtigteit und Gemein 
beit der Menge, fondern mit der Dofinung auf die allmähliche 
Entwidelung des Edlen und Guten, deiien Neime er gerade in 
den niedrigften Schichten feines Volkes zu entdeden und hervor: 
zufchren weiß. Go lönnte deshalb fraglich ericeinen, ob die 
Runfteichtung, der er als Dichter huldigt, nicht cher den Namen 
einer ibealiftüchen, als einer natnraliftiichen verdient ? Jedenfalls it 
dieje Art des Naturaliomus die Fünftleriich am meilten bereahtigte. 
Sie ift aber zugleich die wölterpfchetogich bebeutfamfte, 
weil fid) in ihr die charafteriftifchen Eigenschaften der alten Volls 
pocfie mit denen des modernen dichterifchen Naturalismus vers 
einigen. Das gilt in ganz bejonderem Mafe von Totfteis großem 
Homan „Steieg und Frieden.“ Man hat diefen Noman, der zur Zeit 
deo ruffiich Franzöfifchen Nrieges von I812 jpielt, alo „die rujjüiche 
Jliade“ bezeichnet, und infofern treffend, als der Noman in der 
That viel vom Gharalter eines alten Volfsepos an fidh hat; nur 
daher fich noch weit beifer mit dem Nolandeliede als mit der 
‚Jliode vergleichen läht, weil ev eine nicht bloß; nationale, jondern 
zugleich eine Humane Bedeutung hat. Wie Jranfteid in jenen 
mittelalterlichen Volksepos den Glauben der gefammten Chriften- 
heit gegenüber den Völfern des Jolam vertritt, To vertritt Nu: 
land im Tolfioifchen Noman die Unabhängigfeit Gefammteuropas 
gegenüber feinen franzöfiichen Unterdrüdern. Freilich wie dort 
zunächft mr um ben Kuhn deo „fühen Krankreich” getämpft wird, 
jo Hier zumächt nur um die Freiheit deo „heiligen Nuhland.“ 
Aber ein heiliger Namıpf ift and dieler; denn co Handelt fich au, 
in ihm um eine Vertheidigung alles deffen, was nur immer einem 












































Volle heilig fein fan. Und aud) in diejem friege geht «6 nicht 


ohne Wunder ab, —- wenigitens in der Darfielung Toljteis. 
Die allgemein herripende Ueberzeugung, dal weniger die Deere 
Nußlands, als defien Klima den mächtigen Feind bejiegt haben, 
ergänzt Tohtoi dahin, dab nicht die Nriegafunft der wu 














zeit u. Volfogeift in der naturaliftiichen Dichtung. 313 


herren, jondern der frandhafte Ipfermuth der rufiichen Soldaten 
das Vaterland gerettet, und dah Mutulom gerade wegen feiner 
perjönlichen Unthätigfeit der größte Feldherr Diejes Mrieges war 
weil er als echter Volfsmann den Keldenmmtb des gemeinen 
Soldaten ruhig gewähren lieh, wie ein verirrter Neiter den Anjtintt 
feines Nofies. Er überlich damit das Schidjal Nuflands mit 
fataliftifcher Ergebung einer höheren Wacht, md da dieje dem 
ruffiihen Volke wos aller Planlofigkeit der Kriegführung den 
endlichen Zieg verlieh, fo faun di eg mur auf einem Wunder 
beruhen, - wenn nicht auf einem blofen Zufall. 

Tofjtoi, der alo ehemaliger ffisier das Striegsleben aus 
eigener Erfahrung fennt, schildert 06 mit einer Iebendigen und 
überzeugenden Anfhaulichfeit, wie fie nirgends in der modernen 
Yitteratur ihres Gleichen hat. Zugleich aber fchildert er das 
vuffiiche Geiellichaftsteben in allen Schichten des Lolts mit einer 
jo ergreifenden Macht der Darftellung, wie fie nur ein Dichter 
entfalten kann, der feinen Gegenjtand nicht bloi Fennt, fondern 
aud) von ganzem Herzen liebt. Die Theilnahme feines Herzens 
für die gefchitderten Begebenheiten, Zufände und Perjonen, Ipricht 
in feinem geidichtlien Noman, dem naturafiftiichen Prinzip zum 
Troß jogar noch viel lauter, als das Verftandesinterefie an ihrer 
wiffenichaftlihen Wahrheit. Allerdings äußert fie fich nicht im 
Igriicher Unmittelbarkeit, fondern mit der füntleriichen Chjettivität 
des echt epiichen Stils nur in den Gigenthümlichteiten der Kärbımg 
und Beleuchtung, der Anordnung und Deutung aller der 
heiten, aus denen das Ganze des Gegenftandes befteht. 
geichichtliche Wirklichfeit wird unter dem Einfluß einer derartigen 
Vehandlung zur wunderbaren Sage ganz wie im Volfoepos 
und ganz wie in. biejen it der Dichter nicht nur im 
Glauben an die Wunder, die er berichtet, Tondern in der ganzen 
Auffaffung feines Gegenitandes dinhaus national, d.h. «0 tritt 
in diefer Muffafiung wicht mar feine perfönlihhe Herzenstheilnahme 
an dem dargeitelften Gegenitande zu Tage, fondern zugleich die 
Herzensftellung, die derartigen Gegenfländen gegenüber dem ganzen 
Wefen des ruffifchen Volfes am meiften entipricht. 

Eben deshalb hat diefer Noman Tolitois eine größere völfer 
piohologüiche Vedeutung, als irgend ein anderes DVicyterwert, 



















































314 Zeit: u. Volfogeift in der naturaliftiichen Dichtung. 





welches der moderne Naturalismus hervorgebracht hat. Und eben 
deohalb hat er zugleich eine größere Vedeutung für die Welt: 
(itteratur, als irgend ein anderes Merk der ruffiichen Nunfiperfie, 
die fonjt nirgends in dem Grade, wie hier, von fremdländiichen 
Einjlüffen frei erjcheint. 

Die romanifhen Völker haben bereits im Zeitalter 
der Nenaijiance diejenige Stuntrichtung eingeichlagen, die ihrer 
gemeinfanen Cigenart am meiften entfpricht, weil fie in der allen 
gemeinfamen Vergangenheit des römifden Alterthumo wurzelt; 
und die Franzofen haben in ihrer flachen Yitteraturperiode diejer 
Nunftrichtung eine ipezifiich-franzöfiiche Gejtaltung aegeben, die 
deshalb allen Wandlungen des jeweiligen Zeitgeichnads zum 
Troß dem ern des franzöftichen Wollo auf die Dauer 
am meijten zujagt, wenn au nur in einer zeitgemäßen 
Mobififation. 

Tagegen ift die Nunftrihtima der germanischen Völfer 
jeit deren Auftreten in der Weltliteratur immer eine vorwiegend 
tomantiihe gewefen, Tofern ihnen am Kunftwerte die Tiefe und 
der Neichtgum eines über alle nm hinansfirebenden jeeliichen 


















Iapalts von je her wichtiger erihienen ift, als die Schönheit der 
finnlihen Form, welche von den romanüichen Wölfen, auch abge 
iehen vom halt, fon um ihrer felbit willen geichäbt wird. 
Die romantiiche Dichtung im engeren Zinne ift allerdings yumächit 





eine Schöpfung des deutichen Volks, aber wie jehr fie auch dem 
Gefammtgeifte der germaniichen Völterfamilie entipricht, offenbart 
fich in der Thatfacdhe, dab die Sfandinaven dem Nunfiideal diejer 
fpesifiich-deutichen Nomantit fogar länger treu geblieben find, als 
die Teutichen jelbit. 
Vei den vomanichen Völkern bildet die Serricaft der 
deutichen Romantif, bei den germanifhen die des frangöfüchen 
fizismmus nur eine vorübergehende Epifode der Nationallitteratur, 
weil fie als litterarifhe Fremdherrichaft empfunden wurde, jobald 
der Neiz ihrer Neuheit feine Wirffamteit eingebüht hatte.  Ebeno 
icheint 5 nun beiden Völferfamitien and mit dem gegenwärtig 
bei ihnen herridenden Naturalismus chen zu wollen; denn icon 
vegt fich genen defien Herricaft überall bei ihnen eine jehr that 
kräftige Cppofition, die unter veridhiedenen Vezeihnungen, wie 


















‚Zeit n. Volfsgeift in der natural 





hen Didylung. 345 


„Zymbolismus", „Indivibunlismus“ u. j. m. fortwährend an 
Anhang gewinnt. 

Anders aber verhält «8 fich in diefer Beziehung mit den 
Hufen md 6is zu einem gewilfen Grade mit den Slaven über- 
haupt. And) fie Find der allgemeinen Herrichaft des Haiüichen, 
wie des romantiichen Jdealismus unterworfen geweien, aber weder 
Haben diefe aus dem Mejten ftanımenden Nunftrichtungen bei ihnen 
in den tieferen Volfofchichten Wurzel falfen önnen, noch ift cs 
den aus ihrer Mitte entitandenen Klaffifern und Nomantifern 
gelungen, eine nenmenswerthe Nüchwirfung auf die nichtilaviiche 
Litteraturwelt auszuüben. Der Naturalismus dagegen, der in 
der modernen rufiichen Literatur ichen fi tig eine eigenartige 
Gejtaltung angenommen hat, die fünjtferiich um fo berechtigter ült, 
je weniger fie fid) von theoretiicher Prinzipienreiterei beirren lüht, 
hat alle Ausficht hier länger fortzudanern, als irgendwo anders. 
Erjt jeitdem diefe Geihmadsrihtung in Nufland zur herrichenden 
geworden ift, hat die ruffiiche Novelliit den gewaltigen Auf- 
ichwung genommen, der ihr eine allgemeine Hocdichägung in der 
itteraturwelt und einen bejtimmenden Einfluß auf die Welt- 
fitteratur erobert hat. Neinem Erzengni ilavifcher Kunjtpocfie 
bisher Aehnfiches gelungen. Nur die alte ferbiihe Volfsepit hat 
icon früher die Bewunderung nichtilaviicher, namentlich deuticher 
Nenner erregt. Diefe aber ijt mit der modernen ruffiichen 
Novellitit durdaus wejensverwandt. In Folge des Umitandes, 
dal; die legtere nicht nur durch ihre national-flaviicen Stoffe, 
fondern auch dadurch, dal fie den echt epüchen Stil, d. b. die 
ruhige umd anichaufiche Plajit der Erzählung und Schilderung, 
mit der jerbiichen Volfsepif teilt, und mm durch tiefere piycho 
togiiche Charakteriftik fich über fie erhebt, hat fie allen Anjprud 
darauf, eben jo als ipegififch-laviiche Nunftpoefie zu gelten, 
wie die jerbiche Wolfsepif als ipezifiich- jlaviihe Rolfsporfie. 
Deshalb wird die Diacht des Einfluffes, den fie durch eine Neihe 
alängender Vertreter gewonnen hat, innerhalb des ruffüichen Volfes 
und der Siavenwelt überhaupt, fih vorausfichtlic nod) viel jlärter 
aeltend machen, als in der weftenropäfchen Litteraturwelt. Dann 
aber würden die jlaviichen Völker durch Toljtoi und feine Genofien 
mit ähnlicher Gewalt im Vanne einer vorwiegend naturaliftiichen 























316 Zeit: 1. Volfsgeift in der natwraliftiichen Dichtung. 





Sefchmadsrichtung feitgehalten werden, wie die Homanen durd) 
die größten ihrer Dichter in einem wejentlich Haffiichen und die 
Germanen durch Shafespeare und Goethe in einem wejentlich 
romantiichen Jdealiomus bis in die Gegenwart hinein fejigehalten 
worden find. 

Die dichteriichen Höhepunkte der Weltliteratur find immer 
zugleich Höhepunkte der verfchiedenen Nationallitteraturen, aus 
denen fie emporgewachlen find. Deshalb haben die Dichtungen, 
welche folde Höhepunkte bezeichnen, überall eine völferpipdelogiche 
Bedeutung, die national und international zugleich ift und mit 
ihrer fünftleriichen Bedeutung innig zufammenhängt; denn die 
böchjten fünftlerifchen Vorzüge, deren eine Dichtung fäbig Üüt, 
ftanımen aus den fiefften aller Quellen menfchlichen Dichtens, 
d.h. nicht aus dem Herzen des einzelnen Dichters allein, jondern 
zugleid) aus dem Herzen feines Volks und aus dem Herzen der 


Denfchheit. i 
Banane Woldemar Mafing. 





Nom. 


I au 




















Die ingeborenen Alt = Livlands 
im 13. Jahrhundert. 





Welche Getreidearten die Cingeborenen vor Ankunft der 

Deutichen fultivirten, wien wir nicht genau; jedenfalls die den 
nordiichen und finnischen Völkern von Alters her befannte Gerjte; 
ferner den Noggen, welchen Heinrich von Lettland an einer Stelle 
ausdrücklich erwähnt (10, 12), während er jonjt nur ganz allgemein 
von Getreide, Santen und Aedern Ipricht. 
Tab Heinrid) aud mit Getreide (annona, frumentum), 
Hoggen meint, it wohl anzumehmen, aber nicht gewiß. Unter 
Getreide oder Storm wird volfsthümlid) immer bie Hauptfrucht des 
Landes verjtanden. So bezeichnet der Nomane damit den Weizen, 
der Deutihe den Noggen, der Schwede die Gerfte. Je nad) dem 
Vorherrichen einer Getreidegattung fann aljo unter Getreide oder 
Korn etwas Verichiedenes verftanden werden!). 

Die eigentliche Frucht des alten Germanen, aus der er Brod 
amd Brei gewann, war der Hafer mit Haben wir uns unter bem 
frumentum bes Tacitus cher Hafer als Weizen oder Sommer 
Roggen zu denfen®). Der Hafer blicb in Deutichland das Haupt: 














jedens I. 
1880. T. 





%) Lt. Hehn, Kulturpflanzen. 5.490. Geijer, Geld 
A Rat & Hanfien. Nararhütoriiche Abhandlungen. Yei 





318 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr. 


aetreide bis ins 13. Jahrhundert, befonders im Norden und Dften'). 
Cs wäre alio möglich, daß Heinrich mit frumentum Hafer meint, 
wenn er ber deutichen, oder Gerte, wenn er ber jandinaviidh- 
finnüichen Vorftellung folgte. Aber das einzige Mal, wo er eine 
Setreideart bei Namen nennt, gebraucht er den Ausdrud siligo, 
was unzweifelhaft Nongen bebeutet, und da eo fid) in biejem alle um 
eine Getreideabgabe, einen Aderichofi handelt, jo Fünnen wir wohl 
annehmen, dafi and) Tonft bei Getreidenbgaben unter frumentum 
und annona Noggen verftanden Hi Jedenfalls wurde 1206 von 
den Liven Noggen gebaut. 

Aus Urfunden der erfien Hälfte des 19. Jahrhunderts 
erjehen wir, dai; in Fivland Noggen, Hafer, Gerite und Weizen 
gebaut wurde. Cs fragt fich aber jedes Mal, ob nicht vielleicht 
der Einfluß der deutjchen Einwanderer, befonders der Giftercienfer, 
vorauszujeten it. Moggen wird in den Nerträgen mit den Nuren 
1231 und mit den jelern 1241 erwähnt?) Beide Stämme 
batten zu der Zeit nad) feine deutiche Veeinflufung erfahren, 
mühlen alfo den Noggen chen gehabt haben. TDasfelbe gilt aud) 
vom Dafer, den die Nuren laut einer Urfunde von neben 
Rogaen und Gerfte ihren Pfarrgeiftlichen zu liefern hatten®). 
Auch) Weizen wird jchon und zwar im Stifte Dorpat, alle 
in Nord Yivland erwähnt’; wir fünnen aber nicht genau willen, 
ob hier nicht Schon denticher Einfluß mitgewirft hat.  Nosfinnen®) 
behauptet zwar, dal; die weitfinnifchen Stämme den Weizen jchon 
feit Urzeiten Fannten, doch jcheint das ein etymofogiicher Irrtum. 
Auch Ahtgvift hat zwerit das finnijche Wort für Weizen: nisu 
genuin gehalten und erjt Ipäter für ein jlavijches Lehnwort 

ärt?),. Der Weizen üt aber eine Getreideart, welche erit ipät 









































d. uam» Sternegg, Teutiche Wirthihaftsgeihicte II. 
Yeipzig 13 
3) Chrom. Lpv. 10,73: si 1 1, 18a 2a 
224 2; 30,5: fuumentum. Vgl. Het, Nulturpflanzen. 
beitefi. Worte bei 
3) Yiot. Urt. 
9 Ebendai. 1, 2 
9 Ebendal. 1. 
& Finnifche ON 
*) Aulturwörter. &. 36. 


annona 9, 






un 
E91 und die 






. 105, 169. TIL, 169 a. 








Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrh. 349 


aus dem Süden in Vitteleuropa eingedrungen it und, wie Hehn 
nachweijt!), feinen Weg von Gallien zu den Deutichen und von biefen 
zu den Lithanern genommen hat. Yei den alten Sfandinaviern 
war der Weizen blos Gegenftand des Handels, aber im Weit 
gothengefeg (1160) wird bereits ein Zehnte vom Weizen ver 
ordnet?). In Deutfchland galt er noch im 12. Jahrhundert als 
eine Lurusfrucht, die mehr im Züden alo im Norden gebaut 
wurde’). Da die Eingeborenen Alt-Livlands, befonders die finni 
schen Ztämme, den Weizen vor dem 12. oder 13. Jahrhundert 
gebaut haben, ift nicht anzunehmen, immerhin ift es nicht unmöglich, 
dai fie ihn vor der deutichen Groberung fannten. 

Soweit die Nörnerfrüch Von den Hülfenfrüchten ipreden 
unfere Onellen nicht. Cs jei bier nur erwähnt, dal Erbfe, Yinfe 
md Bohne nad) Ahlaviit?) von den Yetten zu den Liven umd 
von diefen zu den übrigen weitfinnifchen Stämmen übergangen find. 

Eine uralte Frucht der finnischen Völfer it die Nübe, welche 
bejonders gut im Aichenboven der Waldäder gedeiht und mod) 
jegt bei den Ehiten und Finnen jehr beliebt ift’). 

And) Flads und Hanf werden in unferen Unellen nicht 
erwähnt. Vermutungen auf ethymologiicher Grundlage würden 
faum zu pofitiven Ergebnijen führen; die lettifchen und finnifchen 
Vezeihnungen für lade Fönnen fowohl deuticher als indo: 
ermaniicher Herkunft jein. Victor Hehm meint, daf die deutichen 
Eroberer den Klachs einführten. Das lettiihe Wort Hanf 
kannepes fdjeint das griediih römiihe eanmabis zu fein amd ift 
nad Ahlgviit aus dem Vettiihen in die weitfinnifchen Spraden 
übertragen worden"). Yon den Wejtfinnen willen wir, dab fie 
leinwandartiges Gewebe aus Nefeln verfertigten, wie € bei den 
































80, 
hwedens 1. 


3) Auftnepflansen. 





107 md 










*) Ebenda 65 und. Helm, Nulturpflangen. &. 196 f. 
Vgl. auch Blumberg, Ueber den Culturzuftand der Ejten x. Siyungsber. d. 
gel. eftn. Sei. 13 
9) Kultuewörter 








33 5 Hehn, Aufturpflanzen S. 165. 





350 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Halbnomaden auf der Grenze zwifchen Afien und Guropa feit 
Urzeiten üblich it). 

Die Eingeborenen fultivirten alfo vor Ankunft der Dentichen 
Gerite, Hoggen und Nüben, höchft wahriheintid and) Hafer, viel 
feicht Weizen, Erbjen und Bohnen, dagenen faum Flachs und Hanf. 

&s fragt fi wm, ob die Eingeborenen ausichlichlid Sommer: 
oder aud) Wintergetreide bauten. Die Waldbrenmwirthichaft Ichlicht 
Lepteres nicht aus; andererfeits braucht der Umftand, dah Noggen 
und vielleicht auch Weizen gebaut wurde, nicht nothwendig Winter 
getreide vorauszufegen, denn beide Gietreidearten fünnen Zomme 
frucht fein. In den umliegenden Yändern : Deutichland umd 
Skandinavien ijt Wintergetreide feit Jahrhunderten befannt. In 
Yivland finden wir in einer Urkunde von 1226 einen Aderichoh 
von Winterfrücten?). Dieje Abgabe wird aber von den in der 
igaichen Stadtmart auf fiviihen Boden ungejiedelten Celonen 
entrichtet, 05 ift alfo der Einfluß; deutfcher Kultur nicht mur möglich, 
fondern jehr wahricheinlich. 

Zieht man den ganzen Nultwzufiand der Cingeborenen in 
Betracht, jo mühte man eher annehmen, dai; fie vor Ankunft der 
Deutichen nod feine Winterfrucht bauten. 

Von landwirthichaftlihen Geräthen erwähnt Heinrich von 
Yettland bloh des Piluges, welchen er jaljcher Weile den Namen 
des Möderpfluges aratrum giebt”), während er ihn eigentlich 
uneus  Dufenpflug nennen mühte. In den Urkunden des 
13. Jahrhunderts dagegen wird der Klug fait immer uneus 
genannt, bejonders in feiner BYedentung als Stenerbafis ’. 

Der Plug des 13. Jahrhunderts war ein einfacher Farft: 
artiger Hafen ohne eiferne Schaar, wie ihn Herberitein noch im 
5. Jahrhunderte in Yithanen fand’). Der jegige baltiihe Hufen 



















































33 1.u.266.. Hehn, Aulturpilangen. 
Kol. Urt. W180. 

10, 
1, 105 und neus. als 
dagegen aratrum: TIL, 101 a. 
Fat. Seht, Nulturpflangen. &. 13 j. A. Meiten, Der Boden und 
hichajtl. Verhältifie des preuhifchen Staates. IL. Berlin 1800. 
und desielb. Siebelung 1. 









8. werbafis: sbendaf. I, 














Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 351 


pifug ift zweiihanrig, doc) wird in einigen Gegenden Ehjtlands 
noch der einichanrige Haken, der jog. Schweinsrüfiel gebraucht I. 

Außer dem Piluge hatten die Cingeborenen die Egge, ohne 
Zweifel das Urdild der jet noch in vielen Gegenden gebräudjlicen 
hölzernen Egge, welche aus mehreren geipaltenen Ficytenftänmden 
mit daranhaftenden Aitenden bejteht. Die Enge wird in dem 
Vertrage mit den Auren von 1231 als Stenerbafis erwähnt ?). 

Co Hafe und Schaufel befannt waren, mag dahingeitellt 
bleiben, e9 jei hier nur erwähnt, daß nach Abhlavift die Yiven 
und Ehjten ihre Benennung für Hafe dem Lettiichen entlehnt 
haben, und den weitfinniihen Bezeichnungen für Schaufel ein 
lithauijches Wort zu Grunde liegt’. 

Zum Mähen deo Getreideo und Grafes bedienten fi die 
Eingeborenen der ZSenie, welche in Urkunden mehrfach erwähnt 
wird, und cbenfallo als Steuerbafis diente?) Von der Sichel 
iprechen unfere Quellen nicht; au diejes Geräth deinen bie 
Liven und Ehften von den Yetten erhalten zu haben’). Mert: 
würdiger Weile gebramhen jebt die Yetten die furjitielige Senie 
zum Wähen deo Hetreides, die Ehjten die Sichel. 

Das Getreide wurde nach der Ernte, ganz wie heute, in 
Hanfen oder Boden auf dem Felde zufammengejtellt, um bei 
gelegener Zeit gedörrt und dann gedroichen zu werden ®). 

e Zitte das Getreide vor dem Drejdhen zu dörren, üjt 
außerordentlich alt, jowohl bei den fito-jlavifchen, als bejonders bei 
den finnijchen Völkern. Sie jcheint mir mit der Zitte der Halb: 
nomaden, das Getreide in unterirdifchen Zilos aufzubewahren, 
zufammenzuhängen. Die fuftdichten Exdfilos fepten das Getreide 
leicht der Gefahr aus, fi zu erbiten und zu verfaulen, daher 
muÄte 08, um widerftandsfähiger zu werden, vorher gedörrt 





























1. Hucd, yandwirthihaft. 3. 84 f. Abbiloungen in 
Topographiicie Nachrichten von Yiv: und Efthland I. Niya 
SYD L 1m 
3) sufturmörter. 
tip: lopeta. Warm nicht aus dem 
3 Yiol, Urt BA, 20S, 
= Ablguit, Kulturwörier. 
% Heine, Chron. Lyv. 












jet chf. Iahicus, hapja. Tin. Mhli 
tüichen, wo Schaufel Jahpste heilt? 
IL 128. 

[E 














352 Die Eingeborenen Fivlands im 13. Jahrh. 


werben. In der That Fönnen mir das Dörren wie die Eilos 
auf die Zeit der Halbnemadiiden Yebenoweife der finniichen Wölfer 
zurücführen. Als Dörrfammer wurde das Haus benupt. Wir 
finden bei den Weftfinnen die Pirte, bei den Tjtfinnen die Hola 
und die Gamme dazu verwandt '). Das Dörren muß aljo älter 
fein als das Eindringen des Pirten-Tupus bei den Wejtfinnen. 

Uns interefirt mm die Dörrmethode der Weit 
getten. In der Pirte waren in Mannshöhe ftarte Stangen quer 
gelegt; auf diefe wurde das Getreide in Garben bis an das 
Dach gelagert. Alsdann wurde der mächtige aus runden Feld 
fteinen über einer vertieften Fenerjtelle erbaute Tfen ftark geheizt, 
fo dai er cine gewaltige Dige ausjtrönte; zugleid Idloh man 
die Thüve und etwaige Fenitertufen. Did) die Hige und den 
Rauch wurde das Getreide in verhältniimäfig furger Zeit genügend 
gedörrt ?). 

Das Haus in diefer Zunftion heist Nie. Tieje Bezeichnung 
kommt mit geringfügigen Veränderungen bei den Woten, Chiten 
und Yiven, fowie bei den Yetten, Yithauern und uffen vor. 
Hacı Aplqvift ift das ift das finniiche riihi auf das jandinaviiche 
ri guriidzuführen, was eine Volzilange bedeutet, auf welche Getreide 
zum Trocnen gehängt wird. Ahlgvift meint, daf; die Lito-ilaviichen 
Völker das Wort und den Gebrand der Nije durch die finniichen 
ölfer überfommen hätten; Thomjen läht diee Frage offen, 
DVielenftein führt Hypothetiich eine genuine Ableitung des lettijchen 
Wortes rija an?) 

Jedenfalls war und ijt der Name wie der Gebraud) der 
autochthonen Norudarre, der Nije, in den Ojtieeprovinzen üblich. 
Während das Haus der Ehjten fehon fange nicht mehr als Yaditube 
benupt wird, dient eo noch jebt jehr Yäufig als Nije. Yud) bei 
den Yetten im füdlichen Yivland findet man nach dazıwiicen 
Wognjinde und Nie vereinigt; in Murland dagegen mul die 
Trennung derielben jchon jeit fo langer Zeit vorfihgegangen fein, 
























get. 








Die Eingeborenen Pinlands im 13. Jahrh. 


dab jest nicht einmal eine Erinnerung daran übrig geblieben zu 
ein jcheint"). 

Das gebörrte Getreide wurde im Haufe oder im freier 
gedroichen; eine befondere Dreichtenne, wie man fie jeßt meift mit 
der Nie unter cinem Tache findet, gab cs nicht. Das Korn 





wurde von Finnen und Velten auf einer Sandmühle vermahlen ® 

Die landwirthichaftlihen Arbeiten: Adern, Zen, Ernten 
und Treichen mwinden wohl in erjter Yinie von den Weibern, 
befonders ZSllavinnen, dann auch von Yansiklaven und erit in 
legter Linie von freien Männern betrieben. Desgleihen war das 
Trehen der Handmühle eine Weiber- und Sflavenarbeit ’). Der 
freie Mann befahite fih) lieber mit den angenehmeren Theilen des 
Wirthichaftotebens, mit Pferde, Xieh- und Bienenzucht, mit Jagd 
und iicherei, Beichäftigungen, die ihm jederzeit erlaubten, dem 
Ariegerufe feines Stammes zu folgen. Auch jest noch finden 
wir in einigen Teilen Cefelo und der übrigen, dem Kigajchen 
Meerbufen vorgelagerten Jnieln die AFeldarbeit von MWeibern 
gethan, während die Männer Küchfang md Schiffahrt treiben, 
oder fih als Erd: und Holzarbeiter auf dem Feitlande verdingen. 

Eine ungleid wigtigere Stelle als der Aderbau, deinen 
Pferdes und Viehzucht im Wirthichaftsbetriebe der Eingeborenen 
eingenommen zu haben. n Hauptreichthum bejtand cben in 
den Heerden, die ihnen Nahrung und Nleidung boten und ihren 
greifbaren Bejip vepräientirten. Während fie bei feindlichen Weber 
fällen genöthigt waren ihre Nerter preiszugeben, unter Umftänden 
auch das geerntete und verfiechte Getreide, Fonnten fie ihr Vieh 
mit fih nehmen in die Burgen, welche daraufhin eingerichtet 
waren, oder in die Waldverftede. War das Nriegsweiter vorüber 
geranicht, To eriienen die Flüchtlinge wieder bei ihren Hütten, 
brachten diefe mit leichter Mühe in den vorigen Zuftand, retteten, 
was von der Ernte zu retlen war, und begannen won Neuen 
den Kampf ums Dafein. She wichtigfter Bejik, den fie dem 












































Y) Lpl. Yeuningen, fett. Has. . 
le Ahlgviit, Aulturwörter. 3 IS. Bamingen, Ict. Haus. 

A Bgl. Hehn, Nuktwroflanzen. I. 49. „Die Mühle zieh 
der Selavin im Weitgntpengeig 1100. Ceijer, Bed. Scwdens L 














354 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr. 


Verderben entzogen hatten: Pierde und Vieh, unterjtügte jie darin 
wirffam, 






Heinvid) von Lettland berichtet Häufig von der grofen Menge 
der den Nrenzfahrern afo Beute anheimgefallenen erde und 
Viehheerden; fo werden j. 3. 1209 in Sontagana 4000 Ochien 
und Nühe, ferner Pferde und Aleinvich ohne Zahl erbeutet, des 
gleichen in Harrien unzählige Ninder und Schafe; 1211 fielen 
den Deutfchen bei Thoreida an 2000 Pferde des chjtniichen Heeres 
in die Hände, eine gleiche Anzahl 1217 in Zaccala.') Auch 
font wird betont, dah die Veute an Vich und Pferden in den 
ehjtniichen Yandichaften fehr bedeutend war. 

Von Hansthieren werden, aufer dem erde md Ninde, 
Schafe, Ziegen und Hunde erwähnt”), dagegen erfahren wir nichts 
von Schweinen und Geflügel. Cs it jedoch anzunehmen, daf; den 
Gingeborenen das Schwein und vom Geflügel jedenfalls das Huhn, 
vielleicht auch die Gans befannt war’). Ja einer Urkmde von 
1242 werden Jinshühner der ptichen Ehiten erwähnt‘). 

An eine sielbewute Züchtung deo Nindviche haben wir 
nicht zu denfen; eine foldhe hat in den Oftieeprovinzen überhaupt 
exit in moderner Zeit begonnen. Wielleicht haben foldhe Stämme, 
welche meift zu Pferde ins Feld zogen, wie die Yithauer, Jenvier, 
Mierländer md Oejeler, einige Zorgfalt auf die Aufzucht guter 
Pferde verwandt”). Im Allgemeinen muß; im Auge behalten 
werden, daf, entiprechend den rohen wirthichaftlichen Voritellungen 
jener Zeiten, ein größeres Gewid: auf Cuantität als Cualität 
der Nugthiere gelegt wurde. 























33 Chrom. Byv. Dh go 2a 2a 30, 5 

>) Ebenni. 16, 1 

>) Ahlqvit, Kulturmörter. & 20 f.aber 3.22 Unım.! Das Schwein 
üt eing der ätteiten und beliebteften Dansthiere Miustenropas. gl. S- Yampreiht, 
Wirthidiaft und Net der Aranfen zur Zeit der Voltsrchte. Sifter, 
buch ed. W. Maurenbrecher. Leipzig Bf. Ebenio 
Vgl. Hchn, Aultuepilangen. 3. Nach Plinins wurden in Nalien Hänie 
federn aus Teuticpland eingeführt. pl. Meigen, Boden 1. Verlin ISIN. &. 31. 

DER 
a 


































Tentichen 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 355 


Von befonderen Vichweiden ijt nicht die Nede. Es herrichte 
die fog. wilde Weide, wie das ja bis anf unjere Tage geblieben 
üt. Pferde und Vieh weideten meilt ohne Hirten, wo jie wollten, 
bauptjächlid) wohl auf den durch Naubbau gewonnenen Buich- 
fändereien und überhaupt im Walde. An eine Beichränfung des 
Weideganges dachte man das ganze Mittelalter hindurch nicht, 
höchitens wurden die jungen Zaaten durch Zäune geihügt. Ebenfo- 
wenig fand eine Pilege der natürlichen Wald» und luhwiefen 
ftatt, obgleich die Heugewinnung bei den fangen Wintern für den 
zahlreichen Piehftand von großer Vedentung fein mufte. Auch 
die Wicjen galten, wie alles übrige Yand mit Ausnahme der 
ungemähten Neder, als offenes Weidegebiet; nod) in unferem Jahr: 
Hunderte fie man die Wiejen bier zu Yande abiichtlid abweiden, 
„damit das Moos durchgefreten werde”). 

Schr alt und beliebt, wie bei fämmtlichen Völkern des 
Nordens, war die Vienenzuct. 

‚Heinrich berichtet uns von den Vienenbäumen des Caupo, 
welche die Yiven zerbroden Hatten (10, 1), ferner über einen 
Aufitand der Yetten von Antine 1212 wegen Yeder und VBienen- 
bäumen (16, », 0). In ipäteren Urkunden finden wir unzählige 
Zeugniffe über die fehr auogebreitete Vienenzucht der Eingeborenen. 
Stets ijt von Bienenbäumen die Nede; die Bienen wurden alio 
im Walde in hohlen Bäumen gehalten. Diefe waren im Gegen: 
fage zum Walde jelbjt, der Jedermann gehörte, Privateigentbum. 
In fpäteren Zeiten wurden fie ausdrüdlic als foldhes anerfannt 
und vererbt?). Noch jegt finden wir nicht felten in laubwaldreichen 
Gegenden Spuren folder urwüchfigen Vienenzucht. 

Die Produkte der Vienenzuht: Honig und Wachs, waren 
für die Eingeborenen von bejonderer Bedeutung, denn fie jtellten 
nicht nur einen Gebrauchswerth, fondern aud) einen Taufchwerth, 
einen Handelsartifel dar. 

Dafi die Kiven den Honig zur Vereitung von Meth gebrauchten, 
geht aus Heinride Chronik hervor’). Tb die Cingeborenen nod) 














%) Hucd, Yandwirthichaftl. 


BT. 1 4. V12760, pl, Nosfinnen, Kinn. 





Rp. d, | und Hchn, Aulturpflanzen. 36 {. 


356 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


andere beraufchende Getränfe gefannt haben, fönnen wir unferen 
Quellen nicht entnehmen. Wulfitan berichtet, da die Aiften Meth 
und gegorene Stutenmilch getrunfen, Bier aber nicht gefannt 
yätten. Dagegen verfihert Ahlquiit, dah die Finnen feit Urzeiten 
ein aus Malz ohne Hopfenzufat gebrautes Bier fannten; aud) 
giebt «6 genuine ehftnifche und liviiche Yenennmgen für Malz 
und Dünnbier, dagegen ift der fithauifd)-lettiiche Name für Vier 
alus dem Altnordiichen entnommen, wie aud) der gewöhnlidhe finniiche 
Name olut!). Bom Gebrauche der den meiften Nomadenvölkern 
eigenthümlichen Stutenmilh finden wir bei den Cingeborenen 
feine Spuren. 

Neben Aderbau und Viehzucht jpielten Jagd und iidherei 
eine große Rolle. 

Die mächtigen Wälder und Vtoräfte, die das ganze Land 
bededtten, nur umnterbroden von den infelgleihen Ciebelungen, 
bargen einen reichen Mildftand: Bär, Wolf, Luchs und Fuchs 
lieferten warmes Gewand, der mächtige Elch unübertreffliches 
Keber?), Eichhorn, Marder, Filholter und Biber ihr wundervolles 
Pelzwert, den von Nufen und Nordmännern eifrig gefuchten 
Handelsartiel, den wictigiten Taufchwerth, das Geld ir Ein: 
geborenen. And für die Nahrung war die Jagd von Bedeutung, 
wenn auc) nicht in jo Hervorragendem Maafe wie die 
an der langgeftwedten buchten- und injelreihen Wieereofüfte, in 
den unzähligen Scen und Flüfen des Anlandes. 

Dem Häring und defien Vettern, den an der Livländifchen 
Nüfte bejonders heimiichen Strönlingoarten, dem Lacjo und deiien 
Familie, fowie den unzähligen übrigen Fiichgattungen wurde eifrig 
mit ep und Angel, mit Fichwehre und Sepkorb nachgejtellt?). 

Wir fommen mın zu der Frage, wie weit von einem Handel 
der Eingeborenen im 13. Jahrhunderte die Nebe jein ann. Diefe 
Frage hängt mit einer andern, in der Cinleitung erörterten, 
zufammen, welder Art nämlich die Vezichungen der Norbmänner 




















% Ebendal. &. Ahlgeift, Aultrwörter. S. 30 f. 

= Die nunft Zelle zu bereiten und zu färben, it von Alters den Ainnen 
befannt. Ugt. Aplgvüt, Ault. 1. auch X U. DI 008. 

» Urkunde von tv. 1330, Sept. 7). Mikeil, 
a. d. fiot. Geih. NIS 
















Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 357 


zu den Bewohnern der ojtbaltiichen Küjten waren, ob blos Friege- 
rifcher oder auch wirtbichaftlicher Natur. Wir haben dieie Frage 
offen gelajfen. Cine Thatfahe it, dah eo Gegenftände bei den 
Eingeborenen Alt:Livlando gab, die ihren Nachbarn begehrens 
werth erfchienen umd welche diefe auf die eine oder andere Weife 
zu erlangen fuchten. Die gewöhnliche Art folder Verjuche beitand, 
wie wir gefehen haben, in räuberiichen Neberfällen. Dieje tonnten 
zu vorübergehender oder dauernder Abhängigkeit eines Elammes 
führen, welde fi in Tributpflictigfeit d.h. in regelmähiger 
Lieferung der begehrenswerthen Gegenftände äuferte. 

Die Gegenftände deo Tributeo waren daher aud) zugleich 
Handelsartifel, fie wurden gegen andere Waaren eingetaujcht. 
An einen Handel im gewöhnlichen Zinne haben wir feinenfalls 
zu denfen, jondern nur an Tanjchhandel. 

Die gewöhnlichiten Tributgegenjtände und Dandelsartifel waren 
Honig und Wach, fowie die mıf der Jagd erbeuteten Felle wilder 
Thtere. Wir haben oben das Pelzwerf alo Geld der Eingeborenen 
bezeichnet. In der That if das Wort Geld jowohl bei den 
Finnen als den Velten von finnifhen Bezeichnungen für Fell amd 
Pelz abzuleiten"). Heinrich von Lettland nennt das als Geld 
gebrauchte Pelzwert nagatae, er jpricht von ma rum. 
Die tehnüche Bezeichnung nagatae it aud) bei ruifiichen Chroniften 
zu finden, jie ftammt vom fivifchen nagad - - Felle; ihr ganz 
analog üt der rufiiche Begriff Nuny enyınd gedacht, der eigentlich 
Dlarder und übertragen Geld bedeutet 

Ferner erwähnt Deinrid einer zweiten Geldforte, welche wie 
bie Nagaten den livländiichen Cingeborenen eigenthümlich it, 
nämlich der Tferinge. 

















!) Im Finmifchen und Ehftnifchen heiist Geld raha. was wriprünglich 
Bel des Mobiires bedeutet. Ahlzit, Mult, &. In f- Ausfinnen, Finn. 
Seid, &. 17. Ym Leihen het Bed nauda, weites Wort auc im Ehtniiten 
orlommi (eleipoig, 11, 782) und von nahık, Pur. nahad 
= Fell jtammt. Bpl. Mplgpi 98 und Pabit, 























finnen, Zinn. Geich. 
fiol. Geld. U, 





358 Die Eingeborenen Sivfands im 13. Jahrh. 


Von den Oferingen wiffen wir nur, dab fie Silber waren, 
wohricheinfih ein vielgebrauchter Schmucgegenitand, vielleicht 
Bruftipange oder Hemdidnalle. Ihr Werth wird von Heinrich 
einer halben Mark Sitbers, aljo gegen 8 Loth reinen Silbers 
gleichgeiegt'). Der Dfering wäre aljo etwas der alten Griwna 
der Rufen Analoges, welche ebenfalls uriprünglid einen Schmud, 
wahricheinlid) einen mit Münzen behangenen Halsichmud bedeutete?). 

Beide Geldjorten, Nagaten und Oferinge, find Fultwehiitoriich 
äußerjt interefiant. Wir finden in ihnen tppiiche Geldformen 
einer gewilen Nulturjtufe: den hervorragenditen Gegenjtand des 
Austaujces mit fremden Völkern und einen Gegenitand, welder 
einen wichtigen Theil des beweglichen veräuherlichen Yeiigthums 
bildet. Der Ofering entipricht hen einer weiteren Entwidelung 
des Gefdverfehrs als die Nagate, da er durd feinen Metallgehalt 
einen jtabileren Werth darjtellt als Pelzwerf. Wir finden ihm 
daher in Livland das ganze Mittelalter hindurch, am Längiten in 
Nurland, wo er nod) in einer Yanerverordnung des Meijtero Frey: 
tag v. Yoringhof 1492 vorkommt’). 

Da wir feine geprägte Plünze fennen, die Ofering genannt 
wird, jo müffen wir annehmen, dal; damit jtels ungeprägtes Silber, 
wahricheinlich Schmud, im Gewichte von 8 Loth gemeint üt. 

Im Lande felbjt gab es feine VBergwerfe, in denen Metalle 
gewonnen werden fonnten, fie mußten aljo auf dem Wege des Taufc- 
verfehrs eingeführt oder durch Sceraub erworben werden. Zahlreiche 
Hräberfunde haben Münzen der verichiedenften Nationen zu Tage 
gefördert, neben römifchen, fufiichen, bnzantinichen, angelfächfiiche, 








Fabit, Bein. v. 
6. SE. 11 und 28. 
oder Alteribümer Ki 











Torpat 1812, 
a Kiol VL 160, 550, BO 1 
des Meifters Jobann Ärentag von dem Yorinthove d. d. Aecı 
Neichs Arch. Stocholm. 1 mv. 10. Up. € Schirren, 
int. Urt. in fchnwed. Arch noch ungedructe Urt. verdanft Lerf. 
der Yicbenswürdigfeit des Germ T. Stavenhagen. Tferinge fonmen auch wor 
im Kalewivoög VI 387 und im jog. für. VauerNecht, abgedrudt in N ©. d. 
Dunge, Veiträge zur Aumde der Five, ejth: und Furländ. Rechtsqueiten. Miga 1832, 























Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 359 


fandinavifche und deutiche, dem Alter nad) einen großen Zeitraum 
umfahend, die jüngjten aus einer Epoche, welche mit der deutichen 
Eroberung zujammenfüllt. 

Der Neichtgum an Edelmetallen iheint nad) unieren Quellen 
iehr bedeutend geweien zu fein. Die Summen, welde der Chronift 
Heinrich als Tribut, Strafzahlungen oder Beute anführt"), rufen 
durch ihre Höhe unfer gered)tes Erfiaunen hervor. Den aufftändiihen 
Aa-Liven wird 1212 eine „mähige” Geldjrafe von 100 Oferingen 
oder 50 Mark Silber auferlegt; der gemarterte Talibald verräth 
den Chjten einen Theil feines Baarvermögens: 50 Tferinge, aljo 
25 Mark; die Söhne des Talibald erbeuten in drei Tagen in 
Notalien (Wiek) allein an Silber drei liviiche Talente, was nad) 
den Berechnungen Ktaranıfins 180 rujliihe Pfund, nad) denen Ktrufes 
fogar 204 Pfund, zum mindeften aber, wenn man das livijche 
Talent mit dem Kichpfund identifizirt, 60 Pfund wären). 
Bedenfen wir nun, daß außer den Söhnen Talibalds das übrige 
6000 Mann jtarfe Heer gervih auch nicht unbedeutende Beute an 
Gelmetall gemacht haben , jo fünnen wir eine Vorftellung 
von dem Heichtum der Chiten in der Wiek gewinnen. Won 
vielen fonjtigen Veihpielen jei dann noch angeführt, da die Yithauer 
geld für den Häuptling Lengewin 500 Lferinge, alio 
md Silber zahlten?) und daii das Strafgeld der Ein- 
geborenen für verfagte Heeresfolge von den Nreuzfahrern 1207 auf 
3 Mark, alio anderthalb Pfund Silber, pro opf fejtgefegt wurde?). 

Bringen wir die Zeugnffe unferer Chroniften mit der That: 
fache in Zufammenhang, dafi fid in den Gräbern der baltiidhen 
Indigenen jehr häufig Münzen und Schmucgegenitände finden, 
fo ift unfere Annahme von dem Neichthum der Eingeborenen an 
Edelmetall gewiß berechtigt. 






























}) Chron. Lyv. 1 19, 
2) Lgl. Raranıjin, Alf. Geich. 
Soontagana xx. Xerh. d. gel. Ehitn. Ge 
Pabit, Heine. v. X. &. 74, Anm. 10 und Mm. I7 meint nach Arndt, 
Lot. Seid. IS. 177, Anm. dahı unter einem lvifchen Talent ein Lid, 
DO.) zu verftchen jei. Terjelben Meinung it Aplqvit, Aulturwörier, 





& Neufe, cher die Burg 









360 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Wie weit ihre Fertigfeit ging, das geraubte oder eingetaufehte 
Nohmetalt fünjtleriic zu behandeln, fann an diejer Ile nicht 
entidieden werden. Es ift eine der Aufgaben der prähifteriihen 
Forihung durd) Vergleihung der Funde feitzuitellen, ob es ein 
antochthones Nunitgewerbe gegeben hat. Da ein jehr großer Theil 
der bisher gefundenen Gegenjlände unftreitig in fertiger Zorn 
von fremden Nationen geraubt oder erhandelt ift, jo wird eine 
Vejtimmung der einheimifden Erzengnüffe nicht leicht fein. Wenn 
wir überdies nod) in Betracht ziehen, daf; die Siedelungs-Gebiete 
und Perioden der germanifchen, litoflaviicen und finnifcen Nationen 
wiffenichaftlich keineswegs ganz feitftehen, To fann vor übereitten 
Schlühjen und haltlojen Hypotheien nicht genug gewarnt werden?). 

Was bier von den Edelmetallen gejagt worden ift, mufz auch 
auf die gewöhnlichen Metalle, vor Allem das Gifen, ausgedehnt 
werden. Wir willen, daß die finnijchen Wölfer jeit Alters die 
Gewinnung des Sumpf: oder Najeneifens verftanden, und daß fie 
in der Bearbeitung desjelben eine hohe Gejchidlichleit erlangt 
hatten?). Sie waren wegen ihrer Schmiebefunjt bei allen nordifchen 
Völkern berühmt: finniiche Schwerter werden in den isländiiden 
Sagen häufig erwähnt; der berühmtefte Schmied der Edda ijt ein 
finniicher Rönigefohn. In der finnischen Sage jelbft ipielt die 
Sıhmiedetunfl eine große Nolle: eine alte Nune jingt von der 
Geburt des Cifens aus Sümpfen ımd Seen?), der vergötterte 
Heroe Ilmarinen der Nalevala war ein Schmied. 

Die Ehften und Yiven aber deinen die Runft der 
gewinnung nicht in ihre neuen Zige an der baltischen Küfte mit: 
gebracht zu haben. Die Namen für Schmied, Schmiede und 
Schmiedegeräthe haben fie zum größten Theil von ihren lettischen 
Nachbarn übernommen*). Vezeihinend ijt aud, da der ehitniiche 
Nationalperos Kalewipoög fid) jein Schwert in Finnland fÄhmieden 




















9) Bat. 3. Girgenfohn, Pemerfungen über die Erforidung der fivländ. 
Worgefchichte. ige IS. S. 15 f. 

2) Bl. Ablovift, Rulturwörter, 
jögren, Gejammelte Schriften 1. 
631, MT. 
®) Salenala IX. 
+) Ahlgvift, Aulturwärter, 






GSeijer, Gel. Schwedens 1, 
Wetersburg u. Leipgig 1801. 






Se. 6; 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 361 


läßt. Wir mülen aljo annehmen, da die Cingeborenen das 
Eifen, welches fie für Geräthe des täglichen Gebrauds und befonders 
für ihre Waffen benöthigten, ebenfalls aus der Fremde und zwar 
Hauptjächlich durch Raub bezogen haben. 

Gegenftände der friedlichen Einfuhr waren, wie aus einer 
Stelle in Heinrichs Chronif geichloiien werden fann, das durch 
Seeraub mur jehr icwer zu erlangende Salz und gothländiider 
Wadmal, ein fefter dunfelev Wollenftoff, der im Großen nnd 
Ganzen in dem heutigen, denjelben Namen führenden, Wollenzeuge 
der Letten und Ehfien wieberzufinden ift!). Man fönnte nun mus 
dem Bebürfnifie nach fremdländifchen Wollenftoffen den Echluf; 
ziehen, dal; die Gingeborenen — wenigiiens die finnifchen Völfer 
die Behandlung der Wolle noch nicht fannten. In der That 
waren die ältejten Stoffe der Finnen ein Gewebe aus Neffelfäden 
nnd der bei allen mongolifden Hirtenvölfern gebräuchliche Filz 
aus Kuh oder P erdehaaren; die Behandlung der Schafwolle Fam 
erjt viel fpäter auf, die Werkzeuge dazu: Scheere und trage find 
hen und Ghitniichen dem Deutichen entlehnt?). Dagegen 
fann aber angeführt werden, day die ältejte Wollgewinnung durd 
Ausrupfen nicht durch Scheeren vor ih ging, ferner dai; die 
Kalevala (23. V. 388 fi.) das Weben der Schafwolle tennt. 
Die Frage muf alfo offen bleibe 

nrid) von Lettland erzählt (27, «), dal die unterjochten 
Harrier im Winter 1223 den Nrengfahrern Tribut und unzählige 
pas“ fchieften. Das chitniihe Wort Yaip bedeutet Dede, 
Umjchlagetuch und ift dem Altnordiihen entlehnt, wo veipa eine 
Tede as grober Wolle oder Kuhhaar bedeutet’); cs ijt nicht 
unwahrfcheintid, da bei Heinrich darunter die altfinnifchen Filz: 
deden verfianden find, welche den Deutichen auf dem Winterjeld- 
zuge die beiten Dienjte leiften mußten; wären «6 gewöhnliche 
Wollendeden geweien, jo hätte der Chronift faum die autochthone 
Vezeihnung gebraucht. 5 

































%) Chrom. Lyv. In Vgl. Pobit, Seine. v.Y. 3.9. Ahlgoit, Rulturs 
wörter &. 8. 

2 Bol. Whlgvit, Kulmmmörter, &. 50 j. 81, 206. 

%) Ebendai. &. 155. Tas Wort finder fi) auch, Liol. U. 3. 1 603. 





362 Die Eingeborenen Livlands in 13. Jahrh. 


Ein weiterer Handelsartifel, den Heinrich ausdrücklich bezeugt"), 
waren Sklaven. 

Es ijt oben wiederholt geichildert worden, wie auf den Naub- 
zügen der Cingeborenen die Männer meift niedergemacht, bie 
Weiber und Kinder aber in die Gefangenichaft geführt wurden. 
Tifenbar jdeute man id davor, allzuviel männliche Sklaven zu 
halten, da fie bei der häufigen Abweienheit aller friegstüd)tigen 
Männer leicht gefährlic, werden fonnten. Die Cflaven und bejon- 
ders Sflavinnen wurden theils verkauft, theils in der Wirthicaft 
als Hausjklaven verwandt. 

Bis zur Einführung des Chriftenthums ift das Inflitut der 
Sklaverei in allen Nüftenländern der Titjee und in Nukland 
allgemein verbreitet). Später wurde der Menichenhandel als 
unvereinbar mit den Grundideen des Chriftentyums eingejchränft, 
wenigjtens foweit er Chriften betraf, während Heiden nad) der 
Anichauung des Mittelalters in diejer Hinficht nicht als Denfcyen 
betrachtet wurden. An anderer Stelle foll gezeigt werden, da 
der Handel mit Nriegsgefangenen und die damit verbundene 
Sftaverei bis gegen Ausgang des Mittelalters in unjerer Heimath 
angetroffen wird und eigentlid) nur aufhört, weil eo feine Heiden 
giebt, die befriegt werden fünne! 

Die Handelsartifel der Eingeborenen bejtanden alfo in Honig, 
Wachs, Pelzwerk und vielleid)t gegorbenen Häuten als Export, in 
Goelmetall, Eiien, Salz und Wadmal als Import. Dazu fam 
der Handel mit Kriegsgefangenen. Der Handel fann beim Mangel 
von Ztäbten, alio gröferen Verfehrszentren, fowie jeder Organifation 
nur jehr geringfügig gewejen fein. Cs war ein Taufchhandel ohne 
jeven Markt, wie er bei unzivilifirten Völkern üblich it; Begierde 
und Zufall beftimmten die Preife. Meift aber wurden fowohl 
Ginfubr- wie Ausfuhr-Artifel ohne jede andere Gegenleiftung als 
Mord und Brand beichaiit. 



























Naramjin, 
Nach, Reitors Chronif 
wjätostam Pelzwert, Wade, Donig 
nde der ruifiichen Ausfuhr bezeichnet. Ugl. Löwis 
Is. 





Seid. Nuflands 1. 
ihen Anno ’ vom Groisfüri 
als. Segen 


Val. ebendai, 









Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 363 


VI 

Der schwierigfte Theil unferer Unterfuchungen über die 
vordeutiche Nultur der Eingeborenen it unftreitig derjenige, welcher 
fid) mit Neligion und Ethit derjelben befaiit. Denn hier 
bewegt jid) der Hiftorifer nod mehr als font auf gleichiam 
fchnanfendem Boden. Er fann nicht unternehmen, eine volljtändige 
Vipthologie aufzutellen; dazu gehören weit tiefergehende Studien, 
die in das Gebiet der vergleichenden Völfer- md Spradhfunde 
fallen. Auch darf er die Gefahren derartiger, meijt retrofpeftiver 
Forichungen nicht gering anfdylagen. Ihatiaden im Sinne hilto: 
rifher Wahrheit Laffen fh auf diefem Gebiete nicht leicht feit: 
ftelfen, denn ©6 ift unendlich fchmwer, ja oft unmöglich, die 
urjprünglichen religiöfen und ethiihen Vorftellungen von jpäteren 
fremden, fowohl heibnifchen als chriftficen Ginflüflen zu reinigen. 
6 laufen bei allebem mehr Supothejen unter, als ein Hillorifer 
verantworten darf; zudem fünnen fich jelbft die Wipthologen von 
dad in jehr vielen Frageı nicht einigen. 

Daher bleibt dem Hi von übrig, fi, mit den wenigen 
maften IThatjachen zu begnügen, welde ihm die geichichtlichen 
Quellen bieten, wodurd feine Darftellung Targer und nüchterner 
wird, als es ein Stoff von jo allgemein menfchlihem Intereffe 
verdiente. 

Das Gebiet der religiöfen Vorftellungen ift feit uralten 
Zeiten ein befiebter Tummelplag für die Phantafie der Chronijten 
und Neifenden geweien. So fünnen wir von den märdenhaften 
Berichten eines Wulfjtan und Adam von Bremen abjehn. Lesterer 
erzählt, daß die Nejtuer Drachen und Vögel angebetet hätten. 

Shroniften des 16. Jahrhunderts: Crasmus Stelle, Simon 
Grunau und nad ihnen Lukas David haben auf Grund der 
fpärticen Verichte des Peter von Dusburg für die alten Preuhen 
eine fompfizirte Neligion erfunden. Wit Zuhilfenahme freier 
Phantafie haben fie einen ganz ausgebildeten Nultus mit einer 
Göttertrins, unzähligen Nebengöttern und einem hierarhiichen 
Prieftertgum zu Stande gebracht !). 























1891. 6. Vertyolz, Il 
zichs) Baltiice Monatsicheift Bd. 


wifche Urgefgichte. (ed. ©. Diedee 
1856. 


364 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahr. 


Vis in die neweite Zeit find diefe Fälfhungen geglaubt 
worden; bedeutende Hifterifer, wie j. DB. Johannes Voigt), haben 
fie anf Tren und Glauben angenommen. 

6 lag nahe, Netigion und Kultus der alten Prenfien auf 
die finmmverwandten Letten zu übertragen. Das ift im vorigen 
Jahrhunderte mehrfach geihehen. Männer vom Scjlage eines 
Diertel?) haben jolche Fälihungen, als ihren Zweden entiprechend, 
wiederholt und erweitert. So ift es gefommen, dal; heufzutage 
die fogenannten gebildeten Ketten glauben, ihre heiniichen Vor: 
fahren Hätten der Göttertrins Perfunos, Rotrimpos und Pifolos 
geopfert, chrwürdige Waidelotten hätten im DTunfel der heiligen 
Haine myftiiche Handlungen vorgenommen, Widewut der „Mojes 
der Yetten” hätte Worte des Yebens verkündet umd Anderes mehr. 

Thatjache ift, daß wir von den Neligionsvorjtellungen der 
alten Petten jo qut wie Nichts wiifen. Das phantaftiidhe Gebäude, 
welches jchriftitelleriiche und nationate Citelfeit errichtet hat, fällt 
in fi felbjt zuit 

Unterfuchen wir nun, was der Hiftorifchen Kritif Stand Hält. 

Wir fünnen wohl annehmen, dal die ganze lithauifc) lettiiche 
Völferfamifie diejelben Grundzüge religiöfer Vorftellungen gehabt 
hat. Dusburg jagt von den heidnifhen Preußen: „Die Preußen 
hatten feine Kenntnif von Gott. Weil fie einfältig waren, 
fonnten fie ihn nicht mit der Vernunft erfaifen und weit fie feine 
Vuchjtaben hatten, fonnten fie ihn aud) nicht in Schriften 
erihauen -- darum verehrten fie in ihrem Jertjum jede 
Kreatur als Gott: Sonne, Vlond umd Sterne, Donner, Vögel, 
vierfühige Thiere, jelbit die Nröte. Cie hatten auch heilige Haine, 
Felder und Gewöhler, in denen fie nicht wagten, Holz zu fällen, 
zu adern oder zu flchen.“ Es ift aljo ein Natur- und Elementar- 
dienjt, welden die Preußen ergeben waren. Die Namen von 
Gottheiten führt Dusburg nicht an; daf die eingelnen Natur: 
gewalten in Gottheiten verförpert, wenn auch nicht vergeiftigt, 
gedadht wurden, it anzunehmen. Aus einer Urkunde von 1249 














1) Seicichte Preußens von den älteften Zeiten x. 1 Gap 9. 
2) Qgl. defien „Die Vorzeit Kieflands.“ Berlin 1789, 








Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


erfahren wir vom Dienfte eines Gögen Nurche, der ein Gott des 
Feldbanes geweien zu fein fweint. Die Namen der Götter 
Patollus und Natrimpe ericeinen erft im 15. Jahrhunderte’). 

Die Nachrichten über die Neligion der alten Letten 
nod) jpärlicher. Der Chronijt Heinrich, den man felbjt für einen 
Letten gehalten hat, berichtet uns nicht das Geringite darüber. 
Er erzählt nur, da Semgallen und Ketten durch das Loos den 
Willen ihrer Götter erforicht hätten).  Dierfwürdiger U 
holten die Yettgallen den Nath und die Einwilligung ihrer Götter 
ein zum Uebertritt zur hritlichen Neligion, wobei fie ihnen blos 
freiftelften, id für den römifchen oder griedifchen Glanben zu 
entjcheiden. Die Neimchronif fpricht ebenfalls mr ganz allgemein 
von dem Heidenthume und den jalihen Göttern der Yetten und 
ihrer Stammesgenoffen; blos einmal erwähnt fie des Perfim als 
Abgottes der Lithauer ?). 

Es unterliegt wohl feinem Zweifel, dah auch die Lithauer 
und &etten gleich ben Preußen, entipredend ihren bäuerlichen 
Lebensgewohnheiten und Anfchauungen, einem einfachen Natur 
bienfte gehuldigt haben werden. Verichte Geiftlidher aus dem 
16. und 17. Jahrhunderte über die Nefte des Heidenthumes unter 
den Letten weifen deutlid darauf hin. So jagt Salomon Henning 
(1589) „Vorzeiten fich diefes undentiche Wolf, wie and noch wohl 
einestheils heimlich, großer Abgötterei gebrauchet, die Sonne, 
Stern, Diond, Feuer, Waffe, Ströme und jchier alle Kreaturen 
angebetet.” Auch der Verehrung „böler Nöten" als Mitd: 
fpenderinnen erwähnt Henning *). Aehnliches erzählt uns Paulus 
Einhorn (1636 md 1649). Die Yetten hätten Zone, Mond, 
Donner, Blig und Winde verehrt, daneben hätten fie Natur: 

















!) Vgl. Lohmener, Gefch. v. Tit- und Weitpreufien. S. 26 fi. 
# Chron. Lyv. U: 1a 
2. 1356. 








Wahrhaftiger Bericht, wie 68 bisher —- in Neligionse 
jachen Fürftenthumb Churland — ift gehalten worden. Nojtod 1580 S. 
Rgl. IH. Kallmeyer, Die Yegelndung der enang.chuth. Nirhe in Kurland ıc. 
Wittheil. a. d. Til. Geld. VI. S. 80. 





366 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Götter gehabt; er ipricht von Müttern md Göttinhen des Meeres, 
des Acers, der Wälder, Wege, Gärten !). 

Dem Elementar: und Naturdienjte entiprechend, fand die 
Götterverehrung im en jtatt, meilt wohl im Malde. Mir 
finden in mittelalterlichen Urkunden mehrfad) Heilige Haine und 
Wälder auf lettiihem Siedelungsgebiete ?). Noch bis in das 
17. Jahrhundert haben fid Spuren Heidniicher Opferfeite erhalten, 
fo berichtet uns Einhorn, dah die Yetten zur Zeit der Belt 1602 
und 1625 ihren Göttern Vieh geopfert und dabei Trinfgelage 
abgehalten hätten. 

Derartige Trinfgelage mit religiöfem Charafter wurden 
wohl auch bei der Feichenbeftattung q invid) von Lettland 
befundet e8 von den Lithauern ?). Diejelbe Sitte findet fih, wie 
wir jehen werden, auch bei den finniichen Wölfen. Die Form 
des Vegräbniffes bei den alten Yetten ift uns nicht überliefert 
worden. Die alten Preufen pilegten ihre Todten wie die finnifden 
Qölfer zu verbrennen *); auf lettiichem Siedelungsboden haben fich 
aber bisher — meines Wiffens — feine Brandgräber gefunden. 

Es ijt Höchjt wahricheinlih, da die Ketten an ein beiieres 
Ienfeits und ein Fortleben in demfelben geglaubt haben. Die 
Preußen thaten 6 nach Dusburg; und Heimid) von Lettland giebt 
uns den Vericht eines in Yithauen gefangenen Priejters, der Augen: 
jeuge davon war, wie fi) 50 lithauifche Weiber nad dem Tode 
ihrer Männer erhängten, „fintemal fie glauben, daf; fie mit diejen 
bald in einem andern Leben wieder [eben werden“ 5). 

Dah die Yetten gleich den Ehiten und Yiven ihren Göttern 
Dienjchen geopfert Haben, wird nicht ausdrüctlich berichtet, iit aber 
nad) ihrem fonfligen Nultwzujtande wahriheinlih. Die Kithauer 



































312. Eichhorn, Histo 
Tesielben „Keformatio 
abgedrudt in Seript, ver. Liv. II. ISIS, 

>) Yiol. U 9. 1540. VI 20115 and 1230 und 248, wo die heiligen 
Wälder aber wohl auf furiich hen Yoden. 

9 Chron. Lupe 

ner, Gefih. v. Preufen. ©, 
Ganz dasietbe berichtet chen Maurieius Strute- 
Ag. Müllendoff. Deutjge Aterthumstunde I. 






Dorpt in ı nd. 1619. Cap. IL. 
is Lettieae 2 Mige 1636. Weide Schriften 




















Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 367 








von Medenife verbrannten nad) Dusburg (Cap. 331) nod) 1320 
den Vogt von Sambien, Gerhard Nude, indem fie ihn ihren 
Göttern opferten. 

Ueber die fittlichen Vorftellungen der alten Leiten erfahren 
wir aus unferen nellen mr jehr wenig. Was über ihr Kamilien- 
leben berichtet wird, jtammt von Chroniten des 16. und 17. Nahr: 
hunderts; Hiän und Einhorn behaupten, dah die heidniidhen Yetten 
weder Polygamie noch Nonfubinat gekannt hätten !). Das üt 
nad) der niedrigen Rulturftufe, auf der fie nod im 13. Jahr: 
hunderte jtanden, nicht anzunehmen. Aus ihrer Poefie gebt 
hervor, dab Naub: und Naufehe herrichten, wie bei den jtamms 
verwandten Preufen?). Bei diejen war das Familienleben jo 
wenig entwidelt, „dab Vater und Sohn fi aus dem gemeinfamen 
Vermögen eine gemeiniame Frau fauften.” 

Wenn wir den Nationalharalter der Yetten beleuchten wollen, 
wie er den Deutichen im 13. Kahrhunderte erichien, haben wir 
den oft hervorgehobenen Unterichied zwiichen den thatfräftigen und 
tapfern Niederletten und den Hodhletten im Auge zu behalten, 
welche nad) des Ehroniften Ausdrud „demitthig und verachtet“ 
waren. Während die trogigen Semgallen in erbitterten Nämpfen 
fait ein Iahrhundert hindurd) ihre Unabhängigkeit zu wahren ver- 
ftanden, unterwarfen fh die Lettgallen ohne ©: it 





hwertflreic den 
Deutichen, in der richtigen Worauofegung, dal fie in diefen einen 
ftarfen Schuß gegen die Berrüdungen ihrer alten Feinde finden 
würden ?). Der Chronijt Heinrich) ijt den Yetten wegen ihrer 
Demuth und Unterwürfigkeit jchr wohlgefinnt, ihm erfhein 18 
diefe Nationaffehler als crijtlihe Tugenden. i 
die Letten geht jo weit, daß fie feine jonft unparteiiiche Schit- 
derung beeinflußt *); wie wir ja überhaupt fein direktes Urtheit nur 
mit Vorbehalt aufnehmen müjfen, denn ex erfcheint in feinen Ge: 

















9 24. Hiärn, Ehft,, Yyfs und vertlindifce Gefchiehte. &. 42. Me 
Livon. 1. Niga, 1855. %. Einhorn, Hist. Lett. Cap. NL. 

h Lgl. M. Winter, Ue geitsbräuche der Yeiten. Werh. d. gel. 
XL 3, Torpat 1 Y ohimener, Gefch. v. Preuf i 
3) gl. Heine. Chrom. Lyv. I; 12, sau 10,4 13, 
sv Hy 16. Dale Hildebrand, Ehron. 
und 169. Pabit, Hein. d, 5, Anm, 




















368 Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 


fühlen und Anfchauungen jtets als ein Nind feiner Zeit. Dagegen 
fprechen die Thatiachen, die Heinridy meijt wahr und ungeichminft 
mittheilt, eine deutliche Sprade. Die Vorwürfe der Treulofigfeit 
und Heimtüde, die der Chronift den übrigen Heiden oft macht, 
und die er alo tenfliche Verjtoctheit und Arglijt auffaht, evipart er 
den Letten völlig. Der Grund ijt jehr einfad. Die Letten hielten 
fich tren zu den Deutichen, nachdem fie einmal die Vortheile des 
Griftlichen Schuges eingeiehen hatten; nur ein einziges Mat 
erfahren wir von einem Konflikt zwüchen den Ketten von Autine 
und den Drbenobrüdern von Wenden. In dem Seere der 
Kreuzfahrer finden wir das Aufgebot der Yetten immer wieder, 
die grobe Arbeit den deutjchen Kerntruppen überlaffend, auf Flucht 
bedacht, jobald der Feind einen Vortheil erringt, anderenfalls zur 
Verfolgunug and Plünderung des geidhlagenen Feindes bereit ?). 
Der Kulturjiufe aller Eingeborenen und dem ununterbrochenen 
KRriegszuftand entiprady es, dal; fie blutdürftig und granfam gegen 
ihre Feinde verfuhren. Wenn Heinrich an einer Stelle die Liven 
und Letten graufamer nennt als andere Völfer?), jo brauchen wir 
darauf fein beionderes Gewicht zu legen. Dajelbe jagt er an 
anderer Stelle von den Lithanern *), und die Ehjten ericheinen 
uns in Nicyto menichlicher. 

Was endlich die geiftige Vildung der Leiten betifft, fo 
fehlt uns gleichfalls fait jeder Anhaltspunkt zu Nenntnifz derfelben. 
Xon den vielen uno überfommenen Volfsliedvern wird gewih; 
mand)es in die heibniiche Periode reihen; ein nationales Epos, 
wie die Ehjten, befigen die Yetten aber nicht. Die Nunft des 
Schreibens werden fie nicht geübt haben; vielleicht it ihnen die 
Hunenfehrift nicht ganz unbefannt gewefen, wie Harder fchon 1764 
behauptet °). Der Gebrauch, von Nerbhöfzern an Stelle von Schrift 








3) Chron. Lyv. 16, a 0 

2) Ebendal. I, x 

%) Ebendal. IS, 

# Ebendal. II, 

>) „Unterfuchung des Gottespic c. der alten Seiten 
aus ihrer Sprache" im Winklers Gelehrten Beiträgen zu den Rigichen Anzeigen 
aufs Jahr 1764 ©. 51. Ueber rakstit dgl. aud, Winter, Hoczeitsbräue. 
2. 












Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 369 





üden findet fih das ganze Vittelakter hindurd) bis in die neueite 
Zeit; vermittelit Nerbhöfzer oder gefnoteter Niemen haben nad) 
Dusburg die alten Preufen ihre Zeitrechnung angejtellt "). 
Welcher Art die Kenntniß; der Jahreszeiten und Monate jowie 
überhaupt der Zeitrechnung war, mul einer bejonderen Unter: 
fuchung überlaffen bleiben. Was Einhorn über die Monate der 
Leiten jagt, kann aud) einer jpäteren Nulturentwidelung angehören. 
Die Namen der Wochentage jtammen jedenfalls aus päter Zeit. 

Wenden wir uns num zu den finnif—en Völferfchaften. Die 
uriprüngliche Religion der Finnen war das allen 
ölfern gemeinfame Schamanenthum *). Die 
lagen aber in ihren nenen Sigen an der Lftfee dem Einfluß der 
ariihen Nachbarn joweit, daß fie nicht nur neue VBenennungen, 
jondern auch nee Begriffe in ihre Neligionsvoritellungen auf- 
nahmen; e3 jei hier an die reiche chitniihe Sagenwelt, die poetiiche 
Schöpfungsgeichichte und den Nult des Allvaters Tara erinnert. 
€ ijt fogar behauptet worden, dal; die heidnifchen Ehiten Mone- 
theiften gewejen feien 3); das ijt aber nicht der Fall, wir finden 
in ihrer Religion jogar noch Spuren von Fetifchiomus. 

Hier ift wicht der Ort, näher auf diefe Fragen einzugehn, 
wir wollen uns auf eine Darjtellung der religiöfen Gebräuche 
beichränfen, wie fie unjere Hifteriichen Onellen bieten. 

Heinrich von Yettland ipricht jtets im Plural von Göttern 
der Ehiten, Yiven und Kuren ®), dod nennt er uns and einen 
Sott bei Namen: Tarapita oder Tarapbita. Er erzählt, dah die 
Kreuzfahrer in Wierland einen idönbenaldeten Berg fanden, auf 
weldem nad) Ausjage der Eingeborenen der Gott der Dfilier 
Tarapita geboren jei (24, 5). Bei der Eroberung der Burg 
Mone (1227) rufen die Ehriftien Jelum an, die Tfilier aber den 











!) 2gl. Parrot a. a. 0. ©. 101. 

2) al. Aplgvit, Kult... Peterjon, Ehre. © 
Toomasions Finnitche Mythologie a. d. Schwed. in Kojenplänters Beiträgen 
zur — Nenntnif; der chitn, Sprache. Pernau 1 Sl. 

3) von Aühfmann im Anhang zu Voccler, der - Ehiten abergläubifche 
Webräudhe 2. 3 Vgl. dal. @d. von F. N. Sreute 















370 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


Tarapita. Schon der alte Kelch hat darauf aufmerfiam gemacht, 
dai in dem Feldgeichrei der Tefeler: Tarapita der Schlüfel zur 
Xerftümmelung des Namens des Gottes zu fuchen jei, denn awita 
Heißt ehftnifch: HF! Aus dem Hufe Tara awita! kann durch Wit: 
verjtändniß; leicht Taraphita oder Tarapita werden. Es it alio 
der Alvater Tara gemeint '). 

Na) dem Zeugniiie Heinrichs war aber diefer nicht der 
einzige Gott der Ofilier; er jagt ansdrüdlih: die Priefter ver- 
trieben den Tarapita und die übrigen Götter der Heiden (30, 3). 
Auch dort, wo der Wald des Tarapita erwähnt wird, ipricht 
Heinrich von den Bildern der Heidengötter (24, 3). 

Der Aultus des Tara und wohl auch der übrigen Götter 
fand offenbar im Freien und zwar in heiligen Yainen ftatt, denn 
außer dem bewaldeten Berge des Tara in Wierland wird nod) 
ein heiliger Wald bei Garetjen in Jerwen erwähnt; und ganz 
wie bei den fettiichen Stämmen finden wir aud) auf finnifchem 
Siedelungsboden im jpäteren Mittelalter ja bis auf die neuejte 
Zeit Spuren von Hain: und Yaumkultus ® 

Ihre Götter haben fid) die finnifchen Völker materiell gedacht. 
Heinrich jpricht von den „Bildern und Gleichnifien” der Ehjten- 
Götter. As die Chriftenpriefter diefe umbieben, wunderten id 
die Heiden, dal; fein Blut herausfloß (24, 3). Die Gögeubilder 
waren wohl in die heiligen Yäume hineingejchnigt. In einem 
alten chitmiichen Voltsliede, das vom Untergange deo Heibenthumes 
Handelt, findet fid) der Stabreim: „tapper tabbas Tara tamme*. 
das Morbbeil verfepte Tara's Cie’). Wie einjt Vonifaz die 
Sacjieneiche, fo füllten nun die Sachienprieiter die Gölterbäume 


























vH 
Welches Unheil di 
vgl. bei Rarrot a. a. 
theifungen über das Heidenthum ber Eften und Yiven. 
2} Heinr. Chro 2 In statafter 

wird ein heiliger Hain beim Dorfe Waerkaela angefi 
Der Liber vonsus Di Dorvat INS. Ferne 
jern geben der Ehen. Petersburg 1 
9 und Sietifch a. a. €. 
Fählmann, Seript. rer. Liv. I & 









4 Nelh, Licfl, Hifterio 10 
jrapilla (bei Öruber, Origines) 
Heinrichs v. Yeıtland Mit 

Peiersburg INS. &.9. 
er Diöcefe Neval (c. 1240) 
it. pl. 6. d. Bremen, 
Niebemanıt, Aus den 
S. 113. Areupwald, 



























Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 37 


der Ehjten, und hier wie dort jtaunten die Heiden in abergläubifcher 
Furcht ob des jtummen Unterganges ihrer Ndole. 

Daf; die Yiven denjelben oder einen ähnlichen Aultus hatten, 
geht aus mehreren Stellen bei Heinrich hervor!}; von den Kuren 
ift dasfelbe anzunehmen, aud bei ihnen finden wir im Wittelalter 
heilige Wälder. 

Den Göttern wurden Tiere und Menihen geopfert?). 
Heinrich berichtet (15, 3), daß die Ehjten Ninder und anderes Vieh, 
und daß die Liven Hunde und Vöcke ihren Göttern opferten (16, 4). 

Menichenopfer werden ausdrüdlich bezeugt’); Togar einen 
Fall von Nanibalismus finden wir bei den Ehjten: die aufjtändiichen 
Saffalaner fingen den dänifchen Vogt Hebbe und feine 
Begleiter, peinigten diefelben mit graufamer Marter, und riijen 
dem noch lebenden Vogt das Herz aus dem Yeibe, brieten es am 
Feuer, vertheilten es unter fih und frahen es, „damit fie ftart 
würden wider die Chriflen*). - 

Von der Graufamfeit der Cingeborenen it jdhon bei der 
Darftellung ihres Nriegswefens gehandelt worden. Piartern der 
Rriegsgefangenen aller Art, theils als Folter um Gejtändnifie 
zu erpreifen, theils als Form der Hinrichtung und Tpferung 
waren im Gebraude, wie wir das bei den meiften Völfern auf 
ähnlicher Kulturitufe finden. 

Von den Götterorafeln it gleichfalls die Nebe gewefen. 
Die Götter wurden vor friegeriichen oder überhaupt wictigeren 
Unternehmungen um ihren Math, beziehungsweile um ihre Ein- 
willigung befragt. Die Art der Befragung fdeint verihieden 
geweien zu fein. Der Ehronijt Heinrich jpricht meilt allgemein 
vom Befragen der Götter durd das %009°); an einer Stelle 


4) Chron. Ly 
























el; 


Bere 
*) Neber Opfer und Cpferfteine opt. Areugwald, Vorter. SS. 2 und 15. 
Wiedemann, Yeben der Ehiten. =. fl Werhandt. d. gel. Ein. 





Ge. I 3. 

® Heinr. Chron. Lyv. 
&. 24 und Pererfon a. a. D. 

4) Hein. Ohran. Lyve 20, 0 

3) Ebendal. 14,520, 2 2, Bpl. Neimsronit. 2. 4080 fi. Auch 
die Standinavier erforiten durchs Yoos den Willen ihrer Götter. Bgl. Rim- 
berti vita Anscharii. Gap. 30. 


loyo dr ne 16,5 Ngl. Sielieih a. a. D. 
18. Zaliche Angaben bei Hählmann a. a. D. 












4 


372 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jabrh. 


(5,3) 





führt er dann die ihen erwähnte Schlachtung der Opfer: 
thiere an; fallen dieje beim tödtlihen Diebe nad) rechts, jo find 
die Götter dem Unternehmen 9 gefinnt. Aber nod eine 
zweite Art Orafel finden wir jowohl bei den Liven als den Ehiten. 
Die Yiven von Thoreida wollten den Mifjionär ITheodorid) ihren 
Göttern opfern; zuvor aber erforihen fie den Willen derjelben; 
man jet den Priejter auf ein No und führt diefes über eine 
vorgehaltene Lanze; zweimal fchreitet 08 mit dem vechten Fuße, 
dem Fuße des Lebens, über die Lanze und rettet fo feinem Neiter 
das Leben). Derartige Pferdeorafel finden fi) aud bei andern 
QVlfern, jo bei den Wenden im nordöftlihen Deutichland"). Ein 
ähnlicher Vorgang, wie die Nettung des Theoderid, wird vom 
Ghroniften aus dem Jahre 1223 berichtet. Der Priejter Hartwich 
foll von Dorpater Ehiten geopfert werden; zuvor aber befragen 
die Heiden ihre Götter und jeben den rieiter auf einen jehr 
fetten Ochien, weil, wie fie in biutdürftiger Jronie fagten, der 
‘Priejter ebenjo fett fe. Der Vorgang mit der Lanze wird nicht 
erzählt, au hier vettete das Lrafel dem Priefter das Leben’). 

Dem Willen der Götter, welden fie durd; das Orafel fund- 
geben, wird aber nicht unbedingt gehorcht; jo ftürmen die Ehjten 
1211 die Burg Gaupos, obgleid das Drafel dagegen war ®). 

Ueber das MWefen der Götter fehlen uns nähere Aufichlüfie. 
Die Neite des Heidenthumes, weldhe fih in abergläubiihen Ge: 
bränden in ipäterer Zeit finden, deuten wie bei den fettiichen 
Stämmen auf Elementar- und Naturdienit, jo die Wald-, Yaum- 
und Quellenverehrung, ferner Gottheiten, weldhe die Ehiten Waldes 
vater, Waijer, Windes, Nebelmutter nennen, dod) alles diejes 
gehört bereits in dao Gebiet der vergleichenden Viythologie. 

Dah die finniihen Volferihaften an ein Keben nad) dem 
Tode geglaubt haben, it aus ben hiteriihen Quellen nicht 
erichtlich; aber vielleicht dentet der hartnädige Widerftand gegen 

















> 10 Von demfciben I 

fi, da er die Sonne 
. Barder aa. D. ©. 

3. Grimm, Teurfche Mythologie. Ed. sec. &. 

inr. Chron. Ly 





eodorich glaubten die 
. bie. Bot. Pabit, 











Die Eingeborenen Fivfands im 13. Jahrh. 373 


das chriftliche Begräbnih, welder uns jowohl in Heinrichs Chronif, 
als aus Ipäteren Zeugniffen überall entgegentritt, darauf bin). 
Auch der Gebrauch der jog. Seelenfpeiiungen, gegen welche das 
KRirchenjtatut von 1 eifert, pricht für den Glauben an das 
Fortleben der Seele). 

Die Form der Bejtattung war bei Ehjten und Nuren Leichen- 
verbrenmung; das geht aus Heinrichs Berichten deutlich hervor ®); 
von den Liven wird nicht ausdrüdlich gelagt, dal fie ihre Todten 
verbrannten, it aber jedenfalls anzunehmen. Auf die Beitattung 
fcheint Gewicht gelegt worden zu fein, denn die in einer Schlacht 
Gefallenen werden forgfäftig gelammelt, andererfeits werden bie 
Leichen der Ghriften auf die Felder geworfen, den Hunden 
zum Fra *). Auch der Umjtand der forgfältigen Todtenbeitattung 
weilt auf den Glauben an ein Jenfeits. Die Keichenverbrennung 
fand in feierlicher Weile ftatt, unter lauten Wehklagen und Trink: 
gelagen. 

Ob die oben in der Schilderung des Nriegwefeno ange 
führten iymboliicen Handlungen, wie das Treten der Schwerter, 
die Meberfendung des Speeres u. j. w. einen religiöfen SBinter- 
grund haben, bleibe bahingeftellt, desgleichen, ob auf der grofen 
Jahreoverfammlung in Raigele fulturelle Handlungen vorgenommen 
wurden. 

Von berufomäfigen rieftern erfahren wir aus unferen 
Quellen nichts. 

Die fittliden Vorftellungen der finniihen Völker werden 
ähnliche vielleicht noch niederigere geweien fein, als die der Lithauer 
und Yetten. 

Von dem Familienleben meint Ahlgviit, daß fi ein folces 
in geordneter Weife bereits bei den Urfinnen annehmen lafle, da 
in verfdiedenen finnifchen Jdiomen zahlreiche genuine Venennungen 


















") Heinr. Chron. s Nreutwald, Boccher, SS. 
116. Peterfon, Thomasjon. 


» riof AD. VII 60. 








inhorn, Mist. Lett. Cap. 13. Desicib. 











Reform. zent, Lett. Cap 6 1. 7. 5. Amelung. Baltiihe Aulturfiudi 
Dorpat 1885, &. 2al ii. 

3) Chron. Ly oh. 

4 Ebendi e 





374 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 


auf dem Gebiete der Familie nachzumeilen feien; die baltijchen 
Finnen hätten dann Vieles von den lihaniihen  Wölfern 
angenommen !). 

Volfsfiedern und Hochzeitsgebräuchen entnehmen wir, dak 
die Form der Eheichliehung wie bei den Yetten der Frauenfauf 
oder :raub war?) Aus Heinrichs Chronit erfahren wir, dah bei 
den Ehjten Polngamie geherriht Habe’). Won den Dejelichen 
Seeräubern hätte Mancher jich aus den geraubten Sfandinavierinnen 
zwei, drei oder mehr Frauen beigelegt. Es bier angedeutet, 
welchen Einfluß auf Weien und Sitten eine jolde Blutmiihung 
haben mußte, zumal wenn fie, wie wir annehmen Fönnen, häufig 
vorfam. 

Was den Nationaldaralter der finniichen Völker anbetrifit, 
fo erjcheint er allenthalben ausgeprägter und, man fünnte jagen, 
männlider alo der der Ieltiichen Wölfer. Qor Allem zeigt fich 
Liebe zur Freigeit und Unabhängigkeit. Gegen die Chriftianifirung 
wehren id) Nuren, Yiven und Ehjten, bejonders die Yepteren, mit 
aller Macht. Das Urtheil des Chroniften Heinrich it in Folge 
befien jehr abfällig, er nennt fie falih, treuloo und verjtodt ?). 
In der Schladi find die Ehiten auierordentlid tapfer, gegen ihre 
Feinde von großer Graufamfeit; wie den meijten Völfern auf 
ihrer Nulturftufe it ihmen jedes Mittel zu Vernichtung ihrer 
Feinde recht. Den deutichen Groberern waren fie wegen ihres 
Tropes und ihrer Vlutgier, befonders aber wegen ihrer Tüce 
und bodenfojen Treulofigfeit verhaft. Co hat Jahrhunderte ge: 
dauert und viel Blut gefoftet, bio die Ehjten ihre trogigen Naden 
unter das Jod des Chrijtentyums beugten. 

Neber den Intelleft der finniichen Stämme fönnen wir uns 
hier nicht verbreiten. Dieje Frage wäre wohl einer näheren 
Unterfuchung wert). Die Voltspoefie der Finnen hat wunderbar 
Ächöne Ylüthen gezeitigt, Towohl anf dem Gebiete der Lyrif, als 
der Epif; es fei bier an die Heldengefänge der Kalevala und bes 















uhe der Ejten. Werd. d. gel. 
2 fi 





Gin. © Dorpat 188. 
3) Chrom. Lav. 26, 430 
+) Ebendal. 








1 10, 5 I 5 Ceiven) ID, gg 2 24,3 26. (Ehiten). 


Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrb. 375 





Halewipoög erinnert. Zwar haben wir aud) auf diefen Gebieten 
eine jtarfe germanifche Beeinftuflung voranszujegen, dad) it c6 
unzweifelhaft, dah die finniiche Naite grofie Fünftferiiche Begabung 
zeigt 

An Intelligenz aber fcheinen die Yelten den finnischen 
Stämmen überlegen, ih Verftand ift beweglicher, leichter fallend, 
bildungsfähiger. Der Kette mit feinem biegfamen Charakter war 
den Einflüffen einer höheren Kultur weit leichter zugänglich als 
der jtarre Ehite. 

So ift eo gefommen, dai es den verachteten Letten in Yiv- 
land und Nurland gelang, ihre finnischen Vedrüder in friedlichen 
Rulturfampfe zu ichlagen, fie allmählich zu entnationalifiren, fie 
enblic) fajt ganz aufzuiangen. 

Die finnischen Nuren in Nunland find beinahe, die Yiven 
in Livland ganz und gar aus der Gejchichte geichwunden, fie find 


Leiten geworden. 
Aitaf von Traniche. 





!) Lt. Ahlgeift, Kultunwörter, &. 


Anm. d. Ned. Lorliegende Abhandhung it der einfeitende Theil einer 
gröheren Arbeit des welche denmädht in den Mittheitungen aus der livlän. 
Geichichte erjipeinen fol. 





ds“ 


























Rolitiihe Korreiponden;. 


Seit dem Herbjt vorigen Jahres habe ic über die Dinge 
in der Türkei Ihnen gegenüber jchweigen Fönnen. In Armenien 
erlofch der Aufitand allmählich, die Nräfte hatten fich erichöpft, 
nachdem der Tod vieler Taujende —- man jagte bio zu 25,000, 
bis zu 40,000 Menjchenleben — und weite Verwüftungen gezeigt 
hatten, wie jtarf au drüben in Afien die nationalen Yeidenjchaften 
die ftaatlichen Zuftände beherrichen. Aber Europa gewöhnt fich 
allmählich an den Anblid folder SGränel. Wo find die Zeiten 
bin, da man es für eine chrüfliche Piticht hielt, die Unglänbigen 
aus Europa zu verjagen, da man Khilbellene wurde und die Lieder 
vom granfamen Palca ud dem edlen Najah bio in die Hänfer 
furtändifcher Edelleute hinein jang; die Zeiten der Vefreiung von 
Wallachen, Numänen und Serben, endlich die Zeiten der „bulgas 
tiichen Gränel” und des legten ruiftichen Vefreiungsfampfes! 
on Jahrhundert zu Jahrhundert fühlte fi der Cifer ab, von 
Jahrzehnt zu Jahrzehnt, und in unjerer Zeit von Jahr zu Jahr 
ftumpft die Leidenichaft ab, die in ihrem erjten Aufflammen einft 
ganz Europa zum erften und legten Mal in einem großen ver- 
bündeten Heerlager vereinigt hatte! Wir ziehen nicht mehr ano 
zur Befreiung des Heiligen Grabes, wir hören feinen Auf mehr 
durch Europa gehen zum Vertreibung der Ungläubigen, und doch 
wäre heute jo leicht, was vor 800 Jahren und vor 200 Jahren 
nicht gelang. Was denn hat fid geändert, wer hat fi geändert, 

















Politiiche Norreiponden;. 377 


um es dahin fommen zu laffen, dafi heute jelbft ein Gladftene 
machtlos zufchen muß, wie wieder geidicht was vor 20 Jahren 
ihn in Flammen feste? Eind die Gräuel des legten Jahres 
minder jchlimm gewejen als die „bulgarian atroeities*, die den 
alten Schwärmer gegen die „unspeakable* Türfen auflodern 
lieh? ind wir rifkfiche Europäer andere geworden, ober ift 
der Türke ein Europäer geworden? Nun, die Gränel find chlimm 
genug, und gäbe «8 ein Gemeinbewuhtfein in Europa wie dasjenige 
war, welches die Areuzfahrer begeifterte, jo 
türfijchen Herrichaft Fehr bald und ficher gezählt. 
jehr toferant geworden nicht bloß gegenüber dem Halbmond, jondern 
auc gegenüber „Gräueln“, wenn fie an fremden Unterthanen 
geübt werden und wenn joldhe Toleranz uns vor der Etörung 
unferer Ruhe bewahrt. Der Türke hat ih nur darin geändert, 
daß er uns Europäern nicht mehr bedrohlich it. In feiner 
ethiichen Art hat er id) wenig geändert, jein religiöfer Fanatiomus 
it der alte, die ftarren Gebote des Jolam beherricen fein Denken 
und Fühlen wie ehedem, er ijt noch immer der Gegner unferes 
hriftlichen Kulturlebens. Und er wird c6, wie es fcheint, bleiben 
fofange ein türfiich-istamitiiches Neich beitehen wird, Tolange das 
ftaatliche Oberhaupt dort zugleich der Nachfolger des Propheten 
ift und folange die Sagungen des Noran das Yeben feiner Be 
fenner ordnen. 

Aber das Leben des neunzehnten Jahrhunderts bringt von 
allen Zeiten in die nichttürfiichen Fundamente diejes Reiches und 
ditdet bald hier bald da Zentren treibender Kräfte, die zu gelegener 
Zeit ausbredend diefen und jenen Meiler jlürzen oder erichültern. 
Ohne Hinderung von außen, wie im vorigen Jahre in Armenien, 
ift die traft des Türfenthums noch immer ausreichend, um die 
Auftände gewaltfam nieberzuwerfen. Und das ijt ja die Signatur 
der heutigen Drientpolitif, dah; die Sroßmächte jtillichweigend an 
der Direftive der Nichtintervention feitzuhalten entichleifen Find. 
Wie fie heute verftanden wird, ijt die Nichtintervention ein Prinzip 
des nationalen oder jtnatlihen Egoisms, in den Diantel des 
Hechts nothdürftig gehüllt. Die Gemeinfanteit fulturlicher Inter: 
silen, wie fie bis vor wenig Jahrzehnten zu den Fundamentalfägen 
der europäijchen Kolitit gehörte, ijt aufgegeben worden zu Gunjten 


























378 Politijce Norreipondenz. 


des Strebens, die eigenen Kräfte nur für unmittelbar eigene 
itantliche Intereffen zu verwenden. Es ift ein Produkt der Furcht, 
eine Folge der übergroßen Einfäge, weldhe jede Cinmiichung in 
Verpältnifie fremder europäifcher Staaten und ein daraus hervor- 
gerufener Strieg von jedem Ztaat fordern. Die Gewaltfanteit 
heutiger Nriege läht das Verlangen nach Erhaltung des Friedens 
jo jtarf werden, dah Niemand fi ohne äuferite Noth oder Leibe: 
{haft entichlieit, für allgemeine Iutereifen der Humanität, der 
Kultur, des Glaubens, ohne die möglichite Sicherheit dafür zum 
zu greifen, da; er auf diefem Wege nicht einer cben- 
bürtigen Staatsmacht begegne. Darin liegt der Schu, deifen die 
Türfenherrichaft Heute genieht. Was auch die verborgenen Zwede 
der Engländer im vorigen Jahre gewejen feien, fie hätten ohne die 
Abneigung der andern Mächte vielleicht verfucht, wieder ein Stü 
türtiichen Erbes von dem lud) tünfiicher Herrichaft zu Löfen. 
Die Hoffnung anf England hat den Nufitand genährt und die 
Täufhung das Elend nur verdoppelt. Seitdem hält fi England 
zurüd und überläft das Feld den Diplomaten Europas. Und 
wenn durch Diplomaten, durch Noten und Mahnungen den Wöltern 
der Türkei fönnte geholfen werden, fo wäre vielleicht nie eine Zeit 
für die Lölung der Drientfrage güntiger geweien, als cs die 
gegenwärtige it. Als Zar Nitolaus vor 45 Jahren dem Yord 
Seymour vorihlug, Aegypten für England zu nehmen, und England 
es ausiclug, da wuhte man nad nicht, welden Werth das Nil- 
fand für England in jid barg. Seit die Engländer den Werth 
erfannten, würden fie fh mit Negupten wohl begnügen aud) wenn 
die Übrige Türfei aufgetheilt würde, Gin Hauptinterefient it 
damit auogefchieden joweit die Yaltanhalbinjel und Steinafien in 
Frage fonmen; es bleiben Rußland, Dejterreih, Franfreid, in 
geringeren Grenzen des Intereiies Ntalien und in zweiter Linie 
Deutjchland, Griechenland und die Donauftnaten. Führend und 
überragend ift dabei doc) nur die Stellung von Nuhland und von 
Orfterreih. Wie Nufland feine Politif fi vorgezeihnet hat, 
haben wir neulich aus dem Munde des Srafen Golucowoti gehört. 
Diefer Minifter fagte am 9. Juni vor den öfterreichtichen Delegirten, 
Nufland habe fih gegen jede Abweihung von dem Parier Ver: 
trage, aud wenn fie in einer Aktion aller Vertragsmächte beitehe, 


























Äche Rorreinonden. 379 





Poli 
erflärt, und Teiterreich nehme mit Befriedigung von dieler Ertiä 
rung Renntniß. „So fange“, fuhr der er fort, „die rufliiche 
Regierung auf dem eingeichlagenen Wege verharrt, kann fie auf 
unfere unbedingte fonale Unterkügung zählen, denn Ceiterreih 
firebt nichts anderes an, als die Nonfolidirung der Zuitände im 
Trient, die Erhaltung der Türfei, die Unabhängiafeit, die 
fung und die freie Entwideling der einzelnen Balfanitaaten, 
freundichaftliche Beziehungen zu denfelben und endlich den Aura 
ill; des prädominirenden Ciflnfics irgend einer Svohmant 
zum Nachtheil der übrigen.“ Und am 11. mi fante vor der 
felben Telegation der Verwalter von Boonien und Herjeneming, 
Ninanzminifter Baron Nallay, durh die Tffupation von Wosnien 
und Herzegowina fei Telterreich ein Balfanftaat geworden. Tie 
ganze Sefchichte dev Habsburger deute darauf bin, dal; Teiterreiä, 
Ungarn einen Stügpuntt im Balkan juche, Sowohl mm die beiden 
Ufer der GSrenzflüiie Zara und Donau beherrichen zu fünnen, ats 
auch um fich in dem ganzen Völfergebiet des Balfan's zur Geltung 
zu bringen. Darum habe Deiterreich Bosnien md Herzegowina 
offupirt md die nordweirliche Balfanete ih gefihert, von mo cs 
die politiichen Jnterefien des Valfans zu den feinigen machen 
fönne. Darum wolle und dürfe Leterreih auch nicht ein Mehr 
an Vefig in jenen Gegenden anftreben. Neder Nachbar müfle 
mwifjen, daf; die Stellung Oejterreichs in Bosnien nicht ohne Gefahr 
berührt werden fönne, weil diefelbe ein Yebensinterefie Teterreichs 
enthalte. —— Hiernadh fdheint es flar zu fein, dal; fowohl Nuhland 
als Teiterreid entichloffen find, den äußeren Beltand der Staaten 
auf der Balfanyalbinfel aufreht zu halten, folange eine dieler 
Mächte nicht einen ausichliehenden Einfluß dort gewinnt oder 
anftrebt, wobei es freilich mod) fraglid) bleibt, in wie weit das 
Streben Teiterreichs, die Bildung neuer Balfanftanten zu fördern, 
mit den Wünfchen Auflands übereinitimmt. Und da diefe beiden 
Staaten bei ihrem refpectiven Verhältnih zu Frankreich und Italien 
im Ctande find, anderweitige itörende Ginflüije von aufen her 
fernzuhalten, jo wäre die Türfei in der ungewohnten Lage, ruhig 
für ihre inneren Zuitände forgen und jich innerlich fräftigen zu 
fönnen. Ohne Zweifel wäre das genau das Ziel, welden ber 
Sultan am liebften zuftreben wollte. Leider aber ilt i 







































380 Politifhe Korreipondenz. 


Grenze der Wiacht Towohl des Sultans als der fremden Staaten. 
Nicht von außen, jondern von innen herans fommt die Gefahr. 
Dan hat für Armenien vor einigen Vionaten Neformen, beruhigende 
und das Wohlergehen der chriltlichen Bevölterung angeblich) fihernde 
Inftitutionen durdgefeßt. It eo dadurch dort anders geworden? 
Haben nicht jüngft wieder Mebeleien in Wan ftattgefunden? Xft 
in Eyrien der Stamm der Drufen nicht im Aufftande? Daben 
wir nicht Areta wieder im fieber vor ung trog aller dort früher 
icon von den Mächten verorbneten Heformen? Den Zultan zur 
Durchführung der im Sinn von freiheit, von (leichitellung des 
Moslem mit den Ghriften entworfenen Neformen zwingen, heift 
die Türkei zum Selbftmord zwingen. Mit Neformen hat jtets 
die Abtrennung von Provinzen der Türfei begonnen, To im 
Argnpten wie an der Donau, umd wenn wirfid in Kreta unter 
chriftlicem Stabthalter europätihe Verwaltung eingeführt werden 
jollte, fo wäre damit eben Kreta für die Türkei verloren. Werden 
die Neformen aber nur defretirt, nicht von den Mlächten durcdje 
geführt, jo bleibt alles beim Alten wie in Armenien. Religion 
und Gefchichte dulden Feine Sleichftellung der Chriften und Türken 
in einem türfihen Staat. Der Türke it der Staat und der 
Staat ijt der Jolam, umd das Andere ijt geboren, dem Türken 
und bem Propheten dienjtbar zu fein: fo ftcht's im Noran und fo ift 
«5 immer gewefen feit den Zeiten Wiohamed’s. Cine Keligion ift um 
fo unfähiger fih dem Gange der Kultur anzufclieien, je pofitiver 
fie das ftaatliche und bürgerlihe Leben in Sapungen md Bor: 
fhriften regelt. Darum vielleicht giebt es feine jühiihe Kultur, 
darum ijt zum guten Theil die Fulturlihe Plüthe islamitiiher 
Neiche ftets jo furz gemweien. Alle Snmpatbie, die wir für den 
Türfen als Einzelnen empfinden im Gegenjaß zu andern Völkern der 
Türkei, fann uns nicht vergeffen machen, daf er und jeine religiöfe 
Verfnöcherung bisher wenigitens die Urfahe waren der Zeritörung, 
des Verfalles ehemals blühender Länder. Bisher! Aber es giebt 
eine große Partei, die jungtürfifce, welde meint, das braude 
nicht immer jo weiter zu bleiben, welche Neformen verlangt nicht 
für die Chriften, fondern für die Türken. Vor 50 Jahren jchen 
gab es türfiihe Fortihrittler, türfiihe liberale Minifter jogar, 
und man hat aud ichen parlamentariihe Diasferaden gemadıt. 














Volitiiche Rorrefpondenz. 381 


Aber eine wirkliche freiheitlihe Verfafung und Verwaltung unter 
dem Septer eines islamitifchen Herrichers das it mwenigjtens 
in Ländern mit chriftliher Grundbevölferung, wie mir deinen 
will, ein innerer Wideripruc. Der Ralif fann jo wenig ale der 
Paicha und der fete Mollah den Chrijten als Seinesgleichen in 
Neht und Rang anjehen, das erlaubt die Neligion ihm nicht, 
dazu wird man ihm nie erziehen, dafi widerftreitet feinem Herricher- 
bewußtfein. Und das türfiche Veamtenthum ift fo verrottet, jo 
unfähig für jede feineren Formen des Lebens ih anpaljende, die 
Kultur fördernde Art der Verwaltung, dai es fehr zweifelhaft 
bleibt, ob eine von liberalem Geilt geleitete und von der Stat 
beit des Jolam abweichende jungtürfiiche Neform im Stande wäre, 
mit diefen Kräften, wie fie jegt allein zu haben find, etmas Lebens 
fähiges wenn nicht zu ichöpfen, fo doc) zu erhalten. Darum glaube 
ich wohl, daß dem Sultan aus den Jungtürfen heute mehr Gefahr 
droht, als von den Wlächten Europa's, nicht aber, daß wenn die 
Herricaft des Sultans gebrochen würde, ein türfiiches Neich beitehen 
fönnte, in dem die Maiie der Chriften frei, ficher, als Gleiche 
unter Gleichen leben Fönnten; der Jolam jelbjt mühte denn refor- 
mirt werden. Und jo it und bleibt diefe türkiiche Eke der Brander 
Europa’s. In Nreta, Winzedonien, in Sprien, Armenien, in 
Stambul jelbjt flafert er auf, und die 6 diplomatiichen Sprisen- 
männer fommen täglich zufammen und bereden fid und berathen 
den Sultan über die Neformen für Kreta wie fie es für Armenien 
gethan haben: eine Danaidenarbeit. Die leuten Berichte melden, 
der Auftand habe fich über die ganze Injel ausgebreitet. Wird 
er von den Türken niedergeworfen, jo find wieder Wiegeleien wie 
in Armenien zu erwarten, und bieje wird man nicht wie dort 
ruhig geichehen lafien fönnen. Im Jahre 1878 wurde zwiihen 
der Pforte und den fretiihen Nebellen der Vertrag von Haleppa 
geichlojfen. Darin wurbe veriproden, eine Verbefferung der Ver- 
failung des Landes, ein chriftlicher Vali mit Yeftätigung durch die 
Mächte, Unterbeamte aus der Religionsgenoffenichaft, welde im 
betreffenden Bezirk die Mehrheit bildet; Verbefferung der Gefepe 
und Sicherheit gegen Eingriffe der N forte in die Juftiz; Veichrän- 
fung ber militäriihen PBefagung; Verwendung der Hälfte ber 
fretiichen Einkünfte zu Gunjten der Infel; Ernennung von Friedens» 








382 Kolitiiche Korreipondenz. 


tichtern; Nenntaih des Griehiichen bei den Beamten; Auftellung 
won Chriiten im Zolldienit. Wäre das Alles Durchaeführt worden, 
jo wäre jegt vielleicht fein Aufitand da. Aber Nreta wäre berei 
jo gut wie unabhängig geworden durch den Gieift, in dem Diele 
Neformen wären gehandhabt worden. Umd nun it man aud) 
mit dieien Reformen nicht mehr zu befriedigen, man verlangt 
mehr, man will eben (os von der Türke. Meta wird vielleicht 
jebr bald mit Sriechentand vereinigt werden — das ift das Wahr: 
fcheinfiche. Und das Weiipiel wird Nachahmung hervorrufen. 
Diefes Zerbrödeln, diefes fd Auflöien, das bilder die Gefahr für 
Europa. Denn fällt die alte Nuine trog aller Ztügen einmal 
in fich zufammen, dann Find dab die einander widerjtreitenden 
Intereffen Nuhland’s und Tejterreicbs zu avof, um auf die 
Mögficteit eines frienfichen Ansaleichs fcher zu rechnen. Man 
mag, nit andern Dingen grade beichäftiat, den Moment der 
Teilung noch fo eifrig Hinausidieben, er wird doch einmal Fommen 
und er ann Fehr plöglich eintreten. Und noch ein Moment ver 
mehrt die Gefahr: che Enaland fi aus Aegnpten hinansdrängen 
läßt, wird cs lieber den Zerfall der Türkei befhlennigen und 
feinen Antheil in Nenvpten vorweg nehmen. E.v.d.B. 























Drudfchlerberihtigung. Auf ©. 317, Zeile 7 von oben 
mufs c5 ftatt „jchneibige” heihen „Ihmeidige.“ 

















Beiträge zur Beihihte der Unterwerfung Aurlands, 


vornehmlich nad den Alien de& preufiichen Staatsarchivs. 


Das für die Gechicne der Unterwerfung Aurlands wichtigfte Wrchio ift 
natürlich das rufflihe Staatsarchiv. Demnächft aber dürfte fein Staatsarchio 
für diejen Gepenjtand intereffanteres Material enthalten als das preuhliche, und 
zwar deshalb weil Preufen längere zeit fich bemühte, der dauernden Aeitiehung 
Ruhlands in Aurland fich zu widerfeten. Cs wird einigen Yelern dieler gets 
Ährift befannt fein, dafı Preufen zwiichen den Jahren 1790 und 1794 einen 
eigenen Nefidenten, den Deren von Hüttel am Mitauer Hofe benlaubint Hatte. 
Ih beabfichtige Xuszüge aus der Norrejpondenz Hüttel's mit feinem Dof 
vomie aus andern einichlägigen Aten des preubüichen Stantsarchios an diejem 
xt zu veröffentlichen, zu deren befferem Berftändnii id, mir erlaube, die wars 
fiegende geichichtliche Hüichau über den Hergamg des politiichen Ningens jener 
Jeit vorauszuienden. 

















Obwohl wir jüngit den Ablauf eines Jahrhunderts jeit der 
Einverleibung des Herzogtdums Nurland-Semgallen und des Areiies 
Pilten in Rufland eriebten, ijt die Gefchichte diefes Ereignifies 
bisher nod) in jehr lüdenhafter Weije befannt geworden. Cs bat 
nicht an dem Mangel an Material gelegen, wenn fein Difterifer 
fich diejes Gegenjtandes in eingehender Weie bemächtigte, denn 
das Wtaterial ift in zülle vorhanden. Aber es it zu einem Theil 
in den Händen von Privaten oder von Norporationen verjtreut, 
zum andern Theil in Stantoarchiven zu juchen, die, wie id) ver- 

ı 





354 Zur Geibicte der Unterwerfung Kurlande. 


muthe, dem Foricher wohl zugänglich wären, aber leiter eben 
feinen Erforicher gefunden haben. Was uns der alte Cruie, 
Richter und neuerdings Bilbalfow, Zeraphim geboten haben, 
erichöpft die privaten wie Ätaatlichen Quellen nicht. Und diefe 
Neichhaltigfeit des Stoffes üt theilo aus dem Gegenjtande, um 
den &o Sich bandelte, Aheilo aus den Eigenheiten jener Zeit vet 
wohl erllärlich. 

Der Untergang Nurlands war für große politiiche Mächte 
von erheblich weiterem Antereiie als die geringe Ausdehnung diejes 
Landes an juh hätte bieten Fonnen; jein Herzogoftuhl war materiell 
fo reichlich genohtert, dal eine Schar won Prinzen jederzeit 
Zehnmiucht verjpürte, ven etwa Leer werdenden Zip einzunehmen; 
Die Unterwerfung fiel in eine Zeil, welche noch nicht wie heute 
ihre politiühen Sedanten ftelo und ganz durch bejahlte Zeitungs: 
sihreiber fich zubereiten jondern gewohnt war Telbit zu denfen 
ad Biel zu Ibreiden.  Diefe drei Umftände hatten zur Folge, 
ai eine Menge von Yeuten fi mit Nurland briejlich oder amtlich 
deihäftigten, die nicht nothwendig oder unmittelbar an dem Ge- 
FhkE Nurlands betheiligt waren. Zugleich tobte im Innern des 
Yındes ein Nampf der Parteien, der in einer jehr Ichhajten 
Norteipondenz jwilchen den Kührern derjelben, in vielen öffentlichen 
Zwreitjihriften, in langen Verhandlungen bei ben Oberinftanzen 
und Sewaltpabern in Warfchau, in endlojen Verichten von Se 
fandten und Bevollmächtigten ihren Ausdrud fanden. Diejes alles 
fäht mich vermuhen, da wenn einmal die Ztaatsarbive von 
Wostan, Berlin, Wien, Dresden, Zuodholm md mancher Meiner 
deutscher Hofe, die Vriefladen und Archive in Nurland, in Polen, 
in Wartenberg ibre Schäte hergäben, wir vor einer Menge an 
geibichtlichen Nobitoff änden, die des Unterganges einer gröferen 
Ziaatomacht würdig wire, als am fi dieies Herzogthum war. " 

Tiefer Stoff bezieht fich nicht nur auf den furzen Proz 
mit dem nach dem Verichtwinden der Yehnsmacht Polen der fm: 
kindiiche Yandtag das Yand der ruifiichen Nailerin überantwortete, 
fonern die Gefechte der Unterwerfung Nurlando hat mit dem 
Ausfterben des Neitlerichen Derzogshauieo oder doch mindejteno 
mit dem Tode Beter's IL. und der Vertreibung des Verzogs Narl 
zu beginnen, als dem geitpunft, von welchem ab Natharina I. 



































Zur Gefchiehte der Unterwerfung Rurfande. 385 


mit einer, wenn nicht in Niückjicht anf die ‚sorm der Ausführung, 
fo do auf das Prinzip vollen Nlarbeit beichloien hatte, Nurland 
gänzlich und dauernd in ihre Gewalt zu befommen. 

Diejem Ausgange jtrebten die Dinge freilich jehr langiam 
bereits jeit dem Veginne des 18. Jahrhunderte zu. Peter 1. 
hatte zwar feinen Plan, das von ihm beiegte Medlenburg feit- 
zuhalten und das dortige Fürftenhaus mit Nurland zu entjchädigen, 
aufgeben mühe, aber er hatte Nurland weder militäriic noch 
politiich aufgegeben, jondern jeine Nichte Anna Jmwanonma an den 





Herzog Friedrich) Wilhelm verheirathet. 16 dieler geitorben war 
und mit Herzog Zerdinand dao Grlöfchen deo Nettler'fchen Planes» 


tammes bevorjtand, begannen fich die Bewerber um die Nachfolge 
von allen Zeiten her zu melden, und man fan von da ab bis 
1795 leicht anderthalb Tugend Fürften und Prinzen aufzählen, 
welche zu verichiedenen Zeiten alo Kandidaten auftraten. Aber cs 
fam doc) jtets auf die Wünfche an, welche die zunäcjit betheiligten 
Mächte Polen und Rußland hegten, und wiewohl Polen als Yehns- 
macht ohne Zweifel die erfte Stimme bei Veiegung des Herjogs- 
ftuhls zuftand, fo war die wirkliche politiiche Macht doc) jeit 1717 
bereits jo sehr auf die rulfiihe Seite verschoben, dal; co dem 
fähfiich-polniichem Haufe nicht gelang einen feiner Prinzen gegen 
den ruiiichen Schügling Viron durchjuiegen. 

Yon 1763 an blieben die Birons, Vater und Sohn, bis 
zum Schlau, in von außen ungeflörtem Befis des Herzogthums. 
Aber diefe Herrichaft fiel in eine Periode auerordentlich heftiger 
Gährung in den jtantlichen Lerbältnifien von fait ganz Europa, 
die in umausgejeßtem diplomatifchem Ningen, in iteto wechlelnden 
politiichen Nombinationen fich befundete und gelegentlich auch in 
blutigen Nämpfen zum NAuodrud Fan. Große ftaatliche er: 
änderungen drängten heran. Die jtaatlihe Macht war weder 
durd) fonftitutionelle Seifeln beengt noch in Abhängigkeit von 
nationalen Uebereifer; fie fuchte fc zu mehren, wo fie nur irgend 
Raum fand und fragte noch wenig nach Neligion und Sprache in 
den Yändern, welche fie zu erobern trachtete. Nachdem zu Anfang 
des Jahrhunderts das übermüthig aufitrebende Schweden bei Seite 
war geworfen worden, dann Nußland dur den Nrieden von 
Nyjtadt und den Vertrag mit Polen von 1717, welder den Cin 

* 











356 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 


fhuh Ruhlands dort feiliehte, an die Dina feine Grenze, an die 
Weichiel jeine Macht vorgeichoben hatte, war Preufen mit großen 
Aniprüchen hevvorgetreten md hatte fie eben mit dem Abichluß 
des Hubertsburger Kriedens endgültig durhgeiept. Preußen war 
als enropäiihe Gromacht, wenn aud willig, anerfannt. 
Friebrich N. hätte fi dabei wohl berubigt und auf fernere 
Kämpfe verzichtet, wenn nicht m eben die Zeit des Abichlufes 
feiner langen Nriegsperiode Katharina den rujjüichen Thron bejtiegen 
hätte und Jojeph I. bald daranf ihm in Tejterreid entgegen- 
getreten wäre, zwei Serrichernaturen, die Zriedrid) das ruhige 
Stillefigen bei beitem Willen verderben hätten, and wenn in ihm 
nicht zufept doc) wieder eine recht Fräftige Neigung zur Vervoll- 
jtändigung feiner jchlefüchen Eroberung fich gezeigt hätte. Denn 
beide Nachbarn wollten erobern, wollten Viachtzumads und hinter 
der neuen Gromadht Preufen drängte eine noch neuere, Nuhland, 
gemaltam gegen Emvopa an, um alo joldhe Anerfennung und 
feiten Boden in den europätfchen Antereffen zu gewinnen. Zwüichen 
vi drei jtürmifchen Drängern lag in verhängnifweller Abge- 
fiblofienheit und mod) unglüclicherer innerer Verfaifung Polen, wo 
gleich nach dem Hubertoburger Arieden der füchjüche Auguit IN. 
geitorben und der Schüpling Natparin’s Poniatowotn durch Wahl 
vom 7. Zept. 1761 auf den Thron erhoben worden war. Es 
war der Erfolg eines Vertrages, welchen riedrid am 11. April 
deffelben Jahres mit Natharina geichlofien hatte und in welchem 
die Nachbarn jich verpflichtet hatten, in Polen feine Träftige 
Stantsmacht auffommen zu lafen. Beide wünichten dies, aber 
freilich aus verichjiedenen Gründen, denn friedrich wollte Fein 
ftarleo Polen, weil co ihm gefährlich werden Fonnte, Nutharina 
wollte ein ichwaches, um eo dejto leichter in ihrem Anterefje leiten 
zu fonnen. Daher wurde fein fremder Zürjt, fondern der geiftwolle, 
glänzende, von beitem Wollen bejeelte, aber darakterichwache, 
unangefehene, von den Parteien im Lande wie von dem ruljüichen 
Hofe gleich abhängige Staniofans Auguft Nönig. Wie Natharina 
in Nıreland vor Numzem „unjern eigenen Herzog“ dirdhgeiegt hatte, 
To hatte fie num ihren eigenen König auf dem polnischen Thron, 

dort einen Nurländer von geringer, wenn auch adeliger Herkunft, 
hier einen Polen aus eingejeffenem einfahren Adel; fremde 























Zur Gefehiehte der Unterwerfung Aurlande. 7 


Fürftenföhne fonnten nur jtörend werden durch auswärtige Wer: 
bindungen. 

Die Meifterichaft, mit der Ratharina diefe Angelegenheiten 
ic) nad) ihrem Emporfommen zur höchiten Stantsmacht durch: 
gef rt hatte, weckte in Friedrich einerjeits Veforgnifte, mochte 
aber andererfeits ihn in feiner Ginneigung zu einem Znjammens 
gehen mit Rußland beitärfen Angefidhts der Molirung, in der er 
fich damals befand. Der engliich-franzöftiche Strien war zwar 
eben, 1763, durch den Parifer Frieden beendet worden, aber er 
hatte die alten Allianzen Friedrics mit den Scemächten längjt 
geföft, und jehr bald folate der nordamerifaniiche Vefreiungsfanıpf, 
der die Weftmächte für mehr als ein Nahrzehnt in Athen hielt. 
‚Hatte aber Friedrich zu Anfang gchofit, die zerbtiiche Prinzeffin, 
die er jetbft auf ihre alängende Bahn geleitet hatte, auch ferner 
zu leiten, To jah er fich jehr bald in die umgefehrte Lage verjegt. 
Katharina griff in die inneren Zuftände Polens fräftig ein, was 
Unruhe, Nonföderationen bervorrief, deren Folge wieder friegeriiches 
Einichreiten von ruffiicher Seite war. Co befand fid Katharina 
von 1767 an im Nampf mit der ihrem Drud‘ feindfichen polniichen 
Partei umd feit 1768 in offenem Nriege mit der durch vuffiiche 
Grenzverlegungen und  franzöfiiche Verhegungen aufgebrachten 
Pforte. In Wien aber fonnte man no den Xerluit von 
Schlejien nicht verichmergen, und bot 1768 gegen Nücgabe dieies 
Landes dem alten Gegner an, ihm zur Erlangung von Kreufiich- 
Polen und von Sturland zu verhel Da hiermit nichts zu 
imacdyen war, jo wartete man auf eine gelegenere Zeit, wurde 
aber endlich genöthigt, die Blicte von Schlefien und den inner: 
deutichen Zuftänden ab und wieder dem ten zuzuwenden. Das 
Vordringen der ruffiichen Diadht in Polen, die Ausficht auf 
ruffiiche Groberungen an der Tonan, das waren jowohl für 
Friedrich als für Xojepd II. bedenkliche Anläufe, die Friedrich einer 
Verbindung mit Tejterreic zutreben liefen. Und diefe Yage 
überwand denn au zulegt die Abneiqung Varia Tberefin’s gegen 
eine Einigung auf polniiche Roften: die erite Theitung fam 1772 
zu Stande. 

Tie nädten 14 Jasre dis zum Tode Friedric’s zeigten die 
drei Tftmächte in einem Terhältniß zu einander, bas ziemlid) das 




















388 Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 


umgefehrte war zu dem, in welchem fie jtanden, als Friedrich feine 
Regierung begann. Das feurige, erobernde Drängen war auf 
Defterreich und Nufland übergegangen, der alternde Preufenfönig 
hielt fid ftets in der Tefenfive und batte alle Mühe fih in 
derjelben zu erhalten. 

Aufland ichloh 1774 mit der Pforte den rieden von 
Rutichuftainardice ab, der ihr den Beiig der Nrim und die 
Schupberrichaft über die Miofdau und Waladei eintung. Im 
ahre vorher hatte es eine nene Lerfaffung in Polen durchaeiept 
und übernahm 1775 die Garantie für diefe und die innere Nube 
Polens, d.h. 6 jicherte fi eine fürmliche Handhabe zu fteter 
Ginmiihung. Jofeph unternahm feinen erjteu Werfud zur Wer: 
geöherung der Haboburgiihen Dausmacht auf deutichem Woden; 
5 folgte der bairiiche Erbfolgefrieg und der Tejchener Frieden, 
ber Katharina zur Sarantin nahm. Hatte Ariedridh fid) Tefterreichs 
damit vo erwehrt, jo hatte er doc Nuland zugleid) zu 
dem eriten Schritt auf dem Wege in die deutichen inneren Ver: 
hättwifie verholfen, der nachher fonjequent weiter verfolgt wurde 
und zwar mit preuhifcher Unterjtüßung. Denn 6 war ber 
preußiiche Sejandte Graf Görz, der Katharina bewog, eine ruffiiche 
Sejandtichaft in Kranffurt zu errichten zur beijern Nontrole der 
von ihr garantirten deutichen Verfaftung”). Der 1780. erfolgte 
Tod der Naiferin Maria Therefin gab dem flürmiichen Ehrgeiz 
ihres Sohnes freie Bahn. Jofeph war von enthuitajtiicher Be 
wunderung riedrich's ausgegangen, hatte dann diefen bemimderten 
Freund id als Geqner gegenüber gejehen, und wandte fi nun 
von ibm ab und Natharina zu, die vorläufig in Yolen feiner 
prenßiichen Slfe mehr bedurfte, dafür aber um jo mehr Werth 
auf Tefterreich leyte zur Durchführung ihrer auf die Türfei 
gerichteten ‘Pläne.  Natharina’s Deflaration der bewaffneten 
Neutralität gegenüber den friegführenden Seemächten vom Jahre 
1780 brachte ihr Joleph durd) feinen im folgenden Aahre erflärten 
Deitritt näher, m Mai ITSL wnde ein Allionzvertrag abge: 
ichlojien, der gegen die Pforte ofienfive Ziele entbi 
Jofepb zum Mitgaranten der polniidien Xerfi 























*) Görz, Dentwindigfeicen. 


Zur Gejchichte der Unterwerfung Nurlands. 389 


machte. Im September 1782 entwielt Katharina in einem Brief 
an Jojeph bereits einen fertigen Wlan der Theilung der Türfei. 
Tamit war das Vindnif zwiihen Nuhland und YPrenfien vom 
Jahre 1764 zerriffen md Ariedrich wieder völlig vereinfamt. Er 
muhte > vubig anjehen, wie Natharina 17 olme Umfchweife, 
fogar ohne Wiverjtand jeitens der forte fidh der Nrim, Taman's 
amd Ruban’s bemächtigte und wie Jojeph im Neich jeine Haus: 
macht in der Bejegung von Visthümern und Erzbiothmern mit 
jeinen Nepoten mehrie. Endlich wagte Joleph dann den alten 
"Ban des bairiichen Yändertaufches doch wieder in Angriff zu 
nehmen, und riedrid trat dieler Gefahr gegenüber aus feiner 
Zurüchhaltung nothnedrungen herans. Xm Juli 1785 wurde der 
Füritenbumd vorerst zwilchen Prenfen, Zachien, Hannover abge- 
ichlojien, dem dann viele andere deutjche Fürften beitraten. Und 
jonderbarer Weife ward diefer Yund mit dem Plane verfnüpft, 
Frankreich oder Nufland als Garanten der Nerfafung des deutichen 
Neiches heranjuzichen, während dafelbe Nuhland chen die feind- 
lichen Vemühungen Joieph'o offen uuterftügte. Tas politische 
Elend Teutichlands fand hierin einen Ausdrud, der mr nad, 
durch die Schmad der napoleonifchen Heit übertroffen wide. 
Aber Friedrich erreichte wenigitens was ev wollte: der bairiiche 
Ländertaufdh wurde vereitelt. 

Am 17. Auquit 1786 jtarb Nriedrich. 0 ungleich it 
fein Neffe perfönlich war, jo wenig alich auch die Bott dejjelten 
dem Spjtem Friedrichs. Der ehraeisige Bureanfınt Herbterg 
bemächtigte fid) der Yeitung der äußeren Beziehungen. Er wohte 
um jeden Preis das alte Yiündnij mit Huland heriellen. Aber 
Katharina’s Münfche gingen über die Tonan nad Yuzanz hin, 
ihr verbündeter für den Kampf, der 1787 fosbrad, war Folerb, 
der ihr nüglich, der ihr ein bodbenabter Fürjt ichien, für ten 
fie fogar ein wenin weibliche Neigung übrig hatte. Nichts von 
alledem z09 fie nach der preußüichen Zeite bin, und die Lie 
mühungen Hergberg's fie zu überzeugen, da fie mit preußiicher 
Hütfe eher als mit öfterreichifcher ihre buzanliniicben Klüne hund 
fegen werde, zerfchellten an der Thntiache, dal Natharina tie 
preuhiiche reale Macht und Willenskraft vihtiger abidätte «l: 
Herpberg jelbjt. Was fonnte Preußen bei Vertreibung der Tür.cn 



































390 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlande. 


ihr nüßen? Was Eonnte es ihr in Polen jdhaden, wo ihr 
Ambafiadeur” Stadelberg wie ein Vice-Nönig herrichte? Ihre 
Ziele waren einfah und far, die Dergberg’s phantajtiid, ver: 
widelt. 

Denn was wollte Herkberg eigentlich? Er jirebte nad) 
Mehrung der Vacht Preuhens, er war voll Nubmdurit für Preußen 
und bejonders für jein Minifterium, wie Katharina jelbit es in 
ihrer Weife auch war. Aber welcher Unterfehied in der Methode! 

Gleid) 1787 jegte Hergberg 6 durch, da preußiide Truppen 
in Holland einrüdten und den Aufitand zur Ruhe brachten, der 
dort gegen die Statthalterichaft emporgefovert und die Gemahlin 
Wilhelm’s V. von Oranien, eine Schmejter des preufiichen Königs, 
genöthigt hatte, den Bruder um Hülfe zu bitten. Das Erjcheinen 
der Truppen hatte genügt, um rantreichs Luft zur Unterfiügung 
der Demofratie zu dämpfen md im Verein mit England den 
Frieden herguftellen. Won da ab weint, als ob dieler Erfolg 
Hergberg ihmwindlich gemacht hätte, indem er fortan wähnte, mit 
Truppenmobilifivung und enblojen Depeidien die abenteuerlicjten 
Wirkungen erzielen zu fönnen. Indeifen jollte man bei der Ber 
urtheilung Hergberg’o nicht ihm alle Schuld aufladen. Vielmehr 
fbeint mir wahricheintich, daf Vergberg red)t wohl aud) zu einer 
Politit der That bereit geweien wäre, wenn ihm der Nönig nicht 
die Hand gezwungen hätte. Jeyt wünfchte Hergberg eine Ci 
neuerung des alten Yundes mit Aukland, und da Nukland biefür 
vorläufig nicht zu haben war, jo verband er jid) mit dejien Feinden, 
aber mehr um Nuhland dadurch zur Freundichaft zu nötbigen als 
um ihm wirklich zu jchaden. Exit jollte England helfen, dann die 
Pforte und endlid) ein großer Bund: England, Holland, Polen, 
die forte, Schweden. Und mas wollte er durch die vuffiiche 
Fremdicaft, die jteto feine tiefite Sehnjucht blieb, erreichen? 
Anfangs jollte fe vielleicht gegen Gefahren von äfterreichiicher 
Seite fügen; aber diefe Gefahr trat nicht ein, und 6 blieb nur 
der Wunjd nad, von Polen mit Nuhlands Hilfe Thorn uud 
Danzig nebjt zwei Palatinaten zu erobern. Jn diefem Yan der 
Eroberung von Tanzig und Thorn ging bis gegen das Ende von 
1791 die ganze Politif Preußens eigentlich auf. Vergberg arbeitete 
mit allen Pitteln jür dieje Jwede; wo man ihn aud) thätig fieht, 




















Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlande. 391 


überall begegnet man dem leidenichajtlihen Streben nad) ben 
beiden Städten, für welde er weder einen Mrieg mit Nuhland 
nod) mit Tefterreih jcheute. Denn allmählich wäcjt die Macht 
Preußens in den Augen Hergberg’s immer jdneller an im Wer: 
hältniß zu den beiden Naifermächten, die fid in Nampf mit den 
Türfen jdwäcen. Und cs tauchen nun bereits großartige Pläne 
einer Stellung Preufens an der Spige eines Yundes auf, ber 
den Raiferhöfen den Frieden diftiren und dem Pinijterium Here 
berg die Gejcichte Europas in die Dand geben joll. 

Ein jtarfer Antrieb fh nad) Verbündeten umzuthun lag 
freitic in der engen Nerbindung, die jich allmählich zwiihen 
Katharina und Jojepd heransgebildet hatte. Nach dem Abichluß 
der Allianz im Frühling 1781 trat Natharina mit ihren Abfichten 
anf die Türfei dem Verbündeten genenüber offen hervor. Ju 
einem Schreiben vom Sept. 1782 jdlug je eine Theilung der 
Türfei vor. Tiefer berühmte Plan ging dahin, ein griediich: 
byzantinisches Neich unter ihrem Enfel Konjtantin, und an der 
Donau einen Zwiidenftant zu errichten. Wenn nun der Plan jegt 
fallen gelafjen wurde, weil Jofepd für eine Wetheiligung an der 
Vertreibung der Türfen zu große Entihädigungen forderte, aud) 
fein Yuge weit ernfter nach der Seite Preußens und- feiner 
deutichen Intereifen gerichtet war, jo hielt Natharina doc) jtets 
an dem verlorendjten Biete feit, welches den Ehrgeiz eines 
ruffiichen Herrichers je reizen fonnte. Sie unterftügte Jolepb in 
feinem Projeft des bairijch-beigiichen Yändertaufches, fie {lo mit 
ihm ein Jahr ipäter, 1785, den erjten rufftic-öfterreichiichen Dandels- 
vertrag ab; jhen in demjelben Jahr iprad) man in Petersburg 
von einer Vegegnung Natharina’o md Joleph's in Gherjon für 
das Jahr 1786. Diefelbe fand um cin Nahr Tpäter jtatt, und in 
demfelben Jahr erklärte die Pforte, von ven gegnerifchen Rüftungen 
dazu veranfaßt, den beiden Nailerhöfen den Nrieg. Nm folgenden 
Jahre, 1788, erflärte aud Sujtav IN. von Schweden an Rußland 
den Mi Diefer doppelte tampf in Nord und Züd lähmte, 
obwohl mit Dejterreid als Bundesgenojien und auf ruijiiher Eeite 
mit Glüc geführt, doc) die ruifiiche Aftion gegenüber Rolen für 
mehrere Jahre. 


























302 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlanbs. 


Die Jahre 1788 bio I find für Preußen von jo ver- 
hängnißvoller Bedeutung neweien als wenige Epochen feiner Ge: 
Ähhichte. Noch galt das preußiiche Heer als das tüchtigfte 
Melt, nod) lebten ihm erprobte Generale Kriedrich's, noch verfüg 
der Rönig über den Schap von 60 bio 70 Millionen Thaleın, 
den Friedrich hinterlafen hatte. Die beiden Oauptgegner lagen 
im Kriege mit Türfen und Schweden; England hatte fich Preufen 
wieder genähert und jchloi mit ihm am 13. Auquit 1786 ein 
Defenfivbindnii ab, das Hilfe genen jeden Angriif veriprad). 
Ein Verfud Natharina’s, diefem Bündnik durd eine Allianz mit 
Polen entgegenzutreten, wurde von Her&berg durch Annäherung 
an die Gegner der ruffiichen Freundibajt in MWarihau vereitelt. 
Es lag für einen Mann wie Herbbera in der That nahe, den 
Augenbfid zu erjafien um einen großen Wurf zu wagen. Und 
jo reifte jenes weitichauende Projekt des Bundes der Scemächte 
und der Mitteljtinaten heran, von dem bereits die Mede war. 
Und wenn die Münjche Hergberg’s fi nad wejentlih anf einen 
prenfiichen Landerwerb auf polniichem Yoden, vor Allem auf die 
Erwerbung von Danzig und Thorn, und zwar womöglich ohne 
a und mit Dülfe Nulands, beichränfte, fo flogen die Wünidhe 
des jtürmijchen preufiichen Glefandten in Nonitantinopel, Diez, 
längit höher; fie aingen auf nicht weniger als eine Niederwerfung 
Tejterreichs und Ruhlands, eine Erhebung Preußens zur leitenden 
Großmacht in Europa. Unermüdlic trieb er, feit die Tinten fh 
fiegreid) zeigten, die Pforte zu energiicher Arieaführung und zum 
Abjhluh eines engen Bündnifjes mit Preußen; umd jo ergab 
ich's, da während der leitende Viinifter in Berlin auf einen 
Sieg Nuhlands hoffte, der die Pforte zur Abtretung der Woldau 
und Malladei an Tejterreih nöthinen follte, der Gejandte in 
Konftantinopel einen Sieg der Türfen winichte. 

Die Ereigniiie des Nahres 1789 nährten allerdings weiter 
dns Vertrauen, welches Herkberg in die politiiche Stellung Preußens 
bei feinen Mänen jegen durfte. Der reformirende Uebereifer, 
mit dem Jofeph in alle Werhäftniffe feiner Känder eingriff, hatte 
allmäblidy alle Volfoflajien auf's Aenperite verlegt und Widerftand 
hervorgerufen. In Galizien und Ungarn war man zum Auf: 
ftande bereit, in den Niederlanden war er bereits ausgebroden 

































Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlande. 393 


und zu Anfang 1790 waren die Aufitändiichen Herren des ganzen 
Landes mit Ausnahme zweier Städte; die öfterreichiiche nefammte 
Heeresmadht jtand den Türken gegenüber; Aufland war im Nriege 
nach zwei Zeiten hin md im Innern bereits durch bie früheren 
Anftvengungen jo erichöpft, da Unruhen unter dem Adel 
Fih bemerkbar machten. Wenn Preußen jegt einen großen Eins 
fag wagte, jo mochte cs wohl gelingen, Dejterreich don damals 
aus jeiner Vorherrihaft in Dentihland zu verbrängen und Auf: 
land den Wen über die Duieprlinie für immer zu verlegen. Die 
Lage hatte viel Achnlichteit mit der Lage Nuhlands von 1792 
bis 1795. Was jegt die Türfei für Preußen, das war nachher 
Franfreih für Nuhland. Wie Katharina die beiden deutichen 
Mächte im Strieg gegen Frankreich fi hwäcen ließ und dann 
Polen nad) ihrem Willen theilte, jo hätte Friedrid Wilhelm um 
1790 mit jeiner friichen Atriegsmadt die beiden geichwächten 
Kaifermächte in Böhmen, Polen, Nurland zur Annahme jchwers 
wiegender riedenobedingungen wahrjcheinlich zwingen fönnen. 
Hätte Natharina an der Stelle Friedrich Wildelm’s geitanden, der 
Augenblid wäre fiher nicht ungenubt vorüber gegangen. Aber 
freitic, mit Aufmarfchiren von einem Korps, wie 1787 in Holland, 
war es nicht gethan, und Hergberg glaubte an die Nraft feines 
diplomatischen Wolfenichiebens.  Vergberg wünjchte von Tejterreid) 
Abtretung Galiziens an Polen, von diejem Abtretung von Danzig 
und Thorn nebjt einem Landjtreifen an Preußen; dann  jollte 
Dejterreich durdy Violdau und Walachei entjchädigt werden. Ten 
Plan durchzujegen, war er im Dezember 1759 bereit 200,000 Dann 
gegen denjenigen der intereifirten Staaten marihiren zu Laien, der 
fi weigern würde, den Plan innerhalb vier Wochen anzunehmen. 
In diejer Yage und <tinmung mußte Hergberg drauf ausgehen, 
die Polen für fi zu gewinnen. Diefe fnirichten unter dent feiten 
Griff, mit dem der ruffiiche Gejandte Stadelberg fie hielt, und 
als an Stelle von Vuchholg der gewandte Kuchefini in Warichau 
mit Verlocdungen eintraf, die Feileln abzuidütteln, warf fi die 
große Michrheit auf die Seite Preußens. Der Neihstag tagte 
in Warjchau bereits jeit 1787. Num bildete fi cine Partei, 
welche unter dem Antriebe des ruffischen Trudes auf der einen 
Seite, der von Paris herüberwehenden freiheitsideen andererfeits 



































04 Zur Gejhichte der Unterwerfung Nurlands. 


den Plan fahte, im Bunde mit Preußen die Lerfaflung zu 
veformiren und die Eelbjtändigfeit Polens wiederzuerlangen. Mit 
feidenfchaftlichem Eifer wandte man fid der preußiichen Freundichajt 
zu und am 29. März 1790 murde eine enge Allianz abgeichlofien, 
die Polen gegen äußere Angriffe wie gegen Eingriffe in feine 
innern Werhältnifie ihügen follte. Wenige Wochen früher, am 
31. Januar, hatte Diez ein Offenfiv: und Defenfivbindniß mit 
der Pforte abgeichlofien, das zwar über feine Vollmacht hinaus: 
ging, aber von YHergberg dad nicht ohne Meiteres verworfen 
wurde *). Vielmehr war man in Berlin zur Zeit des polniichen 
Allianzabihluffes bereit, den Krieg genen die beiden Nachbarn zu 
unternehmen; im Mai jollten die Türfen den Feldzug mit aller 
Kraft eröffnen, die Polen jollten 30,000 Mann jtellen, der Nönig 
würde mit 80,000 Mann in's Feld rüden. 

Inziwiichen aber war Nofeph am 20. Febrnar geftorben, 
und während Hergberg zum Kampf jtirmte, änderte Yeopold die 
Stellung Defterreids völlig, indem er fein Hauptinterejie von ber 
Donam ab und wieder den deutichen Dingen zimvandte. Im 
Sommer 1790 erlifiete Leopold in perjönlicen Verhandlungen 
mit Friedrich Wilhelm den Vertrag von Neichenbad. Diejer 
Vertrag vom Juli 1790 gab den großen Plan Hergberg’s 
auf und co bfieb von Allem num vor der Hand nur die hohle 
Schale nad: die Forderung, da Nuland die Mediation Preufiens 
zum Abichlufi des Friedens mit der Pforte annehmen jolfe. Die 
jtürmiihe und verihnörfelte Politit Herpbera’s, der Ehrgeiz, Die 
Vergrößerung Preußens — Alles wurde vom Könige unter dem 














>) Die erften Neuerungen, privaten und of 
trag ftinmen mit einander jalecht zufamman. Yan 13. März macht er Tiez hefsige 
Vorwürfe: „Was haben Zir giwadk, ju veripreden, der ünig werde unohl 
gegen Huhland als gegen Teiterreich ach 
erwerbang der Atrim 
Weich. 1,240). Aber am Tage vorher, 12. März, heit 16 in einem von ib 
Fontrafigicen Grlofi dos Nünigs an den Sefandien Malt, in Peiershusn; 
Habe eben Durch einen Nurier Yri di in Nontantimopel erhatsen 
wonach «7. am 30. Januar cin Berran mit dr E orac aterjcignet hat, e 
aue je puix I 5 Staansarabio). Tir Meinungen 105 Nöuigs 
m all eben jo von einander abgerwichen zu fein 
potnifche Konititution. 





ei, Hertiberg's über den Were 











m niederlegn . 








als 3. 2. 1791 über die na 


Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlande. 395 


Eindrud der jchmeichelnden Nedekünfte Leopold’ und feines Naunik 
bei Seite geworfen, Dit Drfterreich gemeinfam gegen Nukland 
fi wenden, nachdem der Öfterreichtich-türfiiche Frieden wide 
geichloifan fein; Ruhland den Frieden ohne alle Yanderwerbungen, 
jelbit mit Nüdgabe der Nrim diftiven, den ruffchen Einfluß in 
Xolen dauernd durd den preußiicen eriegen und Danzig und 
orn auf friedlichen Wege des Vertrages von Polen erlangen: 
das waren fortan die Abjichten deo 95. Und von nun ab 
wurde der Wille des Nönige immer mahgebender in der Führung 
der äußern Politif, und wenn man beobachtet, wie die Jagd na 
dem Schein, der Eifer des Notenidreibens, die Neigung ben 
Gegner zu erichreden ohne jelbjt etwas wagen zu wollen, nad) 
wie vor in Berlin die hauptiächlicen Werkzenge der Politif 
blieben, ja eher noch ftärfer als unter Kerpberg in Anwendung 
famen, jo mu man, wie ich glaube, zu dem Schluh gelangen, 
bai; der Nönig einen erheblichen Theit der Schuld dafür trägt, daf; 
Hergberg von 1787-1791 vor lauter Jdeen und Worten nicht 
zu Thaten Fam. Was nachher Fam, der franzöftiche Nrieg, waren 
Taten, die jchlimmer waren als Nichtsthun, ımd der Cnell der 
Worte floh dabei noch reicher alo vorher. 

In dem Neichendadher Vertrage hatte der Nönig für bie 
Friedenoverhandlungen des Naifers mit der Pforte den status quo 
als Grundlage durdigeiegt, mao er fi ipäter zum Beruhigung 
deo Gewiflens umd zum Troft für Miherfolge jchr hoc anrecjnete, 
Preußen behielt jich die Mediation des wuflüid-türfüchen Friedens 
gegenüber Defterreich vor, welches ji in diefen Handel nicht 
mijchen, den Kuflen feine fe leijten follte. Preußen hatte 
nidjto von all der Mühe, als von nun ab die jtete Schnjucht, 
auch den Nuifen feine Fricenovermittelung aufumöthigen ohne 
die Vortheile, die Hergberg ih davon chedem veriprochen hatte, 
Auferdem freilich nad) die unerfreuliche Erfahrung, dal; Natharina's 
ganzer Zorn. fich gegen Wreufen wandte und da; Oefterreidh jehr 
bald die Abmacungen von Neicenbad) jehr gegen den Zinn 
Friedrich Wilhen’s auszulegen begann. 

Hergberg’o Einflul auf die prenfiiche PBolitif hatte von 
m sehr an Boden verloren; indejlen führte er noch die 
te weiter und arbeitete nach wie vor in der alten Micdhtung. 




































nun 
Sie 








396 Zur Gefdhichte der Unterwerfung Aurfanbs. 





Im Auguft war ber ruficeichwebiiche Krieg durd den Frieden 
von Merelö beendet worden; Nufland hatte in der Diftice die 
Hände frei befommen und begann feine Streitfräfte gegen Prenhen 
ud England zu wenden. Denn von diefer Seite drohte in ber 
That jegt Gefahr. No am 30. Oktober 1 vbberg 
ganz friegeriih. In einem Brief an den preuhtichen Yegations- 
vatl) von Hültel in Petersburg meint er, im Yunde mit England, 
Holland, Schweden, Polen und Türen den Frieden auf Grumb 
des status quo zu erzwingen. Unter dem Berzogn von Yraunz 
fchmeig jollten 100,000 Vlann gegen Nuhland vorgehen *ı. 

Diefes ijt num der Moment, in dem Dergberg 6 für nöthig 
hätt, einen eigenen Nefidenten nad) Pitan zu ididen. Die Lage 
ergiebt, daf; dieler Nefident die friegeriichen Vorbereitnngen Nur 
lands an der Düna und in Riga aus nächjter Näbe beobachten 
follte; ferner aber follte das Herzogthum eben fo an Preußen 
herangezogen werden, wie eo gerade jept mit ofen geichah. 
Die Auszüge aus der Norreipondenz Küttel's mit jeinem Hofe, 
welche ich weiter unten veröffentfiche, Tpiegeln deutlich) die Wand- 
ungen wieder, melde von mm ab jowohl die rulliiche als die 
preußiiche Politit durhmachen, und beleuchten zugleid) die hisigen 
Rümpfe, die in Nurfand zwiichen den einander dort gegenüber: 
jtehenden Mächten vollführt wurden. Zum Verftändniß derjelben 
wird es nöthig fein, nochmals dem Gange der großen Politif in 
ben näcjiten Jahren mit einigen Sinmweiten zu folgen. 

Nuhland verhielt fh in Polen abwartend, jo lange c& jeine 
Kräfte gegen Schweden umd die Pforte nötbig hatte. Der einit 
allgewaltige „Ainbafladeur” in Warihau, Stadelberg, jah dem 
Umfchwung im Lande zu Gunften einer Verfajluingsreform und 
eines preufüchen Yündnifies Ntillichweigend zu, und wurde dann 
im Sept. 1790 duch Bulgafow eriett. Gegen Ende des Jahres 
Ächlof; Polen eine Allianz mit der Pforte gegen Nuhland. Während 
aber jo Polen, Preußen und die Pforte num geeint Nuhland 
gegenüber ftanden, während England Hülje veriprochen hatte, 
Schweden nicht abgeneigt war den Nampf wieder aufzumehmen, 
brachten die Polen einen argen Ni; in die preuhiice Freundichnft 

















°) Verliner Archiv, 


Zur Geibichte der Unterwerfung Aurfands. 397 


durch den PVeichluß, Danzig und Thorn nicht zu opfern. Am 
9. Zcpt. 1790 beichloi der Neichstag, es dürfe fein Antrag auf 
Abtretung polniichen Gebietes, an wen co and) fei, eingebracht 
werden. Dieje Tporheit Treupte die preuftichen, and) nad) Neichen- 
bach ‚feitgchaltenen Wünfce und rächte jih) an Polen schwer. 
Katharina hatte die Polen itets zum Miberitande gegen ben 
Munich Preufeno, Thorn und Danzig zu befiken, getrieben. Sie 
ftügte fich Preußien gegenüber darauf, dah fie 1775 die Grenzen 
Polens vertragsmäßig in ihren Schub genommen habe bei Ab- 
ichluj; der Garantie der polniihen Verfajung. gab eben nie 
etwas freiwillig ber, was fie irgend als Tauichobjeft brauchen 
fonnte. Danzig, Thorn, das Gebiet zwiihen Preuhen und 
Schlefien war 'andererfeite md ift noch heute für Preußen und 
Deutjchland jo notwendiger Beiig, dah nur Bhantaften glauben 
fonnten, denjelben auf die Dauer Prenjen vorenthalten zu Fönnen. 
Der thörichte Trop der Polen hätte damals jede preuhiiche 
Regierung zulegt zu gewaltiamen Mitteln treiben müjlen, um 
Danzig und Thorn zu erlangen, md hat jehr weientlid) die 
zweite Theilung gefördert. Jest, in der patriotiichen Gewitter: 
luft des Neihstages, gelang co dem ruifiiden Gejandten leicht, 
die Polen glanben zu machen, dab Rufland die Städte gegen 
Preußen jchügen werde, und die jo betrogenen polnischen Bigföpfe 
nannten co dann Xerrath, alo Preußen nachher Feine Urjadhe 
fand, einem Nachbar beizujtehn ohne andern Gewinn als die Anss 
ficht auf Hülfe in einem Nriege genen Nuhland mit einer noch 
erit zu ichnfenden polniichen Armee. 

Herpberg’o Stellung war unhaltbar geworden mit der Ver- 
eitelung feines Hauptjädlichen politiichen Zieles, und wiewohl er 
die beiden Städte mit Hülfe Nuhlands doc nad) zu erwerben 
fih einen Augenblit voripiegeln mochte, jo verlor er immer mehr 
die Leitung in der großen Politi. Zu Ende des Jahres begannen 
nun aud die riedensverhandlungen zu Siftowa, die Tejterreich 
aber jo jchleppend führte, dak Preußen zulept durch eine drohende 
Deflaration den Naifer zur Cinhaltung der Neichenbacher Ab- 
madjungen „an die Wand drücen“ *) mußte, um den Frieden 





























*) Ertah am Golt, Berliner Archiv. 


398 Zur Geidjichte der Unterwerfung Aurlands- 


herbeizuführen. —- In Zolen aber jtürmte man inzwiichen dem 
völligen Bruch mit Nuhland m fo cifriger zu, md am 3. Mai 
1791 Tamm die neue polniiche Verfaiinng zu Stande, welche Polen 
zum Grbreich unter einem jühjtichen Prinzen machen follte. Dieier 
Ausgang war nit mehr das Werk preußiichen, jondern öfter 
reichiichen Einftufjes und verftieh jehr gegen Herpberg’s Politik, 
der weder ein jtarkes Wolen noch eine jähliihe Dynajtie in 
Warichau wünjchte. Aber auf die Stimme Hergberg’o wurde in 
Berlin nicht mehr geachtet, jondern man beglücdwünichte die Polen 
am ihrem pattiotischen Werk, um dann, wenig Ipäter, doc bie 
Konjtitution vom 3. Mai zu verdammen und zu der alten Politit 
der Erhaltung der polniihen Schwäche zurüdzufehren. War das 
in der verfahrenen Yage aud) begründet, jo war die Exbitterung 
nicht minder berechtigt, weldhe dieieo Ju-Stich-Yalien Preufens 
bei den Polen hervorrief. Noch in den Verhandlungen zu Grodno 
über die zweite Theilung im Jahre 1793 zeigte fi die Wirfung 
diefes preußtichen Treubrude in dem Hal der Polen. 

Es iit ein enticheidender Angenblid fir die gelammte poli- 
tüche Lage, und wenn die Polen fich über Preußens Abfall zu 
befhweren Urjadhe hatten, jo war diejer Abfall doc fein ganz 
freiwilliger, vielmehr ein in den Umtänden jehr ftart begründeter*). 

Nach) dem Keichenbadyer Vertrage hatte Preufen gegen 
Rufland gerüftet umd mit England wegen der Unterflügung im 
Kriegofall unterhandelt. Der General Möllendorff war als 
fünftiger Nommandivender an die ruffiiche Grenze geichiett worden, 
um die Nüftungen zu leiten. Am 28. Oftober 1790 legte Derb- 
berg dem Könige einen neuen Man vor, der fih auf die Meldung 
Golgens aus Peteroburg ftüßte, dab nad lange anhaltender 
Spannung zwiichen den ruffischen Hofe md dem preußiichen Ger 
fandten der Vice-Nanzler Graf Titermonn endlic) fi dem Sejandten 
wieder genähert und ihin geiagt habe, dai, wenn Preußen jeine 
Forderung der „Medintion” zwiichen der Pforte und Auland 
fallen Iajje und fi mit „bons offiees- begnügen wolle, die 
Sachen Äh in befriedigender Meile würden erledigen lailen. 
Hergberg räth nun dem Mönige, Dielen Vorichlag anzunehmen; 

































=) Das Folgende nach den Alten des Berliner Arhivs, 


Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 399 


er möge feinen Verpflichtungen treu auf dem status quo beitehen, 
aber die Pforte zur definitiven Abtretung der Mrim auffordern, 
unter Sicherung der Nügabe von Oczafow. Für die Vermittelung 
des Friedens folle Hufland helfen, den Tauic) von Danzig nnd 
Thorn gegen einen günftigen Sandelovertrag und Heine Grenz: 
berichtigungen in Polen durchpufegen. In diefem Sinne nurbe 
denn auch Golg inftenirt. Aber icon war in Petersburg wieder 
eine Schwenkung eingetreten; Oftermann wollte nichto mehr von 
feinen friedlichen Verheifungen willen, feit aus Wien Nachrichten 
gefommen waren, daf man dort nicht nur Nuhland Hülfe leijten, 
Sondern den Neichenbacher Vertrag vernichten wolle. Die rufjüchen 
Rüftungen in ivland nahmen ihren Fortgang und deuteten daranf 
hin,“ Da man fid zu Yande defenfiv verhalten und nur zur See 
angreifend vorgehen wolle. Jam Dezember fordert Nufland aufer 
der Krim, die eo behalten will, Oczafow und das Gebiet bio zum 
Dniejtr, d.h. mehr ale früher und mehr als Preußen bei der 
Pforte durchjufegen vermag. 

Am 10. Januar 1791 räth Golg, eine feite Vereinbarung 
mit den Allirten, England, Holland, der Pforte, ‘Polen fi 
und dann Rußland ein Ultimatum zu jtellen; der 
nur gewinnen, wenn er zu rechter Zeit bredie und die Armee in 
Kurland ernährt werden fünne. Admiral Tiehitihagew behalte 
den Oberbefehl über die Xlotte, der Prinz von Nafjan den über 
die Klotille; die Seemadht jolle 24,000 Dann Vejapung erhalten. 
Die Landarmee in Livland md Weihrußland Tolle nominell 
138,071 Dann, ohne die 10,000 Mann Garde betragen, wovon 
aber ein Drittel abzurechnen jei für die Flotte und wegen unvoll- 
sähliger Truppenförper. 

Am Februar 1791 berichtet Golb, man iprehe in 
Petersburg nur von Arieg gegen Preufen, auch da Rotemfin 
ihn führen folle, der am 4. Februar von Jay jid) auf die Neife 
nad) Petersburg begeben habe, wo er am 20. oder anfommen 
mühe. Die Naiferin weile hartnädig alle Wediation anderer 
Mächte in der türfiichen Zadje ab. Wenn der Nönig ein Korps 
nach Weihrußland jenden wolle, fo werde er gutes Spiel haben, 
denn nach allen Nachrichten warte dieje Provinz nur darauf, um 
fich gegen Auhland zu erheben. Die Nüftungen werden unterbei, 


















400 Zur Gejdichte der Unterwerfung Kurlands. 


fortgeiebt, und Golg treibt zum Angriff, da das Nima feinen 
KArieg nad) dem September gejtatte. Soltylo fei von jeiner 
Iufpeftionsreife nad) Yivland jehr niedergeichlagen über den Zu- 
ftand der Truppen heimgefehrt. Der engliihe Gefandte Zir 
Withwortt) habe erfahren, dal; Schweden mit Nuhland ein Yündnik 
abgeichlofien Habe. 

Am 14. März antwortet der König, er halte diefe Nachricht 
für falih, da Nuhland den Schweren weder Zubfidien nod) die 
Ausficht gewährt Habe, daf; co den jhwedifchen Forderungen gemüh 
der Türfei den status quo einräumen werde. Die Naiferin fuche 
aber den Nönig von Schweden durd) Nonzeffionen in Finnland 
und Lorjpiegelung der polnifcen Nrone zu gewinnen. Aber ber 
König wolle jeinerfeits nun Schweden durch Zubjidien gewinnen, 
die er mit England gemeinjan zahlen würde. Kerner folle England 
eine große Flotte in die Cities, eine zweite in den Pontus jenden; 
dann glaube er, dah die N werde nachgeben mühen, da 
auch die Türkei friegeeifrig fei. Und am 1. April meint ber 
König tiumphirend, man müfle bad) fehen, ob „messieurs les 
Russes ne deviendront pas plus traitables.“ wenn fie erfahren, 
dah England 10 Yinienihifje nebjt entiprechenden regatten in 
die Titiee und 12 Nriegsihiife in den Pontus zu fchicen jid) 
entjchlofien habe; die holländiiche Gofadre werde fid den Engländrn 
im Mittelmeer wohl anfchliehen. Aber Golg zweifelt ned immer, 
dah die Nailerin fi durd) all diefe Androhungen zur Annahme 
des status quo werde bewegen laflen. Er halte jede mittlere 
Mahregel für verfehlt und ein Ultimatum für durchaus nothiwendig, 
welches den Krieg oder Modififationen der Friedensbedingungen 
anfündige, die ftarf genug wären, um zur Annahme des Friedens 
mit den Türken zu nöthigen. Schweden feheine bereit zu fein, fid) 
der Partei anzuichliehen, die ihm die gewinihten 12 Millionen 
Subfidien verfpreche, die Nufland aber zu zahlen außer Stande iei. 
Wenn man der Naiferin nicht die Dnieftr-Srenze einräume, fo 
werde fie, wie Golg fürhtet, den Nrieg vorziehen, der zwar fehr 
gefährlich für fie wäre, deifen größte Yafı und größten Anjtven 
gungen jedod auf Preußen fallen würden. Juden fünne man 
ohne Schwedens Mitwirtung uhland, troß deifen Schwäche, 
nicht zwingen. 


























Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlande. 401 


Inzwiihen hat Soligin den Auftrag erhalten, in Wien um. 
Beiftand gegen die Aliirten amd gegen die Zeifion Danzigs an 
Preußen, für die England in Warfhau wirkt, zu werben, was 
bei der immer fraglichen Haltung Wiens zu den Neichenbacher 
Abmadhungen Teineswegs auofichtolos ijt und den Nönig veranlaft, 
durd) die bereits erwähnte energifhe Erklärung das Wiener 
Rabinet wenigftens zum Aufgeben jeiner Verichleppung der Friedens- 
verhandlungen in Siftowa zu drängen. In Petersburg aber 
wuchs der Muth zum Widerftande, bejonders als es immer Harer 
ward, da in England die Ausführung der Flottenjendungen wohl 
fühn bejchlojjen war, aber auf immer entfciednern Widerftand im 
Sande ieh. Yon dem Entichlufi Englande hing nun alles ab: 
Schweden wartete auf die Flotte um fich anzuichliehen, Preußen 
um feine Truppen mariciren zu laffen. Trop der Ungewifiheit 
rieth Golg zu einer pofitiven dem ruffiichen Hof vorzulegenden 
Erklärung; zugleich aber folle man der Kaiferin auch ein Mittel 
darbieten um die Niederlage zu verjchleiern, die in der Annahme 
des reinen status quo läge. Eine jdnelle Flotteniendung in's 
Schwarze Meer werde auch PBotemfin’s ehrgeizige Pläne, die ihn 
iumer wieder zur Vereitelung des Jriedens trieben, dämpfen, ımb 
ihn für den Frieden fimmen. Der Gejandte betont inmer wicder, 
für wie nothwendig er die Mitwirkung Schwedens Halte, befonders 
der jchwediichen Flotte, welde eine Yandung des Prinzen von 
Nafiau an der preußifchen Küfte verhindern Fönne. 

Da trat der Umichlag in London ein: Pitt mußte feine 
friegeriichen Pläne dem Miderwillen der Nation gegen den Nrieg 
opfern. Es wurde beichlofien, nochmals einen friedlichen Ausweg 
zu fücen und zu diejem Ziwed einen auferordentlichen Gejandten 
mit ermähigten Friebensvorichlägen nad) Peteroburg zu fenden. 
Preußen fchlieit ich fofort diefen Vorichlägen an und Sir Fawfener 
macht fich auf den Meg nad) Petersburg mit Bedingungen, die, 
nad der Meinung des 95, der Naiferin die von Colt 
gewünjchten Dlittel bieten dürften, um mit Schonung ihres Nulımes 
und ihrer Empfindlicjfeit zu einem Frieden zu gelangen, falls fie 
die englifchen Schwankungen nicht zum Anlaf; nähme, um den 
Ton wieder zu jleigern. Indeffen war man in Berlin dad) jo 
wenig des Erfolges ficher, da man Golk den Auftrag gab, beim 








402 Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 


Xerfaften Petersburgs wegen Ausbruch des Krieges das Archiv 
der Sejandtichaft zu verbrennen. 

Der Muth der Naiferin war indejien jchon vor der Wendung 
in England feineswegs erihüttert. hatte feinen Freund, 
wenn man das unzuverläfiige Oefterreich nicht als jolden gelten 
faien will: weder Sıhweden nad) Spanien, nad) Dänemark hatte 
fie zum Veiftande emporreiien fönnen, Sie hatte Nrieg im 
Süden, fie hatte eine elende Armee, leere Kajjen, ein über die 
vielen Nefrutirungen, die bis zu einem Mann vom Hundert fort: 
nahmen, mvendes Volk. Das in Maffen fabrizirte Papiergeld 
wurde nur no mit 20, mit 25 Prozent unter dem nominellen 
Zilberwerth genommen; Gold gab «6 nord) weniger als Silber. 
Eine fchlechte Ernte war die Urfache großer Theuerung der Brod- 
früchte, bejonders in Yivland, wo die Armee fid) jammelte. In 
einem Lande von bis 28 Willionen Cinwohnern hatte die 
Raiferin, wie man ihr in Petersburg 1786 nachredhinete, in den 
legten 20 Jahren 700,000 Mann ausgehoben, und cs waren 
jegt do nur höchitens 140,000 Mann unter den Waffen. Die 
Fehlenden waren todt oder deiertiit”). Dao Land Hatte eine 
Ausfuhr im Werth von etwa 10 Millionen Ruben ımd hatte in 
fegter Zeit mehrere Anleiyen in Holland und Genua gemacht, bie 
iehr hoch in Vietall muiten verzinjt werden. Die neu eingeftellten 
Nekruten waren großentheils Nnaben und muiten entlafien werden 
noch che fie gebraucht wurden. Die Armee in der Moldau hatte 
jeit 9 Vionaten feinen Cold erhalten. Trog Alleın hielt Katharina 
an ihrer jtolzen Unabhängigfeit feit, mit der fie feine Cinmiichung 
in ihren Nampf mit der Pforte duldete. Zie fannte ihre Gegner, 
fie vertraute ihrem alten Glüc. Ihre Mojeftät, fchreibt Golk 
am 26. April an den Mönig, welder einige Glieder ihres Nathes 
gewagt haben vorzuihlagen, dah fie den Umftänden nachgeben 
möge, Toll geantwortet haben: „da der Schupgott Nuflands zu 
groß fei, um nicht auf feinen Beiitand zu zählen.“ Vtan hielt im 
April in Petersburg den Arieg immer noch für unvermeidlich und 
iuchte durch) Bewilligung aller von Schweden gejtellten Bedingungen, 
König Guftav auf die rujfiiche Seite hinüberzuziehen. Zugleich 




















) Bericht Hüttel's vom 22. 





Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 403 


wurden neue 20 Millionen Papierrubet angefertigt und weiter 
gerüftet. Golg erhält am 19. Wini den Auftrag, Tobald der 
außerordentliche engliihe Gefandte Farmkener die Deklaration der 
Aliirten überbracdht haben werde, behutfam die Dinge zur Ent- 
iheidung zu drängen, damit Nuland nicht durd Verichleppung 
5 dahin bringe, da die für den Krieg günftige Zeit von Preufien 
verfäumt werde. TDah Schweden fi Nufland anjchlichen werde, 
jei fehr unwahrfcheinfich, weil es dadurch ganz in die Hand Ruh: 
lands füme und aud) Pommern an Preußen verlieren würde. 
Ende April erwartet man in Petersburg die baldige Abreife der 
Gefandten von Preußen und England. 

Die von Fawfener überbradhte Deklaration ging mın dahin, 
den Frieden mit der Pforte auf rund eines modifizirten status 
quo zu empfehlen, wonad Natharina Orzafom und den gröhern 
Theil feines Vezirfes behalten, aber die Feitung jchleifen, freie 
fahrt auf dem für den pofnifchen Handel wichtigen Dnieftr 
zufichern jollte. Katharina lieh fich aber nicht irre machen, jondern 
forderte die einfache Tniejtrgrenge, im Geheimen auf die guten 
Vezieungen zu Wien und die Stimmung in England bauend, wo 
Pitt in Gefahr war, feine Stellung zu verlieren, wenn er eo zum 
Kriege trieb. Eumorow ward nach Finnland, Zoltyfom nad Yiv- 
fand abgeidjieft zur Nebernahme ihrer Kommandos. Das Yanfhaus 
Hope in Amfierdam fie; fh bewegen, yu freilid harten Vedi 
gungen nochmals 5 Millionen herzugeben, und jo entichloifen fi 
die Gefandten denn doc, im MWejentlihen die Forderungen 
KRatharina’s anzunehmen. Cie wurden in einer gemeinfamen 
Dellaration der drei Mächte am 22. Juli n. Ct. feitgelegt. 

Wehmüthige Vetrachtungen über den Viherfolg der mit 
folcher Ausdauer verfolgten Intervention jtellte Ariedrih Wilhelm 
an. Denn Rußland hatte mehr durcgefegt, als es anfünglich 
gefordert. Die Scyuld jchob der König den Engländern zu. Und 
er hatte infoweit ohne Hweifel Net, als die Engländer ihn bis 
dicht vor den Nrieg getrieben und dann im Stich gelafjen hatten, 
in einen Augenblid, wo alle Wahriceinlichteit dafür iprad, dai 
der Nrieg ein fiegreicher fein werde. Bei der Ericöpfung Nuß- 
lands und den gerade jeßt, dicht vor den Verhandlungen wegen 
einer Intervention in Frankreid), ned) ungeminderten Kräften 




















404 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 


Preußens, Tonnte unter Mitwirtung der engliihen Flotte die 
Meberlegenheit der preuhiihren Stellung gax nicht angezweifelt 
werden, was aud) Golp jehr Far war. Xreilic meinte er, das 
Schwierige jei nicht das Siegen, jondern die Rufen zum Schlagen 
zu nöthigen, fie zu finden. Aber Friedrich, Wilhelm wurde längjt 
von den Engländern als Waffe gegen Rufland mißbraucht. Und 
wenn man von dem verwidelten Taufcplan Herbberg’s abjieht: 
welchen Nugen fonnte der König von einem Nrieg erwarten, 
deifen ausgeiprochener Hauptzwed war, die Türkei gegen vuifiice 
Eroberung zu ihügen? War das wicht eine Aufgabe, die im 
Iuterefie Englands jo bamals wie bis in die neuejte Zeit hinein 
lag, aber mit preußtihem Intereffe faum etwas zu hun hatte? 
War es nicht der Vortheil Englands, für den der Nönig arbeitete, 
während er fi) in der Rolle eines grofmüthigen Schirmers der 
M orte gefiel? War es nicht diefelbe Nolle, welche ex jofort 
nad anderer Seite hin wieder auf fi nahm, indem er für und 
durch Defterreich und Aufland die Waffen gegen Franfreid) ergriff? 
Als ob ein jaljcher, idealer Wahn ihn ergriffen hätte, in ber 
großen Politif Heldenthaten vollbringen zu müilen, fieh fid) der 
König bald von England, bald von Dejterreic, bald von Nufland 
für ihre Zwede verwenden, ımd das mit einer Unbefangenheit, 
die wunderbar it Angefichts dev Thatjache, da jeine Diplomaten 
fehr wohl erfannten, wo die eigentlichen Triebfedern der preufiicen 
Aftion lagen. Oft genug hat der König die Warnung vernommen, 
Natharina triebe ihn gegen Franfreid, um beito ungeftörter ihren 
polnifchen Gefchäften nachgehen zu fönnen. Und nicht viel anders 
ftand Tefterreich zu diefem preußiichen Kreuzguge. 

Möre 06 zum friege gegen Katharina gefommen, jo hätten 
fich im Lauf defjelben fiher praftiiche Ziele für Preufien gezeigt. 
Der strieg wäre im Bunde mit Polen geführt worden, der preuhiiche 
Einfluß hätte ih dauernd in Polen befeftigt, die gewünschten Ab- 
rundumgen hätten die Polen nicht verweigern fönnen. Die 
Selbjtändigfeit Rurlands wäre erhalten worden. Auch nach An 
nahme der Deklaration blieb die Yage geraume Zeit hindurch 
Triegeriih. Potemtin tehrte feineowegs friedfertig zu feiner Armee 
an die Donau zurüd, mit Schweden glüdte co Stadelberg zulegt 
doc, einen Defenjivvertag im Oftober 1791 abzuichließen. Aber 











Zur Gechichte der Unterwerfung Nurlande. 405 


gerade jest ftarb Wotemfin, der ehrgeizige, fait jelbftändige 
Vafall, der um jeden Preis fid eine Nrone im Süden zn erfämpfen 
gedaht und den Friedensfchluß zu hintertreiben gewußt hatte. 
Etwa drei Monate jpäter fonnte der Friede zu Jaffy auf der in 
Petersburg vereinbarten Grundlage abgeichloifen werden, ohne 
die Mediation oder die bons offices Preußens. 

Von dem Tode Potemfin’s ab treten num die türkischen 
Angelegenheiten zurüd und die polniihen und franzöfiihen immer 
mehr in den Vordergrumd. Während Friedrich Wilhelm nach der 
im Augujt von Pillnit aus erlajfenen Deklaration jid) gegen 
Franfreich zu rüften begann, glaubte er feines Einfluffes in Polen 
nad) wie vor fiher zu bleiben. Die Naiferin, meinte er, fünne 
nicht Hoffen, ihren Einfluß in Polen wieberzugewinnen, welches ©, 
der König, „a retire du neaut et dont le futur souverain 
tiendra sa eouronne de ses (des Königs) mains“*). Wlan 
mochte in Berlin nod die Nonjtitution vom 3. Mai für haltbar 
unter preußiichem Schug anfehen; hatte man fie dod von Haufe 
ans mit günjtigem Bli betrachtet") und die Nepublit in ihrem 
Streben, fi von dem preußiichen Griff zu befreien, ermutbigt. 
Jegt aber begann Nuhland, den Abichluh des Friedens in Jay 
vorausichend, bereits in Polen gegen die Stonftitution im Geheimen 
zu wühlen; Anzeichen mehrten ich, dai; eo dort zu ernjten Aus 
einanderfegungen fommen müjle. Naum war der Frieden eine 
Thatfahe geworden, jo erklärte man in Berlin, da man wohl 
die Ummwälzung ruhig babe vor fi geben fajlen, aber feinerlei 
Verpflichtungen noch Veripredjungen eingegangen fei. Stanistaus 
Auguft und einige Magnaten fuchen nun die frühern Beziehungen 
Preußens zu Polen dahin zu verwerthen, daß fie eine gemwilie 
Garantie Preußens für die Nonftitution daraus geltend machen. 
ucchefini aber wird fofort angewiefen zu erklären, dah da der 
König nicht befragt worden noch ivgend Cinfluh oder auch nur 
Kenntnifi von dem Projeft ver Umwälzung erhatten habe, er fid) 
allen Urteils enthalte. Man werde hiernad) über die wirkliche 














*) Erlafi an Golß vom pi. 191. 
„de nal pu en eonscquene que la vair de trüs hon seil® heit 
6 in einem Exlah an Goly vom 9. Mai. 





406 Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurkınde. 


Meinung des Königs nicht mehr im Zweifel fein Fönnen. Sofort 
kann num aud Golg melden, da feine Beziehungen zum vuifiihen 
Hofe fid) bejiern. 

Bei den Tendenzen, die Natharina in Polen verfotgte, war 
es ar, dah Preufen entweder mit den Waffen in der Hand 
Polen vor ihrem Angriffe werde vertheidigen, oder Polen feinem 
Scicjal überlajien müjlen. Im Begriff gegen Frankreich loszu: 
brechen, von England im Stid) gelafien, des türfiihen Bundes: 
fen durch den Frieden von Jafin, des jcwediichen durd ben 
-ichwedifchen Defenfivvertrag beraubt: durfte, darf man «6 
da Friedrich Wilhelm wirklicd verdenfen, dab er die Polen aufgab? 
Man mag ihm vorwerfen, dal; er fich gegen Franfreich fortreihen 
Vieh, und dadurd) verhindert wurde, feine Pilichten gegen Polen 
zu erfüllen. Denn Plichten, fie vor Nufland zu jcüben, hatte 
ev allerdings, wenn aud die evolution vom 3. Mai ihm das 
formelle Recht gab, jih von den Veripredungen früherer Zeit 
loszufagen. Yatte er einmal fid) gegen Franfreid) gewandt, fo 
gab er den Ginfluh in Polen nicht allein, jondern aud die 
Möglichkeit auf, Katharina’s Pläne zu vereiteln. Cs nügt heute 
nichts, die Thatjache verjchleiern zu wollen, dal Polen von Preußen 
im Stich gelajien wurde, wie diejes von England joeben war im 
Stich gelaflen worden. Aber nicht jo jehr Hinterlt, wie die Polen, 
und noch jüngit ihr Geicichtsichreiber Kalinfa, behaupteten, war 
die Triebfeder der preußifchen Politit, Tondern Ungejchid, Unents 
fchlofienheit — und die Treulofigfeit Englands. Und ging Statharina 
einmal an eine neue Theilung, jo war Friedrid, Wilhelm voll 
berechtigt, am ihr theifzumehmen md enblid jene Abrumdung 
zu erwerben, die für Preußen num einmal eine Rothe 
wendigfeit war. 

Unterdefjen war aber beim Mönige der phantajtiichite 
aller Pläne zur Neife gelangt: die franzöfiiche Nevolution jollte 
niedergeworfen werden wie die holländifche im Jahre 1787. 
Preußen hatte zwar nicht, wie Teiterreih, eine Tochter dort zu 
retten, aber um der „guten Sache” willen jtellte «6 fi an bie 
Spige derer, weldie der Monarchie, den vertriebenen Prinzen und 
Shelleuten zu ihrem Nechte verhelfen wollten. Oefterreih ergriff 
die Initiative für die Sade Marin Antoinettens, aber Preußen 














Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlands. 407 


wurde ihr eifriger Nitter, von Katharina mit jhönen Neben umd 
füttlicher Entrüftung in den Nampf getrieben, der ihr freie Hand 
in Polen geben joltte. 

Hergberg wurde am 6. Juli entlafien, und am 29. Juli 1791 
wurde der preufiiich- öfterreichiiche Wertrag geichloflen, der ben 
unfeligiten aller deutichen Striege, den Feldzug gegen die fran- 
söfihe Revolution einleitete, 

Kaum hatte Rußland am 9. Januar 1792 zu Nafin den 
Frieden mit den Türken abgeichloiien, jo trat es aus feiner Zurüd: 
Haltung gegenüber Polen mit einen Proteft gegen die Konititution 
vom 3. Diai heraus, dem ruffiiche Truppen auf dem Zuße folgten. 
Zugleich ichwentte Katharina von Wien nad) Berlin hinüber. Im 
jenem Vertrage vom 25. Juli 1791 hatten Preußen und Dejters 
reich eine Vejtimmung aufgenommen, nad) der Nuhland jollte aufs 
gefordert werden, mit beiden Mächten gemeinjam die Garantie 
der polnifchen Verfaifung zu übernehmen, wobei auf dem polniichen 
Throne fein Glied eines der drei vertragichließenden Negentenhäufer 
jollte erhoben werden. Als nad) dem Tode Leopolds zu Anfang 
1792 Franz II. zur Negierung gelangt war, theilte derielbe jene 
Konvention mit Preußen dem ruffiihen Hofe zum Veitritt mit. 
Die Kaiferin lehnte den Beitritt in zwei Briefen von 12. April 
und 2. Mai (a. ©t.) ab, und zwar weil die Nonvention jenen 
geheimen Artitel in Betreff Polens enthalte, welder nicht nur die 
von Nufland übernommenen Verpflichtungen, fondern auch die 
feierfidhen Verträge vernichte, welche fie mit Tefterreich verbänden. 
Daher behalte jich die Maiferin das Necht vor, direft mit dem 
Aönige von Preußen eine befondere Allianz zu fblichen*). 

Das war deutlic; geiprochen: Der Einfluß, den Tejterreich 
in Warjchau gewonnen, pahte ihr jo wenig ale die neue Erb: 
monarchie, und die Folge diejer deutlichen Sprache war, daß 
Franz II. jchleunig am 14. Juli 1792 ein Bündnif mit Natharina 
abicyloh, als Verlängerung der früheren Verträge auf 8 Jahre. 
ehe der Vertrag mit Tefterreid) abgeidhloiien war, ließ 
Entwurf zu einem Allianz-Vertrage durd) den 
träger Alopäus auch dem Verliner Hofe zugehen**). 

































*) Martens, Neruei 
**) Berliner Archiv. 


408 Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlands. 


€s handelte fich wefentlich um die polnifchen Angelegenheiten, und 
Oftermann lieh mm bereits in der ftrengen Zurücdhaltung über 
die ruifiichen Abfichten auf Polen etwas nad. Der Entwurf 
werde, fo jchrieb er, den Berliner Hof über die Ziele aufklären, 
die man im Auge habe. An Berlin fand man, dab der Entwurf 
ein Abklatich des preußiichruffiichen Vertrages vom 12. Oftober 1769 
und jehr annehmbar fei. Wan bevollmächtigte alfo Golg zum Ab- 
ihluh fait ohne Nenderungen an dem Entwurfe, und jo fam denn 
der Vertrag am 7. Augujt 1792 zu Stande. Es war eine 
Defenfivallianz, die man gegen jeden Angreifer abihlof, die aber 
einige geheime Artifel hatte, einen über Kurland und einen über 
Polen. Nichts war hier nody über territoriale Eroberungen von 
ivgend welcher Seite geäuhert; ce follten nur die alten Zuflände 
in Polen und in Nurland wieder bevgejtellt werden. Als wejentich 
wurde betont, daß die beiden fontrahirenden Mächte niemals 
zugeben würden, da man einen andern als einen Riaften auf ben 
polnifchen Thron exhebe, noch da Polen ein Exbreich, nad) abjolute 
Monarchie werde. Indeifen war dod die Freundfhaft damit 
wiederhergeitellt, nad) der man jich in Berlin fo lange Jahre 
gejehnt hatte, und man durfte hoffen, da; Katharina ihr aegebeneo 
Wort halten, Preufen zu feinen Entichädigungen für die Söldner: 
dienjte in Franfreid verhelfen werde. Um diefe Entidädigungen 
ging fortan die Sorge und das Ringen in Petersburg, denn dort 
war man nad) wie vor dod) jehr abaeneigt, die polniice Beute 
ich durd) den neuen Freund um mehr als das Allernothwendigite 
türgen zu fajfen. 

Ditermann hatte Holy gegenüber bereits am 17. Febr. die 
vuifüichen Pläne dargelegi: Wenn das Werk des 3. Mai fichen 
bleibe und Nonfiltenz gewinne, jo werde ohne Zweifel das mit 
Polen verbundene Sachen eine Macht werden, welde den einzelnen 
Nadybarn jehr unbequem werden fönne. Nufland wie Preußen 
hätten dann eine Lange Grenze zu jhügen, Preuhen aber auferden 
in Deutichland einen fteigenden Einfluf, vielleicht Togar ein Ueber: 
gervicht Sachiens zu beforgen. Daher mühten beide Mächte fid) 
über die Mittel zur Sicherung ihrer Grenzen verftändigen. Hier 
war die Teilung zwar noch nicht Klar ausgejprodyen, aber man 
wußte nun in Berlin, dah eine jolde in Petersburg vorbereitet 


























Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlande. 409 


werde. In einem eigenhändigen md eingehenden Griah an die 
ifter vom 13. März erklärt der König den wuifiichen Theitungs- 
plan für das im preußiichen Intereiie Günftigfte und Wünfchens: 
werthejte, vorausgejeßt, dal Preußen dann die Weichfellinie 
befomme. Pan ging in feinen Wünjchen aljo ion weit über 
die erjte Abrundung hinaus. 

Vald aber wehte der Wind an der Newa wieder anders. 
Augenicheinlid) hatte der in Ausficht jtehende Kampf der beiden 
deutihen Mächte gegen Franfreid, Natharina auf den Gedanken 
gebracht, da, wenn bie beiden dort im Weiten Groberungen 
machen würden, jie von Polen nids zu befommen brauchten. 
Und die Wirkung diefeo Gedanfeus war, dah Oftermann von 
Teilung fhwieg und Nuland- für volltommen tmeigennügig in 
den polnijchen Händeln erklärte. 

Dian war in Berlin davon unterrichtet, dab Stadelberg 
fehr eifrig für eine neue Theilung wire. An Wien habe das 
Minifterium eben dahin zielende njtruftionen dem rufiiichen Bots 
ihafter Grafen Najumowoti gemacht, auch den Grafen Gobenzl 
beauftragt, den Petersburger Hof in diefem inne zu fondiren. 
Wenn, wie Holt berichte, die Kaiferin juche, Ceiterreidh von den 
Verhandlungen zwiichen Preufen und Nufland über Polen möglichit 
auszuchließen, jo wäre das jehr umangenehm, da cs Wreufien in 
Verlegenheit gegenüber den mit Tefterreid) getroffenen Abmadhungen 
fegen mühte. Aber Katharina wünfchte nicht nur, Tefterreid in 
Deutichland abzufinden, und zwar durch den baierifchen Tanich, 
den fie in Anregung gebracht hatte, jondern hielt ihre Tpeilungs- 
pläne Preußen gegenüber noch immer verborgen, während der 
König immer heftiger nad) Entihädigungen verlangte je geringer 
die Ansficht wurde, fie, wie Natharina wünfchte, im Weiten zu 
erhalten. 

In einem geheimen Artifel des ruf] terreichiichen Vers 
trages vom 14. Juli hatten beide Staaten die Garantie der 
polniihen Monjtitution vom Nahre 1773 übernommen. Troß 
diefes Vertrages aber arbeitete Defterreich dem ruffichen Einfluß 
in Polen entgegen, was Katharina allmählich immer ftärfer auf 
die Seite Preußens bingedrängt hatte. In Berlin war man 
unterdefien trog- des Vündnifjes gegen Franfreid für Defterreid) 




















410 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 


faum befier geitimmt als früher. Im jenem Allianzvertrage mit 
Tefterreih hatte man fi im Voraus die Früchte des Sieges 
über die Nevolution zugefihert: Preußen follte mit polnifhen 
Gebiete entjhjäbigt werden, Defterreih endlich feinen belgiich: 
baierifchen Ländertaufch vollziehen. Denn mittlerweile hatte 
Friedrich) Wilhelm im Eifer, die Abrundung gegen Polen zu 
gewinnen, politiiche Wrinjipien bei Seite geworfen, für welde 
Friedrich I. die Gritenz Preniens drangeiegt hätte. Er mar 
bereit, Tefterreich den baierifchen Taufch vollziehen zu lafjen, dem 
Friedrich durch die Gründung des Fürftenbundes entgegengetreten 
war. Er war fogar einen Nugenblict bereit, Anspad) und Vaireuth 
mit in den Nauf zu geben, wenn ihm die ganze Laufig für den 
Fall des Erlöihens des fächfiichen Mannesjtanınes zug 
würde‘). Sehr bald freilich fand er das von Tejterreich geäußerte 
Verlangen nad) den Markgrafihaften denn dad jo empörend, daf 
er diefen Handel für immer von fi wies. 

Aber die großen pfer des franzöfiichen Feldzuges muhten 
dod) irgend wie gefichert werden. Alto ward Golk in Petersburg 
angewiefen, die Nothwendigkeit hervorzuheben, zu feiten Ansichten 
für die preußiichen Entfhädigungen zu gelangen. Tftermann, der 
vorfichtige wuifüsche Vize-Kanzler, fpielte lange den Gleichgültigen 
und bemühte fich Tefterreih von allen Plänen auf polniiches 
Gebiet abzulenken. Indefien war Solg doc überzeugt, da man 
in Petersburg ehr (ebhajt wünjche, den Wan einer neuen Theilung 
Wolens auszuführen. Und er hatte allen Grund zu di 
nahme, hatte er doch ichon im Kebruar 1792 dem Könige Kopie 
eines Billets der Natferin an Subow über den beabfichtigten Ein- 
marjc) der ruffichen Truppen von der Donau in Polen überjenden 
fünnen, deijen Schluß lautete: „Si lAutriche et la Prusse 
g’opposent. comme il est vraisemblahle, je leur proposerai 
ou dedommagement ou partage.”  Alfo Katharina wuhte längit, 
e wollte, fuchte aber den Handel Fühl und zurüdhaftend jo 

als möglich für fi) zu geftalten. So hoffte fie denn auch, 
als Preußen den franzöfichen Feldyug Degann, auf preußiiche 
Siege umd in Folge derfelben mıf die Möglidfeit, nicht nur 


























*) Erfah an Golg vom 11. Sept. 1792, Poitfriptum. 


Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlande. au 


Defterreich, Tondern auch Preußen von Frankreich für ihre Mühe 
entichädigen zu lajien*). As es mit den Ziegen nun aber nichts 
wurde, da begann Friedrid Wilhelm um feine Entichädigungen 
durch Franfreid) beforgt zu werden. Vollends als er feinen eriten 
Feldzug unzweifelhaft mihglüctt jah, und, von dem eigenen tief 
verlegten Ehrgefühl auf der einen Seite, von der lauten Entrüjtung 
Katharina’s über die preußiihen Niederlagen andererfeits aufg 
ftachelt, fh zu einem zweiten Feldzug drängen lieh: da jtieg feine 
Ungeduld, wenigitens der polniichen Entichädigungen ficyer zu 
werben, auf's Hödjte. Nicht mehr blos Danzig, Thorn, die 
Palatinate Önejen und Naliich fordert er nun, fondern von Groß: 
Kolen das Fand zwiihen Prenjen und Schlefien, und zu Anfang 
Dezember 1712 läht er die Naiferin durch Golg willen, dah die 
vorgeichlagene Entihädigung in Xolen eine unbedingte Voraus“ 
jepung jei für fernere Friegeriiche Mahregeln, die man von ihm 
gegen Frankreich erwarte. Hier wurde in naivfter Weife einge 
ftanden, daf; man fid von Katharina alo Geihel gegen Frankreich 
brauchen Iaffe, aber dafür feinen Kohn auch von ihr fordere. 
Gegen die Tpeilnahme Tejterreichs an der polniichen Theilung 
waren beide Mächte hödjt eiferfüchtig gefinnt, was auf der ruffiichen 
Seite wohl erfläcticdh ift, weniger aber auf der preuhüiden. Denn 
wie fonnte man in Berlin 09 vorziehen, Dejterreih zu dem Gr 
werbe von Baiern zu verhelfen alo ihm eine Vergrößerung in 
Polen zu gönnen? Darauf aber fommt co hinaus, wenn ber 
König am 7. Dezember an Golg jhreibt: „Id fange an zu 
hoffen, da; die Naiferin von Nuhland, einmal gefihert gegen eine 
weitere Vergrößerung des Hanjeo Lefterreich in Polen, feine 
Schwierigfeiten mehr machen werde, meinem Plan einer Ente 
ihädigung zuzuftimmen und ihn gleichen Schritt mit dem von ihr 
genährten einer Abrumdung ihrer Grenze nad) der Ufrnine hin 
gehen zu Lajfen.” In fo beiheidenen Grenzen meinte man in 
Berlin alio nod) die Gebietserwerdung Auhlands geplant, fo gerecht 
nad) den im franzöfiichen Nreuszuge gebrachten und zu bringenden 


























;peiche Ttermann’s an Wlopäus in Berlin vom 25. Tejbr. 
„Dailleurs si Ventreprise 
nablement sen flatter, il est 
frais aus Puissanees qui ont tracaille 


vonronmee de see 








que la Franee tienne 





412 Zur Geidichte der Unterwerfung Kurlande. 


Opfern vertheilt dachte man fi die fommenden ruffiichen und 
preußüchen „Entichädigungen” in Polen. 

Unmittelbar nad) diefer Neufierung des Mönigs erhielt derfelbe 
von Golg die Forderungen, welche Oftermann dem Gejanbten 
endlich mitgetheitt Hatte, und welche durchaus von den Hoffnungen 
des Nönigs abwichen. Während Preufien jene oben bezeichnete 
Abrundung zu erlangen münfchte, begrenzt durch) einen von Gjen- 
ftohau über Narva nach Soldau gezogenen Norden, forderte Nuh- 
land für fd dao ganze Gebiet, welches von Polen durch eine 
oiichen der Südfpige von Semgallen und einem Punkt an der 
Grenze von Galizien gezogenen Yinie abgelvennt wurde. Der 
Nönig hatte feine gegen früher erweiterte Demarfationolinie durd) 
die Opfer für gerechtfertigt gehalten, weldhe durd) eine Erneuerung 
des Ntrieges gegen die Revolution ihm auferfegt wurden. Nun 
war er doc) überrajcht zu jehen, welche Forderungen Ratharina 
ftellte, die bisher mur mit Worten den Arieg gefordert hatte. 
„I ya de quoi en etre effrayd.” fhreibt er am 27. Dezember, 
„mais ce serait tout gäfer que de montrer de opposition.“ 
Golg wird aufgetragen, nur noch den Fegen Landes von Polangen 
zu fordern, welcher zwiichen Nurland und Preußen liege und dejien 
der König bedürfe um einer fiheren Pofteinrichtung willen fowie 
um überhaupt freiere Verbindung mit Nuhland zu gewinnen. 
Aber man war mım in Berlin auf der Eiedehise angelangt, ver: 
folgt von der brennenden Angit, dal man im Weiten Dannfchaft 
und Geld ohne Nuyen geopfert habe und im Often das Nath: 
wendige nicht erreichen werde. Wie war man da von dem Hohen 
Glauben an preufiiiche traditionelle Nriegsfunit und Staatofunit 
Dinabgejtürgt worden! Dan fühlte den Boden unter fich Ihmwanfen 
amd taumelte in die Arne Natharina’s mit geringem Lohn und 
noch weniger Würde. 

Am 6. Januar 3 unterzeidinete man eine Deflaration, 
in der nicht blos die Polen, iondern zugleich and Wahrheit und 
Zelbftahtung eineo unabhängigen Staates preisgegeben wurden. 
Dan hat id) damals vor Nufland tiefer gedemüthigt als ipäter 
vor Napoleon; denn Ichlimm ift eo, fü vor dem Sieger beugen 
zu mühjen, weit fchlimmer, um eines Vortheils willen vor einem 
ichwaden Gegner den Nücen freiwillig zu frümmen. Man wagte 














Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurfands. 413 


in jener Deklaration zu behaupten, die Polen hätten den heilfamen 
Abfichten des ruffien Hofes Hartnädigen Widerftand entgegen“ 
gelegt, während man fie doc) felbit jeit 1788 in diefem Wiver- 
ftande jtets unterjtügt Hatte. "War man durd die Gewalt der 
Umjtände gezwungen, die Polen im Ctich zu laflen, fo brauchte 
man dod) nicht bis zu dieiem Grade vor Natharina fd) zu 
demüthigen. Wenn man am Bof zu Berlin vor folcdhem Ber 
nehmen nicht zurüdjchredte, jo darf das gleiche Vetragen, welches 
man dem damaligen Furifchen Adel gegenüber der „Echugöttin” 
vorgeworfen hat, doch wohl milder beurteilt werden. 

Preußen nahm mun mit Dank entgegen was Hatharina ihm 
zu geben geruhte. Am 23. Januar 1793 wurde dev Vertrag 
geichlofien, der im Grunde bereits das Dajein Polens beendeie. 
Nachdem Stanislnus Auquit genöthigt worden war, der Nonföder 





valion von Targewitich beizutreten, wurde der Neihstag zu Grobno 





verjammelt, der unter dem Druct ruffiicher Warten die verlangten 
Abtretungen an Kufland, und dann, nach heftigem Sträuben der 
mit vollen Recht über Preuhen erbitterten Polen, aud) die Gebiets- 
erwerbungen Preußens gquthieh. Die beiden Mächte hatten in 
iyrem Abfommen den Beitritt und die Theilnahme Oefterreichs 
an dem Landerwerb offen gehalten. 

Bald darauf brad die Erhebung unter Jofef Ponintowsfi 
und Stosciufchto aus, welde zur legten Auftheilung führte. Auf: 
land warf diefe Erhebung mit blutigen Schlägen nieder mb 
forderte dann dafür in den gleichzeitig beginnenden Verhandlungen 
mit Wien bei einer dritten Theilung einen feinen Opfern ange 
meifenen größeren Antheil an der Entichädigung. Naum war 
Warfchau von Smvorom genommen worden, jo lieh Kailer Franz 
durch Thugut in Petersburg feine Vereitichaft erflären, zur An 
nahme der von Katharina vorgeichlagenen Bedingungen der Teilung. 
Schon am 22. Dezember 1794 begann die Verhandlung zwifchen 
dem Gefandten Grafen Gobenzl und dem Grafen Tftermann. Cs 
handelte fih bier um den Beitritt Dejterreihs zur preußiich- 
ruffiichen Konvention über die zweite Teilung, der fich Teit 
veid) bisher hatte fern gehalten. Natharina hatte mit grafiem 
Geihid die Feindichaft der beiden deutichen Höfe zu benußen ver: 
jtanden, um die zweite Theifung mit dem einen, die dritte mit 











414 Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 


bem andern Theilnehmer gefondert abzuichliehen und jo ftels die 
Ueberlegene zu fein, die großmüthige Pertheilerin der Beute. 
Die Lage war wieder einmal fo, dah Nufland und Teiterreich 
fi) verftändigten und auf den Beitritt Preußens warteten, denn 
auf den eriten gemeinfamen Konferenzen fchon hatte der preußüüche 
Gefandte Graf Tauenzien erklärt, die geforderte Heransgabe von 
Krakau und Sandonir an Teiterreih verweigern zu müen. Als 
am 19. Dezember die Verhandlungen den preufiichen Widerjtand 
micht bredien fonnten, entichloh fd Natharina Furzer Hand, mit 
Sciterreih allein abzuiclichen. Am 3. Januar 1745 trat Dejter- 
veidh der preuhiich-ruiftichen Nomvention vom 23. Janıar 1793 
über die zweite Theilung bei; ferner winden die Vedingungen der 
neuen Theilung fejtgejegt; endlid) wurde in einer geheimen Defla- 
ration vom gleichen Datum das Defenfivbündnih, weldes Nuland 
und Dejterreid) gegen die Türkei geichloifen hatten, auf Preufien 
ausgedehnt: ein preuhiicher Angriff auf einen der Yundeogenofien 
folfte alle Nräfte des andern zu Hülfe rufen. 

So war Preußen im Nampf mit den Aranzojen, von Dejter- 
reich auf dem weitlichen Nriegoi—hauplag verrathen, in jeinen 
polniichen Interefjen jchwer bedroht; eo erntete die feit Neihenbach 
heranreifenden Früchte feiner darafterloien Politit. Und nun 
geriet «9 jofort weiter in die Enge. Die elende, die frevelhaite 
Nriegführung in Frankreich brachte der Nevolution mehr Brenn- 
ftoff, als alle demofratiihen Jdenle und Phantaftereien ihr jemals 
hätten bringen fünnen. Preußen hatte feine jchönen Nräfte in 
einer unglaublich örihten Weite erihöpft, "hatte fich mit Oeiter- 
reich wieder verfeindet, und als eo num mit Aranfreich den 
Frieden zu Bajel ichloh, da muhte eo erleben, dah Natharina, 
für die co Alles dienftwillig getban, in hellem Zorn fich gegen 
Preußen erflärte. England hatte j—hon vorher, beiorgt um den 
Ausgang dieeo Ihmählichiten ingens der deutjchen Seere, fid) 
von Preußen ab und an Nuhland um Veiltand gewandt. Aber 
Katharina verlor feinen Augenblid den Nopf in einer Zeit, mo 
fanm eine Negierung in Europa mehr wußte wo ihr der Nopf 
itand. Zie erflärte gemächlid, nicht eher ihre Dülfe gegen bie 
frangöjiichen Nebellen aufbieten zu fönnen, als bio ihr nächter 


























Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 415 


Feind, Preufien, niedergeworfen wäre”). In London und Wien 
fieß man fd indejien doch nicht jo leicht irre machen, jonder fchlof; 
am 20. Mai einen defenfiven Alianzvertrag genen Frankreich ab. 

Die nad) Abichluh des Baleler Friedens von Preufen her 
vermehrte Gefahr bewog Thugut, dem Hathe Natharinn’s nad) 
gebend, in die Vittheilung des ruftich-öfterreichiichen Theitungs 
vertrages vom 3. Januar 1795 an Preußen zu willigen. Maum 
war dies im Auguft geichehen, fo fiel König Friedrich Wilhelm 
von dem Stoß nd) der andern Seite hinüber, platt in die Nebe 
Katharine's, Er willigte mit einer geringen Einfcränfung in die 
Abtretung von Nrafau und Sandomiv, welche Sebiete er lange 
als nothwendig zur Sicherung Schleiiens gegen Ceiterreich für fich 
gefordert und bereito beieht hatte. Co gelang endlich den ruhen 
Bemühungen, die Iheilung nad) Katharina’s Willen durdhzuiegen: 
in einer Deflaration vom 24. Oftober 1795 trat Preußen unter 
den angegebenen Einjchränfungen in Bezug auf Nrafau und Heine 
Grenzänderungen der dritten Theilung bei. 

Inzwiichen war auch das Schidjal Kurlands herangereift. 
Der öfterreihiich-ruifiiche Vertrag vom 3. Januar 1795 hatte die 
neue ruffiiche Grenze bereits von Schlod nach Polangen verlegt. 

28. März entagte Herzog Peter feinem Herzogshut und im 
6 huldigten die Stände der neuen Stantomadıt. 


























Ih Habe eine Darftellung diefer Vorgänge fin nöthig 
gehalten, einmal um dem Lefer der nachfolgenden Auszüge die 
äußere politiiche Yage in Erinnerung zu bringen, in der fich Nurland 
vor dem Untergang feiner Selbftändigfeit befand; ferner aber 
aud) deshalb, weil diefeo Spiel der drei Mächte um die polnische 
Maus höcit Ichrreich ift für denjenigen, der die furifchen Vor 
gänge jener Zeit aus ihrer Zeit heraus gerecht zu beurtheilen 
wünscht. Nur jelten hat cs große politifche Fragen gegeben, auf 
deren Lölung fo wenig Blut und fo viel Tinte verwandt wınde, 
als auf die Verfpeifung von Polen. Und in diefem diplomatischen 
Kampfe wiederum find nur wenige gewaltiame Mittel der Art, 














*) Depeiche Oitermann's an Oraf Nafumowsfi vom 2. April a. St. 179% 


bei Martens, Necueil. 


416 Zur Gefcichte der Unterwerfung Anrlande. 


wie fie fonjt wohl üblid waren, 5. DB. weder offener noch geheimer 
Mord, in Anwendung gefonmen; aber um fo mehr alle Mittel 
der Lüge, der Untrene, des Betruges. Und vielleicht trug hierzu 
bei, dal; die Führung, die meiterhafte Führung diefer Sache 
in der Hand eines Meibes ag, welches zwar Hunderttanfende 
feiner Unterthanen ohne Velinnen im Nriege opferte, aber fich 
body auf jeine geiftige Wafie mehr verlieh alo ein Mann an 
feiner Stelle gethan hätte. 

Fit nun diefes diplomatiiche Spiel von Standpunkt privater 
Morat aus als hödhjt unmoraliid zu bezeichnen, und find zu 
andern Zeiten große politiihe Rämpfe zwar nicht ohne Xüge, aber 
doc) mit mehr Nitterlichfeit erfolgreich durchgeführt worden, fo 
jeigen die einzelnen Vienjchen, joweit wir fie auf jener Schaubühne 
bemerfen, nod) weit deutlicher einen fittlihen Charakter, der ben 
Anforderungen unferer Generation nicht genügt. Co war das 
Zeitalter der Auftlärung, der Auflöfung der alten geiellichaftlichen 
Eitte, die vorwiegend äußerlid war, durch Filtliche Vteinungen, 
die mehr verneinend alo innerlich feitigend wirkten. Der fittliche 
Wert ;. B. eines Voltaire it Faum Höher zu achten als der 
Ludwig XIV. Ferner war trog der häufigen Nriege der materielle 
Erwerb überall vorgeichritten, hatte aber der ungünjligen fiant- 
lichen Stellung der unteren Nlaffen nicht nur in Kufland und 
Polen, fondern verhältniimähig aud in dem damaligen Rultivirten 
Europa, vorzugsweile nur wenigen, und darunter bejonders den 
Fürften geofe Neichthümer zugeführt. Das Wohlleben von Verfailles 
ober Dresden duftete nod) in allen fürjtlihen und adligen Winfeln 
mach, und die leichten Sitten der Höfe waren aud) zu tieferen 
Schidyten der Völker eingedrungen. Näuflichteit im Streit der 
politiichen Interefen war daher ein jehr verbreitetes Uebel. Sahen 
die meiften Fürjten in diefer Zeit deo niedergehenden Abjolutiomus 
die Staatsgeihäfte zu erheblichem Tyeil ale periönfide Geld- 
geichäfte an, jo war der Private um jo cher bereit, aus der 
Politit eine Anjtalt Gelderwerb zu machen. Talleyrand ftien 
um diefe Zeit zur Berühmtheit auf durch feine diplomatijchen 
Talente und war für jeden Fäuflich; in Deutichland gab es jelbit 
am preufiichen Hofe Keute wie Ynchefini, und die Heinen Staaten 
wimmelten von Politifern, die bereit waren, jich ihre Meinung 












Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 47 


bezahlen zu lafen. Es Fam hinzu, daß nod) das nationale Prinzip 
in einem Halbihlunmer (ag. Der Wahnfirn, welder als nationaler 
Abjolutismns in der Nücfichtolofigkeit feiner Selbjtfucht in nichts 
dem ärgfien füritlichen Abjolutismus früherer Zeit naditeht, follte 
erit im Gefolge der revolutionären Völferbefreiung geboren werden. 
Noch fochten große Generale bald in dem vaterländiichen Deere, 
bald in dem gegnerifchen, nod) boten Diplomaten ihre Dienfte 
dem Stante an, der fie am beiten bezahlte, mod war cs in 
Deutichland nicht anftöhig, ich gegen deutiche Mächte mit Jeder: 
mann in der Welt zu verbinden. Damalo war Katharina II. 
jehr mächtig, und man eilte in Dentichland kann weniger als in 
Kurland fie zu vergöttern. Friedrich II. jelbit, freilich in bedrängter 
Lage, Hatte Ruhland in die deutichen Antereifen hineingezogen, 
indem er die ruffiihe Garantie des Teihener Friedens und 
mittelbar jogar des weitphäliichen Friebens annahm und aud) 
fonjt dem ruffiihen Einfluh in Deutichland die Wege ebnete. 
Auf dem Neichstag von 1781 rief Nurtrier geradezu Nuhland als 
Bürgen des wejlphälifhen Friedens an. lo Katharina beim 
Beginn des baierihen Erbjolgeitreites fi zur Veihügerin der 
bentichen Neichstagsverfaifung aufıwarf, meinte ein deutfcher Politiker: 
„das feien twöftliche Ausfichten für die Verfajlung, Freiheit und 
Nuhe Deutjclands.”*), Nod ärger wurde die nationale Würde, 
das nationale Einheitcbewutfein preisgegeben zu den Zeiten des 
Aheinbundes, und zwar nicht allein von den Fürjten, jondern auch 
von den Unterthanen derjelben. 

An Aergiten wohl jtand co mit der öffentlichen Vloral in 
Polen, zu dem Kurland alo dem Lehnsjtaate gehörte. Dort war 
vom Nönige angefangen Alles Fäuflidh bis auf ein paar Dlänner, 
die nicht in den vorderfien Reihen jtanden. Man tobte für 
nationale Ehre und verfaufte fie jederzeit ımd an Jeden. Der 
Staat wurde jeit Jahrhunderten vom Adel ebenjo geplündert wie 
die Bauerihaft. Und diejer zügelloje und glänzende Adel war 
Herr und Vorbild für den Adel von Nurland. Co war unmöglich, 
dai; nicht etwas von den Sitten und Anidanungen ber Polen 
nad) Nurland hinüber gefidert wäre. Dazu fameıi die eigenthümlich 
unglüdjihen Zujtände im innern diejes Landes, wie fie bejonders 











*) Häuffer, Deutiche Sejcichte. 


418 Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlands. 


feit 1711 fid) entwicelt hatten, und auf die wir mın einen furzen 
Rücblit zu werfen haben. 

Dis Heute ift in Kurland die Grinnerung an die jÄweren 
Zeiten der ichwediich-polniichen Nämpfe des 17. und 18. Jahı 
hunderts im Volfsmunde nod lebendig‘). Was der tüctigite 
feiner Herjoge, Jafob, in mühevoller Sorge geihaffen hatte, ging 
meift wieder zu Grunde ter der Lait fhwebiicher Durchzüge, 
ichwediicher Offupation und Nriegsbeiteuerung. Sein Cohn, 
Herzog Friedrich Naftnir, war ein prachtfiebender Herr, ber die 
berzogfichen Landgüter mit Schulden belaftete, und jo war, als er 
im Janıtar 1698 ftarb, die wirthichaftliche Yage des Landes feine 
blühende. Sein Erbe war ein Nnabe von 6 Jahren, und cs 
brach jofort eine Spaltung in der Regierung des Landes aus, 
die von da ab, in den Perlonen und Kormen wechjelnd, fait 
ununterbrochen bis 1795 das and nicht mehr zur Nuhe fommen 
fie. Um die Vormmmdfchaft des Bringen ftritt die Mutter, 
Elifabeth Sophie, die fi) auf ihren Föniglihen Bruder in Berlin 
ftügte, mit dem Schwager Ferdinand, der fid) an den polnifchen 
Lehnoheren Yuguft den Starken hielt; um die Negierung jtritten 
der Oheim Prinz Ferdinand, die Schwägerin und das nad) den 
Gejegen dazu berufene Viinifterium der Oberräthe. Prinz, fpäter 
Herzog Ferdinand feble bio an feinen Tod in Danzig, verzehrie 
dort feine Einnahmen und lieh feine Anfprüde und Vortheile von 
Warfhau aus fügen. Jm Lande aber jtanden jeit Ausbruch 
des Nordiichen Ariegeo wieder die Schweden, und 1710 wüthete 
die Peit. Die Heirat) deo Ixjährigen Prinzen Friedrich Wilhelm 
mit Anna, Peters von Nufland Nichte, die glänzende Pochzeit in 
Petersburg, an deren Folgen der junge Herzog nach wenig Tagen 
itarb, dao brachte Alles wenig Velerung in die Lage, fondern 
nur eine neue Macdhthaberin mehr, die Wittwe Anna, und den 
ruffüichen, fangfam fich auobreitenden Einfluß. Co gab es mm 
mehr eine ganze Schaar von Gewalten, die im Lande haujten: 
Herzog Ferdinand, der polnifche Yehnsherr, der polnische Reichstag, 
Wittwe Anna, und endlich der Furiiche Adel mit icinen Freiheiten, 





















» Man hört z. 8. im 
Sipmeden“ oder „Bat; Sahwedu 


er noch den Mi Des Schredens „Sott's 








Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 419 


feiner Armuth, feinen Aniprüchen und jeiner in diejen Wirren 
wachfenden Bedeutung. Die Schweden gingen, die Nuffen famen, 
und als aud) dieje 1713 das Land geräumt hatten, lagen ich 
Herzog und Adel bereits jo in den Naaren, das die polniiche 
Lehnsmadht eingreifen muhte. Die polnische Stommilfion von 
1717 entichied fo, dahi die Gewalt bes Herzogs jehr gefchmätert, 
die Willfür des Adels nad polniihem Mufter neträftigt wurde. 
Und mm fam noch die Frage nad Bejegung des Herzogituhles 
binzu, welche für den Fall des Todes Herzog Ferdinands und des 
damit bevorftehenden Ausfterbens des Kettleriihen Mannesftammes 
entidieden werden mußte. Cs Famen die Prinzen alle, die Aurland 
für einen „guten Bilfen“ hielten, die Morig von Sadıien, Sadyien- 
Weihenfels, Brandenburg, Medlendurg, Württemberg, Holitein, 
Heifen- Homburg, Heffen-Raffel, Menichikow*) unk wie fie ont 
beißen mögen, die mit oder ohne die Hand der Mittwe Anna 
ih danad) jehnten, unter diefen herzoglichen Hut zu fommen. 
Am gefährlichiten aber ichien die Yehnsmacht Polen felbjt zu 
werden, als fie durd) einfache Vernichtung des Yehnsverhältnifies 
die Cinverleibung Rurlands in Polen in's Auge fuhte. Ieden 
Prinzen hätten die Etände Nurlands lieber gewählt, als Dielen 
Verluft der Selbftändigteit hinzunehmen, das Aufachen in einen 
Staat, der in Nationalität, Kirche, Geichichle, Zitten ihnen fremb 
und gefährlid, war. 

Von jener Zeit ab, jeit 1727 etwa, da eine nene polniiche 
Kommiffion den Landtag zwang, ih zu verpflichten, niemals einen 
Herzog zu wählen, ijt die Drohung einer polniihen Einverfeibung 
eigentlich niemals mehr von dem Lande gewichen und hat von 
Anfang an und fehr weientlich dem ruffiihen Einfluß die Bahn 
geebnet. Wie der fchwediiche Drud Yivland und Ejtland von 
Schweden abwandte und zufegt in die ruifischen Arme brachte, jo 
der pofnifche Nurland. Un die Sebftänbigkeit haben die Provinzen 
bis zufegt gerungen. 

Vorerit bei der Erhebung Ernit Johann Biron’s zum Herzoge 
zeigte fich diefe Wirfung der polniichen Werluche. So abgeneigt 
man im Lande grade diefem aus nicht fürjtlichem, nicht einmal 

















*) gl. Serappim, Gefd). Lior, Eit- und Surlands. 


420 Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlands. 


zum furiichen Adel gehörenten Stamme entiprofienen ruhen 
Machthaber war, jo erfeichterte jeine Wahl grade der Umjtand, 
dal das Yand oder der Landtag bei Aufland Schup gegen bie 
polnijhe Inforporation zu finden hoffte. Trogdem hielt ber 
polniiche Neihstag an diejem lan jowohl in Nüciicht auf Kurland 
als auf das jüfularifirte und alo Adels-Oligardhie in Freiheit und 
Zufriedenheit fi verborgen haltende Visthum Nurland, fpätere 
Stift Pilten feil, und verfuchte ihn jebesmal durchjufeßen, fobalb 
der Herzogitubl frei zu werden veriprac. Bejonders lebhaft 
winden dieje Winiche nach voller Verihmelzung, als 1791 der 
Reichstag glaubte fi der ruffüichen Gewalt ganz entwindeu zu 
Tonnen und gegen die Einverleibung weder in Preußen noch in 
Aufland Widerftand befürchten zu mühen. Er irrte freilich wie 
in vielem Anderen jo auch hierin; damalo war nicht nur Nufland, 
fondern aud Preußen diefem Plane fehr enticieden Feind, denn 
and Ddiefe Mächte wünichten im Grunde daifelbe wie Polen, 
nämlich auf irgend eine Weife Kurland für fich felbft zu gewinnen. 
Auch fand man in Verlin rechtliche Bedenken gegen die Infors 
poration Denn als der preußifche Nefident Hüttel von Mitau aus 
feinen Hof auf die Gefahr der Antorporation aufmerfiam machte, 
bielt man diejen Man in Verlin deshalb für jehr unwahriceinlicd, 
weil er gegen den Vertrag von Oliva verjtoße*). Die Inforporation 
aber war und blieb das am jchledhteften gewählte Mittel der 
ofen, Nurland an fi zu feileln. 

Einen Herzog hatte man nun wohl jet 1737 wieder; aber 
wie der vorige in Danzig, jo lebte der neue in Moskau, wo er 
den Mosfauer Staat zu regieren ih mühte, und feit 1741 fogar 
in Zibirien, jeit 1742 in Jaroslam in der Verbannung. Das 
dauerte bio 1758, und jo darf man jagen, daf; feit dem Tode 
Friedrich Najimir’s im 3. 1698, aljo 60 Jahre bindurd, Nurland 
ein Hergogthum ohne Herzog war, ein Zuftand, der feinem Lande 
heilian gewefen wäre und in Nurland ehr chlimme Früchte trug. 
ad der Verfaffung regierte in Abweienheit des Herzogs das 
Kollegium der Cberräthe, oder in heutiger Sprache zu reden, das 
Kabinet der vier herzoglichen Wiinifter als geordnete Negentichaft. 











*) Vortrag der Viinifter vom 14. Mai 1791, Berliner Archiv. 


Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands, 421 


Aber dieje „älteren Brüder“ waren als Glieder der Nitterichaft 
ftets mehr geneigt ihrem Stande, als ihrem Herzoge zu nüßen, 
und in diefen 60 Jahren befeitigte fi dieje Neigung jo jehr, 
dab bio an das Ende des Herzogthums der Fürft in größerer 
Unfreiheit feinem Nabinet gegenüberftand, als heute etwa ber 
Monarch eines parlamentariid) vegierten Landes. An der Stelle 
des heute minifterjtürgenden Parlaments jtand in Nurland damals 
der Landtag, und der Landtag war die örperichaft des Adels, 
der dem Lande mit Einjhluh der freilich unbedentenden und 
wenigen Städte verfaflungsmäßiig feine Gejege gab, was in 
Nücficht der Städte erit 1774 durch Abidhied des polniichen 
Reichstages abgeändert wurde. In einem parlamentariic regierten 
Staat unferer Zeit findet der Kürft in dem Weamtenthum und 
dem Heer wenigitens meit fräftige Stügen: in dem herzoglichen 
Kurland jener Zeit waren alle Aemter bis auf die vier Ober: 
bauptleute als Cberrichter in den vier Hreifen, die vier Oberräthe 
als Minifter, und die Hofämter, in der Hand des wählenden 
Mdels, und die Nriegsmacht belief fd auf etwa 700 Gardiiten. 
&s war eben faum mehr als eine Adelsrepublit, und dieje jtolzen 
Goelleute hatten feineswegs Unrecht wenn fie, nad den wirklichen 
Umjtänden urtheilend, den Herzog für nicht mehr als den eriten 
von ihresgleichen anerfennen wollten. Hatten fie dod aud ihm 
die Aufnahme in ihre Mörperihaft erit gewährt als er, ein 
alfmächtiger ruffücher Günftling, das rufftihe Neid regierte. 
Von zwei Seiten her ward in diefem Adel mit feinen durd Die 
Verfajlung, d. d. die Negimentsformel und die Statuten von 
1617 ihm icon gewährleifteten Freiheiten das Streben nad Erz 
weiterung berjelben immer wieder angeipornt: von dem 
Neichstage, der jeit lange an der Unterwerfung der föni 
Gewalt arbeitete, und von Nußland ber, das bejonders jeit 
Kutharina’s Thronbeiteigung bald den Herzog gegen den Mel, 
bald den Adel gegen den Herzog in feinem Antereffe verwandte. 

Vorläufig hielt Zarin Glifnbeth den Herzog in Jaroslam 
gefangen und willigte 1758 in die Wahl eines andern fi 
an feine Stelle, des Prinzen Karl von Sacjien, der in den vier 
Jahren jeiner Negierung trog vieler Widerwärtigfeiten dod) ver: 
Hältnigmähig icnell Wurzel im Lande fahte. Die jtarte Partei, 






























122 Zur Sejchichte der Unterwerfung Rurlande. 


welche er alo Prinz von Geblüt ımd Sohn des Iehnsherrlichen 
Hauies um ih gefammelt, war aber dad) nicht jtarf genug um 
dem wachienden rufiihen Einfluß die Spige zu bieten, als 1761 
‘Peter der Dritte den ruffiihen Thron bejtieg und fofert, wie in 
Rubland jo ud) in Kurland feinen holjtei preufiichen Neigungen 
folgte. Ein rufftiher Generaladjutant überzeugte die Mehrheit 
des Landtages, dah Narl von Sadien als Natholif nicht für das 
proteftanttiche Yand paife, dafi Ernit Johann der rehtmähige Herzog 
fei, dab; diefer feine Nechte dem heim Peter’s, Prinzen Georg 
von Holitein-Sottorp, abgetreten habe und aljo diefer preuftiche 
General zum Herzog zu erwählen fei. Die Vedingungen der 
Wahl follte der Yandtag feitegen, Nuizland werde jeinen Schug 
und der König von Preußen feine Garantie der Wahl gewährleiften*). 
Rod) che die Wahl zu Stande fam trat an Peter’s Stelle Katharina, 
und zu ihren eiligiten Staatogeihäften diefer Tage gehörte «6, 
jowohl Narl von Sachien alo Georg von Holitein bei Seite zu 
ihaffen und rnit Johann Piron wieder einzulegen. Das gelang 
ihr denn aud troß des Wideritandes des Herzogs Karl und feiner 
Anhänger im furiichen Kandtage vermöge der Anwendung mili: 
tärifcher Machtmittel. Dan darf jagen, daf Diele jpätere Beherriderin 
der enropälfchen Politit ihre Thätigkeit auf diefem Gebiet in 
Nurland begonnen hat. Nebenher fing denn nun auch der ruffiche 
Nudel an, feine Kraft zu erproben. Natharina hat überall ein 
gut Theil ihrer Erfolge der rücjichtslofen Verwendung von 
Mienichenleben und Geld, aud zur Vejtehung, zu verdanfen 
gehabt; hier aber lag ihr dieles legte Mittel ganz befonders 
nahe zur Hand, da fie ohne badeutende Ausgaben aus dem 
eigenen Züdel, mır mit den zahlreichen Landgütern freigebig zu 
fein brauchte, welche als Nettleriicher Nadılab jegt das herzogliche 
Domanialgut ausmacte, aus dem die Ausgaben Tomohl des 
Ztaates als des Fürften beitritten wurden. 

[5 berzogliche Domanialgut oder Yehngut war jehr groß. 
&o waren all die Güter, welche ehemals von dem Deutichorden 
nicht verlehnt, fondern in eigener Verwaltung behalten, 


























gung Kurlands mit Nuhland. „Baltifche 





Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlande. 123 


dann, nad Aufhebung des Ordens, an Herzog Gotthard Kettler 
und jeine Nachfommen im Lehm gefallen waren. Ju diefen Yehn- 
gütern waren von den Herzögen neue Güter als Ntettleriicher 
Allodialbefig hinzu erworben worden. Die legten Kettlers hatten 
viele diefer Güter pfandweile an Edelleute und Bürger verlehnt, 
und dieje verpfändeten Güter wurden af Betreiben des Adels 
durd) das Allodififationsdiplem von 1776 definitiv vom herzoglichen 
Zehn abgeihieden und den derzeitigen Inhabern zu Allod über: 
lajfen. Wenn man nun erwägt, daf nad) Ausjterben der Kettlers, 
aufer jenen 1776 allodifizirten Yiegenjchaften, wohl einige Güter, 
wie Irmlau, Grendjen, Mefothen, Neubergfried, aus dem Yehn 
ausichieden, um in den Vefig von Privaten oder der Nitterichaft 
überzugehen: da auch mehrfach, bedeutende Güter, wie Grenzhof, 
Fodenhof, Nubenthal durch Donation Natharina’s und ihrer Nad) 
folger von dem Yehn abgeichieden wurden, aber meineo Mifieno, 
feine Güter jeit der Unterwerfung von der ruffichen Negierung 
hinzu erworben wurden; dah troßdem biefer von Herzog Peter 
auf den ruffiichen Staat übergegangene und jtarf geihmälerte 
feudale und allodiale Bejip heute noch fait den dritten Theil des 
ganzes Yandes ausmacht: jo ergiebt id) ein für die Größe des 
Herzogthums und zwar ohne das Stift Pilten — allerdings 
gewaltiger, in der Hand des Herzogs liegender Grundbejig. Und 
derjelbe war feineswegs von geringem Ertrage. So berechnet 
3%. der preufiiche Winifterrefident Hüttel im 3. 17 
wenn die Nachteile bejeitigt würden, welche aus der 
furijchen Konvention von 1783 dem Yen wie dem ganzen Lande 
vermöge des Zwanges, die Erzeugnife eineo Theiles des Landes 
über die Zollgrenze von Niga zu verfciffen, erwacien feien, die 
Einnahmen aus dem Lehn um 40 bis 50,000 Tufaten jteigen 
würben. 

Nun hatten jich jeit dem Nordiichen Kriege die wirthichaft: 
lichen Verhältniife des Yandes wieder gehoben. Der Landbau 
lidy*), die Ausfuhr über die beiden furiichen Häfen 
war bedeutend, che jene unfelige Konvention von 1783 die Furiichen 





























*) Hierfür price die Angabe Hüttels, da das dem Herzog gehörige 
Altopinkgut Mürzan jährlich 25,000 Tufaten trage. 





12 Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands. 


Häfen zu Gunjten Kiga’s arg ihädigte. N den wenigen Stäbten 
und auf dem platten Yande hatte ein zahlreicher, vorwiegend 
niederdeuticher und platt vedender Handwerferitaud fd) angejebt, 
und wenn and trog wiederholter Anläufe, die im Widerfpruc zu 
der Negimentsformel, dem Grundgeieg des Yandes, einge: 
fchmuggelten Juden des Yandes zu verweilen, id) doch eine völ 
Vertreibung derjelben nie durchführen Lich, To ift, wie cs fheint, 
exit unter Herzog Peter dem erjten Juden der Aufenthalt in Pitan 
förmlich geitattet worden“). Aber trob diefes Fortichreitens der 
Gejammtheit gebradı es dem jid) mehrenden Adel an Erwerb und 
Unterfommen auf dem ihm nad) der Sitte der Zeit nun einmal 
zufagendeu Voden des Yandbaueo oder des Stantsdienites. Die 
Mehrzahl des Adels war arm und geneigt, jeine große politische 
Vlachtjtellung zu eigenem Nugen zu verwenden. Und alo der 
Som Ernjt Kohann’s, Herzog Peter, jeit 1786 begann, die Lehnz 
güter, ftatt fie wie bishin zu mäigen Preifen an Gdellente zu 
verpadhten, in große Defonomien zuiammenzulegen und dur, 
Veamte zu verwalten, beichränfte er damit die Nahrung des Adels 
wiederum beträchtlich. Der Adel tagte bei der Tberlehnsherricaft. 
&5 begann damit der Nampf zwiiden Herzog und Adel um die 
Wiederherjtellung der alten Ordnung, der erit 1793 durd eine 
Kompofitionsatte zu Guniten des Adelo entichieden wurde. Ein 
Rampf, in dem Eigenug, materieller Gewinn beide Zeiten leitete, 
die Berechtigung wirklichen Bedürfniifes aber ohne Zweifel auf 
der te des Models lag, und in dem auf beiden Geiten die 
politifche Nugheit nicht zu ihren Nechte fam. Denn diefer Menge 
der armen Ghelleute fand ein Herzog gegenüber, dem «6 dad) vor 
Andern oblag, perfönliche Wortheile hinter politiiche Pflichten 
qurüctveten zu laifen, um jo mehr ale er ein jehr reicher Fürft 
war. Obwohl Herzog Peter bei und nad) feiner Abdanfung im 
lange nicht voll für feine Allodialgüter von Katharina 
ädigt wurde, blieb er immer noch fehr reich. Seine Töchter 
nennt ein nenerer Schriftfteller die reichiten Erbinnen des damaligen 
Europa*’). Sowohl Ernjt Johann als fein Sohn Peter verjtanden 


























*) Rady mündliche Meberlicferung. 
**) Walijgemsti, autour d’un tröne. 


Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 425 


65, Schäge zu jammeln. Glängende Schlöfier entitanden in Aurland, 
die von ihrem Neichthum zeugen, und daneben fonnte Ernft Johann 
die Herricaft Wartenberg in Schlefien*), dann Herzog Peter um 1785 
Sagan und Friebrihsfelde bei Berlin und 1792 Nadyod in Böhmen 
taufen. Beide mochten an die Wöglicpfeit benten, dal; fie ihr Herzog: 
thum verlieren könnten, und brachten die eriparten oder ermorbenen 
Gelder in Preußen in Sidjerheit. Aber je mehr befonders Herzog 
Peter für die Zukunft feiner Töchter zu jorgen juchte durch foldes 
Sparen im Lande nnd Anlegen im Auslande, um fo jtärfer wurde 
ihm zum Vorwurf gemacht, daß er dao Geld aus dem Lande 
jiehe. Und man fann cs biefem armen Abel faum verbenfen, 
daß er einem Fürften hart entgegen trat, der fein Land wie ein 
Pacıtgut für Lebenszeit behandelte und wiederholt auf dem Sprunge 
itand, es mit gefüllten Sädel für immer zu verlaifen. So trugen 
nicht nur die perjönlicen Motive des Cigennuges auf beiden 
Zeiten, jondern aud) die ungfüclihen, einer äußeren Umwälzung 
zutreibenben politischen Verhäftniffe dazu bei, dab Fürft und Stände 
vielfad, außerhalb des Yandes ihren Interefien nachzugehen juchten 
und damit den Mächten in die Hand arbeiteten, die längit fid) 
in den Befig diejes Landes zu jegen wünichten. 

Der Adel wurde durd Armuth, Kriegsiuit, Tradition nach 
Preußen gewiefen, wie die benachbarten Livländer und Ehjtländer 
ihr Glüc in Nußland zu fuchen pilegten. Die Söhne von Ebel: 
leuten und Bürgern bezogen deutfche Univerfitäten, viele Anaben 
wurden auf deutiche Schulen geididt. In Schaaren traten junge 
KRurländer in fremden Dienft, vornehmlich in Preußen, fochten in 
den Nriegen Friedrih's des Großen mit und jtanden ınter 
Friedrich Wilhelm 1. und IN. im Zivil wie im Kriegsdienft bie 
in den Anfang diejes Jahrhunderts hinein**). 

Die nahen Beziehungen zu Preußen waren jo alt als 
Vreufen und Kurland jelbjl. Won dem Deutjchorden wurden beide 





*) Der Herzog nannte 
Sojchüg‘ 
geweien 


h feitdenn „Herr zu Wartenberg, Bralin und 
ip habe nicht feittellen Tönmen. ob Goichüy je in feinen Wejih 





=*) Bei einer Durcreife Friedrich Wilpelm’s IM. dur Hitau (wohl im 
3. 1818) follen nach einer Meberlieferung, fid) an 120 Aurländer dem Könige 
vorgejtellt haben, die in preußiichem TDienft tanden oder geitanden hatten. 


426 Zur Seichichte der Unterwerfung Rurlande. 


Länder folonifirt, unter ihm jtanden fie gemeinfam, bis Preußen 
5 polnüiches Fehnsherzogthum ward. Wenige Jahrzehnte ipäter, 
1, folgte Nurland deifen Veilpiel und befam die gleiche Ver: 
fallung mit Herzog, Oberräthen und Landtag, wie fie in Preußen 
bejtand. Sogar die Handlungsweie des erften Herzogs von 
Kurland war derjenigen leider jehr ähnlich, durd welche Albrecht 
von Brandenburg fih Preußen gewann, Wie der Herzogshut 
von Preußen der Preis war für den Untergang des großen 
Ordensjtantes, fo der Herzogshut von Nurland der für die Unter: 
werfung des Livländiicen Theites diejes ftolzen Yaues unter das 
polnifche Szepter. Was der Hochmeifter getan, das that mun 
auch der Landmeifter von Livland. Das Bisthum Kurland Fan 
fogar, nachdem cs jäfularifirt und zum Streis Kilten geworben 
war, für furze Zeit in den Pfandbefih des Markgrafen Georg 
Friedrich von Yrandenburg. Preußen wie Nurland waren zu 
gleicher Zeit proteftantiich geworden, und als Preußen mit Brandens 
burg vereinigt wurde, jegten fih die Beziehungen fort durd) 
wiederholte Verfchwägerungen der Fürftenhänfer. Der große 
Kurfürft und fein Schwager Jakob von Nurland jtanden beide in 
Waffen gegen Schweden, jener freilich mit Glüc, diefer zu feinen 
Unheil. Beide wetteiferten im Streben nad Kolonieen, nad) 
Scchandel, nad Induftrie. Der Nınfürft machte den Verfuch, 
durch die Heirath eines feiner Söhne mit einer Erbtochter der 
Kadziwils das ungeheure Landgebiet diejeo Geichlechts zu großem 
Theil an feinen Stamm zu bringen und damit dauernden Einfluß 
auf den der Lehre Calvin’o folgenden Theil von Litauen zu 
gewinnen, welcher an das proteftantiice Nurland grenzt*). 
Friebrih 1., Nönig von Preufien, beiuchte feinen Schwager 
Friedrich Rafimiv in Grobin, und beide haben den Ruf ihrer 
‘PBradhtliebe hinterlafien. Nach Ausiterben des Kettlerihen Drannes- 
ftanımeo um 1737 fuchte Preufien einem der zahlreichen Vettern 
des verjtorbenen Herzogs den Furiichen Herzogshut zu verichaffen, 
was freilich nicht gelang. Friedrich der Große bemühte fich, dem 
Umfichgreifen des ruffüchen Einfluifes entgegenzutreten, was ihm 




















ENT 


Geigichte", Wo. IN. 


jiemann in „Forihungen zur Brandenburgiihen und Preuh. 





‚Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands. 427 


wohl aud) gelungen wäre, wenn die Erhebung des preußifchen 
Generals Georg von Holftein Vejtand gehabt Hätte, von der oben 
die Rede war. Aber im enticheidenden Augenblid forgte Katharina 
eilig dafür, dah, wie ein vuffticher Schriftiteller jagt, „wir recht: 
zeitig Preußen zuvorgefommen find und mit der Einverleibung 
Kurlands auf der Tjtiee jenes Ucbergewicht extangt haben, das 
diefes Heine Herzogifum demjenigen feiner mächtigen Nachbarn 
geben mufste, der zuerft fi in ihm feitiegte”*). Und in der 
That fcheint zwei Dial dieies Zuvorfommen gegenüber Preufen 
eine enticheidende Holle in der ruifiichen Bolitit in Nücficht auf 
Rurland geipielt zu haben. Wie Natharina 1762 den zwiiden 
Peter 11. und Friedrich dem Grofen geihloffenen Qertag zu 
Guniten „ihres eigenen Herzoge“, Viron, umftieh, jo rangen 
Katharina und Friedrich Wilhelm 11. vom Tode Friedrich's I. an 
um Kurland bis zuleht, und als die Enticheidung zu Gunjten 
Ruflands fiel, da wurden die Schritte Natharina’s wejentlid) 
von der Sorge beichleunigt, dab Preußen durch den Herzog oder 
deffen Erben im Yande Boden gewinnen fünute. Denn aus 
„unferm eigenen Herzog“ war unterdejfen ein Freund Preufiens 
geworden, über defjen Undanfbarfeit die Haiferin ebenjo entrüftet 
war, als fie mit Verachtung, Widerwillen und Spott diejen ihrer 
fenrigen und groß angelegten Natur unfpmpatbiichen, Fleinlichen, 
höfgernen Fürjten betrachtete. 

Diefes Ringen der beiden Nachbarn ipiegelt fih lebhaft in 
den Norrejpondenzen 5 mit feinem Hofe, die ich weiter 
unten auszugsweile veröffentlicde. Denn dieje Jahre von 1790 
bis 1792 waren für das Schidjal Nurlands die enticheidenden, 
weil fie für die gefanmte Politit Preußens gegenüber Ruhland 
enticheidend waren. 























Nachdem Ernit Johann im 3. 1769 abgedanft hatte, war 
ihm fein Sohm Peter zwar im Herzogthum gefolgt, jah fich jedoch 
von Haufe aus im danernden Bejig feiner Stellung bedroht *"). 





*) Mofiolom, zitirt von Bilbaffow a. a. O. 

**) Schon um 1767 hatte Stanistaus Anguft jeibft den Wunfih gräubert, 
feine unbequeme und unficere polnifche Arone gegen den Herzogshut von Nurland 
für ich und feine Famitie zu verrauichen. (alinfa, Der wi voimiiche Neichstag.) 









428 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlanbs. 


Erit trat im Lande jelbit wieder die Nandibatur des vertriebenen 
Herzogs Karl von Sadjen hervor; dann gelüftete es einige 
Jahre jpäter dem Fürften Potemfin nach dem Herzogthum. 
Potemfin, der einzige Mamı unter den Areaturen Natharina’s, 
der ihr über den Mopf gewachien ift und den fie fürchtete, mochte 
88 nicht jhwer werden, die Jarin für jeinen Plan zu gewinnen, 
und jo lieh fie in Marichau die Abdanfung Peters und die 
Wahl des Günftlings betreiben. Bald aber wurde diefer Plan 
wieder fallen gelaifen, mm, wie es jheint, einem andern Kandidaten, 
dem Sohne Natharina’s Grafen Bobrinofi, Naum zu geben). 
Aber auch diejer verihwand wieder, und jeit im. 1790 der 
einzige männliche pro Herzog Peter’o geitorben war, traten in 
den Vordergrund alo die nädjften von Natharina in’o Auge ger 
fahten Anwärter auf den Herzogoiuhl die Söhne des Prinzen 
Karl, des jüngeren Bruders des Herzogs; alo älteiter der Prinz 
Suftav. 

Von aufen duch dieje wiederkehrenden Spekulationen 
Ratharina’s auf fein Herzogthum, jowie durd) die jeit Eröfinuug 
des langen Neichotages in Warihau im I. 1787 immer ftärfer 
Hervortretenden Gelüfte Polens nad) Aufhebung des Herzogthums 
und völliger Einverleibung Nurlande bedroht; im eigenen Lande 
perfönlich mifiachtet, gehaht, dachte Herzog Peter zu Zeiten an 
Abdanfung. So 1785 und 1786 zu Gunften des Prinzen Ludwig 
von Württemberg **), der ja Natharina verwandtiaftlicd nahe 
fand; dann, alo ihm ein Sohn geboren wurde, 1787, ließ er 
diefen Plan fallen und warf ih nun dem Hofe in die Arme, 
auf welchen ihn die Tradition Nurlands hinwieo und von welchem 
allein er nod) Schuß erwarten Fonnte. Sowohl Friedrich der Grohe 
als deijeu Nachfolger beeiferten ji, den Yerzog an Preußen 
zu feileln. Jriedrid) Hatte mod) furz wor jeinem Tode den 
Herzog und deilen Semahlin in Berlin mit auszeichnender 
Freundfhajt empfangen; die großen Befipungen in Schlejien, der 
furiiche Palaft unter den Linden zu Berlin **), das Schloh 


























*) Bericht Hüttels aus Pereroburg vom 1. Juni 1780. 
*r Hütte a. a. C. 
”r) Die heutige ruifiidhe Vorihaft, I. d. Yinden Kr. T. 





Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlands. 


Friedrichsfelde — Alles das lieh vermuthen, daß Herzog Peter 
es vorziehen Fönnte, Vafall Preußens zu werden, als länger die 
biffigen Angriffe zu ertragen, denen er von allen Zeiten ausgeiegt 
war. Bejonders jo lange er hoffte, jeinem Sohn das Herzogthum 
zu hinterlaffen, war ev, und mehr noch die Herzogin Dorothea, 
bemüht, in Berlin Schup zu finden. Als der Prinz 1790 geitorben 
war, drängte fidh die Sorge herbei, das Herzogtfum einem fünftigen 
Schwiegerjohne zu fihern, und diefen Schwiegerfohn hofite wahl 
Preufen aus feiner Sippe zu jtellen. Vor Allem aber wünjchte 
Peter für fh und feine vier Töchter den Befip an allodialen 
Gütern in Sicherheit zu fehen, der ihn in Verbindung mit der 
gewaltigen Maije der Yehngüter zu einem der reichften deutjchen 
Fürjten machte. Vorübergehend dachte man an eine Heirath feiner 
ältejten Tochter Wilhelmine mit einem preufifchen Prinzen; dann 
tauchte ernitlicher der Plan auf, fie und das Herzogthum einem 
Neffen des Nönigs von Preußen, Friedrich, jüngiten Prinzen von 
Dranien, zuzumwenden. Der Plan hing mit der ganzen damals der 
Krifis zutreibenden Politif Preußens eng zufammen und fcheint 
befonders von den beiderfeitigen Müttern, der Herzogin Dorothea 
und der Fürftin von Orauien, Gemahlin des Statthalters der 
Niederlande und Schweiter des preußiihen Königs, mit Eifer 
betrieben worden zu jein. Wir werden aus den Berichten Hüttel’s 
feben, wie dur eine Jndiofretion im Haag die Verhandlungen 
geitört wurden und Natharina zlett auch diejen Ausweg zu ver 
legen wuhte. Bor di and aber war um das Jahr 1790 die 
immer Ichärfer fi zufpigende Haltung PBrenfens zu dem ruffiichen 
Nachbar wohl geeignet, den Herzog in der Hofinung zu feiligen, 
durch) einen fiegreichen Nrieg Preuhens fich aus allen Schwierigfeiten 
gerettet zu jehen. 

Die Anlehnung des Herzogs an Preuen und die damit 
verbundenen Heirathepläne hatten eine ge Wirkung auch auf 
die inneren Zujtände Nurlands. lo der Herzog im Veginn von 
1787 nach zweijährigen Neijen nad) Nurland heimgefehrt war, 
Hatte er gefunden, dah die nach der Verfailung in feiner Ab: 
wefenheit regierenden Diinifter fh mancerlei Cigenmächtigfeiten 
auf feine Koften hatten zu Schulden fommen laffen. Die vom 
Herzog eingerichteten großen Tefonomieen waren aufgelöft, eva 





























430 Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlande. 


60 Lehngüter an Gegner des Herzogs bill 
die Schuld des Yehn’s, die vom Herzog af 73,000 Thaler Alb. 
war herabgemindert worden, hatte man ducd) freigebige Outsfäufe 
une andere Vergünfligungen einzelner Edelleute auf fait eine halbe 
Million gebracht. Die zum Witthum der Herzogin bejtimmten 
Hüter Bershof und Ziegelhof hatte man dem ruffüchen Nefidenten 
Meftnacher arrendefrei überlafien *). Außerdem Hatte der Yandtag 
fich das Necht angemast, feine Zigimgen ohne Zuftiimmung des 
Herzogs oder der Negierung, einfeitig von fih aus anzuberaumen 
und zu „Limitiren“, wodurd er fich der herzoglichen Macht ganz 
entzog, und Anderes mehr. Der Derzog faifirte Alles, was die 
Hegentichaft beichlofien Hatte und gab damit den Anjtoh zu dem 
Prozeh vor den Nelationsgerichten und den Keichstage zu Warichau, 
der erit im. 1793 beendet wurde und deilen gewaltige 
Koften der Herzog am Ende bezahlen muhte. Zeit aber Preußen 
mit dem Plan umging, ich die Auriiche Erbiehaft durd eine 
Heicath zu fihern, lag es in feinem Intereiie, das herzoglice 
Lehn, das Erbe des fünftigen Herzogs, nicht ihmälern zu laffen, 
und der Sejandte in Warfchau ward angewielen, aud in diefen 
Händen den Herzog zu unterftügen. Damit trat num Preußen 
in Gegenjag zu dem Furiihen Adel, deiien Antereiie gerade hier 
in Ddiejer Frage won Nahrung und Erwerb bejonders groß; war. 
Wie Mieitmacer, jo nugte nah ihm Nüdmann als vufliicher 
Nefident jtets erfolgreich diejen Gegenfab aus, um den Adel von 
Wreufen abzulenfen und fich mit einer ruffiichen Partei zu umgeben. 
Beide vergahen fid) felbft dabei nicht, denn Nücdmann fieh ich 
ipäter ebenjo wie Mejtmacher mit Gütern anoflatten. Co if 
wohl zu beaditen, daß in diefem Nampf der prinzipielle Vortheil 
anf ruifiiher Seite lag. Denn während PBreufen zu erheblichem 
Theil private Intereffen, die Mitgift der Brinzeffinnen, welde 
nad) ‘Brenfen follten verheirathet werden, habgierig vertheidigte, 
trat Nufland, eben jo Habgierig, dod in weit höherem Grabe 
für politiiche Ziele ein, indem co diefelben Güter, nad) denen 
man in Berlin lüftern war, freigebig dem Adel anbot alo Lohn 
und Sold für Dienfie und für ruffiihe Sefinnung. Wollte 


verpachtet worden; 













































*1 Nichter, Gelb. ber Ditieeprovingen I, Th. I, p. 21. 


Zur Gefcichte der Unterwerfung Aurlands. 431 





Freuen feine Grenzen, oder au nur feinen Giufluh dur Er 
werbung von Nurland oder durch Erhaltung jeiner Selbjtändigfeit 
erweitern, jo mufzte co nicht nur den Herzog, jondern aud) den 
Adel zu gewinnen fucen. Das war denn auch eine der Herrn 
von Hüttel geftellten Aufgaben; aber dann durfte man nicht 
zugleich für die Geldgeihäfte des Herzogs eintreten, nicht Geld: 
ipefulationen für die eigene Tajche nachgehen, die auf Nojten der 
Interejfen des Adels gemacht warden, jondern muhte e6 eben 
madjen wie Natharina, die fremde Güter gern fortgab, um 
fremde Länder zu gewinnen. Die Politik Friedrich Wilyelm’s 
war fleinlid), die Natharina’o groß, jene war unficher, dieie feit, 
fo auf diefem feinen Schauplag wie auf dem großen, wo während 
fait der ganzen Anweienheit Hüttel’s in Nurland die beiden Nachbarn 
bereit jchienen, endlich doc nod) von Worten zum Schlagen überzugehen. 
Die Korreipondenz zwilchen dem Verliner Hof und Goly in Reters- 
burg giebt das merhvirdige Wild eines diplomatiiden Nampfes, 
der nur allzu jehr der Striegführung des Herzogs von Braunfchweig 
in Franfreid) gleichficht. Wie Braunichweig dort mit Vlandvriren 
die Franzofen befiegen wollte, jo meinte man hier mit Noten und 
Truppenaufitellüngen Katharina gefügig madjen zu fönnen. Aber 
wie die veracdhteten Jafobiner fih durch die tiefburddachten Wläriche 
des Gegners nicht bepwingen ließen, jo lag das noch weniger in 
der Art Natharina’s gegenüber Drohungen, deren geringe Trag- 
weite wohl durchjichaute. Die Nanonade von Dlalmy wieder: 
holte fich hier in anderer Form. 

Als Preußen am 7. Augujt 1792 den Vertrag in Petersburg 
ihloß, der die Konititution von 1701 ummwarf, und mit bem co 
fid) auf den ruffiichen Voden gegenüber den Polen jtellte, glaubte 
5 nod) Nurland als abgeiondertes Fürftenthun vor dem Echidial 
Polens bewahren zu fünnen. In einem geheimen Artifel diejes 
Vertrages heit eo: 

„Les deux Hautes Parties eontractantes s’interessant 
ögulement ä In tranquillitö de ka Courlande et sonhaitant 
d’&carter tout cequi pourrait Valterer. sont convenues et 
eonviennent par le present Article. de maintenir ce Duche 
dans V’etat, qui lui a et& assigne par les Diettes de Pologne 
anterieures a l’epoque de Tannde 1758 et garantie par a 































4 


132 Zur Gefcdichte der Unterwerfung Nurlands. 


Cour Imperinle de Russie. et de ne point permettre quil 
y soit döroge sans leur aveu et consentement....."®). 

Ich jche feinen Grund anzunchmeh, dah Katharina andere 
Pläne auf Aurfand ihon damals hegte, al in dielem Bertrage 
fid) Tennzeichnen: fie wollte in Nurland befehlen, aber nicht vegieren, 
und hielt an dem Prinzen Guftav als Nachfolger feit. Aber 
offenbar hatte Preußen durch diefen Artikel ein Recht als Garant 
der damaligen Verfaflung Nurlands erworben. Wollte Katharina 
sulegt doch veine Sache machen, Nurland einverleiben, fo lag die 
Wahricheinlichfeit vor, dab Preußen proteftiren oder eine Ent- 
idjädigung verlangen werde, was denn auch deutlich in verihiedenen 
Grlaiien des Königs aus der folgenden Zeit und endlich aud) in 
der Inftruftion QTauenzien’s von Juli 1794 angedeutet üit, 
in welder derjelbe Rufland an der Erwerbung Kurlands, und 
insbejondere des Yibauer Hafens auf jede Weile zu Hindern den 
Auftrag erhielt. 

Inzwiihen drängte man in Petersburg von Yaufe aus, 
nachdem jener Vertrag eben geidhoffen war, Heftig gegen den 
preußüchen Einfluß in Nurland. Am Dezember 1792 weilt Ofter 
mann jedes Cingreifen Preußens in die furiichen’ Dändel, zu dem 
«5 dod) durch jenen Artifel des Vertrages berechtigt war, fir 
urüd und fordert die Mbberufung Hüttelo aus Mitau, welchen 
er zur Ueberraihung des preußifchen Gejandten einen grofien 
Theil der Schuld zur Lajt legt an dem Streit zwifchen dem Herzog 
und dem Adel**). Umd während Preußen von jeher darauf aus: 
gegangen war, die Nechte des Herzogs zu ichügen und zu mehren, 
um dadurd) die Möglichfeit geordneter Zuftände wieder herzuftellen, 
fepte Katharina die Nompofitionsafte vom 18. Dezember 1 
dur, die den jeit 1787 zwiichen Herzog und Apel tobenden Streit 
zu Sunften des Adels entichied und ungefähr eben jo haftloje 
































*) Diefer Mtifel, der, fo viel id) jehe, bisher unbeadhtet gehlichen it, 
bejtätigt Die Bermuthung Wilbafjow's, def Nutbarina mit der Cinverleibung 
Nuelands durch freiwillige Unterwerfung ciwaigen preuhiichen Eimwünden vor 
beugen wollte. Usbrigens bemerfe üb, dab bi den yitaten Bilbaffon's aus 
dem Perliner Archiv der Auhalt wmeift richtig, die Tatirung oft falidh und Die 
Rummsen der Berichte fters falich Find. 

+, Colt, Bericht vom 21. Teyamber 17 










Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 133 


Zuitände im Lande fchuf, wie fie unter ruifüicer Leitung in Polen 
berichten. Die adligen „Äreiheiten“ waren in Polen wic in 
Nurland die Bürgicaft für Unordnung und Schwäche, deren man 
in Petersburg bedinfte. Co war dh) nicht Freiheit, jondern 
Anarchie, was man förderte und fügte. Die rufjiiche Garantie 
diefer reformirten Verfaflung blieb fir urland nicht aus, wie fie 
feit 1775 für Polen war errichtet worden, und danıit war Katharina 
auch der Leitung fher. Was Stadelberg chedem in Warfdau, 
das war Nücmann in Mitau. 

Der Abichluh des zweiten Tpeilungsvertrages jtand unmittelbar 
bevor. was Preußen zu einer angjtvollen Sorge veranlafte, Natharina’s 
Wohlwollen zu bewahren. Die jchroffe Ablehnung Oftermann’s, 
über die furiichen Angelegenheiten überhaupt zu verhandeln, wurde 
mit dem Entihluß des Nönige beantwortet, die Sache ruhen zu 
laffen, „da bei den gegenwärtigen wichtigeren Negoziationen man 
nicht zu viel Gewicht auf einen Gegenftand von jo geringer Be- 
deutung legen“ dürfe”). Und obwohl Holy weiter meldet, dah 
man in Petersburg Nurland bereits wie eine abhängige Provinz 
aniche; dafi er zu bemerfen glaube, wie man fih dort zu idämen 
beginne der in Nurland begangenen Gräuel („horreurs“), jo 
bleibt der König dabei, dab man die furiihe Sache vorläufig 
mühe ruhen fafien. Er behalte fih jedod vor, zu gelegener Zeit 
darauf zurüczufommen, da das Benehmen der Naiferin gegen 
den Herzog bis zu Maflofigfeiten (extremites) getrieben worden 
jei, die mit dem geheimen Artifel des Allianzvertrages nicht ver: 
einbar feien **). 

Zwei Tage nach dieiem Erla des Hönigs, am 23. Januar 1 
werde der zweite Theilungsvertvag in Petersburg unterzeichnet. Am 
28. Janıar wınde das Abberufungsichreiben Hüttel’s nad) Mitau 
abgefertigt. Diefe on war beendet, die Furiiche Sache, wenn 
auch nur „vorläufig“, fallen gelaffen. 



























Ernjt von der Vrüi 








3. 


Januar I 
« Jannar I 


*) Erlai an Goly vun 
»>) Ela an Sol vom 











434 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 


AUnszüge 
aus der Rorrejpondenz des preußiichen Nefidenten Hüttel in Mitar 
mit feinem Hofe, Towie aus andern Alten des preußiicen Geh. 
Stnats-Archivs, betreffend die Angelegenheiten Nurlands in der Zeit 

von 1790 bis 179 












Der preufüiche Kinanzrarh Karl Yudıwig Düttel war jeit 1766 mit geringen 
Unterbredjumgen bei der preufiichen Gejand in Petersburg angeftelt, von 
feinen Vorgeiegten wegen feiner genanen Nennimiffe der Verhätimihfe am ruffifchen 
Hofe jehr geihäbt, und bei dem Groffürften Paul in Gunjt ftchend. Auf 
Unterlegung Herpberg’s wurde er am 27. September 1790 vom Aönine als 
Geh. Yepationsrath für den Poiten eines Nefiventen in Mitan, mit 4000 Thl, 
Gehalt und 1 Th. Noften der Meberfiedefung. auserichen. Die Aniteltung 
genad zur Veobadptung der Bewegungen der Nuffen, unter dem Bormande, mit 
Kurland cin Kartell Gerzuitcilen und in Ucbereinftimmung mit dem Wunfche des 
Derzogs von Aurland. 

Zur Orientirung des neuen Nejidenten opt der Minifter Dertberg demfelben 
in einem Briefe von 30. Oktober I790 in Lurgen Siriden die politiidhe Lage 
Preußens dar: Er, der Minifter, hoffe auf einen Frieden zwilden den Haller: 
mäczen und der Korte auf Grundlage der preufiichen Loridhläge; cr hofie auf 
Erwerbung von Danzig umd Thorn mit wuifliher Hilfe. Dadurch werde cr 
wielleiht noch getröftet werden men Vertrag, den man ihm in 
Reichenbach zu Ächliehen geywungen Habe, umd die ungeheuren Achler, die man 
dort gemacht Habe, würden weientlich verbejfert werden. Cr bofle anf eine Alianz 
der Türkei, Prenfiens, Polens, Schweoens, um Nufland zum Srieden auf Grund 
de5 status quo zu bringen. Er Hoffe aud auf eine englilc-holländiiche Hülfs: 
flotte von 30 Sa Hundertsaufend Mann unter dem Herzog von Bram: 
fomweig würden gegen Nuhland vorgehen. 

An 11. Zamwar 1701 wird d’Urreft zum Sefreiären bei der Mitauer 
Kogation ernannt, 






























Ablürzungen: 9. 3 Nejlript. 9. = Hüttel, 

1. 8., 9. Jan. Ankunft 9.5 in Mitan am 4. Januar; 
am 7. Audienz beim Herzog in Würzau; 9. bittet um Sendung 
der Nreditive. 

2.3, 12. Jan, enthält Angaben und Tabellen über bie 
militäriichen Verhältmiile Nuflande. 

R. des Könige, 21. Jan. Der Nönig findet in jenen An 
gaben die Vejtätigung, daß Nuhland Vorbereitungen gegen 
Vrenfen treffe. 





Zur Sejchichte der Unterwerfung Nurlande. 435 


3. 3. 20. Jan. Offizielle Audienz beim Herzoge. 

4.2, 23. Jan. An: legten Donnerstag habe 9 
Antrittsoudieng beim Herzog gehabt und die Areditive überreicht. 
erfährt vom Herzog, da Preußen auf privatem Wege den 
Herzog um Verfauf von Roggen und Hafer gebeten habe, was 
der Herzog zufagte. Dies wird geheim gehalten, um das Mih 
trauen Nuhlands nicht zu weden. In Neval und Nogermpt 
eine ruffüiche Flotte ftationirt worden, größer als im Xorjahre. 

3.3, 27. Jan. Zoltyfow, Chef der Truppen in Linland, 
jei in Niga angefommen; unter ihm jollen Dolgeruti, Jgelftrön, 
Numfen, Michelion jtehen. 

6. 8, 30. Jan. In Riga werden eilig Kanonen-Schaluppen 
gebaut. 

7.3, 3. Febr, berechnet die ruiflihen Streitkräfte in Liv 
lano auf 15--16,000 Dann, in Weihruhland auf 20,000 Mann, 
jo da miht mehr als 35 -40,000 Mann bier unter Soltyforo 
gegen Preußen jtchen. 

8. 3. 10. Febr. Da der Herzog nur mehr das Haupt als 
der Sonverän der furländiichen Ariftofratie fei, jo wäre es müglic, 
wenn das NMinifterium durd ein Schreiben die Negierung in 
Vitan von der erfolgten Affreditirung &.'s beim Herzog in 
Kenntnih feste. Man jehe von Seiten des Adels icon icheel auf 
ihn und wittere eine Unterjtügung des Herzogs gegen die Ritter: 
ibaft. In Waricau jei die Inforporation von Pilten wieder im 
Gange, die für Preußen wegen der doppelten Grengälle nad) 
theitig wäre. bittet darüber um Inftruftion. 

9. 8, 13. Febr. Die Prinzeffin Marl Yiron intriguire in 
Warjchau, um ihren Kindern die Zueceffion zu fihern. Sie juche 
auch) in urland unter den Unzufrieenen Anhang zu werben und 
werde von dem ruffiihen Mlinifter unterftügt. 

10. 3., 20 Xebr. Aus den Vorbereitwugen der Nufien 
ichtießt D., daß fie nur an eine Defenfive denfen. Den lan 
der Düna anzufertigen habe er dem Grafen von Trucr, Kapitän 
im (Gefolge des Herzogs, gerathen, umd zwar unter Beihilfe des 
Grafen Kteyferling-Vlieden, Fönigl. Nammerherin. Er habe dem 
zum Kommandirenden der an der Grenze fih fammelnden 
preußiichen Truppen ernannten General Henfel allerlei Ausfünfte über 






























436 Zur GSejcichte der Unterwerfung KRurlands. 


die Wege zwifcen Libau und Mitau geliefert. Er Habe empfohlen, 
Scyrunden als Depot leidht zu befeitigen. Dann fönne Frauen: 
burg als Entrepot dienen, und in Mitau werde der Herzog das 
Schloii gern zum Depot hergeben. In der Stadt Habe der Herzog 
das zum Theater dienende Gebäude ausräumen lafien, damit der 
König darin die Munition unterbringen fönne. Unter der Hand 
lofie der Herzog foviel Setreide mahlen als möglid, md Faufe 
‚Hafer auf, der billig jei. Die Yajt von 60 Lof zu 
In Riga hervihe Unordnung, General Numjen jei unzufrieden. 
11. 8, 24. Febr. Der Yandtag habe ji) verfammelt. 
Die Streitpunfte feien: Trennung des Allod’s von den Yehn- 
gütern; Yimitation des Yandiages. „Antrigante Yeute md joldhe, 
deren Juterefie eo üt im Trüben zu filhen, wie z.B. der Herr 
von Heyfing in Warichau, jhüren das Feuer der Zwietradt und 
die Nuifen biajen gleichfalls hinein, weil fie unter den gegen- 
wärtigen Nonjefturen nicht wagen, in Nurland Die deipotiiche 
Sprache zu führen, deren fie gewöhnt waren id) hier zu bedienen, 
und suchen ihren Einfluß durch Ermunterung der Unzufriedenen 
und Ausiweuen der Zwietracht zu erhalten.” Cr warne den Adel, 
den günftigen Augenblid nicht zu verläunen, um fh dem durch 
die Konvention von 1783 von Nufland dem Yande auferlegten 
Jocje zu entziehen. Man jei in Sorge wegen dev MWarjcaner 
Planes, Pilten und jpäter Nurland zu inforporiren. 
8, 27. gebt. Die turländiihe Nitterihaft habe die 
Erlaubniß erhalten, ihre Sadje vor dem Neichotage in Waridau 
zu vertheidigen. Der Herzog Ditte um NAnweilung an den 
preußiichen Gefandten in Warichau, dal er den Einfluß; paralvfire, 
den Heyfing über Graf Votodi erlangt habe‘) Hüttel unterftügt 
die Bitte, weil Heyfing einer der Pfeiler Nußlands in diejem 
Lande jei. Er empfiehlt, um die Nurländer zu gewinnen, deren 
Wunjh nad Aufpebung der verhafsten Konvention von 1783 durd) 
Golg**) in Warihan zu umterftügen. Herr von Bolten, ein 






























*) Sana; Poiodi, Aronmarihall und ein Kührer der patriotiic-liberalen 
Heformpartei 
”*) Arieorid, Aerdinand Graf von der Colt, 
Seichäftsträger von 179m bis Ende 1791 dan 0 
deffen Aufenthalt in 


sionscanh, vertrat als 
Luchini während 









Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande. 437 


aufgeflärter Mann, der eben nach Warjchum gehe, fei bereit die 
Satpe dort zu betreiben, wenn Golg ihm unterjtübe. 

In einer Nahichrift berichtet 9. im Erfüllung eins» 
Vefehles des Nönigs über den Hof des Groffürften Paul in 
Petersburg Folgendes: Die „linison* zwiiden dem Großfüiten 
und Fräulein Nelidow habe bei 9.’ Abreiie aus Petersburg 
fortbejtanden. Sie fei von Seiten des Prinzen eine Art plato- 
nifcher Liebe, zu der der Prinz von 
einer andern Perfon neigte. Der Grohfürft fei für Preuhen beifer 
gefinnt als die Grohfürtin, auf die Frau von Venfendorif einen 
ihlimmen Einfluß übe. 

13.8, 3. März. Die Hufen Haben bei Kreugburg ein 
Lager für 18,000 Mann abgeitedt; an der Cwit werden Schanzen 
aufgeworfen. Nuffiiche und prenfiiche Offiziere erfunden das Land. 
Einer der fegteren, Napitän von Thnmen, vathe, in Goldingen 
ein Entrepot anzulegen. In Niga gehe der Yau von Schaluppen 
wegen Mangel an Material nicht recht vorwärts. Die anfommenden 
Nefruten jeien Anaben von 14 bis 15 Jahren; das Negiment 
Re un daher nad) Empfang von 300 Nefruten nur 400 Dann. 

8,5. Mär, Die Nuffen fahren fort die Grenze zu 
MEN werfen bei Schlod zwiichen Aa und Meer Nedouten 
auf. In Warfchau agitire Prinz Karl dafür, dah dns Teftament 
Ernjt IJohann’o umgejtoßen werde. Die Herzogin bitte um An- 
weilung an Golg, dahin zu wirfen, daß Benling von der Mitt 
ichaft aus Warichau abberufen werde. Yenking jei jehr gefährlich; 
er reihe feine Auftraggeber weit über ihre Abjichten hinaus fort. 
Am 4 März babe 9. fein Affreditiv bei dem Yandtage auf der 
Kegierung abgegeben. 

Privatbrief 
augenscheinlich an 
des fegteren vom 1 Februar: 

„Agreez. monsieur le comte. mes remereiments tr 
humbles de ce ae Vous avez bien voulu me confier au 
sujet de een eis de suecession”. Herberg’s ‚der, 
bei Potemfin den Beitritt zu dem Plan der Abtretung von Danzig 
und Thorn zu betreiben, halte er für ausfichtstos. „Personne 
ne saurait etre plus persunde que je ne le suis du peu de 































5 vom 5. März 1791, ohne Aufichrift, 
1 gerichtet al Antwort auf 2 Briefe 












438 Zur GSejchiehte der Unterwerfung Kulande. 


Profit que nous portera une guerre avec la Russie. J'en 
eongois tous Jes risques. J'ai constamment souhaite que 
nous ne nous commettions pas trop avec cette puissance.“ 
Gleich nad dem Neichenbader Vertuage hätte man Natharina 
gewinnen fönnen, indem man ihr eine Lermittelung wegen 
Dtihafow anbot. Jebt, nachdem man ohne Najt gegen Rufland 
gearbeitet und die Mihftimmung der ftolzen Katharina verdoppelt 
babe, werde jedes Entgegenfommen von preußüicher Seite mit 
Vorurtheil aufgenommen werden. Natharina würde eo für Schwäche 
halten, würde ihr Yemühen, Preußen zu ioliren, verdoppeln; für 
fange jei an eine Umfehr Nuhlande zu Guten Preußens nicht 
zu denfen. Prenfen werde durch eine Schilderhebung allerdings 
nicht viel gewinnen; aber ein großer Theil der Ausgaben für die 
Nriegsvorbereitung fei gemacht; die preufüichen Truppen befigen 
nod) die alte Energie, Preußen habe ausgezeidhnete Generäle. 
„La Russie au contraire est &puisee. ses mesures portent 
Y’empreinte de son blissement interne. son militaire ne 
saurait se comparer au notre. Dans le eveur de cet Empire 
il fermente un mecontement general. En frappant de grands 
eoups vigoureux nous aurons bien des chanees en notre 
faveur. et pour peu que la fortune nous seconde. nous 
reussirons au moins A mater cet ennemi redoutable. ä 
diminuer son influence . et raffermir nos allianees. 
J’avone que dans la situation actuelle des choses ces raisons 
me semblent de Ia plus grande foree. et si d’autres plus 
preponderanfes «dussent nous defendre de les accepter pour 
rögle de notre dötermination. je gemirais sur lavenir qui 
nous attend“. - In den Verhandlungen mit Schweden hofft 
9, dei die preuhiihen Anerbietungen über die Verfprechungen 
des General Pahlen fiegen werden. Der Baron Arenjeldt jtebe 
in ruffichen Solde. 

3, 13. Mär. Der Berzog fehide dem Herrn von 
Mardefeld in Warfhau einen Nechtogelehrten zu Dülfe; der Adel 
Ädjiete als dritten Delegirten Grotthuh. Er, D., werde von der 
Herzogin jehr gewandt unterftügt. Cr beklagt fid über den Herzog, 
„dont Ja marche tantöt brusque, tantöt timide gate les 
meilleurs eauses.”  Howen arbeite mit Drohen und Veripreden 



































Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlands. 439 


für Anhland. Alle Melt gebe den Drud deo ruilifdhen Noches 
zu, Niemand aber wage die Stimme zu erheben. Dennoc) bemerfe 
er eine Unruhe bei dem ruffiichen Minifter wegen der Möglichkeit, 
dab man zulegt gegen die drüdende Konvention von 1783 reflamire. 
Er beeifere fi) die Aufmerfiamfeit der Geifter auf die innern 
Streitigkeiten zu richten und biejelben mehr und mehr zu ver- 
wirren. Der nad) Warichan geiandte dritte Delegirte Grotthuß 
joll nebenbei Heyfing füberwadyen, dem viele Leute anfangen zu 
mißtrauen. 

16. 3,, 16. März. Vei Witebsf werden ebenfalls Schaluppen 
gebaut. Die Bejejtigungen längs der Düna find nichtsjagend, 
blofie Ausbeijerung ichwediicher Schanzen. ©. bittet den Nüönig, 
den im preußiichen Dienft ftehenden Nurländern einige Zeichen 
feines Wohlwollens zu gewähren, was gut auf die Verwandten 
wirfen werde. Er jebe fidh mit Herrn von Kölferfahm im äuferften 
den von Nurland in Verbindung, um Nachrichten über die 
ruffiichen Nüftungen zu erhalten. Den Nornauffauf in Semgallen 
haben die Nuffen plöpfid) eingeftellt. In Moskau follen Unruhen 
ausgebrochen fein infolge der Neftutirungen; dort ftehe der 
Dufaten bereits über + Nbl. Papier, der holländiiche Thaler 
über 2 Rubel. 

R. vom 25. März billigt den Plan 9.6, den Frieben 
zwiichen Herzog und Adel zu vermitteln. Die furifhen Stände 
hätten den Herren von Wolff nadı Berlin geidiet um zu erwirfen, 
dal; Goly in Waricau nicht gegen fie arbeite, worauf er in 
Berlin eine unbeftimmte und nichtefagende Antwort erhalten Habe. 

17. 3., 19. März. Besborodfo ijt nad Moskau geichict 
worden wegen der dortigen „revolt aber die Dosfauer bleiben 
bei ihrer Erfürung, dab das Land ruinirt werde, wenn der Friede 
nicht geichloffen und neue Auchebungen angeordnet würden. Die 
Pringeffin NApollonia Viron intriguirt in Warfchan heftig gegen 
das Tejtament Ernjt Johann's und den Familienpaft von 1771. 
Da der Herzog mu drei Töchter habe, jo macht fie für ihre Söhne 
Anspruch auf die Nachfolge in Wartenberg, Berlin und Goldüg. 
Nac einer beigefügten Nechmung hat Prinz Karl jet 1771 im 
Ganzen erhalten 277,833! 3. Rh. Die Herzogin wird am 5. 
April nach Warihau reifen um der Schwägerin entgegenzuarbeiten. 




















5. 








410 Zur Gedichte der Unterwerfung Rıurlande. 


A, 28. März. Golg berichtet aus Warihan, da die 
furiiche Niterihaft „est eflarouchde de Votre apparation A 
Mitau, et eraignant mon appui trop influant pour le Due 
suivait plus que jamais Fimpulsion du Ministre de Russie 
et commengait ä parler d’une soumission totale a la Russie”. 

18. 3, 26. März.  Verjchiedene militäriihe Nachrichten. 
Man spreche beim Grafen Brown in Niga von einem 
Vorfhlage zur ITheilung Polens, der von Preußen dem Wiener 
Nabinet gemacht worden fei, was eine ftarfe Erregung in Warichau 
hervorgebracht habe. — Howen erhist die Gemüther gegen die 
Heife der Herzogin, welche er beichuldigt, die Binger gegen den 
Adel unterftügen zu wollen. Cs jei richtig, dah der 
Gunften des Würgertfums zu neigen icheine, „moins 
eonvietion que par raneume-. Aber er, D., glaube, dal die 
‚Herzogin nicht derjelben Anficht jei. „En effet. Sire, je regarde 
cette marche comme mauv: ceque je trouve 
les pretensions des bourgeois et outrees. de 
K’autre parceque ce n'est pas la hourgeoisie en corps. mais 
seulement les legistes et les marchands qui les forment.“ 
Auch follte der Herzog fih nicht qründlid) von dem Adel trennen, 
defien Mitglied er durch feine Alodien fei. Die Nitterihaft 
fönnte ganz auf die Seite des Prinzen Narl gedrängt werden. 

N, 4. April. Wenn der vulfiihe Minfter, wie 9. berichtet 
habe, meint, dah die preufiichen Truppen feinenfalls Auhland 
angreifen witrden, jo Fönne er deifen nicht jo ficer fein; „du 
moins jusqu’iei mes vues sont plutöt guerriöres que 
pacifiques“. 9. Tolle dem Herzog und der Herzogin rathen, den 
Adel nicht zum Aeuferiien zu treiben. — 5 Gerücht von einem 
neuen preußiichen Theilungsplan jei eine jcredlihe Lüge, die der 
öfterreichiiche Minifter erfunden und verbreitet habe, und die dur 
König feierlich Habe dementiren lajlen. 

19.8, 31. März. Wlan it am furifchen Hof überraicht 
von ber Neife des Herrn von Wolff nad Berlin zur Unter 
ftügung des Prinzen Narl. Grotthuß hat fih mit Henfing ver: 
feindet, als er in Warfchau von der Neife Woljf's hörte; die 
Mehrheit der Nommittenten hat nichts davon gewußt und Wolff 
und Henfing haben ihre Vollmachten wahriheintid überichritten. 














































Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlande. 4 


Sie juden nur immer die Dinge weiter zu verwirren, und man 
bat den Verdacht, dah fie daran arbeiteten, Nunrland in Polen 
einzuverleiben. Wahrscheinlich jtede Nuhland dahinter, weldes die 
Zwietracht zu mehren jtrebe; Wolff gelte für einen Rußland 
ergebenen Mann; er fei vulfücer Deajı Nichts würde dem 
Frieden mehr dienen, als die Abberufung diejer beiden Intriganten 
aus Warjdau, wozu eine briefliche Anregung deo Königs bei bem 
Nönig von Polen jehr dienlid wäre. 

In einem privaten Schreiben vom 9. April antwortet 
Hersberg: Herr von Wolff jcdeine ihm zu fein „un petit 
sujet fort peu fait pour l'intrigue et pour lau nögoeiation“. 
Er jei mm ein paar Tage in Berlin geweien, jei bei ihm nur 
einmal geweien, um ihn zu bitten, da Sraf Golg in dem furiichen 
Streit id) neutral halte. Co wäre allerdings beifer wenn Preußen 
fi) der uriihen Jntereffen jtärker annejme, „mais javone que 
je n’en ai ni le temps. ni le credit. ni la eonfiance du 
Souverain, qui se defie de moi plus que de tout dtranger. 
Je me eroirais fort heureux si je pourais seulement diriger 
les grandes aflaires d’une maniere sistematique. Avanthier 
nous etions sur le point de deelarer la guerre ä la Russie. 
sans attendre l’arrivee de la flotte anglaise dans la Baltique. 
et em nous exposant aux avances du Prince de Nassau. 
Heureusement que la cour d’Angleterre, qui d’ailleurs nous 
regente en tout, nous a denne encore un petit räpit, 
Cependant on pröpare iei dejä le tout pour la eumpagne. 
ce quon ne me Iaisse ponrtant savoir que par la voye 
du public“. 

N, 11. April. Golg werde angewiejen werden, bei dem 
Könige von Polen die Entfernung von Heyting und Wolff zu 
eriwirten. Der Nönig Fönne in den furifchen Angelegenheiten feine 
genaueren Vorjchriften geben; er Habe dort nur indirefte Inter 
ejfen als Nachbar zu vertreten, damit das Yand weder von Polen 
nod) von Nuland unterjoht werde. 

8, 7. April. Der Nönig von Polen habe jeinen 
Rammerherrn von Holtey nad) Mitau geihidt, um die Herzogin 
und Fran von Necte zu begleiten, welde am rüh nad) Warihau 
abreijen. Der Herzog babe 9. eine Note in Abichrift geichidt, 
































42 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlande. 


welde Wolff im Namen der Furl. Nitterihaft dem preußiicen 
Minifterium eingereicht habe. „La toumure de eette acte est 
trop adroite et trop insidieuse pour ötre louvrage de ce 
Baron. et il est aise d’y reeomnaitre l’esprit du Sr. de 
Heyking”. 9. Habe wegen diefer Note Aufklärung von dem 
Kandesbevollmächtigten von Mirbach verlangt. 

N, 18. April. 9. joll jest hauptfächlicd, darauf achten, 
was die energichen Maahregeln, die England ergriffen Habe, für 
Wirkungen in Petersburg hervorbringen; ob der Prinz von Nafiaı 
in Niga angekommen, die Flottille dort fertig jei; ob die Kufjen 
fid) auf eine Offenfive vorbereiten? 

21. 8., 10. April.  Howen tritt immer mehr in den 
Xordergrund: „Cet homme. In meilleure tete du pays. oriente 
dans le labyrinthe des loix Courlandaises. fin. rus6 et 
adroit. est trop interessö A fermenter les troubles. dont il 
est la premiere cause par les depredations commises A son 
profit sur les deniers du Due pendant les voyages de ce 
Prince. Il est trop interesse encore A maintenir influence 
Russe. vu que eest par elle quwil est devenu conseiller 
Supreme et qu’il a aequis des sommes immenses. Or ces 
ee Howen. qu’on reconnait gendralement pour un roue 
mais quon admire et quon eraint. qui dirige le parti 
antiduer.“ Den Gegnern fehle es an Energie und Wiuth. 
Visher fenne er nur einen Mann, den man Howen entgegen 
ftellen fönne. Cs fei ein Herr von Vringaen (sie), ehemals 
Nivale Howens; man halte ihn für einen Mann von Ehre und 
Feitigfeit. Er habe ihm jehreiben Laien, um mit ihm anzufnüpfen; 
aber leider jchwer erfranft. —- „Du eote du Duc 
je n’ai aueune resource A esperer. Ce prinee constamment 
vetire A sn eampagne. ne vivant quavee deux ou trois 
adulateurs. qui le flattent et le trompent au milieu de son 
pays. sans talents. gatant ses meilleures causes tant par 
son inenpacite que par sa defianee. ne siehant ni depenser 
ni donner ä propos. negligeant ceux qu'il devrait menager. 
timide vi de eeux qui le menacent, soupgonne de 
duplieit@ et ne fournissant que trop de sujets A de pareils 
soupgons, — ce Prinee. dis-je —. n'est pas susceptible 










































Zur Gejchichte der Unterwerfung Nurlands. 443 





meme d’impulsion. si ce n'est peut-etre de celle de Ia 
erainte. Sa nullit& et son entetement empechent meme 
Madame la Duchesse de Courlande, d’operer tout le bien 
que sa dexteritd. ses vertus et ses graces pourraient 
preduire. Je dois A wette Princesse le t@moignage. 
qw'elle fait tout son possible. qu’elle aurait des partisans si 
l'on haissait moins son epoux ou si on l’estimait davantage: 
quelle est avec cela devouee a V. M.. et que durant mon 
sejour dei elle m’a donne des preuves jourmelles de ce 
devouement. C'est avec elle seule que j’ai pu parler 
d’aTaires, dest elle seule qui ait pu me donner des 
renseignemens et ui ait entame ma besogne. Maintenant 
qu 'elle est partie et que le Grand Eenyer Comte de Solms 
est aussi sur son depart pour Berlin. celui nt ögalement 
un serviteur ardent et fidöle de V. M.. je nal personne 
parmi ceux qui entourent Je Due. ä qui je puisse me fier-. 

&s jeien Gerüchte in Umlauf, Nurland jolle fi Außland 
unterwerfen, und diefe Gerüchte gingen von der antiherzoglichen 
Partei ano. Howen jei allerdinge aud) dazu fähig. Vorläufig 
aber glaubt 9, «0 fei nichte zu fürdten. Wollte Yonen einen 
iolhen Lorichlag machen, jo werde er von der Vichrzahl feirer 
Genojjen verlaffen werden. 

Gemäh Neftript vom 18. April berichtet 9. über die 
ruffiichen friegerifchen Vorbereitungen: Alles deute auf eine 
DTefenfive hin, und dah der ruffiche Hof noch nicht an einen 
Krieg mit Preußen glaube. Die Streitkräfte an der Düna jeien 
nicht bedeutend. I der That fürchte der Mel eine ftarfe Unter: 
jtügung des Herzogs durch Preußen und fei deohalb über jeine, 
5, Sendung aufgebradht. Der ruffihe Minifter Nüdmann 
jtachele diefe Gefinnung weiter an, und gegenüber dem ein 
gewurzelten ruffihen Einflujie habe er in drei Monaten nad) 
wenig ausrichten Fönnen. 

P. Mirbad Habe die jhriftlice Verfiherung ertheilt, 
Wolff fei in feiner Weile bevollmächtigt geweien, nad) Verlin zu 
gehen, nod) für die Fürftin Karl Bivon zu follisitiren, nocd) eine 
Note an den Mönig zu richten. Darauf Eommt Holtey, Bruder 
des polniichen Kammerherin zu D., ftellt ihm vor, daiı Dirbach, 


































444 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 


durch die Anfrage Ds ehr in Lerlegenheit gelebt, fich mit 
Howen beiprodien Habe, mit dem er verwandt jei, und wahr: 
icheinfich fuche Iegterer nun durd) die angebahnte Norrefponbenz 
9. mit Mirbad) beide mit einander zu verfeinden. Darauf geht 
Holten zu Mirbad) und bringt ihm zu &., worauf eine Unterredung 
fattfindet. 9 jagt, er halte Mirbad), in den die Herzogin 
Anfangs einiges Vertrauen gelegt habe, für völlig durd, Howen 
geleitet. 








3, 14. April. Weift auf die drohende Gefahr der 
Inforporation Hin. 9. wünidt vom Könige beauftragt zu werden, 
dem Herzog folgende Natbichläge zu ertheifen: 1. da; die Fragen 
wegen der Macht der Negentichaft in Abweienheit oder Wiinder: 
jährigfeit deo Herzogs; wegen des Pimitationsrechte des Land: 
tages; wegen Trennung des Allods von den Lehngütern — von 
der fouzeränen Macht entichieden werden; 2. dal; der Herzog ic) 
im Uebrigen nachgiebig erweilen möge, die durd den Etreit 
Geichädigten entihädigen, den zahlreichen, aber wenig wohlhabenden 
Adel unterftügen möge did) Vergebung von Domänen in Pacht, 
durch Darlehen anf Hnpothefen, jtatt das Geld im Auslande an 
zulegen, ferner durch Gewährung von Gehalt (abonnement) an 
die Affefore der Hauptmänner, welche jegt unengeltlic arbeiteten, 
weshalb die Juftiz langiam und fdjlecht je. Anderfeits mi 
die Nitterfhaft ihre Anfprüche mähigen; dayn würde dienen, wenn 
der König von Polen ihr nahelegte, ihre Vollmachten den Herren 
von Heyfing md von Wolff zu entziehen, von denen der erite 
fei „un intriguant dangereux qui ne cherche qu' ä prolonger 
los troubles pour des vues purement personelles“. und der 
andere „un cerveau brule 

23. 8, 17. April. Pilten schicht Korff nad Warfcau mit 
einem teit. bat den Lerdadt, dah Denfing die In: 
forporation begimitige. Ein Brief Jobanns von Neyferling, Cbrift- 
leutenants in der polnifchen Garde, an feine Yandoleute, beichuldige 
offen Heyfing und Wolff der Yemühung zu Gunften der Infor: 
poration von ganz Nurland nach dem Ableben des Herzogs. Graf 
Neyferling erbiete fh, Peweile beizubringen. Die furiiche 
Oppofition, Howen und Dirbad), geftände eo zwar nicht öffentlich, 
hege aber doc) die Wleinung, dah die Inforporation für Rurland 











Zur Geichihte dev Unterwerfung Aurlands. 445 





wäre, Die Herzogin überjendet 9. einen Brief des Königs 
von Polen, worin derjelbe die Abficht Fund giebt, einen feiner 





Neffen mit der äÄlteiten Tochter von Nurland zu verheirathen und 
dann zum Nachfolger im Serzogthum zu madyen. SHüttel meint, 








die Herzogin jei gegen Ddiejen Plan und würde die Oraniiche 
Nachfolge vorziehen. 

248, 21. April. Der Herzog theilt S. mit, er habe 
aus Petersburg die Anzeige erhalten, dab Potemfin, nachdem 
feine Pläne anf Moldau und Walladei geidieitert feien, feine 
alten Abfichten auf Kırland wieder aufgenommen habe, und dab 
Kufland fd) um die Zuftinmung der Nitterfchaft bemühe. Aehnlich 
babe Nüdmann gegenüber dem Herzog fid) geäußert. Er, 9, jei 
zwar gegen die Quellen deo Herzogs mißtraniich, aber Howen 
erwarte jeine Vortheile nur von Kufland, und co fönne fein, daf 
er von Potennfin für feine Pläne gewonnen fei, und daf; er amd 
Mirbad) von der Inforporation nur redeten, um die Aufmerfiamfeit 
von ihren wahren Zielen abzulenfen. 


N. Herpberg'e vom 29. April. ©. jolle offen erflären, 

Preußen fei gegen jede Inforporation, Er zweifle an dem Gerücht 
über die Pläne Lotemfins. Er nennt Heyfing „intriguant 
et hardi.” 
3, 28. April. Enthält Einzelheiten über die wufitichen 
Nüftungen auf der Düna und jenjeito derjelben. Generalgeuverneur 
Brown leugne das Vevoriichen eines Nriegeo. Jn Nurland ver: 
breite man das Gerücht, als habe der König in Berlin dem Kern 
von Wolff veriproden, ich den berzoglichen Händeln ganz fern 
zu halten, 

A, 9. Dioi. Dies von furiichen im rufen Solde 
ftehenden Leuten ausgehende Gerücht jei falich. Der polnische 
Reichstag Habe beichloifen, den Nurfüriten von Sachen zum 
erblicen Nachfolger, feine Tochter zu Infantin von Polen zu 
machen. Das jei von den Wohlgefinnten ins Werf gefept worden, 
um den Wirkungen der rufftichen Intriguen zuvorzufommen. 
„Cette importante resolution ne peut que m’etre agreable, 
et C'est ce que vous pouvez temoigner sans affeetation 
dans la maniere de vous expliquer sur et objet”. D. 























446 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands. 


folle berichten, wie man Ddiefe Nejolution in Nurland aufge 
nommen habe.*) 

26. 3, 1. Vai. Militäriiches aus Auhland. Der Herzog 
thue nichts als jagen, höchitens denfe er an feine Streitigfeiten 
mit der Nittericaft. Die Herzogin habe ihre Hoffnung auf den 
König Stanislaus Augut und auf den Fürften Sapichn geiekt. 
In Warfhau jprede man noch immer davon, der NMönig von 
Preußen fei nicht gegen eine Inforporation oder eine Weberlaifung 
NRurlando an Potemfin unter der Bedingung, dah Danzig und 
Thorn an Preußen abgetreten werde. 

N, 11. Vai. Die antiruffüde Partei in Polen werde 
gegen das Projekt Potemfin’o auf Nurland jein; die Furcht vor 
Inforporation jei übertrieben. Cs jei Sehr falich, diefe Zacde mit 
dem Könige in Verbindung zu bringen, Von der Erwerbung von 
Danzig und Thorn fei im Augenblid nicht mehr die Rede. „ai 
resolu de laisser tomber entierement (se. dieje Frage) comme 
une affaire peu importante et qui ne vaut pas la peine de 
fournir aux Russes un nonveau pretexte A des insinuntions 
insidieuses dans toute l’Europe. telles qwils en ont dejä 
faites A plusieures reprises“. 

27.3, 5. Mai. Die Rufen Tegen ihre 
zur Weberichreitung der Tüna fort: 60 Nanonen-Schaluppen find 
fertig, man arbeitet an Galiots. Ju Niga lerie angelangt. 
Man fpriht von der Verhaftung zweier preußiicher als Naufleute 
verfleideter Offiziere in Riga. In Nurland drohen die Feinde 
des Herzogs um Inforporation zu bitten, wenn die Nommillion 
in Warjhau, die für die Turländiichen Händel niedergeiegt Üt, 
gegen die Nitterichaft enticheiden follte. Ter Herzog hält den 
Maricall Potocdi für jeinen Gegner und für ein Förderer der 
Iuforporation. 

R, 16. Dei. Graf Sol in Wariban it angewiejen 


















ebereitungen 











*) Dieieg Neffript üt von allen vier Miniftern (Verhberg, Findenftein, 
Scputenburg. Abeusieben) wnterzeidmet. u einem dem Aönige unterlegten 
Giagpen der Binifter ohne Dergberg vom 7. Mai findet fih won dei 
Siyulenbucg und Abensleben eine Nanpbemerkung. nad) welcher Diele Meinung 
über die polnifche Refokaion an Du Gefandten Jatobi in Wien mirgetbeitt 
war und mn zur Auformaion ud D. mitgerheitt werden folle 











Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlande. 447 
genen die Auforporation zu wirken. Diefelbe ift aber nicht wahr: 
iheintich, da jie den rieden von Tliva verlege und jomit die 
betheifigten Mächte in den Stand jepen würde, zu wideriprechen. 

28.3, s. Mai. Yebhafter Austanich von Mittheilungen 
über die ungen der Nuifen zwißchen Mitau und General von 
Hendel in Initerburg. 

3, 12, Mai, Da die frage der nforporation in 
Polen durch den Hinweis auf die Unzufriedenheit der Nitterichaft 
mit dem Herzog, unterftügt wird, jo hat ©. dem Herzog vorge 














ftellt, wie nothwendin es Tei, feine Anhänger zu jammeln und 
og auch fi bereit erklärt bat, 





neue zu gewinnen, wozu der 
Die fepten Depeichen über die ruiftichen Nüftngen berichtigt 
dahin, dal in Niga blos 20 Nanonen-Zchaluppen mit je 1 GSeichüt 
und 20 Auderern and 40 Mann Eguipage, ferner 20 Yollen mit 
je 1 Geichüg, endlidh > „Eriteries“ «eine Art regatte) mit je 
14 GSefchüggen vorhanden feien. Co fehlt an Matrofen und die 
Schiffe find schlecht gebaut. 

30.8, 15. Mai. Die Gerüchte von der Abfiht der in 
forporation verftärfen fi, Die Polen in Warfkau follen darauf 
ausgehen, Preuhen durch Abtretung von Thorn und Danzig de} 
zu gewinnen. 9. bittet den Nönig, in Warfcau feinen feiten 
Willen fund geben zu laflen, die Jnforporation nicht zu geitatten. 
vtifel der polnischen Konftitution vom 3. Mai, welcher 
jagt, dab Neder, der die polnifche Grenze überfchreite, auch wenn 
er Leibeigener ji, dadurch, ipso facto frei werde, habe in Nınland 
große Erregung verunfacht und wird hier unendliche Schwierigfeiten 
nach Polen und nad Kufland Hin hervorrufen. 























dur 9 








R, 21. Mai. 9. Toll offen die Gerüchte dementiven, welde 
die Krage der nforporation mit Danzig md Thorn in Ver 
bindung fepen, wm deren Abtretimg co fid gar nicht mehr handele. 
de ne m’etais prötd que malgres moi et par vomplaisanee 
pour l’Angleterre ä la proposition que celle-ei avait fite 
de la eession de Danzig. et qui avalt mis cette affaire en 
mouvement pour favo ses vues de eommeree: jai 
ement remis cette cour de Iaisser tomber cette 
. comme cola c'est fait aussi aetuellement..... On 




















38 Zur Gefchichte der Unterwerfung Sturtande. 


peut done se rassurer entiörement sur ce sujet et etre 
persuad® que je nahandonnerai pas les interets de la 
Courlande“. 
31. 8,, 19. Mai. Die Nachrichten aus Warihau lauten, 
da die Frage der Anforporation immer mehr Boden gewinne. 
Die Gegner in Nurland wollen tropden einander nicht die and 
reichen und fürchten fih auch in Warihau gegen die Inforporation 
aufgutreten, um den Neichstag nicht in den fchmebenden Händeln 
gegen ich zu erzünmen. 9. freut fih, aus dem N 
9. Mai zu hören, dah der König ihn autarifire, die Me 
vom 3. Mai als den Anichauumgen des Königs günftig dar- 
teilen zu dürfen. Er jhlägt vor, nun aud Kurland von Nufland 
ju emanzipiven und zu diejem Zwecke in Warfchau die Neiilintion 
der Konvention von 1783 zu betreiben, und zugleich dahin zu 
wirten, dal; Polen und Auiland die Erbfolge des jüngiten Prinzen 
von Oranien bei Schluß; des Friedens anerfennen mögen. 

X, 29. Mai. Es fei jept nicht gelegene Zeit, um die Erb: 






















folge zu ordnen, da diefe Frage im Polen vorerft durd) die An 


erfenmmg des Nurfürften von Sachfen geregelt werden mühe. 

32.8, 22. Mai. Der anferordentliche en; lüche GSefandte 
Fawtener (mit einer Vermittelung des ru 
auf Grund eines status quo moditie für Betersbug beauftragt) 
ift am 19. durch Dita gekommen. jtellt ihm vor, dal cs 
nöthig wäre, aud) über Polen und Nurland zu verhandeln, weil, 
fobald Natharina die Ellbogen werde frei haben, fie ohne Zweifel 
wieder anfangen werde Polen zu quäfen und zu veigen. 9. bemerft 
ferner: bisher fei eine der mächtigiten Triebfedern des in Polen 
hen Tespotiomus der Einfluß des ruffiichen Synode 
auf die nichtunirten griechifchen Priefter in Bolen gemeien; durd) 
den Spmod habe Katharina Ufafe in das Land gefdiet; der 
griechiiche Merus muhte ihm einen weiteren Cid alo dem Nönig 
von Polen leilten. Der Neichstag Habe vor zwei Jahren einige 
Maafregeln dagegen beichloifen, deren Erfolg D. nicht fenne. 
Dan müjie den Neihstag mahnen, aufmerfiam zu fein. 

33. 3, Die Frage der Inforporation tft wieder 
in den Border und. gefreten jeit Korff (Delegivter in Warfdau 
für Pitten), aus Warfcau heinfehrend erzählt Habe, da; Holy 






























Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 4 


ihm erflärte, er habe feinen Auftrag, gegen die Jnforporation zu 
wirfen. Nücmann läßt dem Adel gegenüber verjiehen, dah, wenn 
der Adel auf Nevifion des Vertrages von 1783 in Petersburg 
antragen wollte, man eo gut aufnehmen werde. 

P. S. Was die Dieinung der Nurländer über die polniiche 
KRonjtitution vom 3. Mai angehe, jo fürchte man bier, dal; diejes 
Gebäude nicht eher auf fiheren Boden werde geitellt werden, als 
dis der ruffiich-türfiiche Arieg beendet jei, und dab mur die Inter: 
vention Preußens helfen fönne. Plan wolle an die Begünitigung 
der Hevolution durd) Preußen nicht glauben, halte aud) dafür, 
dah es eine Undanfbarfeit der Polen gegen den Nänig von 
Preußen bedeute und man ihnen in der Neigung für Preußen 
nicht trauen dürfe. Die Partei des Staifers dagegen made in 
Warfchau allerdings Forticritte. Der Herzog habe in diefer An: 
gelegenheit faum eine eigene Dteinung, er fei gewohnt „de voir 
au jour la joumnder, 

R. 7. Juni. Golg üft in der That beauftragt, in Warihau 
gegen die Anforporation zu Äpeden und Dat pofitive Ordre, 
diefelbe zu verhindern. 

348, 2. Juni. Dan will in Nurland nicht an eine 
dauerhafte Proteftion Preußens gegenüber Nurland glauben. Die 
Herzogin hat ihm, 9., furz vor ihrer Abreiie aus Warichan ge: 
ichrieben, daß troß der iönen Veriprediungen des Nönige fie an 
einem Erfolge, wie er ihren Intereffen entiprechen würde, 
verzweifle, weil zu viel Widerfadher gegen fie arbeiteten während 
nur zwei oder drei Helfer ihr zur Ceite ftänden. . habe dem Herzog 
gerathen, zu veranfajfen, dal; die S Nirchfpiele, die dem festen 
eichluh wegen einfeitiger Yimitation des Yandtages nicht zu: 
geftimmt, vereint mit den Wohlgefinnten der andern 16 Stirchipiele 
nad) Warihau einen Proteft gegen das Vorgehen der Majorität 
abjenden mögen. Er möge ferner viele Einzelne durd) Nad) 
giebigfeit in Geldfaden verfößnen. Es fei aber zweifelhaft was 
der Herzog Ahum werde, obwohl er allerdings zugeitimint habe; 
denn er jei „inapplique, versatil et pareimonieux“. 

3, 5. Juni. Seit 8 Tagen wird von den Hufen 
wieder an den Ewfr-Schangen md anderen Nüftungen eifrig 
gearbeitet. 

























450 Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlands. 


36.3, 9. Juni. Die Arage der Anforporation ijt in 
Warichan vorläufig vertagt. Allein die Nitterichaft gewinnt an 
Feld in dem mit dem Herzo ie Herzogin hat 9. ge 
Ä‘hrieben, er möge dem Könige den Züriten Sapieha empfehlen, 
der bereit fei, fic) Prenfen anzufchtiehen, nur aus Giferfucht gegen 
den Vlarichall Botori nicht den eriten Schritt thun wolle. Potori 
fei mit feinen einenen Interefien jo beichäftigt, dah er mehr ver: 
fpreche als er halte; and) habe die Herzogin ihn im Verdadıt, mit 
dem Heren Bulgafow*) im Einverftändniß zu fein. Narl Biron 
bat der in Warichau in dem Progehi zwiichen Herzog und Nitterichaft 
eingejegten Nommilfion eine Neflamation gegen das Teitament 
feines Vaters und die beftätigende Konjtitution “von 1775 eingereicht. 

37.8, 16. Juni. Die Pilten’iche Sache it bis zum 20. 
Auguft 1791 verichoben worden. 

35. 3, 19. Juni. Nacrübten aus Warichau: Zoltyt*) 
habe am 3. Mai darauf angelragen, dal man in Petersburg 
darauf dringe, dal and die weifiihen Soldaten, die in Mitar 
die Wache des Gelandten bildeten, entfernt werden; ferner dal; 
ein Vertreter Poleno nad Mitau gelandt werde, um dort den 
ruffiihen Einfluß zu zeritören. Diele rujliichen Soldaten find ein 
Detachement eines Sarnifonsbataillons und dienen dem rufjiichen 
Minifter dazu, die Jurisdiftion aufrecht zu halten, welche er hier, 
mabhängig von den Yandestribunalen, über die ruffiichen Unter: 
!anen ausübt. Die Nonvention von 1783 will man vernichten. 
39. 3, 23. Juni. Der Nönig von Polen hat beim Herzog 
angefragt über die Zahl der vuiftichen Soldaten in Ditau, über 













































die Konvention von 1783 und die Errichtung der ruifiichen Boit 
in Nurland; jerner ob ein polnifcer Neident in Wiitau dem 





zog genehm wäre. St. habe fidh dem Herzog gegenüber für 
einen polnichen zeitweiligen Nefidenten ausgejprocen. Nücmann 
hat dem Herzog in einer Unterhaltung geiagt, Nufland Fönne 
England feine Feindietigfeit wohl vergeben, nicht aber Preußen. 
(Su dem Neifript auf diefen Bericht wird Diele Anihanung als 
sehr wahricheintich bezeichnet). 











9 Auffiiber 
**) Die Beichlüfe des polaifchen Heisiag“s wurden Nonftitwtionen genannt, 
Süchet von Srafan. 











Zur Gefchichte der Unt jung Nurlanda. 451 


PS. ad 40. 8,30. Juni, Der Yandtag ift am 27. Juni 
net worden und hat die Eröffnung dem ruffiichen Nefidenten, 
wie üblich, dur eine Depntation angezeigt, dem preufsiichen 
Hefidenten jedoch nicht, und zwar weil legterer nicht in gehöriger 
Form bei der Nitterichaft affreditint jei. X. ichreibt dieje feind 
felige Haltung rulfiicher Intrigue zu. Cine Norpphäe der ruljüicen 
Partei, der Tberhauptmann Schöpping, ein Zchwienerfohn des 
Grafen Stadelderg, Habe gelangt, man mühte Tel ins Neuer 
gießen. molin, jagt ©, Tei bloo beim on affreditirt 
geweien, md erft um 1753 habe Kufland angefangen, in den 
Nreditiven au von der Nitterihaft zu ipreden, damals alo über 
die Konvention von 1753 verhandelt wide, durch welche Nurland 
unter die wnijfiiche Gewalt gelangte. Wirbady hat auf den Tiich 
des Landtages den Entiomf zu einer Notififation an die Negierung 
niedergelegt, in der erflärt wind, daf die Nittericoft wegen der 
Nichtbeobachtung der üblichen men von Zeiten , Towie 
auch) von Zeiten der Negierung bei Gelegenheit der der Nitterihaft 
gemachten Anzeige von der Aereditirung beim Derzoge, mit dem 
preußüchen Nefidenten nicht in Verhandlung treten fönne, Die 
Annahme diefes Entwurfs it wog vielen Widerjpruchs durch die 
Heine, aber lärmende ruffiche Partei durchaefegt worden. 
ichlägt vor, jtatt auf jene Beichuldigung mangelhafter Beglaubigung 
zu antworten, zu erflären, dab da der gegenwärtige Yandtag mod) 
nicht im Warfchan anerfannt worden jei, und da derielbe blos 
aus den Teputirten von 20 Nirchipielen bejtele, der König vem 
Verlangen der Notififation nicht entiprechen fönne. Cr fchlügt 
ferner vor, in Warichau die Diagnaten darüber aufzuflären, dal 
während fie ans Sumpatbie für die Furiichen Ariftotaten Diejelben 
ibügen, dieje mit Nuhland fonipiriren. Ganz anders benehme 
fi) der Mreis PBilten, dejien Vertreter jtets die höchjte Danfbarkeit 
gegen Preußen fund thäten. 

10..8,,.30. Juni, 9. entichuldigt N) wegen der von ihm 
an Golg in Petersburg gefandten Vorichläge zu einem „aete 
obligatoire” Nuflande, der die Nabe in Polen fichern Fünnte, 

N, 10. Juli. Der Zwiicbenfall wegen der Afveditirung 
9.5 jei jehr mangenehm, denn die Stände jtügten fi auf 
frühere Prari Zimolin jei am 10. Tegember 1762 bei Herzog 





































































452 Zur Gefcichte der Unterwerfung Nurlande. 


und Ständen ohne allen Zweifel affreditirt worden. Dah D. 
nicht ebenfo affreditivt worden, jei ein Verjehen. Man müfe die 
Sadje in Crdnung bringen ohme den Nönig zu fompromittiren 
und ohne daß das Vertrauen der Stände in die guten Abfichten 
‘Preußens gemindert würden, welde darauf gerichtet feien, Die 
Intorporation Rurlands zu hindern. D. möge fid) darüber äußern, 
ob nicht ein zweites Nreditiv, wie die Stände es wüniden, ihm 
geichiett werden follte. Co handle fid bejonders darum, das 
Vertrauen der Stände zu erhalten.*) 

41.8, 3. Juli. Die Notififation des Landtages ift von 
der Negierung troß den Yemühungen Howen’s nicht an D. mit: 
getheitt worden, jondern es iit beichloifen worden, fie den Ständen 
zurüdzufdiden. Der Landtag ift jocben auf unbejtimmte Zeit 
limitirt worden. 

42. 3, 7. Juli. Seit man erfahren, daß die preußiicen 
Truppen in ihre Garnifonen zurüdtehren, glauben bie vuffüicen 
Generäle in Yivland mehr als je an die Erhaltung des Frieden. 
Die Rüftungen zur See werden läfig betrieben. Der Yandtag 
hat an das Minijterium ein Entfchuldigungsichreiben wegen des 
Verfahrens gegen Yüttel gerichtet. 

R, 16. Juli. Die Konferenzen in Petersburg geben Hoffnung 
auf guten Ausgang. Die Verhandlungen in Siftowa jind auf 
Rath und auf Grund der preuhiihien Vorichläge von Oeiterreid) 
wieder amfgenommen worden, nachdem fie bereits abgebrochen waren. 

13. 8., 10. Juli. An der ruffiihen Grenze Alles till. 
it entzücht über das Schreiben des Nönigs an ihn vom 
Iumi, worin ihm angetragen wurde, den Yojten eines 
Voticaftsrathe im prenküicen Auswärtigen Amt zu übernehmen. 
Er und fein Vater, der Starojt, werden bald in Berlin eintreffen. 
‚14. Juli. Graf Holy hat 9. angezeigt, ein gemiffer 
St. Heniers werde durch Polen reifen, um ein fchrectliches Nomplot 
in Holland und England anzuzetteln. Für die in Livland 
ütchenden 30,000 Wann ruificher Truppen follen Magazine 
errichtet werden. Der Herzog it feit Wochen unthätig im Bade 






































9) Zeit eva 2 Juli zeichnen mr Schulenburg md Alvensleben die 
Reikripte. 


Zur Geihichte der Unterwerfung Nurlande. 453 


zu Libau. Dan jpricht, dai; cin Graf Matufjewitic als polniicer 
Kommilfär nad) Nurland werde geichidt werden. 

45. 8, 17. Juli. An dem fort an der Ewit wird langjam 
fortgebaut; 40 Nanonen find dort angefommen, weitere werden 
erwartet. danft dem Könige, dal; er anf jeine Bitten den 
jungen Korff (Sohn des piltenihen Bevollmächtigten) in Dienjt 
genommen habe. 

46.8, 21. Juli. 9. widerlegt den Vorihlag, ihm ein 
zweites Nreditiv für die Nitterihaft zu ichiten. Die Nitterfcaft 
fei nicht zu folhem Verlangen berechtigt, auch fei cs zweifelhaft, 
ob fie durch Nadhgeben des Nönigs werde gewonnen werden. 
Sewiß jei der furiiche Adel von Eitelfeit beherriht, aber von 
jeher jeien die entfheidenden Triebfedern das perjönliche Autereiie 
und die Furcht geweien. 

17.8, 21. Juli. Nuhland hat Pilten seines Schuges 
gegen eine Jnforporation verfihert. Ans Kiga wird gemeldet, 
dal; die Nailerin freiwillig auf die für Nurland fo drüdende 
Konvention von 1783 verzichte und jogar gejtatte, den furiichen 
Hafen von Schlof zu öffnen.  Wahricheinlich jene Nuhland 
folhe Gerüchte aus, wm die Nurländer vom Abjchluh der in 
Warichan betriebenen Nonvention abzuhalten. 

KR, 1. Anguit. Die Sache wegen des zweiten Nrebitiv's 
jolt aufgeihoben werden bio zur Enticeidung des polnischen 
Neichstages über die Sejegimähigkeit des furiichen Yandtages. 
Der Schritt Ruflands gegenüber Pilten habe wohl mn den 
Zwed, die Annäherung des Herzogtums an Polen zu hindern. 

48. 8, 28. Juli 9. fpricht feine Freude aus über die in 
Ausficht jtehende Pazififation. Die Ntaiferin habe gegen Prenfien 
Bad und Eiferfucht gefaßt, ei eigenfinnig in ihren Neigungen 
wie in ihren Plänen und hätte diefen Sefinnungen bei eriter 
Gelegenheit Ausdruc gegeben. Die Nuffen vollenden langfam 
jenfeits der Düna ihre Vertheidigungswerfe. Lie verbreiten das 
Gerücht, Natharina jei jchr befriedigt von der Haliung, die das 
Verliner Kabinet feit 2 Monaten ihr gegenüber einnehme. 

N, 7. Auguft. Solg hat aus Petersburg nichts über die 
Vefriedigung der Naiferin in Betreff Preuiens gemeldet. Aber 
fie fönme wohl zufrieden fein, denn Preußen habe bei den legten 












































454 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 


Verhandlungen in Petersburg feineswegs die Türken angeftachelt, 
vielmehr verjöhnfiche Nathichläge ertheilt und die ganze Pazififation 
England überfajlen. 

49. B,, 4. Ang. Ale Welt ift eritaunt darüber, dal feit 
5 bis 6 Tagen die mili be Thätigfeit in Yivland und Wei 
rufland verdoppelt werde. Die Schaluppen in Niga find plöglid) 
armirt worden, die dortige Sarnilon foll verftärft, 7 Werit davon 
ein Lager errichtet werden; das weihrufjiiche Korps Toll zufammen- 
gezogen werden. Niemals fein die friegerifchen Vorbereitungen 
jo ernjt gewejen. Man halte fie für gegen die neue polniidhe 
Konjtitution gerichtet, im Einvernehmen mit Preußen und Teiterreid. 
. bat General Hendel in Nönigsberg davon in Nenntnih gelebt. 
er Herzog ift zmwüc md reift auf feinen Gütern umher. Die 
Streitiade in Warfchau fojte ihm viel Geld, fein dortiger Delegirter 
babe jeit 3 Jahren über 90,000 Dufaten verbrandt und ohne 
Erfolg. Er hätte mit einem Drittel diefer Summe im Lande 
eine Partei md Srieden gewinnen fünnen („avides et türbulenis 
aristoerates“). Der Herzog fei einfam in Wäürzan, umgeben von 
zwei ‘Perjonen, die eo in ihrem nterefie finden, ihn von alfer 
Welt fernzuhalten: er ei .inenpable d’appliention et de suiter, 
frage imier um Math und befolge feinen. 

N, 13. Ang. Zeigt den Abihluh der Verhandlungen über 
den ‚rieden in Petersburg an. Danf der Unentjchiedenheit und 
Weichheit Englands habe Natharina von den Türfen Alles erhalten, 
was fie wollte. Die Nüftungen in Yivland und Weihrußland 
Tönmen fc daher nicht mehr auf dieie abgethanen Trientfachen 
begiehen. Der Nönig glaube wicht zu irren, wenn er annehme, 
daf; die Naiierin thätigen Antheil an den franzöfüchen Geichäften 
nehmen wolle, indem fie das von Wien her angebotene Nongert 
acceptire und ihre Mahregeln mit dem an einer Segenrevolution 
verbinde, den die higige Phantafie des Nönigs von Schweden jeit 
einigen Monaten nähre. Es fönne fogar jein, da diefer Vtonard) 
das Nommando über eine fombinirte Zlolte Äbernehme, mit der 
man die bei Niga ih jummelnden Truppen einichüfte. 

50. 8, 7. Aug. Die Rüftmgen in Yivland werden fort 
gelegt. Zoltyfow ift noch wicht angefonmen; man jagt, Zumerom 
werde nad) Riga kommen, wo er den alten Brown eriegen jolle, 














































Zur Sejchichte der Unterwerfung Nurlands. 


Das Gerücht verftärkt fh, da Natharina wieder thätig fi in 
die polnischen Dinge mijchen wolle. 


NR, 16. Aug. Die Aftenjtüde über den Frieden werden 
9. überjandt. Si vous aviez äte muni plutöt de es pieces 
vous vous seriez epargnd sans doute lex inquietudes que 
vous avez eongues des mouvemens guerriers des Russes en 
Livonie. L’Imperatriee aspire personellement au retour de 
la trangquillit6, et elle a meme eu l’honnetere de faire 
annoncer jei par Je comte de Nesselrode l’heureuse issue 
de la nögoeiation. en domnant ä entendre. qu'elle esperait 
de voir renaitre maintenant l’aneienne hammonie entre ma 
eour et la sienne II ne reste done plus le moindre 
te äü la Russie pour en venir ä de nouvelles 
PBotemfin jei freilich nicht zu trauen.... 
8 je me eonfirme toujours dans Vidde. que loin de se 
möler des afaires de Pologne et de songer a y jouer un 
role qui ne saurait lui reussir. U’Imperatriee mörlite plutöt 
un eoup en faveur de la cause Royaliste en Pranee. et 
que eest li le but des nouveaux pröparatifs dont elle 
SDerUpe..... Daher fei der Prinz von Nalfan, der jüngit 
durch Dita nach Berlin reifte, nad Deutichland geicidt worden 
um den Grafen von Artois aufzufuchen. 






































31.8, 11. Nug. 9. drängt den Verzog, gegen die Meinung 
der Neichsboten im polniihen Neichstage, als ob das ganze Yand 
gegen den Herzog wäre, zu wirken durch Neberfendung von Proteiten 
Ginzener und der 7 vom Landtage getrennten Stirchipiele gegen 
das Verfahren des Yandtages. Er räth ferner, die Güter, die 
jegt in bevzoglicher Verwaltung jeien, am Goelleute in Pacht zu 
geben. Der furifche Adel jei zahlreich und im Ganzen genommen 
arm; weder der Zivil: noch der Nriegedienft biete ihm große 
Silfsquellen, wie eine jolhe früher die herzoglichen Güter dar: 
geboten hätten. Areilih gebiete fein Gefeg die Verpachtung der 
Hüter, Fomdern nur die Billigkeit; auch habe der Herzog feinen 
Vortheil von der Verwaltung umd die Yauern leiden davon. Der 
König möge ©. beanftragen, in feinem Namen deswegen Vor- 
jtellungen zu madyen. — In Yivland dauern die Truppenbewegungen 














456 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 


teog des Friedensichlufies fort. Einige Negimenter marfchiren 
aus Livland nad) Weifrußland. 

N, 20. Aug. Billigt das Verhalten 9. gegenüber dem 

Herzog und geftattet die Vorftellungen im Namen des Königs zu 
wiederholen. Man glaube, dab Rußland beabfichtige, eine Esfahre 
von 10 Kriegsihiffen in den Zund zu fdien, mas die Weinumng 
beitätigen würde, da «8 thätigen Antheil an den fanzöflichen 
Dingen nehmen wolle. 
52. 3., 14. Aug. Fmofener it am 12. nad) Breslau zum 
Könige dunchgereift, der dort eintreffen jolle. In Yivland jei es 
ruhiger geworden. &. wiederholt feine frühere Meinmg über die 
Truppenbewegung. 

R, 24. Aug. Die rujfiihen Truppenmärihe in Livland 
jeien nicht anzuiehen als gegen Polen gerichtet, fondern als im 
Zufammenhang mit den Bemühungen des Naijers wegen der 
franzöfiihen Wirren ftehend. Das bezüglice Aundichreiben des 
Soifers fei in Peteroburg angefommen und werde leo aufklären. 
3, IS. Ang. Bon den rufjiihen Parteigängern wird 
das Se ücht verbreitet, es fei ein Einvernehmen über Polen 
ziicen Preußen und Yufland errichtet worden, was man durd) 
die Nüftungen jenfeits der Düna unterftüge. Der Zwed diejes 
Gerüchts jei leicht zu errathen. Ju Vezug auf die Nüftungen 
jetbit jei zu bemerten, daß ein Lager bei Riga fid zulammenziehe, 
dab von dort etliche Negimenter nad Weihrufland gehen und 
andere Negimenter ablöjen, die wiederum ihrerjeits nad) Kiew 
abgehen werden. Im Gubernium Polozt jollen 12,000 Dann 
an der Grenze bleiben, mit denen man anfangen wolle, auf die 
Polen zu wirken. 

548, 21. Aug. Vetätigt die legten Angaben über die 
ruffiichen Verwegungen und das Korps bei Niga unter General 
Numjen. Die Anficht wachle, dah cs gegen Polen gemeint jei, 
und cs fomme hinzu daß, wie man jage, Natharina dem Kınrfüriten 
von Sadyien neue Anerbietungen gemacht habe, um ihn zur An 
nahme des polnischen Thrones zu bewegen. Soltyfow ijt in ige 
angefommen. 

NR, 31. Aug. Weift die Konjefturen 9.'s über die rufiichen 
Nüftungen nochmals zurüd, „Klles n’ont du moins pas encore 























Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande, 457 


perce a Varsovie et Je comte de Goltz les a passes egalement 
sous silence jusqu Cependant comme vous persistez 
me prösenter constamment la meme idee et ä y attacher 












le meme degr& d’importance. je l’ai recommandde aux 
perqui ns de mon ministre a Perersbourg”. 9. joll feine 
Gründe für jene Jdee angeben. 





5.8, 25. Aug. 9. hat über die ruffihen Nüftungen, 
wegen deren er jeit um drei Wochen immer berichten mü 
nad) Petersburg an Graf Golf geihhrieben (am 2. Auguft) aber 
noch feine Antwort erhalten. Jamtener Habe gemeint, die Flotte, die 
im finnifchen Golf freue und in einem Hafen diefer Provinz über“ 


wintern folle, made dem (General von Stedi große Sorge. 
Dan jehe daraus, dal Nußland gegenüber Schweden bei Nraft 


bleiben wolle, wozu fomme, dat; die Brigade finniiher Jäger aus 
Lioland wieder nad) Finnland beordert worden fei. äweifelt 
daran, dah die Naiferin fi mod) in diefem Jahre auf eine jo 
weitgehende Unternehmung, wie die gegen Franfreid) wäre, 
einlafen wolle. Co jeien weder die mötbhigen Linien: nod) 
Transportichiffe vorhanden; die vorhandenen Fahrzeuge fünnen 
außerhalb der Dftfee nicht verwandt werden. Alle Nacrichten 
laufen dahin, dal; jobald Eoltykom die Divijion bei Niga werde 
bejichtigt haben, diefelbe fi zum größten Theil nad Weihrußland 
begeben werde zu dem Ntorps, das bei Polope gebildet werden 
jolle. Alle Welt glaube, dah das Unternehmen gegen Polen 
gerichtet fei. 

», 1. Sept. Danft für Ueberiendung des Eremplares 
vom Frieden von Ziftowa. Cs jei Nadyricht angelangt über den 
Abfchluß der Friedenspräliminarien zwiicen Nufland und der 
Pforte. Der Herzog habe feine Freude geäußert über den Zuwads 
an Ruhm, mit dem fih Ce. Majeftät durd) Rettung der Türen 
bedet habe. Der Herzog hat einen Aufruf erlajlen an die 
Wohlgefinnten, fd vom Landtage Loszuiagen. »D. hält ihn für 
nuglos und erfolglos. Der Herzog hofit, dab der König. jeine 
Sache and auf dem mächiten polnijcen Keichstag durd) Golk 
werde vertreten (ajfen. Dort jei eine Nommilfion gebifdet, welde 


























hwenijcher Gefandier in Perersburg. 





158 Zur Gefehiehte der Unterwerfung Aurlands. 


die Allodialgüter von den Yehngütern trennen jolle, was für die 
Töchter des Herzogs wichtig fei. Henfing arbeite mit verdoppelter 
Kraft gegen diefe Nommifften, mit Unterjtügung Nuflande. 9. 
werde daher nochmals den Herzog wegen der Verpachtungen 
bearbeiten. In Nuhland fcheine man die polnische Grenze nod, 
ftärfer mit Truppen beiegen zu wollen, beionders irregulären. 
37.8, 4. Sept. Der polnifche Neichstag wird nächjtens 
weshalb die Pilteniche Mitterihaft in Sorge vor den 
Anfprüchen des Biihofs von Yivfand*) mit dem Herzog in 
Verhandlung getreten ift, um deiien beiieres Necht auf Kitten 
anerfennen und die Vereinigung mit Nurland herbeiführen zu 
laffen. Der Herzog ift nicht abgeneigt der Vereinigung beider 
Länder, obwohl ihm dadurd feine Einnahmen wohl aber Ausgaben 
von ca. 6000 Thl. erwachien würden. in Projeft zu einer 
Nonftitution für Pilten, das fid auf den Kronenburger Vertrag 
von 15 ® 

















, die Fommilfarialiichen Decifionen von 1617 und 
Anderes übt, joll dem Neihstage vorgelegt werden. 

R, 15. Sept. Spricht fh gegen die Einverleibung von 
Filten in Nurland aus, weil das der Cinverleibung Nurlands in 
ofen präjudiziren würde. Golg werde beim Neichotag für den 
Herzog und gegen die Juforporation wirken. 

58.9, 11. Sept. Der Herzog ift in Sorge wegen feiner 
Seihäfte und bat ©. daher nad) Friedrichstuit eingeladen. Er 
fürchtet befonders Howen. ..Cet homme aussi dangereux 
qu’impudent. et dont les finances sont &ternellement 
derangees. a 086 faire la proposition au Due de Vacheter 
moyenmmant 50.000 deus en angent eomptant. ou en lui 
assurant pour la vie Pusufruit degage de toule reve 
de la terre duenle qu’il tient a P’heure qu’il est en ferme, 
et dont le revenu est de 4 ä 5000 deus: que si Mer. 
ui aecordait Tune ou lautre de alternatives. il 
promettrait d’abandonner le parti de ses antı 3. 
d'embrasser le sien. 8. A. N. it d’abord vefuse ce 
marche la. mais plusieurs de ses serviteurs Jui 
eonseille le eontraire. Elle voulut ir ce que jen 




















ce 























*) Rofjatomsfi. 


Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 459 





penserais. Persunde. Sire. quwä lage de Mer.. vu le peu 
de dexteritö quil met dans le maniement de afaires 
er vu les dispositions peu favorables. ou se trouvent 
probablement la plupart des Nonees a Varsovie: persunde, 
s.je. que sortir d’embarras et finir en paix ses jours 
aprös avoir assurd ü sa famille un sort. serait ce qui 
pourrait maintenant arriver de plus heureux A Mer. 
jai opind de transiger avee le Sr. de Howen de 
maniere A wen pas etre duppe. En eonscquenee nous 
avions ebauche en traite. par lequel le Due promettait au 
Sr. de Howen la jouissance ä vie des ferres en question 
a que celui-ei aurait moyennd un arrangement amiahle 
le Due er Vordre equestre“,  Diefer Vertrag jollte 
geitern unterzeichnet werden, als am Vorabend der Herr v. Yuttlar, 
ein Vertrauenomann des Herzogs, obwohl er mehr als einmal 
die Geichäfte verdorben hat, in eine Nneipe geht, in der er die 
Hänpter der Oppofition verfammelt weih,, und ihnen den Vertrag 
mittheilt. „Depuis ce moment ’Oberburggrave. furieux de 
eette trahison. jette feu et Alamme. jure une inimitie 
irreeon le. et pour rerommencer les hostilites il va 
protester anjourdhui contre la vommission  destinde A 
separer le fief de Talleu. Iaquelle a porte serment hier: 
de sorte que les affaires seront desormais plus embrouillees 
et plus envenimees que jamais. Selon tonte apparence le 
Sr. de Buttlar, personnage aussi presompfueux que bornd. 
a agi a Pinsen du Due. eroyant faire un eonp de parti en 
devoilant Ta turpitude de Howen. N 
Pintimitö qui rögne entre le Prinee et Tui. on soupgonne 
le premier d’avoir eonsenti A la trahison. et ses ennemis 
en fireront des arguments pour renforeer leur acensalon 
de duplieite, qwils Iui prodiguent sans cola 

PS. 9. giebt gemäfi dem Auftrage des Nönigo Ansfünfte 
über den ruffiichen Hof, die er meilt von Jawfener bei deilen 
Durcreile durd Mitau erhalten hat: Die Naiferin halte hartnädia 
an ihren Anfhawungen feit, feit fie die Yeitung der äuferen 
Politit übernommen habe. Zie höre weniger als je auf die 
Meinungen der Minfter und gebrauche diefe nur ale Werkzeuge 









































































vomme on sit 














460 Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlands. 


ihres Willens. Yotemfin habe noch einen Neil von Einftuh, 
aber die Natferin Habe doch feine Kathichläge und Pläne ab 
gewiefen und jogar, nm feine Anmahung zu brechen, fid) des 
Schredwittele der Orlow bedient. Daher habe fie die Tochter 
des Grafen Aeris Orlom zur Hofdame gemacht, damit der Vater 
fi) in Petersburg niederlafie, obwohl dieie Tochter erit 6 Jahre 
alt jei. Orlom habe fih aber geweigert bei Hofe zu bleiben, 
woraus anzunehmen jei, daß die Ungnade Potemfino nicht nahe 
bevorftche. ftermann mittelmäßig und .louard“. jei alt und 
fchwach geworden, Vejborodfo nur bedacht, fi) in der Etellung zu 
erhalten, habgierig, ohne Eyjtem, ohne Willen, nur Diener der 
Kaiferin. Daher fünne fein auswärtiger Gelandter Einfluh auf 
die Anfhauungen der Naiferin erlangen, es fei denn dah er 
unmittelbar auf fie jeloft wirfe, wie früher Harris, Gobenzt, 
Segür gelhan. Die Naiferin fei geneigt, im nächften Frühling 
den Naifer bei der Wiederheritellung der Nechte Kudwig’o NV. 
zu unterjtügen. Das Motiv dabei Tei, da fie dann hoffe, das 
Syjtem zwiichen Ruhlans, Teiterreid und Frantreid aufzurichten, 
weldjes 1787 auf der Tagesordnung war. Das Iceinen fchwante 
Pläne zu fein, aber man mühe im Auge behalten die Liebhaberei 
Natharina’s für weite Mäne und Unternehmungen, ihren Lieblings: 
plan einer Union aller groien Mächte, ihre Art, alte Pläne 
gelegentlich wieder aufzunehmen. Gegen Polen fürchte man vor: 
Uinfig feine ernftlichen Unternehmungen von Nuhland ber, wohl 
aber dal; im GScheimen Intriguen und Bejtechungen werden in 
Gang gebracht werden, daneben den Druut bedeutender Truppen: 
majjen an der Grenze. it zwei ‚Jahren herriche zwiichen 
dem Großfürften und der Groffürjtin dieies unfelige Zermürfniß; 
(mesintelligenee). welches zunehme. Die Uriachen fein nod) 
immer Frau von Bendendorf und Fränlein Nelidon. Das erite 
Unrecht fei auf Seite der Gemahlin geweien; dieje jei launiid, 
brüsk: der Großfürit finfe in der Meinung des Publiiums. Eine 
Venge Heichichten laufen um, welche gerechte Bedenten einflöhen 
gegen das gejunde Urtheil und den Charakter des Groffürjten. 
Er folle im Geheimen wohl der jeigen Politif abgeneigt und 
Preußen zugeneigt fein, aber Aleo in Allem dürfe man feine 
ernjte Hoffnung auf eine Wendung Nıflands zu Gunften Preufens 


























Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands. 461 


und gegen Dejterreich hegen. Die Naiferin fei von viel fräftigerer 
Gejundheit als der Gr ft, die Großfürftin neige zu Defterreic) 
und auch die Jdeen, welde man dem Grohfürften Alerander 
unterichhiebe, iprächen dagegen. 








N. . Sept. 9. wird aufgetragen, den Herzog weiter zu 
mterftüßen. 
59.8, 15. Sept. 9. weilt wieder auf die verbreitete 





Vieinung Hin, dah die Dislofation der wuffiden Truppen bei 
Niga nad) Weigrufland hin darauf abziele, tätig in die polniichen 
Anfegenheiten einzugreifen. X. meint, die Aftion jtehe nicht 
ummittelbar bevor, aber eine >4jährige Erfahrung habe ihm 
gelehrt, daf Katharina niemals die einmal gefahten Pläne ganz 
aufgebe, fondern nur ihre Gelegenheit abwarte; und daher glaube 
er, dab die Anhäufung von Truppen an der polnichen Grenze 
die Thätigfeit Yulgafows wmterftügen jolle. Der rufftiche Hof 
erwarte viel von dem alten Einfluß der Naiferin auf den Nönig 
von Polen, von der moraliichen Schwäche deielben und den 
geheimen Uimntrieben feiner Nufland  ergebenen Umgebung. 
Nüdmann erzähle, YBnlgatow fei beauftragt die Gegner des 
Herzogs in Waricau lebhaft zu unterftügen, welde um fo 
mutbiger auftreten. Howen hat eine Erklärung eingereicht in der 
Sache des Alod’s. Die Enthültung des Verluchs eines Ablommens 
mit dem Derzog habe den Ginfluß; Yowens nur gejtärtt, weil 
man ihn men mit dem Herzog für verfeindet halte. Der Herzog 
Dat auf 9.6 Vorftellungen diefem veriproden, in Zufunft vor: 
fühtiger zu fein mit feinen Vertranten, den Buttlar'o. 

N, 25. Sept. Cs wird zugegeben, dah Katharina wahr: 
icheinfich juchen werde, den früheren Einfluß in Polen wieder 
berzuftelfen; aber es fei nicht anzunehmen, daß fie Gewalt an 
wenden werde, weil jolde Mittel in Polen jelbjt und von den 
fremden Mächten her Wiverfiand finden würden. In Warjchan 
werde Golg die Intereffen des Herzogs gegen Yulgakow verr 
Mpeibigen. 
Be, pt. In Livland fei es nun ftille geworden 
von Truppenmärfchen; nur ein ftarfer Nordon von Nojafen fei an 
der Grenze aufgeitellt, theils gegen die vielen Ueberläufer ans 























462 Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlands. 


dem livländiichen Banernjtande, theils gegen den Handel, welcher 
durch Ufas von 1759 verboten jei außer über ige. 

N, 10. Of. Goly in Warjchau hat den Auftrag erhalten, 
gegen die Jnforporation von Pilten nötbigenfalle eine Note einzu 
reichen, in der gegen folche Verlegung der Verträge, deren Garant 
der Nönig von Preußen durch den Vertrag von Dliva jei, 
Einipruc) erhoben werde. D. joll in Nurland und Pilten dieies 
Auterefje Deo Nönige an ihren Angelegenheiten geltend machen. 

u Sept. 9. regt wieder die Bejorgnih an, dal 
die Anforporation Piltens im Neichstage dod noch verhandelt 
werden fünnte. Neben Anderem jei dann au die Konkurrenz 
für Windan und Yivland zu fürdten, wenn die Polen in Saden 
münde einen Hafen anfegten. Gin Yeutenant le Bauld de Nans 
habe Äh mit der Windau und Zadenmünde befannt gemacht; 
fbarımadhung beider jei nicht Ichwer. 

8, 2. Of. Die Mehrzahl der ruifiihen Truppen in 
Niga Hat eine andere als die bisherige Marichrichtung eingeichlagen, 
und zwar nad Eitland bin. Howen in Weiten, Henfing in 
Warihan arbeiten gegen den Herzog im der Zade der Ab 
grenzung des Alod’s. Inpwiichen haben die lieder der von 
Warjchau her ernannten Nommijlion, Howen ausgenommen, den 
erbit 
begimmen. Der Herzog it Teit 3 Wochen auf der Jagd, man 
weiß nicht, wo er fich befindet, 





























Eid abgelegt, und die Arbeiten werden wohl mod) im S 








"Rortjch 


folgt. 
































Ueber grauenlitteratur, 


Zwei Vorträge von f Sintenis. 


1. Warum dichten Frauen? 


Eine fonderbare Frage it eo, die ich beute zu beantworten 
unternehme: Warum dichten Frauen? Was zum Dichten 
etwa erforderlich it, willen wir: Geift und Phantalie, Empfindung 
für Wahrheit und Schönheit, Menjchenfenntniß und Yebens: 
erfahrung, endlid) ein entwidelteo Sprachgefühl. Das find ic) 
hohe Aniprücde, die jelten ein Sterbliher alle zugleich erfüllen 
ann aber warum fol diefer Eine nicht auch einmal eine 
Frau fein? 

Wideriprehen jene Anforderungen der weiblichen Natur: 
anlage? Sind Geilt und Phantafie, Empfindung für alles Wahre 
und Schöne, Venichen- md Lebensfenntniß ausichlichlich oder 
and) nur vorherrichend Gigenthum der Männerwelt? Gewiß nicht! 

In vielen Dingen it ja freilich die Natım der Fran von 
der des Mannes jo verichieden, dab an eine vollfommene Gleich 
ftellung der Gejchlechter niemals zu denfen viele der darauf 
gerichteten Beitrebungen gehen weit über ein mögliches Ziel 
binans. Ja wir müflen Niehl*) Nect geben, der behauptet, mır 
auf der niedrigiten ulturftufe fei der äußere und innere Unterfchied 
des Gefchlechtes einigermahen ausgenlichen; je Höher die Bildung 
fteige, deito mehr vergröfere fich derfelbe. 

Was würde es nügen, wenn fämmtliche Frauen Europas 
beichliehen wollten, Yah zu fingen oder im Va zu ipreden ? 























) Nicht, Die Familie. 1861. p. 32. 


464 Ueber Frauenlitteratur. 


Das mühlen fie jchon alten Negerinnen oder ndianerweibern 
überlajjen. 

Ebenfo wenig wirden unfere Frauen den Ztrapazen des 
Matrofendienftes gewachien jein oder ein Leiftungsfähiges Cffiziers: 
Corps zur ftellen vermögen: aud werden verftändige Eltern fd) 
hüten, ihre Tochter zu fo gewagten Experimenten zu erziehen. 

Da die Frauen es aljo den Männern doch nicht gleichthun 
fönnen in Dingen, zu welchen ihre Conjtitution ihnen Mittel und 
Kräfte verjagt hat, werden fie beiier auf Tolche Gebiete hin- 
gewiejen, wo fie den Männern wahricheinlih oder fiher im 
Ganzen ebenbürtig find, jo Lange fie fh in den Grenzen der 
Reproduction halten. 

Indejien find die oben genannten Nequifiten der Dichter 
anlage Feeliiche und giftige Potenzen, die cbenfowohl im weiblichen 
Sıganiomus ich entwiceln, wie fie von jeher Männern zu Gebote 
geitanden haben. 

Was hat nun die Srauenmelt alfer früheren Jahrhunderte, 
ja Jahrtaufende mit verhältniimähig wenig Ausnahmen veranlaht, 
dieien Vefi zu verleugnen oder wenigitens ihr Licht unter den 
Scheffel zu ftellen? Das haben fie doch bis in's vorige Jahrhundert 
Dinein meift gethan, wie id Ihnen alobald durd) Zahlen zu 
beweifen vermag. 

Vergegenwärtigen Sie ih nur folgende Thatiadhen: ab- 
geichen von vereingelten Dichterinnen deo Altertfums und des 
Mittelalters begegnen wir crit in der Neformationogeit cetmas 
Hänfiger Frauen, die mit der Kader umzugehen wien. Aber biS 
weit in’o vorige Jahrhundert Find auch das noch recht feltene 
Ericheinungen. 

Id beichränfe mich heute auf Dentichland, weldes in 
diefer Beziehung den meiften Yändern Europas vorangegangen it 
und dejen Material mir in velativer Volljtändigfeit vorliegt. 

Bisher üt, Foweit ich jehen Fann, noch fein Verfuch gemacht 
worden, die rauendichtung der Welt oder and) nur Deutichlands 
in einer Ueberfiht zu vereinigen. So war id) genötbigt mir das 
gelammte itterarhiftoriiche Material zuianmenzufucen und zu 
arıppiren. Möge mich das entichuldigen, wenn id) weit entfernt 
bin von einer annähernd volländigen Sammlung und zwed: 
































Ueber Frauenlitteratur. 465 


mäßigen Anordnung des weitläufigen Stoffes, der von Tag zu 
Tage umfangreicher anmwädit. 

Von Yuther's Tagen bio 1700 habe id) nur etwa 40 deutiche 
Dichterinnen ermitteln Fönnen; von 1701 — 1800 fallen die 
Geburtsjahre von 220 Schrijtitellerinnen — ic} redine nad dem 
Geburtsjahr ale dem einzigen ftabilen Moment; freilich zähle ich 
daher jehr viele Frauen, die in der That erit im 19. Jahrhundert 
zur Geltung fommen, noch zum vorigen Jahrhundert —; von 
1801-1874 habe ich bis jeßt 1517 Namen verzeichnet, zu denen 
fich aber bei fortgeießter Aufmerfamfeit jteto neue gefellen. 

Die beiden erjten Jahrhunderte der neueren Zeit geben aljo 
im Verhältnii zum vorigen, dritten die Proportionoziffern 1 
das achtzehnte Jahrhundert verhält fid zum 19. wie 1:60; das 
Verhältnih; aller drei Abichnitte ift demnach) 1 37,05. Aber 
uoch it unfer Jahrhundert nicht zu Ende; das lehtberechnete Nahr 
ift 1874 — die jüngiten namhaften Dichterinnen find erit 20 Jahre 
alt — und eo fehlen ohne Zweifel ned) jehr viele Frauennamen, 
welche der öffentlichen Erwähnung harren; endlich ift es sehr 
wahricheinlic, dai; die legten 26 Jahre des Jahrhunderts ebenjoviel 
oder nod) mehr Schriftitellerinnen hervorbringen, alo die bieherigen 
74 gethan haben, nur dah dieje meit erit im 20. Jahrhundert 
eine Wolle ipielen werden. 

Gern würde ich Ihnen auch das augenfällige Anwachien 
der Zahlen nah Jahrzehnten veranicaulichen, aber dazu fehlen 
mir feider allzuviele Daten. Denn von jenen 1517 Tamen, 
gröhtentheils mod) unferen Zeitgenofiinnen Haben nur ela 1050 
ihr Geburtsjahr mitgerheilt; ich ann das nicht für einen Zufall 
halten; Viele mögen jelbjt dem umermüdlichen Nürjdner un: 
zugänglich gewejen jein; Andere dagegen haben co wohl nicht 
wijjen lafien wollen, wie viel Jahre fie zählen. Zn einzelnen 
Fällen wird uns jonderbarer Weile nur der Geburtstag, nicht 
das Jahr verrathen. 

Ih hätte diefe Heine Schwäche nicht berührt, wenn fie 
nicht gar zu charafteriftiich wäre. Nur von ganz wenigen Schrift: 
ftelfern der neueren Zeit fehlt das Geburtsjahr in den Verzeich: 
niffen, offenbar weil eo fi) bis dahin wirklich nicht hat feititellen 
laffen — von den Damen aber beträgt der Ausfall fait 30%. 


















166 Weber Franentitteratur. 


Aljo vor 1701 nur ca. 40; dann bis 1800 bereits 220; 
feit 1801 endlich schon 1517! Diele Ziffern zwingen ja zu der 
Frage, woher dieie gewaltige Zunahme komme. Co handelt fid) 
hier nicht um etwas jo Neueo, das man et neuerdings entdedit 
oder erfunden hätte, von dem frühere Zeiten fih gar feine Vor- 
jtellung gemacht hätten. Warum haben die Schweitern der Sappbo, 
der Hroswith, der Vittorin Golonna nicht in ebenjo großer Anzahl 
den Mufen gedient” Sollen wir nochmale die Anficht Nichts‘) 
theilen: „Das maiienhafte Auftreten weiblicher Berühmtheiten und 
ihr Hervordrängen in die Teffentlichfeit fei allemal das Wahr: 
zeichen einer franfhaften Nervenverftimmung des Zeitalters; mo 
dagegen das öffentliche Yeben einen Fräftigen Aufihwung nehme, 
da fei allegeit die rau in den Frieden des Haufe zurüdgetreten?” 

Allerdings wuchern in den lesten Nahrzehnten immer üppiger 
die Symptome franfhafter Nervenerregung, mit der aud) der 
männliche Organismus mur zu häufig behaftet it. Dagegen haben 
in den Kriegsjahren von 1864 -IS71 die rauen in Ichänften 
MWetteifer ihren weiblichen Yeruf erfüllt, durch Zürjorge und 
Kilege zu helfen, wo fie nur fonnten; und erit alo diefe Epoche 
der nationalen Anjpannung vorüber war, erflang aus Frauennumd 
die Mahnung: „Die Waffen nieder!” 

Diefe und mande ähnliche Vetradtungen jheinen alle 
Niehlo Anficht gewifiermaßen zu beitätigen. 

Doc) Halte ich's nicht für zeitgemäß, die Junge: Warum 
dichten Frauen? mit abjtraften Erörterungen zu erledigen. Wollen 
wir vielmehr, joweit die vorhandenen Auofünfte veidhen,**) den 
individuellen Gründen nachipüren, welche ichen im vorigen Jahr 
hundert verhältmiimähig viele Frauen veranlaft haben, nad) 
sehriftitelleriichen Erfolgen zu ftreben. Wir werden alsbald die 
Erfahrung machen, daf; bereits damals die meiften Äußeren und 
inneren Motive vorhanden waren und wirkten, welde im 19. 
Jahrhundert nur an Intenfität gewonnen haben. 

















*) ich, Die Zamilie IS6L. p- HT u. ih. 

) Bei Weite die meiften diefer Austünite verdanfe ih: 1. N. Gocdcde, 
Grundeii der Geichichte der deutihen Dichtung I. II. 
Yeriton der deuticen Dichter ze. Yeivyig. Heclam. 3 8 Nürichner, Dentider 
Yilteraturstaleuder 1803, 1814. 








Ueber ranenfitteratur. 107 


Diejes rapide Wacothuum ter Frauenlitteratur wird fc 
dann aus der jeit 100 Jahren jo weientlich veränderten Lebens 
anjchaunng und Lebenslage, Towie aus dem aeiteigerten geiitigen 
Verfehr erflären lafen. 

Das vorige Jahrhundert hat alio die Yabn gebrochen, auf 
welcher num unter günitigeren Bedingungen die individuelle Negung 
zu einer generellen Strömung geworden fit. 

Zunädit find eo die natürlichiten Verhältniiie, die Bande 
der Ehe und der Familie, welde amregend auf die Frauenwelt 
gewirkt und fie ermuthigt haben, den litterariichen Antereffen der 
Männer zu folgen. 

Denn das mag gleich bier Fonftatirt werden: an der Epige 
einer nenen Nichtung, einer auferordentlihen Bewegung auf dem 
Gebiete der Yitteratur hat bisher noch feine rau geitanden; 
allentgalben find fie (ediglid) der Jnitiative der Männer gefolgt. 

Topiiche Yeiipiele von diefer Anregung bietet das vorige 
Jahrhundert in jeder Beziehung dar. 

Der erfic namhafte dentiche Schriftiteller, der ganz den 
18. Jahrhundert angehört, it Gottiched. Mag man über jeinen 
abjoluten Werth nad) jo abiprechend urtheilen, daß er für das 
zweite Liertel des vorigen Jahrhunderte arofe Bedeutung gehabt 
hat, muß Jeder anerfennen. 

An feiner Seite aber jteht, vedlich bemüht, ihn in feinen 
poetischen Beitrebungen zu unterftügen, feine Gattin Yncie Adels 
aunde Vietorie, geb. Culmuo. Sie hatte Jahre lang mit ihm in 
poetiihem Briefwechiel geflanden, dan munde fie feine Hanefran 
und Gehülfin und teilte au mit ihm den furgen Nubm, den 
der Veipzgiger Dietator genoh. 

Hottjhed überihägte den Werth feiner Fran feineowens; 
an Gefchmad und dramatifcher Fertigfeit war fie ihm vielleicht 
jogar überlegen. Webrigens hatten fchen die Dichtergeiellichaiten 
des 17. Jahrhunderts Frauen als Mitglieder aufgenommen, doch 
waren dies immer nur Ausnahmefälle, die man um ihrer Seltenheit 
willen ftets beionders verherrlichte. Sottiched jelbit fich, alo er 
1734 die Chriftine Marianne von Fiegler zur Dichterin Trönte, 
eine gange Sammlung von Gedichten und Schriften auf die 
feierfihje Gelegenheit ericheinen. 


























408 Weber Franenlitteratur. 


Von num an begegnen wir in ber Dichterwelt des vorigen 
Iahrdunderts nod) mandem Ehepaare. 

Ih jehe dabei ganz ab von jenen Wittwen, welche dem 
Andenken ihrer veritorbenen Gatten biographiiche Monumente 
errichtet haben wie Caroline Herder, Ernejtine Voß, Therefe 
Forfter-Quber, in neuerer Zeit Emilie Uhland — ich übergehe 
Elife Hahn, die noch Jahrzehnte lang nad ihrer Scheidung von 
Vürger unter feinem Namen als Jmprovifatorin und Deelamatorin 
in der Welt umberzog 

Vielmehr verweile id auf die romantiiche Schule, deren 
Vertreter fajt ohne Ausnahme mit Dichterinnen verheirathet waren, 
die Schlegel, Vernhardi, Fongue, Arnim, Brentano. Und zwar 
waren diefe Frauen meijt erit durch Scheidung oder Todesfall für 
diefe neue Ehe frei geworben. 

Weit zahlreicher werden num die Dichtereben in den drei 
Generationen unfereo Jahrhunderts; id) fünnte Ahnen 71 Namen 
folcher Kaare aufzählen. 

Ohne Zweifel hat fih häufig die geiftige Anregung und 
Nichtung vom Manne der Fran mitgetbeilt; indeilen it uns aud) 
der umgefehrte Hergang bezeugt: da von Düringofeld hat ihren 
Gatten, Otto von Meinberg, bewogen Scriftiteller zu werden 
und das Zulammenwirfen hat ihm feine Gattin jo unentbehrlich 
gemacht, da; er der Weritorbenen am Tage nad) ihrem Tode 
freiwillig folgte. 

Nur jehr felten haben foldde Ehen wie die Bürgers und 
Aug. W. Schlegels -— wieder getrennt werden müjjen; von jenen 
71 Paaren der Gegenwart find faum drei Veiipiele nambaft zu 
machen, darunter Sader-Viajoch. Tiffenbar liegt in der poetiichen 
Uebereinfimmung und der litterariichen Senofienichaft eine be 
deutende Gewähr für ein harmonifches Zujammenleben. 

Indeifen dürften in der Mehrzahl der Fälle die Gatten 
eher durd) die jÄhon vorhandene gleiche Neigung und Bejtrebung 
zufammengeführt worden fein; Luife Meühlbadı, oder, wie fie 
wirflih hieß, Slara Deüller ward durch ihre belletriftiichen 
Verjuce, die im „Sreihajen“ erihienen, mit deijen Nedakteur 
Th. Mundt befannt; bald darauf wählte diefer die Viitarbeiterin 
zu feiner Gattin, 

















Ueber Frauenlitteratur. 169 


Aber nicht nur Dichterin und Dichter leben gern verbunden; 
zuweilen ijt der Gatte Diann der Wijfenihaft, die Gattin geht 
ihre eigenen belletrijtiihen Wege. 

Früheren Jahrzehnten Dorpato erinnerlich it Minna Mädter, 
welche ihrem berühmten Gatten hierher gefolgt war und mit ihm 
25 Jahre lang droben im Wohngebäude der Sternwarte gelebt 
und gedichtet hat. Die Gattin des weltbefannten Anatomen 
Hort ift ebenfalls mit mehreren Händen „Gedichte“ hervorgetreten. 

Oder der Mann it aud wohl Nedaktenr eines Wlatteo, 
einer Zeitfhrift und die Frau liefert dahinein Gedichte oder Er- 
zählungen. Sie werden fd) vielleicht ebenjo wie id gewundert 
haben über die Nachjicht der Daheimredaktion, welde alle die 
beicheidenen Verje aufnimmt, unter denen der Nanıe „Frida 
Schyanz“ jteht; preiit doch fogar Herr von Ecjepansfi, der jonit 
mit aller Mittelmäßigfeit auf geipanntem Fuße ftebt, ihre eben 
erichienenen Spruchjammlungen; ich habe aufgehört mid über 
diefes Alles zu wundern, jeit ic gefunden habe, dah Herr Zonaur 

Frida Scanz ift der Mädchenname von Frau Sonaur 
zur Nedaftion des Daheim gehört. 

Mo ein Nennzeihen des zu Ende gebenden JahıYunderts 
mui ich endlich noch hervorheben, dal; auch wohl jede Chehälfte 
ihre eigene Zeitichrift vedigiet, wie Herr Otto Tippel, der die 
„Tägliche Nundichau für Stadt und Land“ und Frau Hedwig 
Tippel, welche die „Schlefüche Dausfrauenzeitung“ berausgiebt; 
ein fchönes Bild jener Arbeitsfameradihaft, welde uns die 
jogialiftiiche Zufunft verpeift. 

Jedenfalls Hat fi) die Gattin jeit Votticeds Zeiten nad) 
und nad) das gleiche Mecht an litterariicher Bethätigung erworben, 
wie ihr Mann; ja, was Goethe jeiner Schwiegertochter, der 
Herausgeberin des „Chaos“, als einen Zeitvertreib, als eine Art 
Spieljeng gönnte, das jhäpt heutzutage mander Mann bereits 
als den Lebensberuf und als Erwerbsquelle feiner Fran. Dieie 
Grrungenidhaft wäre nicht möglich geworden, wenn nicht die 
Thatfache evident vor Augen tände, dal; die Befühigung mander 
gebildeten Zrau zu folher Beihäftigung ausreiche. 

Von vielen Tihterinnen haben wir die Meberzeugung ge: 
wonnen, -— die bezüglidien Nacpricpten jtammen ja augenfcheintich 





N 











470 Ueber Frauenlitteratur. 


von ihnen jelbft oder von ihren nächiten Angehörigen — bafı fie 
in den glücklichften Familienverhältniijen (cben oder gelebt haben, 
und wir glauben zu bemerken, dafi ein daher entiprungenes Wohl- 
gefühl fi in der Stimmung ihrer Schriften wiberipiegelt. Ja 
ande von ihnen mag gerade im häuslichen Glüc den Quell 
ihrer Dichtung entdedt haben. Es liegt nahe, das zu beobachten 
am den Dichtungen von Dttifie Wildermuth, Johanna Spnri, 
Marie Ebner von Eichenbadh, Helene Stöfl und Anderen, deren 
aanze Lebenslage und ausdrüdlich als eine böchit erfreutiche 
geichildert wird. 

Andererfeits ift es cbenio begreiflicd, dah ein dichteriiches 
Frauengemüth es wmerträgfich finden mul, fd an einen ober: 
flächfichen, ungebildeten, vielleicht gar vohen oder ausfdhmeifenden 
Dann gefeifelt zu Tchen. 

Auch hierfür bietet fchen das Schidjal der Sängerin 
Friedrichs d. Gr., der deutichen Suppho, Anna Luife Kari ein 
trübjeliges: Veihpiel; zehn Jabre lang bat fie fih von ihrem erjten 
Manne mihhandeln laffen müffen; die Erfahrungen mit dem 
zweiten waren nicht erfreuliche; von Beiden mußte fie geichieden 
werden. Unfer Jahrhundert verzeichnet mn eine ganze Neihe 
von Dichterinnen, welche aus dem bitteren Melde ehelichen Mih- 
geichietes getrunfen haben, bis fie ihn von fd) fliehen. Ich habe 
fein Urtheil darüber, ob fi in den Dichtungen fo hart Betroffener 
eine Nachwirkung davon Häufig findet. Cs wäre aber fein 
Wunder, wenn die poetiiche Stimmung durch derartige Erfah: 
rungen getrübt oder gar zur Vitterfeit vergällt, zur Lebens 
werachtung überipannt wäre. 

Bisher habe ich die Anregung in Betracht gezogen, welche 
die Sattin in der Ehe erfährt. Weit natürlicher müllen wir es 
finden, dah; poetiiche Begabung und Neigung von den Eltern auf 
die Ninder fih vererbt; zumächlt vom Later auf die Tochter. 

iejes Erbe wird vermehrt durch forgfättige Erziehung, gründlichen 
Unterricht md geiftige Anregung jeder Art. 

Gehen wir and) diesmal in’s vorige Jahrhundert zurüd, fo 
präfentiren id gleih die Töchter von 4 Göttinger Brofefforen, 
die fich durd) Bildung, ja did; Gelchriamteit hervorgethan und 
meiit au als Dicpterinnen verfucht Haben. 
































Ueber Feaenlitteratur. ar 





gen war bald nad) jeiner Stiftung 1737 eine der 
erjten Univerfitäten Deutichlands geworden; co vereinigte willen“ 
ihaftliche Größen fait jeder Nichtung. Neben Haller, dem Be- 
gründer der Phnfiologie, dem Dichter der „Alpen“, Iehrten bajelbit 
der Geograph und Bijtorifer Gatterer, der fritiiche Ereget 
Vicdjaelis, der Philotog Heyne und der Statiftifer und Publizit 
Schlöger und diefe Männer bildeten aud) in ihren Töchtern den 
Sinn für Wiffenihaft und Kunfı. Mhilippine Gatterer, Garoline 
Michaelis, Ihereie Heyne find nad) ihrer Xerheirathung mit 
Ipriichen und anderen Dichtungen hervorgetreten; Dorothea Schlöger 
dagegen hat,*) „als fie die Haube des Ehejtandes aufiehte, den 
Phifofophiichen Doftordut ihrer Mädchenzeit bei Zeite gelegt und 
fortan nun der Familie gelebt”, 

‚Hat auf diefe Frauen die friiche Atmofphäre eines afademifchen 
Vildungsfreifes unverkennbar eingewirkt, dem fie in ihren Jugend» 
jahren angehörten, fo hat Vtofes Viendelsfohns Tochter Dorothea 
lediglich dem ımermüblichen Streben ihres Waters, jowie der 
durch ihn geichaffenen Aufklärung der jüdifhen Gefellichaft Berlins 
ihre geiftige Bedentung zu verdanfen. Freilich Ichloh fi dann 
die Tochter des edlen Deiften leidenfchaftlich an den romantifhen 
Propheten Friedrich Schlegel an, trat aud mit ihm zum Na: 
tolizismuo über, doch verfeugnete fie auch in jpäteren Jahren 
nicht vollftändig die humane Tendenz, welde fie vom Lerfafler 
de „Phädon“ und vom Original deo „Nathan“ gelernt Hatte. 

War im vorigen Jahrhundert eine über den Elementar- 
unterricht hinausgehende Wlädchenbildung nach ein Kurusartifel, 
den fich allenfalls die höheren Stände erlauben durften, jo ift im 
unfeigen der Mädchenunterricht derartig gefleigert, dafı man fchon 
jeit Jahrzehnten vor dem Uebermaße warnt. 

Hauptjächlich ift bie Vertiefung und Verallgemeinerung des 
Unterrichts in den Töchterfchufen dem bürgerlichen Mittelftande 
zu Gute gefommen, der im vorigen Jahrhundert böchitens die 
Zöhne einer gründlichen Bildung theilhaftig werden lieh. 

Steht daher die weibliche Bildung des 19. Jahrhunderts 
überhaupt auf einem weit höheren Nivenu als früher, jo find 


























*) Niehl, Die Familie 1861. p. 78. 


472 Ueber Franenlitteratur. 


natürlich auch diejenigen Fälle viel Häufiger, wo Töchter ihren 
Vätern unmittelbare Anregung zur Vetheiligung an der Yitteratur 
verdanfen. Das Verjtändnih für den unihägbaren Werth geiftigen 
Lebens it dem Ninde jchen injtinftiv offenbart; cs äufert fc) 
dann naturgemäß in Bewunderung md Nacheiferung. 

Es ift ganz unmöglich alle die Namen derer aufzuzählen, 
die fh jelbft zu einer jolden Anregung befannt haben. Einige 
der mäcjtliegenden Beiipiele mögen genügen: Nujtinus und Vlarie 
Kerner, Franz und Luije von Nobell, Georg und Kudovica Heieficl, 
Alerander md Dora Dunder, Hermann und Goswina dv. Verlepieh; 
aud; Oskar von Nedwig hat in einer Tochter feine zarte Mufe 
verfüngt gefehen. 

Aber auch die Mutter überliefert zuweilen der Tochter 
poetiüche Anlage und Neigung; und zwar laifen fid chen im 
vorigen Jahrhundert zuweilen drei Generationen verfolgen, was 
dann in unjerem noch viel häufiger vorfommt und vorausfichtlic, 
vorfonmen wird. 

Anna Luife Narich hat nicht nur jelbit veichliche Yob- 
preifungen erfahren, jondern auch die Genugthuung gehabt, in 
ihrer Tochter, der YBaronin Nlende ihre eigene poctiiche Ver: 
gangenheit wieberbelebt zu jehen; ihre Entelin endlid, Helmina 
von Gheyp, bildet mit ihrer vomantiichen Tendenz den Zuperlativ 
diefer Neihenfolge. Leider haben auch Tochter und Enfelin das 
eheliche Mihgeidhiet der Mutter als Erbtheil überfommen. 

Das empfindiame Talent der Sophie von La Node ent: 
wictelte fih in ihrer Enfelin Vettina Brentano zu der Luftigen 
Ertaje jprühender Romantik. 

Diefe weiblihe Tendenz hat num unier Jahrhundert ganz 
beionders begünjtigt: Charlotte Bird-Meiffer, Wilhelmine von 
Hilern und Hermine Diemer vergegenwärtigen uns die drei 
Dienfchenalter deffelben; Mutter und Tochter find ferner; Ottilie 
und Adelheid AWildermuth, Pauline und Frida Scan, Nahida 
Sturmbäfel und Rahida Remy, Anna und Clara Korftenhein 

Alle bioher angedeuteten Verwandtichaftsverhältnifie 
wir aber  beilammen der Gruppe, welche von der oben 
erwähnten Tochter des Hiftorifers Gatterer abjtanımt. Zie bieß 
als Fran Philippine Engelpard; ihre Tochter Karoline Engelhard 























Ueber Franenlitteratur. 473 


bat im eriten Viertel unferes Jahrhunderts „Iuliens Briefe” und 
andere Erzählungen geichrieben; eine zweite Tochter ift die Mutter 
von Philipp Engelhard Nathufins gewefen, der von feiner ber 
rühmten Großmutter feine Vornamen geerbt hat; beiten Gattin 
Marie Nathufius it Ihnen alo Verfajlerin der „Elifabety“ und 
anderer tugendhafter Erzählungen befannt; Elsbeth Nathulius 
endlich, beider Tochter, verfaßt Novellen. 

Es giebt alio jhon Generationen gewiller Janilien, in 
welchen, wie in den Nachfommen des arabeldichters Friedrid) 
Ad. Nrummacher, die geiltige Eigenart jo ausgeprägt ült, daß 
aud) weibliche Mitglieder gleichjam von Haufe aus zum Schrift: 
ftelfern berufen find. Tradition und Pietät fordern zur Nachfolge 
in den Spuren der Vorfahren auf. 

Wenn zur Zeit Friedrichs des Gr. einer feiner Offiziere cs 
fi) einfallen fiek, an feiner dichteriihen Ausbildung zu arbeiten, 
fo hatte er feinen Nameraden gegenüber einen harten Stand, 
weldhe foldies Streben gründlich veradıteten, ja 8 verpönten. 
Ewald von Mleift verbarg eo möglichit, daß er neben dem Kriegs: 
handwerk auch den Mufen diente; fünfzig Jahre fpäter war diejer 
liebensmwürdige Vorfahr zugleich das Worbild für Heinrich von 
der ebenfalls die Erfahrung machte, dab Vildung im 
dient nicht zu erlangen war, da aud um 1800 nod die 
DViafie der Offiziere an den rohen Sitten aus Friedrich Wilhelm 1. 
Zeit und an der Verachtung alles Wifiens feithielt. 

Das ift nad) der Schlacht bei Jena allmählich anders ger 
worden. Dan hat befanntlich geiagt, der deutiche Schulmeiiter 
babe die großen Siege von 1866 ımd 1870 gewonnen. Das fit 
freilid richtig; aber in demjelben Maafie, wie fi die Intelligenz 
der Subalternen hob, muhte auch das Tffizierscorps an Bildung 
gewinnen und jo it aus dem preußiichen Offizierftande gar 
mancyer angefehene Schriftiteller Hervorgegangen. Yon TDichtern 
will ih nur Saudy, Winterfeld, Mofer und Wildenbruch nennen. 

Ganz befonders häufig aber find es Töchter oder Gattinnen 
von Militärs, vorwiegend Höheren Nangeo, welche dem Bildungs: 
freife, in dem fie aufgewachien find ober dem jie angehören, ein 
ehrendes yeugnih ausitellen. Zu jenen gehören Yonife von 
Frangois, Nataly von Cicitruth, Nlotilde von Schwarztoppen; 



























474 Neber Franenlitteratur. 


von diefen will ich Chriftine von Vaeden (Ada Chriften), Eufemia 
Gräfin Balleftrem, jest Frau von Adlersfeld, Babette von Bülow 
(Hans Arnold), Marie Ebner von Ejchenbad) hervorheben; endlich 
giebt eo eine Anzahl Dichterinnen, welche zugleid) Töchter und 
Gattinnen von Militärs find. 

Aus den angeführten Beijpielen ergiebt fih, daß fd diele 
Wahrnehmung nicht nur auf Preußen und Deutichland, fondern 
auch auf Tefterreich bezieht. Hier wie dort geht das Offiziercorps 
nod) immer vorwiegend aus dem Adel hervor; in der That ge 
hören die oben genannten Namen jämmtlich dieiem Stande an. 








Km hat aber überhaupt der höhere und hödhfte Adel, ja 
65 haben die Fürftenhäufer Deutichlands umd Tofterreiche eine 
anfehntiche Menge von DVichterinnen erzogen; während Fürftinnen 
und Gräfinmen vor 2300 Jahren ausichliehlich geiftliche Lieder 
dichteten, verbreiten fh jept die angeichenften Namen über alle 
Gebiete der Pocfie. 

Unter den Fürjtinnen fteht odenan Sarnen Sulva, die Königin 
Eiijabeth von Numönien; die Prinzeifin Amalie von Sachien 
werde id) jpäter nod zu erwähnen haben; 12 weitere fürjtliche 
Kamen aufpızählen werden Sie mir gewih erlafien. 























Yon den 48 gräflichen Dichterinnen will ich nur die ergenwrifche 
a Hahı-Yahn, Margarete und Gecile Nenferling, Jon und 
Sophie Baudiffin anführen. 

Die weiblichen Mitglieder des Freiherrnjtandeo, welche Tic) 
mit der Dichtfunft beichäftigen, habe id nicht annähernd vollitändig 
feiitellen fönnen; ich beichränfe mid) auf die Ginheimifchen, wenn 
fie and) meilt nicht mehr unter uno (eben: Schoulg-Aicheraden, 
Srotthuß, Ungern Sternberg, Vietinghoff, Engelhardt, Stat. 

So haben die höheren und höchiten Stände nad) Vermögen 
ihre Aufgabe geföft, voranzugchen auf dem Made dichteriichen 
Empfindens und Wirkeno; in Anbetracht der Mittel und der 
Vene, welche ihnen zu Gebote ftehen, find die Yeiitungen freilich 
nod) lange nicht muftergültig; wenn man aber andererfeits die 
mannigfaltigen Schwierigfeiten und Sindernifie veranichlagt, welchen 
freie dichteriiche Entfaltung gerade in diefen Kreiien jo leicht 
begegnet, melde derfelben Etiquette, Vorurtheil und Blafirtheit 








Ueber Frauenkitteratur. 4 


entgegenjegen, To it ihre Vetheiligung an geiftigen Zireben 
und unabhängigem Denfen immerhin had) anzuichlagen. 

Id Habe nur offenfundige Thatfachen, nur Jedem zugängliche 
Quellen benugen können; hätte ich tiefer in die wirklichen Zujtände 
eindringen, manche verborgene Negungen für meinen Zwed ent 
deten und benugen fönnen, fo hätte fd) gerade der Einfluß der 
Herkunft, aljo des Haufeo umd des Standes noch viel grümdlicher 
verfolgen laffen. 

Wie anregend Gejchwiiter auf einander wirken, erfährt 
Jeder, der dazu Gelegenheit hat; bejonders fichen Bruder und 
Schwejter häufig in ergiebigem Nustaufc. 

Dieje Wechfewirfung eriheint denn aud in der Litteratur- 
ichicpte bedentjam. Zwar Cornelia Gocthe und Augujte Stolberg 
verhalten fich noch pafiiv zu den Beftrebungen ihrer Brüder in 
der Sturm: und Drangzeit; aber die Schweitern der Nomantiter 
und ihres Gefolges greifen icon jelbit zur Feder: Sophie Tied, 
Veltina Brentano, Koa Maria VBarnhagen; viel größer it be 
greiflicher Weile die Anzahl folder Gejchwifterpaare feit 1800; 
Allen voran nenne ich den Föniglichen Dichter Philaletheo, Johann 
von Sacdjen umd feine Schweiter Amalie, unter dem Namen 
Am. Heiter, Verfafferin von Schau: und Pujtipielen bürgerlichen 
Sharaftero, dann die Geichwiter Braun, Büchner, Schüding, 
Migenius nv. A. 

Nicht jo zahlreich habe ich die Schweiternpaare gefunden, 
die fd) überdies zuweilen hinter verichiedenen Namen verbergen, 
wie die unglücliche Elife Lienhart und die Liebenswürdige Er 
zählerin Helene Stöfl; als beiondere Merkwürdigfeit erwähne ic) 
je drei Schweitern Extfinger und Oräfinnen Schwerin.  Jn weldem 
Grade hier der geichwiiterlichen Anregung, ob nicht vielmehr der 
gleichartigen Erziehung diefe Schwehtern Alles verdanken, entzieht 
fich der Beurteilung. 

Andere VBerwandtichaftsgrade vepräfentiren Fanıy Tarnom 
und ihre Nichte Amalie Bölte, jowie die beiden Franzisfa von 
Stenget, ebenfalls Tante und Nichte. 

Die Frage, welche ich heute zu beantworten verfuche, lautet: 
Warum dichten Frauen? Jch habe bisher darauf erwidert: 
Weit fie die Gunft individueller Verhältnifie erfahren haben, 






































476 Ueber Frauenfitteratur. 


weil fie in der Jugend und im jpäteren Leben fi) verwanbdtfchaft: 
ficher und geielfichaftlicher Anregung und Unterjtügung erfreuten; 
weil inebejondere die gehobene Allgemeinbildung des 19. Jahr- 
hunderts dem weiblichen Geichlechte zu Gute gefommen Üj 

Diefer legtere Grund gilt natürlich für alle neueren Schrift- 
ftelferinnen; nicht jo der eritere. Betrachten wir and die Nehrfeite 
ber perjönlichen Zujtände. 

Goethe jagt mit Net: Glüd md Unglüd wird 6) 

Näcjit der Neligion ift die Bocfie die wohlipätigite Tröfterin 
in Leiden und Gefahren. Oft find beide verbunden. 

In der That ift die Zahl der Dichterinnen, welche, dem 
Kummer zu entgehen, ihre Zuflucht zur Boefie genommen haben, 
groß genug. Wen ein Gott gegeben Hat, zu jagen, wie er 
feiet, dem wird die gefteigerte Empfindung zur wohlthätigen 
Thätigfeit abgeleitet umd fo löft fi der Schmerz in erleihterndes 
Schaffen auf. 

Schon der Verlujt der Eltern oder eine Theiles hat die 
verwailte Tochter häufig derart ergriffen, dah fie veranlaht wurde, 
ihrem Leid in Verfen Luft zu machen oder der Pietät ein Denfmal 
der Erinnerung zu ftiften. Auf dieie Weite it das befannte Bd) 
„Unjere Winter“ entitanden; die Verfafferin Marie Nrummader 
hat den eingefchlagenen Weg dann weiter verfolgt. 

Eine etwas andere Bewandini hat cd mandmal mit dem 
Verluft des Gatten; nicht mu das jo natürliche Gefühl der 
Vereinfamung mag die Wittwe in die Sefellihaft der Miufen ge: 
trieben Haben -- wofür co übrigens hinveichende Belege giebt —, 
jondern Häufig nehmen die Bilichten der Hausfrau und Putter 
derart in Anfpruch, dab exit nad dem Tode des Mannes ein 
Uebergang zur chriftjtelleriichen Yaufbahn möglid) wird, wenn 
zugleich die eriten Schwierigkeiten der Nindererziehung überwunden 
find. Vettina von Aenim begann erit*) „nad dem Tode ihres 
Vianneo 1831 ihre poetiichen Nräfte zu jammeln, um fie nad) 
außen jpielen zu lajen“. Sophie Wörishöffer war im Januar 
1871 verwittwet; im Mai darauf ward fie Mitarbeiterin an der 
„Hamburger Neform“ und Hat jeither eine rege Thätigfeit ent: 











» Goedefe, Grundeiis HIT. p. 56. 


Ueber Frauenlitteratur. 477 


widelt. Vertha Ychmann-Filheo hatte wobl bei Lebzeiten ihres 
Mannes die exiten dramatiichen eruche gewagt,') „Eonute jedod) 
exit nach feinem Tode an ein energiiches Forticreiten auf dem 
eingefchlagenen Wege denfen“. 

Wie groß der erfhütternde Eindrud von graujamen Ein- 
griffen deo Schietialo auf ein weibliches Gemüth fein fann, will 
ich an topiichen Beilpielen veranichaulichen, die fh leicht bedeutend 
vervielfältigen lichen. 

Anna Wedig den wirflien Namen der Dame aus 
pommerfchem Adel ennen wir nicht --) „nahm die Feder zur 
Hand, um jih mit Gewalt dem Schmerz über den Verfuft ihres 
bei Gitfhin gefallenen Yieblingobruders zu entreien*. 

Emilie Wepler?) verlor Mutter und Bräutigam durch den 
Tod, theilte den Nummer des Vaters, der durch unglüdliche 
Spefulation fein ganzeo bebeutendeo Verinögen eingebüht hatte, 
und wandte fd) nun dem Studium der Öriechen, beionders Blatos 
au jo richtete fie fich in ihrem Ächweren Leid wieder empor. 
Sie schrieb nicht nur das befannte Wert „Mato und jeine Zeit”, 
sondern auch Erzählungen und Gedichte. 

Am Krankenbette der Mutter griff Wilhelmine Heimburg — 
Vertha Behrens it der wirkliche Name jur feder, um ihre 
erite Novelle zu schreiben. 

Diarimiliane Franul von Weihenthurn, eine Großnichte der 
berühmten dramatiichen Nünftlerin Johanna von Weihenthurn,*) 
fah fidh durd) Schiejalsichläge mit ihrem einzigen Töchterden in 
eine bedrängte Lage verjegt; fie fahte den Entichluh, „Tich durch 
angeitrengten Schriftitellerfleii eine ausfömmliche Selbititändigfeit 
zu erringen“. Nam war ihr dies gelungen, „da hatte fie den 
grenzentojen Schmerz, ihre Tochter durch den Tod zu verlieren; 
feitdem Hat fie, um Trojt und Nuhe zu finden, fi nur noc) 
eifriger fehriftitelleriihen Arbeiten gewidmet“, 

Jeannette SHolthaujen -—- MWieudonym Agnes Le Grave — 
war glüclid verheirathet; aber’) „der Verluft ihres jüngjten 
Kindes, ihres einzigen Nnaben drohte die Mutter fait zu ver: 
nidhten“; da nahm fie ihre Zuflucht zu Dichtkunit. 














!) YBrümmer Yeriton 3. sn. D Ebenda &. sn. M Ebenda &. = m. 
9 Ebenda Ex n. 3 Ebenda &. nn. 





478 Ueber Franenlitteratur. 





„Cinige Verfuche in antifen Formen, die fie dem Philologen 
Boch einjandte, erhielten dejen Beifall, To dab er binfort einen 
regen brieflichen und dann aud perjönlichen Werfehr mit der 
Digpterin unterhielt”. Darauf find zwei Sammlungen Gedichte, 
Fabeln und andere Dichtungen von ihr erihienen. 

Aud, Elifabeth von Numänien hat*) „ihre tiefiten, reichiten 
Töne” gelungen, nachdem fie ihr mod) nicht vierjähriges einziges 
Töcpterchen hatte hingeben mürlen. War fie gleich von Iugend 
auf eine Dichterin geweien, jo hat doch exit diefer unerjepliche 
Verluft fc dazu gereift und nun gelang cs ihrer jüngeren Freundin 
Mite Aremmis, fie alo Carmen Sylva in die Welt cinziführen, 

Zwar bat fi die Nönigin über diefe Thatjadje abweichend 
geäußert: „Man hat behauptet, exit der Schmerz habe mic zum 
Dichter gemacht. Dem it aber nicht jo. Das Dichten ift ganz 
unabhängig von der äußeren Welt, von Nranfheit und von 
Ziechthum”. 

Indejfen meint die Nönigin wohl eher die dichteriiche Be- 
gnbung; das Dichten ift ficher nicht unabhängig von der Änferen 
Welt. Carmen Splvas eigene Boefie zeugt gegen fie: Diele it 
erfüllt von den Cindrücen der dhavafteriftiichen  NAuhenwelt, 
namentlich ihres Nönigsreiche. Und ihre rührenden Klagen über 
den Verhuit des geliebten Kindes - ihrer find eine Dlenge 
widerlegen erft vet die Behauptung von der Unabhängigfeit der 
Whantafie. Gerade von Carmen Syloa war die Verfennung der 
postifhen Empfindlichfeit gegen Yebenseindrüde am allertegten 
zu erwarten. 

Dit defonderer Theilnahme, ja mit Ehrfurcht mühlen wir 
die poetichen Stimmen vernehmen, welche unter Yeiden und Ent: 
behrungen erflingen; denn co giebt eine nicht geringe Anzahl von 
Dichterinnen, denen die Borfie in dauerndem Sichthum eine 
Zuflucht gewährt hat, wie Elijabeth Nulmann, die im 18. Yebenojahr 
an völliger Entfräftung itarb, oder die ergebene Dulderin Chriftine 
Herrmann, die, Jahrzehnte lang an’o Nranfenlager gefeifelt, in 
ibren Liedern ji weit über allen irdiichen Jammer erhoben hat. 

Pinna Apranzo bühte nach den Majern alo Kind das 


























"€ Menfh, Renland. >. 136, 14. 


Ueber Frauenlitteratur. 479 


Augenlicht ein, lernte jpäter in der Vlindenanjtalt einen Leibens- 
genofien fennen, heirathete ipn und trat dann im 25. Yebensjahre 
mit Gedichten hervor, die nad) 6 Jahren eine zweite Auflage erlebten. 

Die Schweizerin Luife Egloff erblindete bald nad) der 
Geburt und lieh im 20. Pebensjahre ihre Gedichte veröffentlichen. 
Joanne Sophie Nicter hat fait wörtlich daifelbe erfebt und 
geleiftet; die wohl mod) lebende Kurländerin, die greile Varoneh 
Grotthuß ift als junges Mädden allmählich erbfindet, hat aber 
erit in viel jpäteren Jahren Novellen, Nomane und Erzählungen, 
ja fogar ein Luftipiel geichrieben. 

Nührend it diefe Vlindenpoefie, wenn auch weniger un- 
erflärtih, als cs auf dem erften Blick fcheint; wir willen, da 
Blinde häufig lebendigen Rumftjinn und vegen Nunfteifer befigen; 
da diefe Gaben fd) in diefem Falle burdaus auf das innere 
Leben, die Welt der Empfindungen und Gedanfen beichränfen, fo 
find Mufit und Pocjie diejenigen Nünfte, welche Blinden am 
eheiten ihr jonit freudloies Dafein erheitern, ja es unter Umftänden 
werthvoll gejtalten. 

Die nahe Verwandtihaft beider Stünfte, der Mufif und der 
Voefie fegt den Gedanfen nahe, dal; eine erin wohl nud) 
zur Didpterin werden fan. Und jo it 6 in der That; aber 
nicht 61os jolche Frauen, melde in der Ausübung ihrer unit 
wirtlich ihren Beruf gefunden haben, erbliden wir unter ben 
beutihhen Dichterinnen; nein, auch folde, darunter recht befannte 
Frauen, denen es nicht vergönnt gewejen it, beim Gefange zu bleiben. 

Elije Polfo it jogar in Paris als Pamina und Zerline 
aufgetreten, hat aber aus Gefundpeitsrüdfichten die dramatifche 
Laufbahn aufgegeben und die litterariiche gewählt. 

Eugenie John berechtigte zu den Idönjten Erwartungen; da 
verlor fie plöplic ihre Stimme und zog fid) nun an den Schreib 
tiich zurüd, auf weldem die Werke der Marlitt entjtanden. 

Emilie Schröder bejaf; eine tefiliche Altjtimme, aus der 
aber ihre Lehrer feinen Sopran zu bilden vermod)ten, und nad) 
einigen Vühnenerfolgen *) „erfannte fie, dah fie ihr Ideal nie 
erreichen würde — fie verlieh das Neid der Töne um Schau: 














*) Yrümmer Leriton 3. sn. 


450 Veber Frauenlitteratur. 


ipielerin zu werden”; Nöticher beitimmte fie endlich anftatt auf 
der Bühne -— mit der Keder zu agiven. So ward fie eine 
rontinivte Ueberfeperin, namentlich von franzöfiichen Originalen. 

Auguite Cornelius, Tochter eines Schanipielerpaares und 
für die Vühne beftimmt, mufte ihre Abficht aufgeben, weil ein 
tangwieriges Nieber ihrer Stimme die Kraft vanbte, und widmete 
fih dann der Dramendichtung. 

Wer die Yühne mit Erfolg betreten bat, fühlt fortan aud) 
nicht fetten das Bediufnif, in Dichtungen zum Publifum zu reden. 
Frauen beionders erleichtert die Gewöhnung, vor vollen Haufe 
zu evicheinen, den fonft vielleicht duch Vangigfeit gehemmmten 
Schritt in die Teffentlichfeit. Schaufpielerinnen entichließen Fid) 
aljo von jeher leicht, Tetbit für die Vühne zu Ichreiben oder 
wenigitens Äremdes zu bearbeiten. 

Das hatte Ihn Gotticheds Wehülfin Friederife Neuber 
gethanz ipäter hat die langjährige Schaufpielerin des Burgiheaters 
Johanna Franul von Weihenthurn eine ftattliche Neibe von Dramen 
(14 Bände) verfaßt; Alle jedoch hat die bekannte Dichterin der 
„Pieffer-Röfet*, der „OSrilte*, die Umarbeiterin von Anerbachs 
Frau Projeijorin in „Dorf und Stadt“, Charlotte Birch-Pfeiiter 
übertroffen; in 23 Bänden find ihre zahlreichen Dramen bei- 
jaınmen. Gleich der Mutter war aud) die durch die „Seier-Wallg“ 
ichnell bekannt gewordene Tochter Wilpelmine von KHillern von 
Hanje aus Schanipielerin. 

Ynije Buich-Niit verlieh bei ihrer Verheirathung das Do 
theater zu Münden und *) „lebt jest, da cin Nervenleiden fie zur 
unfreiwilligen Entfernung von der Bühne geywungen“ hat, nur 
mit dramatiichen Entwürfen beihäftint. 

Das bewegte Yeben, das die Bühnenwelt mit fich bringt, 
it an jich Ihen intereffant, ja oft romanhaft genug beichaien, 
um einer Daritellung zu lohnen. Wie werthvoll wäre es, wenn 
Frieverife Neuber, die Zeitgenoifin und zeitweilige Yırndesgenoifin 
Gotticheds, aus der Külle ihres wechlelvollen Treibens alo Theater 
prinzipalin eine Zelbftbiograpbie gebildet und uns hinterlafien hätte, 
wie 65 mehrere Gollegen des vorigen Jahrhunderts geihan haben. 























' Yrümmer Yeriton Nachtrüge 3 s ı. 


Ueber Frauenfitteratur. 481 


Erjt der neueren Zeit verdanken wir eine Reihe von mehr 
oder weniger zuverläfftigen Zelbjtbefenntnifien diefer Art, nie 
„Xus meinem Bühnenleben“ und die „Nomödiantenfahrten“ von 
Karoline Bauer oder die Schilderung von Anna Yöhn:Ciegel 
„Wie id) Schaufpielerin wurde“. 

Der vorfichtige Yeler wird ja vorfonmmenden Falles durch 
die übliche Schminke hindurch die wirklichen Züge leicht entzifiern, 
die and) dann noch anzichend genug ausgeprägt find. 

Zelbit einige Dialerinnen finden fi bei Nürfchner verzeichnet; 
ich vermag aber nicht zu fagen, ob ihre fitterariiche Veihäftigung 
eine Ergänzung oder einen Erjag für fünjtlerifche Erfolge bildet. 

Lehrerinnen waren im vorigen Jahrhundert eine Zchtenheit; 
in ganz eritaunlicder Wei ihre Zahl während der zweiten 
Hälfte unferes Jahrhunderte angewachien. Die Hebung des 
Mädchenunterrichts einerfeits und das zunehmende Bebürfnih 
andererfeito haben junge Damen veranlait, fich durch Unterrichten 
eine felbjtändige Eriftenz zu gründen. Unzählige, die jonjt im 
Familienleben faum mehr Verwendung oder Unterkunft gefunden 
hätten, fönnen nun die erhaltene Ausbildung zu einer höheren 
Lebensaufgabe verwerthen. Damit hat fich vielen Jrauen der 
‚Horizont erheblich erweitert und jo durften fie den entfdeidenden 
Schritt in die Teffentlichfeit wagen. Jhre Berufsarbeit, welche 
eine fortgeiegte Mittheitung von Kenntniffen und Orundfägen 
erfordert, die Herricaft über die Sprache begünitigt und feite 
Neberzeugung ausbildet, Legt ihnen den Gedanken nabe, auch über 
Hörweite hinaus auf Yeierkreife belchrend und bildend, oder 
wenigitens unterhaltend einzuwirfen. Auf diefe Weite find Nlava 
Bauer (C. Detlef), Sophie Junghans, Helene Stöfl, Emma 
Simon (€. Vely) und zahlreiche Andere Schriftitellerinnen geworden. 
jatt Vieler nur ein Beifpiel:*) „Im Nuli des vorigen 
Jahres jtarb, 80 Jahre alt, Betty Paoli, wohl die bedeutendite 
Ipriiche Dichterin unferer Zeit. Den Vater hatte fie früh ver- 
foren, die Vintter lebte anfangs in geordneten Verhältniiien; aber 
der Banferott einco Naufmannes, dem fie ihr Eigenthum anvertraut 
Hatte, verfegte fie in eine bedrängte Yaye. Naum 15 Jahre alt 























*) Aus den Netrolon in 





teber vand und Mer“ ISUE. 





182 Ueber Franenlitteratur. 


mußte Babette Glück jener Name ijt Pieudonym der Diutter 
und fich jelbjt den Yebensunterhalt erwerben. Sie wurde Erzieherin 
und fand Gelegenheit, die Yücen ihrer früh unterbrochenen Zelbjt- 
bildung auszufüllen. In vegem Verfehr mit den Wiener Poeten 

Yenau, Grillparzer, Vauernfeld, A. Grün, Feuchtersleben ıc. 
- fand fie den Maafitab für ihr eigenes Nönnen und Wollen 
und gewann jenes Zelbitberwutfein, deifen der Nünjtler zum 
Schafien, wie zum Beraustreten in die Teffentlicheit bedarf. 
Nach einem bewegten Leben wirde fie endlid) von einer freundin 
der aufreibenden Thätigfeit um’o tägliche Brod überhoben und 
erfreute fh nun bis in's höchite Alter ungeihwächter Schaftens- 
freubigteit hs Yände Poefien, drei Bände Erählungen und 
mehrere Schriften litterariichen und Funftfritiichen Charakters jind 
bisher von ihr eridienen und noch it mander Schap zu heben“. 

















In ähnlicher Weile mag cs Vielen ergangen fein; mehr 
als 9° u aller itellerinnen unferer Zeit Find aus der Zahl 
dev Lehrerinnen und Erzieherinnen hervorgegangen; ich glaube 
aber, dal der Procentjag viel höher ausfiele, wenn wir über die 
legten 30 Jahre beifer orientirt wären. 

Jenes Veitreben der Frauen, fih durch eigene Arbeit un 
abhängig zu machen, von der Nothwenbigfeit diftirt und vom 
Ehrgeiz angeftachelt, hat eine große Dlenge von ihnen veranlaßit, 
5 mit dem Schreiben zu verfuchen. Belonders dann, wenn ein 
jäher Glücswechiel die Eriftenzfrage aufwarf, entichlof; fich aud) 
wohl ein zaghaftes Welen, mit feinen Einfällen oder Erfebnifen 
tapfer den Verjuch zu wagen. 

Der ungeheure Bedarf unferer Unterhaltungsblätter an 
Nomanen, Novellen und anderen Fenilletonarbeiten macht es be 
greiftich, daf die Meiften trog der zunehmenden Concurrenz dabei 
leidtich ihre Nehnung finden; geht doch faum eine Nummer der 
vielen Wochen: oder Monatsichriften durch unfere Hände, welde 
nicht Veiträge von Franenhand enthielt. Nur wenige Zeitichriften 
find To ungalant, fih ohne Mitarbeiterinnen zu bebelfen. 





















O6 mm aber die unlengbare Ucberfüllung und das un 
vermeidliche Hervordrängen jo mander Mittelmähigleit oder 
Meberfpanntpeit num eine unbedentliche Confenueny berechtigter 





Veber Frauenlitteratur. 483 


Zuftände, od e6 nicht vielmehr, wie Niehl meint, das Symptom 
einer Galamität ift, wage ich nicht zu enticheiden. 

Jedenfallo hat bei Weiten nicht allen unjeren Schrift: 
itellerinnen von Anfang an die Sonne eines günftigen Geidids 
gelächelt; vielleicht it die Mehrzahl cher auf dem drangvollen 
Pfade des Nummero und der Leiden, der Sorge und der Ent: 
behrung zum Ziele gelangt. Mancer dagegen it die Gunft des 
Publitums, bejtohen durch die eigenartige Vianier der Dichterin, 
über Verdienit zu Theil geworden und erit, nachdem der Neiz der 
Neuheit verflogen war, fonnte eine rihtigere Würdigung an die 
Stelle treten. Dah eine jolde nicht ausbleibt, zeigt das Beilpiel 
der Virh:Pfeifter, der Mühlbad), der Varlitt. 

Doch reihen individnelle Gründe nicht aus, um die Frauen 
bewegung des 19. Jahrhunderts zu erklären. Auch nicht die 
jelbftverftändliche Yorofegung reicher Begabung, umfarfender 
Vildung, ehrgeijigen Strebens. Diele Bedingungen haben fid) zu 
allen Zeiten bei Frauen vereint gefunden, wie ich Ahnen nächftens 
durch) eine gebrängte Neberficht beweilen fann. 

Nein, umjer Jahrhundert des beiipielloien Yorwärtsftürmens 
auf allen Sebieten des Wiffens ımd Nönnens reißt natürlich and, 
die Frauemwelt aus den beicheidenen Grenzen hervor, in denen 
fie fich dis dahin wohlbefunden hat. 

Fragen wir nım: Alle diefe Simderte, ja Tanfende, fühlen 
fie fi in ihrem Berufe glüdtih? 

Ih dente, es ergeht ihnen, wie uns Anderen auch: das, 
was wir jelbjt mit Weberlegung zur Lebensaufgabe gewählt haben, 
wird ja wohl unferem Thatendrange entiprehen und unjeren 
Shrgeiz befriedigen. 

Für das durdicnittliche Wohlergehen unferer Schrift 
ftellerinnen, felbit wenn cs ihnen an Entbehrungen und Ent- 
täunfchungen nicht gefehlt haben mag, fann ich Ihnen ein unan- 
fechtbares Women beibringen. 

Nad) der Verheißung ift ein fangeo Leben auf Exden mit 
dem Wohlergehen verbunden. Yun, eine unverhäftwifimähtg hohe 
Altersziifer babe ich beransgerechnet aus einem Material, das, 
wenn e8 volljtändiger wäre, nod) viel ginftigere Zahlen fiefern 
würde. 

















484 Veber Frauenlitteratur. 


Nur fchr wenige Dichterinnen find jung geitorben; vor dem 
20. Lebensjahre nur drei: Elifabeth KRulmann, Klara v. Goldjtein 
und Elifabeth Ludwig. 

Ganz vereinzelt finden fich Zälle von Wahnfinn oder Eelbjtmord. 

Dagegen erreichen ehr Viele ein hohes Alter und zwar 
icheint unjer Jahrhundert der Yebenodauer nod) gümtiger zu jein 
als das Vorige. Damals haben es jhon 41" u zu 70 und mehr 
Jahren gebradjt, heute gar mindejtens 540 md noch eben 
erfreuen ich, abgefehen von etwas Jüngeren, wenigitens 8 Did 
terinnen eineo Dafeino von mehr alo 80 Jahren, darunter die 
ehrwürdige Freundin unferer Herzblättchen Thefla von Gumpert. 

Geftügt auf diefe fratiftiiche Thatiahe, im Yinblid auf die 
fonjervivende Nraft des poetiichen Handwerfs fünnte ich alfo, wenn 
ich ein Schalt wäre, auf die Frage: Warum dichten Frauen? 
auch wohl antworten: Weil fie dabei die Ausficht haben, cin 
Hohes Alter zu erreichen. 
































Alte und nene Parteien in Peutichland. 


Auf dem Gebiete des politiichen Parteilebens giebt co eine 
abjotute Wahrheit noch viel weniger also auf irgend einem anderen 
Gebiete. Man fann niemals von einer einzelnen politischen Kartei 
jagen, da ihre Veitrebungen allein berechtigt, oder da fie aanz 
und gar unberechtigt feien. Jede politiiche Partei aebt von be 
ftimmten velativ richtigen Grundgedanfen aus; aber ihre Fort: 
entwidelung führt von felbjt dazu, dieje Grundgedanken in ein: 
feitiger und übertriebener Weile weiter auszubilden, indem man 
ihre nur bedingte Nichtigfeit mit der unbedingten verwedjelt, was 
m unter gewiflen Voransfepungen zutrifft, für alle Fälle gelten 
läßt. So wird durch die Macht der Verhältnifie jede politiiche 
Partei ganz unwillfürlich in eine faliche Nichtung gedrängt. Daraus 
folgt, dab ein unabhängig denfender Dienjch, der fich feine Un: 
abhängigfeit dauernd wahren will, mag ev aud durch Geburt und 
Erziehung einer Partei näher ftehen alo einer anderen, doc, faum 
jemals in der Yage ift, fh einer beftinmmten Partei in allen oder 
auch nur in allen wejentlichen Punkten anchliehen zu fönnen. 











Das alles Find eigentlich triviale Wahrheiten, und dad, er: 
icheinen fie feineswegs als jelbjtverftändlich in dem alle that 
füchlihen Verhättniffe verzerrenden Hohlipiegel des heutigen wirten 
‘Parteigetriebes. Wie juchen zur Zeit der Wahlfünpfe die einzelnen 
Parteien einander in marftichreieriichen Veripredungen zu über 
bieten! Mit was für zweifelhaften, ja verwerflicen Mitteln wird 
dann der Stimmenfang betrieben! Wie behauptet dann jede Partei 











486 Parteien in Deutjchland. 


im alleinigen Vefig des Univerfalheifmittels zu fein, womit die 
tranfe Zeit zu heilen wärel Und felbft in den ruhigeren Zeiten 
des politifchen Waffenftilitandes werden die parteipolitifchen Ueber- 
zeugungen der Einzeinen nur zu leicht zu Scheutlappen, bie ihre 
Träger blindlings einherftürmen (affen. Dem eingefleiichten Partei: 
menfchen ift e$ von vornherein unmöglich, eine objektive gered)te 
Würdigung des gegneriicen Standpunktes aud) nur zu verfuchen. 

Wenn die Vorausfegungen, von denen die einzelne Partei 
uriprünglich ausgegangen üft, nur bedingte Geltung haben, jo läßt 
fi) daraus der Schlufi ziehen, dah die betreffende Partei, um 
ftets auf der Höhe ihrer Zeit zu bleiben, Torgfältig anf alle 
wichtigen Veränderungen des Zeitgeiftes zu achten hat, unermüdlich 
immer und immer wieder jtreben muf, fih den beftändig wechjelnden 
Forderungen der Gegemvart anzupaffen, fo weit fie dies nur irgend 
{hun ann, ohne den Zufammenhang mit der eigenen Vergangenheit 
zu verlieren, und fomit ich jelbft aufzugeben. In unferer Zeit, 
wo die Formen des Yebens fid jo viel icneller ändern als 
wo ein zeitraum von 30 Jahren an Fülle des Inhalts manches 
frühere Jahrhundert übertrifft, it eine foldhe immermährende An 
paflung um jo nothwendiger. Eine Frage ift co bejonders, bie 
gegenwärtig immer mehr in den Vordergrumd tritt, immer mehr 
zum Brennpunkt auch des gefammten  politiichen Lebens in 
Deutichland wird: bie Tozinle Frage. Im welder Meife 
haben nun die deutjchen politiichen Parteien diefer ihrer Pflicht, 














fi) gemäß den neuen Zeitverhältniffen umzugeftalten, genügt ? 
Wie Haben fie insbeondere zur fozialen Frage 
Ti 





teilung genommen? 
Antwort darauf giebt uns zugleid) einen Wafitab für die 
itiiche Veurtheilung aller politifden Parteien von einem einbeit- 
lichen Gefichtspunfte aus. 

Die alten rein politiichen Parteien der Ronfervativen, der 
Nationalliberalen und der Freifinnigen haben fidh zu einer Zeit 
beransgebifdet, wo die fogiale Frage noch) nicht, wie in unferen 
Tagen, das gelammte öffentliche Leben beberrihte. Um jo 
wichtiger war es fr fie, alles, was in ihren Betrebungen im 
Laufe dev Zeit veraltet geworden war, als umnügen Yallaft über 
Bord zu werfen, um jo für die neuen Vedirfniffe der Gegenwart 
Bag zu ichaffen. 











Parteien in Deutichland. 487 


Am wenigften find die Freifinnigen*) mit der neuen 
Zeit fortgejchritten. Dieje Partei, aus den alten Demofraten von 
1548 hervorgenangen, hat gegenwärtig mit feßteren wenig mehr 
als den freifinnigen Namen gemein. Die meiten Ziele, nad) 
denen jene Demokraten geitrebt Haben, find num erreicht; indem 
die Freifinnigen tropdem immer nod) weiter in der Oppojition 
gegen die Negierung verharrten, munden fie allmählich zu bloßen 
öden Neinjagern, ohne irgend welde pojitive Anregungen ge 
fhmeige denn Leiftungen. Cine verehrte Auffaffung der aus dem 
vorigen Jahrhundert übernommenen Toleranzideen Hat, von den 
Freifinnigen auf die Spige getrieben, die Partei zur Nudenpartei 
ihyledhthin gemacht. Der unbedingte Philofemitismus der Frei- 
finnigen, taub auch) gegen die mahvollite und berechtigtite Kritif 
der dem Judenthume anhaftenden Fehler, beruht nur zum Heineren 
Theile auf einem übel angebrachten Jdealiomu größeren 
auf rein geicäftliher Grundlage. Die Partei injeitigen 
Vertreterin der Iutereifen des Handelsitandes, der Wörfe, ge: 
worben. Damit hängt es zujammen, dak die Freifinnigen auf 
wirthichaftlichen Gebiete Anhänger des jet gänglich veralteten 
reinen Dancpeiterthuns nad engliihem Vorbilde find. Dies 
Vianceftertfum bat allerdings Englands Handel und Induftrie 
auf den Gipfel der Entwidelung geführt, aber auf Noften der 
rigen Berufsarten. Ferner beachten die Freifinnigen nicht, daß 
Deutihland viel weniger Jnduftrieitnat, viel mehr Aderbauftant 
it als England, und dah eine Entwicelung vom Aderbaujtant 
zum Induftrieftant für Deutichland feineswege wünfdenswerth 
wäre. Sie predigen das abjolute „Iaisser aller” in allen wirth- 
Ähafttihen Fragen, find natürlich durchaus Anhänger des Frei 
bandelo und Gegner einer ftarfen Negierungsgewalt. Daß eine 
folhe Partei allen vom Staat ausgehenden fozialen Reformen 
volltommen ablehnend gegenüberfteht, und überhaupt jebe ftaatliche 























De 





Spatsung der Zreifinnigen in die „Sreiftunige Vereinigung" und 
finnige Lolfspartei“ wird hier ebenfo wenig berüdjichtigt, wie die der 
Konfervativen in „Deutichonfernative” und 08 mancher 
Berl heiten befouders bei den beiden fonferuativen Gruppen) liegen in 
beiden Fällen eigentlich doch nur bloie Schattirungen einer einzigen einbeitlicen 
Partei vor. 














Parteien in Deutichland. 


Sozinlpolitit idwoft bekämpft, Liegt auf der Hand. Tod, wie 
faum eine Partei ganz verdienitlos it, To Daben au jogar die 
Freifinnigen wenigitens das eine Verdienit, einer jo übermächtigen 
Perfönlichfeit wie Yiomaret gegenüber das Prinzip des YParla- 
mentarismus hocdhnehalten, die Nedhte des Neichstages energiic) 
vertheidigt zu haben. Es handelt fi hier nicht darum, ob bie 
freifinnige Oppofition im einzelnen Falle am Plage war oder 
nicht — in jehr vielen Fällen war fie cs jedenfalls nicht —, 
fondern wir Haben co hier mit einer blofien Brinzipienfrage zu 
thun. Und jo betrachtet, ift eine verfehrte Tppofition immer 
noch beifer als gar Feine. Chne die jtarre, meift törichte 
Oppofition Eugen Nichtero und feiner Genoffen wäre der Neichstag, 
beionders zu der Zeit, als die Sozialdemofraten wegen ihrer ge: 
vingeren Anzahl mod wenig hervortraten, im Gefahr geweien zu 
verfumpfen, zur Bedeutungslofigkeit, zur bloßen Bewilligungs- 
maichine berabzufinfen. 

Die nationalliberale Partei, uriprünglic der vechte, 
durch die Ereignifie von IS6I—ISTI qufrichengeftellte Flügel 
der alten demofratichen Fortichrittspartei, fit auch almählich zu 
einer ftändiichen Partei geworden, d.h. einer Tolden, die die 
Interejfen bejtimmter mde vertritt. Die nationalliberale Partei 
üt gegenwärtig die Partei der Grahinduftiellen, der Nrofejforen 
und alademiich gebildeten Beamten. Go it den Nationalliberalen 
hoc anzurechnen, dah fie fich 1866 im jchwwerer Zeit von ihren 
demofratiichen Parteigenofien loofagten und die Politit der Ne: 
gierung freudig unterftügten. Dadund) wurde co erit Yismard 
möglich, in verfaflungsmähiger Weile auf eine parlamentariiche 
Mehrheit geftügt feine großartigen Pläne zu verwirklichen. Im 
Anfang der ficbziger Jahre, alo aud) die deutiche Politif nad) 
ganz von dem mächtigen Eindrud der Greignüfie md Errungen 
ihaften des großen Sriegeo getragen wurde, entipraden die 
nationalliberalen Srundjäge am meilten der in weiten Nreifen der 
Gebitdeten vorherri—enden Zeitftrömung. Damals hatte die Partei 
ihre Glanzjeit, von deren Nuhme fie noch heute zehrt, ohne dah 
die alten ingwiichen jtarf abgeblahten nationalliberaten Nuhmeo: 
thaten jener Zeit von dem Glange newer überitrahlt worden 
wären. Denn die fortfhreitende Entwidelung der Partei hat 




































‘Parteien in Deutichland. 189 


ichon längit aufgehört. Sie hat die neu auftauchenden jogialen 
Probleme nicht genügend in ihrer ganzen Bereniung zu würdigen 
gewußt, ja Togar verfehrter Weije es bisher überhaupt unter: 
failen, zur fozinfen Frage in ungweideutiger Weite Stellung zu 
nehmen. Wie den Sozialdemokraten die Neligion, fo it den 
Nationallibernlen die Soyialpolitit Privatadıe, mit der die Partei 
als jolhe fh nicht zu befafien habe. Die meiften National: 
liberalen jtehen jozialpofitiichen Peftrebungen, wenn auch nicht 
völlig ablchnend, fo dad) nleichgültig gegenüber; nur einzelne 
Anhänger der Partei bilden eine Ausnahme. Unter ihnen it 
bejonders der Freiherr Heyl zu Serrnöheim, 6) 
Vertreter von Worms im Neidstage, zu nennen, der nicht nur 
die Wohlfahrt feiner eigenen Arbeiter dur mujtergiltige Ein- 
richtungen zu fichern verftanden bat, jondern auch mehrfach im 
Neichstage durch praftiiche Vorichläge warn für eine Beilerung 
der verzweifelten Yage der Handwerker eingetreten ilt. Zoldie 
Vejtrebungen gereihen aber natirlih nur dem genannten Ab- 
geordneten perjönlich zum Auhme, an dem feine Partei feinerlei 
Antheil hat. Die Nationalliberalen verlieren immer mehr an 
Boden im Volke; die Zerjetung, die die Freifinnigen icon längjt 
vfaßt Hat, greift auch in der natienalliberalen Partei jtarf um 
Um aber völlig geredit zu fein, jei hier eines grofien Ver: 
dienfteo der Nationalliberalen gedacht, das ihnen aud) für die Zeit 
ihres Niederganges zuzuicreiben it. Sie find die einzige Partei, 
die jtets und unter allen Umftänden die mahlofen Anjprüce der 
Ultramontanen mannhaft befämpft hat. 

Die Noniervativen jind die Hauptvertreter des Nedhts 
des geichichtlich Gewordenen. Ihr wichtigfter Grundfab, dab die 
poitiüche Entwidelung nur dann gebeihlich jein Fünne, wenn fie 
ohne gewaltjame Sprünge vor ih gehe, und den organifchen 
Zufammenhang mit der Vergangenheit nicht verliere, ift gewiß 
berechtigt, aber nicht an fi, jondern nur alo Ergänzung des vor 
allem den Fortichritt in der Entwicelung betonenden Yiberalismus. 
Mit der fozialen Frage haben ji die Nonfervativen dadurd) 
abgejunden, daß die 1878 vom Hofprediger Stöcer gegründete 
„Gröftlich-foziate Partei” zunächit im Verbande der fonfervativen 
Partei ‘als ein bejonderer Seitenzweig derjelben verblieb, und fo 














490 Parteien in Deutichland. 


innerhalb der Gefanmtpartei die fozialpolitiichen Beitrebungen 
vertrat. Diejer Verband loderte fi aber allmählich, und als zu 
Anfang dieies Jahres Stöder aus der fonfervativen Partei hinaus- 
gedrängt wurde, gab jein Austritt das Seien zu einer voll: 

igen Trennung beider Nichtungen, zur Organifirung der 
ialen“ als einer neuen jelbjtändigen Partei. Damit 
wurde bie fonfervative Partei endgültig, was fie zum größten 
Theile jchon längit geweien war, zur Staudespartei, zur Partei 
des Adels und der Grofgrundbefig Der Umitand, daß ihr 
aud) einige Vürgerliche, und fogar ein Handwerker, der Schneider- 
meijter Jafobsfötter, Neihstagsabgeordneter für Erfurt, angehören, 
ändert daran wenig. Die einfeitige Vertretung der Standes: 
intereffen, ohne Nüdficht auf das Gemeinwohl, wie fie Then jept 
in den theilweife gewif; berechtigten, theifweile übertriebenen For: 
derungen des eine Gruppe der Konfervativen bildenden „Bundes 
der Landwirthe* zu Tage tritt (-- freilich in nod) viel höherem 
Grade, und mit weit geringerer Berechtigung beim Anhang der 
Vörfe, deren Nothvendigfeit und Nüplichfeit für das gelammte 
Staatsteben nur fehr wenigen Nichtbörfianern einleuchtet, während 
die Yandwirtbichaft allgemein als das wichtigite gemeinnügige 
Gewerbe im Staate anerfannt wird —), dieje einfeitige Ver 
tretung der Standesintereifen, die Vernachläffigung der immer 
dringender werdenden jozialen Webürfnifle wird aud) die fon- 
feruative Partei dereinit zu Falle bringen. Das Hauptverdienft 
der Nonjervativen ift ihr Eintreten für die Jnterefien des Pro- 
tejtantiomus. Während die Liberalen Nreiie der Neligion glei): 
gültig oder feindfich gegenüberftehen, haben die Noniervativen jtelo 
die Wichtigkeit der Neligion für das Geiammtwohl des Staates, 
und die Nothwendigfeit einer freien Entfaltung dev evangelifhen 
Krche verfochten. 

In der Entwicelung der joeben behandelten drei Parteien 
füllt uno leicht ein fcon berührter gemeiniamer Zug auf: fie 
haben aufgehört, rein politiiche Parteien zu fein, und find zu 
jtändijehen Parteien geworden. Diejer Umftand enthält zugleich) 
den Keim ihres Zerfalles. Gin politiicher Parteimann fann dod) 
immerhin nod) das Jnterefe der gejammten Volfstreife vertreten, 
das er nur von einem bejtinmmten Standpunkt aus, und je nad) 

















Parteien in Deutfehland. AN 


der Farbe feiner Parteibrille auffaht. Ein jtändiiher Parteimann 
dagegen, der das Gelammtinterefie des Staates nicht über das 
eigene enge Standeointerefje zu ftellen vermag, üt auf die Dauer, 
wenigjtens als Glied einer öffentlichen Volfsvertretung, unmöglich. 
Denn jelbjtwerftändfih Fann eine Volfovertretung als Ganzes nur 
dann für das Gejammtwohl des Staates erjprielich wirken, wenn 
jedes einzelne Mitglied derielben fi alo Lertreter des ganzen 
Voltes betrachtet, und diejen Gefichtopmft für alle feine Ent: 
fhliehungen umd Handlungen maßgebend fein läht. 

Im engiten Zufammenhange mit Obigem jteht 6, dab die 
neueren Parteien, zu denen wir jegt übergehen, nicht mehr durd) 
ein rein politiiches Woment in’o Yeben gerufen worden find, oder 
sufammengehalten werden. Im Zentrum 5. 8, einer 
anerfreulichen Schöpfung des Jahres 1870, vereinigen id die 
verjdhiebenften pofitiichen Nichtungen, ariftofratiiche und demokratüiche, 
förderaliftiice und partifulariftiiche Elemente, die nur der allen 
gemeinfame Natholiziomus zulammengefügt hat. Dieje verfdieden- 
artigen Bejtandtheile des Zentrums widerjtreben einander jo jehr, 
da der wenig harmoniie Bau immer auf's Neue in Gefahr 
geräth auseinanderzufallen. Nur einem jo ungewöhnlid) geicicten 
Führer wie Windthorit war co möglich, die Oegenfäge innerhalb 
der Partei wenigitens nad außen hin zu verdeden, ja jogar die 
Partei zu derjenigen zu maden, Die aud) jegt nod) im Neichstage 
bei den meijten Verhandlungen den Ausichlag giebt. Schon gleich 
nach Windtharit's Tode trat der mühjam und nothbürftig 
äufammengefittete Nih wieder Haffend hervor, wobei vorläufig die 
ariitofratiichen Anhänger des Zentrums von ihren demofratifchen 
Parteigenojfen verdrängt wurden. Cs ift Flar, dab die Religion 
allein überhaupt nicht, aud nicht einmal die fatholiiche Neligion 
mit ihrer gropartigen Organiiation und fajt militärichen Zucht, 
eine politiihe Partei von jo wenig einheitlichen Gepräge auf die 
Dauer zujammenhatten fann; troß feiner jegt noch immer jehr 
beträchtlichen Machtfülle wird das Zentrum entweder jerbrödeln, 
oder fd) aud) in nichtrefigiöfen Fragen eine Einheit von Vejland 
ertämpfen, d. h. einer der anderen beftchenden Parteien näher 
treten. — Von einer jo bunt zujanmengewürfelten Partei it 
eine einheitliche Auffaflung nur in Firhenpolitiichen Fragen zu 















492 Parteien in Deutichland. 


erwarten. In jozialpofitiihen Dingen bejteht ebenfowenig eine 
Einheit wie bei den Nationalliberalen. Neben verdienjtvollen 
Vorfümpfern einer (hatfräftigen foginlen Neform, ter denen der 
Raplan Pige, Brofeifor in Pünfteri.W. und Neichstagsnbgeordneter 
für Geitenfirchen, obenan steht, befinden fh andere Mitglieder 
der Partei, die fd) um das wichtigite Problem des öffentlichen 
Lebens der Gegenwart Verzlih wenig Fümmern. Ein all: 
gemeines Verdienft wm das gelammmte Vaterland vermag Schreiber 
diejes, bei allem Yennühen, gerecht und objektiv zu urtheilen, dem 
Bentrum nicht zuzugeiteben. Im Gegentheil, zwei Umjtände haben 
das Zentrum zu einer Partei gemacht, die dem deutichen Reiche 
zu fchwerem Unheil gereicht hat und noch gereicht. Einerfeits der 
Umftand, dah; das gentrum fein Oberhaupt und zugleich jeinen 
Schwerpunkt im Papfte hat, alfo in einem Ausländer und auferhalb 
des eigenen Yandes. Dadurch wird den deutichen „Uftramontanen” 
eine wahrhaft nationale Gefinmung, ein Aufgehen im Dienfte für 
das aterland fehr erichwert, beionders da der PBapit fd fir 
berechtigt Hält, auch in allen nicht vein Firhlichen Angelegenheiten 
den Gläubigen Voricriften zu machen.  Tie Wahrheit des 
Sprucheo: „Niemand Fann zwei Herren dienen“, tritt in dielem 
Falle ganz befonders deutlich hervor. Andererieito ijt die Macht, 
die das Zentrum durch die Anzahl feiner Mitglieder im Neichstage 
und in vielen Einzellandtagen ausübt, vielfach verhängnifvoll, da 
die Negierungen fidh daran gewöhnt haben, diele Macht jtets, oft 
über Gebühr und zum Schaden der Gelammtheit, zu berüctichtigen. 

Wenden wir uns mn zur Veiprehung der Sojialdemofraten, 
der dentich - jozialen Neformpartei und der Chrüftlich : Sozialen. 
Gemeinfam it allen dreien, troß des jchrofien Gegenfages, in 
dem die Sozialdemokratie zu den beiden zuleßt genannten Parteien 
steht, da die joziale Ärage und deren Yölung den Nern ihres 
Programms ausmacht, wie jchon aus den Namen der drei Parteien 
hervorgeht. 

Beginnen wir mit den Sozialdemofraten. Dieie 
Partei in ihrer heutigen Korn Äft 18 durch Verihmelzung 
mehrerer einander verwandter Nichtungen entftanden. Auch fie ijt 
als Partei der Arbeiter und Proletarier eine jtändiiche Partei, 
aber doc) in anderem Zinne als die oben behandelten Parteien. 







































Parteien in Deutfchland. 493 


Denn die Standesintereffen, die diefe vertreten, haben mit der 
foyiafen Frage wenig oder gar nichts zu ihaffen, während die 
zufünftige Seftaltung der Lage der Arbeiter gerade der Kımft it, 
um den fi diefe ganze Frage dreht. Ueber die Sozialdemokratie 
und ihre Ziele it Ächen jo viel geichrieben worden, dal; ich mich 
hier frz fajfen will, um nicht jchon oft OGefagteo zu wiederholen. 
Daft das bejtändige Anwachien des Kapitalismus den Gegeniap 
von Arm md Reich immer jchroffer, die Armmuth immer drüdender 
macht, dal; die gewaltige Entwicelung der Tednit, die weiter und 
weiter um fi greifende Mafchinenarbeit den Arbeiter immer 
mehr felbit zur Wafdhine, zum Hilffofen Werfjeng in der Hand 
des Napitaliften herabdrüct, dab co auf dem bisherigen Wege 
der wirthichaftlichen Sejtaltung nicht weiter fortgehen Fann, darüber 
find nicht nur die Sozialdemofraten, jondern alle billig denfenden 
und warm fühlenden Menichen icen fange einig. Es fragt fd 
nur, ob eine vollftändige Ummwälzung der ganzen heutigen Ge: 
jelfichaftsordning, wie die Sopialdemofratie jie wünjcht, die alleinige 
Grundlage der Yölung der foyialen Frage bilder, oder ob Diele 
Young au ohne eine jolche Ummälzung, die doc gewiß nur 
unter den jceriten das Volfoleben bio in's innerjte Mark er: 
ihjitternden Kämpfen Zuftande fommen fünnte, durch Bräftige 
foziale Neformen möglid) wäre. Yegtereo behaupten die deutich- 
fogialen Neformer und die Chriftlic) Sozialen, während die Sozial- 
demofraten jene Ummwälzung für unbedingt notwendig erklären. 
Ao foziale Neform oder Nevolution? Das it die Frage, deren 
Beantwortung die wichtigite Aufgabe fein wird, welche unfer 
Jahrhundert dem Fonmenden übermacht, eine Aufgabe, die das 
WoHE und Wehe des ganzen deutichen olteo in fd ihlieht. 
Mic die bisherige Entwietelung wahricheinlich macht, werden die 
Parteien, die auch jogav einer fozialen Neforim Feind find, dereinit 


















von der Sturmilutb der Zeit hinmeggeihwenmt werden, da; feine 
Spur von ihnen übrig bleibt, und in dem immer erbitterter 
werdenden Nampfe um die Yöfung der fogialen Frage werden fh 
ihliehlih nur die zwei großen Parteien der Neformfreunde und 
der Nevolutionäre gegenüberftehen, und auf Leben und Tod mit 





einander ringen. iehr aber auch eine Berferimg der Arbeito 
löhne, eine wirkfame Ausdehnung der Arbeiterichubaciesaebung, 


494 Parteien in Deutichland. 


die Veihaitung von menjdemwürdigen Arbeiterwohnungen, die 
Einihränfung des Großfapitalo dur jcharfe Veitenerung ber 
großen Einfommen, jo jehr alle diefe Vahregeln vom Standpunft 
der foziafen Neform anzuitweben find, fo wird doch au) der 
entichiedenfte Neformfremd die gänzliche Abichaffung des Eigentums 
an Produftionsmitteln, welde die Sozialdemofraten durchführen 
wollen, für höchit bedenktid Halten. Denn damit wäre das Privat: 
eigenthum überhaupt im weientlihen abgeidjafft, alio dem einzelnen 
Vienfchen die HYaupttriebfeder feines Handelns und Ztrebens ge: 
nommen. Die feindfelige Haltung der Lozialdemofratie zur 
Religion und Monardjie, der internationale Charakter der Partei, 
der ihre Anhänger veranlaht, jeden Ausfluj warmer patriotifcher 
Vegeifterung mit Spott und Hohn zu übergiehen, untergraben 
den Staat in feinen Wirzeln; fie find um jo drohendere Gefahren, 
je mehr die Partei in der bioherigen Weife anwäclt. — Die 
Sozialdemofratie it alo jolhe eine |rucht unferes modernen anf 
das Soziale gerichteten Zeitgeiiteo. Wie fie von diefem die Neime 
ihrer Entwidelung empfangen hat, jo hat fie ihrerfeito wieder auf 
die anderen Parteien befruchtend gewirkt, indem fie Dielen die 
Bedeutung der jogialen Frage in ihrem ganzen furctbaren Ernit 
eingeihärft, zu der Tozialpolitiihen Gejeggebung der Negierung 
den eigentlichen und exjten Unjtofi gegeben hat. Dieo ijt das 
einzige, in feiner Wirkung zwar große, aber ziemlich unfreiwillige 
Verdienft der Sozialdemoratie. Sie Hat den Dienjt eines 
Sturmbodo geleitet, der in die morjche Mauer der alten geit 
die erfte Vrefche geihlagen hat. 

Die deutich-jogiale Neformpartei üt erit 
durch Vereinigung von zwei leineren antifemitiichen Parteien 
entjtanden. Sie fehrt vor allem das deutjch-nationale Selbft: 
bewutfein gegenüber den nichtdeutihen Stämmen im Neiche, 
bejonders gegenüber den Juden, hervor, und betont die Noth: 
wendigfeit der Erhaltung und Kräftigung des Dittelitandes. Der 
Äcjädfiche Einfluß des Judenthums äufert fi Towohl auf wirth: 
ichaftlichemn alo auch auf geiftigem Gebiete. Die Auden haben in 
äuherjt geidhietter U nad) ihrer Emanzipation die liberalen 
Toleranzideen zu ihren Gunften, und auf Kojten der Deutichen zu 
verwerten gewußt. Die vielgerühmten (iberalen Errungenschaften 























Parteien in Deutichland. 405 


der Gewerbefreifeit und der Freizügigfeit find Hauptiächlich 
jühifchen Händlern und Haufierern zu jtatten gefommen, während 
mancher folide Dandwerfer von dem durd, die Gewerbefreiheit 
grofigejogenen Kfnfcherthume mit feiner fchamlofen Schleuder- 
Eonfurrenz zu Grunde gerichtet winde, und der Bauer, der, von 
dem Medpte der Freizügigfeit Gebraud) madend, feine Heimiche 
Scholle verlich und alo Fabrifarbeiter in die großen Städte z09, 
meiftens gängficher Verarmung verfiel, und, als Proletarier, der 
Sogialdemofratie zur willfommenen eite wurde. Muf wirth- 
ichaftlichem Gebiete iit das Judenthum der Schmaroger, der ohne 
eigene Arbeit fih) mühelos an fremden Gute bereichert. Die 
Kriminalftatijtit zeigt, dah Wucher, betrügerifcher Banferott, und 
überHanpt alle Verbrechen am Eigenthum, die nicht mit perjönlicher 
Lebensgefahr verbunden find, gerade jüdiiches Pionopol genannt 
werden dürfen. Cs üjt allgemein befannt, mit welder Vorliebe 
fic) die Juden in folde Verufoarten drängen, in denen ohne 
wirklide produftive Arbeit ein Gewinn zu erwarten it, oft 
Berufsarten, die mit germanifchen Ehrbegriffen nur Idhver 
vereinbar find, eine auogeiprodene Abneigung haben fie aber 
gegen Förperfiche Anftrengungen aller Art, und gegen foldhe 
geiflige Arbeit, die nur einen ideellen Gewinn veripridt. Dafi 
das Judentum alhnählid) zum umumfchränften Beherricher der 
Yörfe geworden fit, habe ich icon berührt. Auch auf geiftigem 
Gebiete wirkt es mr ichädigend. Tas gelammte Zeitungsweien 
in Deutichland geräth immer mehr in jeine Hände, oder wenigitens 
unter jeinen Einfluh. Die jüdiichen Zeitungofehreiber pflegen jede 
ungünfige Kritif über ihre Stammesgenofien als reaftionären 
mittelalterlihen Antifemitiomus zu brandmarfen. Cie richten 
vermöge der gewaltigen Macht der Preife in einer groben Anzahl 
von Stäpfen in Yezug auf alles, was mit ihrer Nafengemeinichaft 
irgendwie zufammenhängt, eine heilfoie Vegriffsverwirrung an. 
Der jüdifche Einfluß auf das deutiche Geiftesfeben it nur 
jerjegender Art. Die hervorragende geiltige Begabung der Anden 
it eine Fabel. Nur in der Stärke des Erwerbstriebes, und in 
der Fähigkeit, Dielen zu befriedigen, ift der Jude dem Deutjchen 
und den übrigen Europäern überlegen. Nein einziger Geift eriten 
Hanges, außer Spinoza, ift feit dem Anfang unferer Zeitrechnung 





























496 Parteien in Teutichland. 


aus dem Schofie des Judentums hervorgegangen. Keine einzige 
hervorragende Erfindung oder Entdetung ift jemalo von einem 
Juden gemacht worden. Wahrhaft bedeutende und fruchtbare 
Anregungen, wirklich jcöpferiche Grofthaten auf geiftigem Gebiete 
Hat Deutichland dem litterarifchen und Prehjudentjum  cbenio 
wenig zu verdanfen wie andere Yänder. Wohl aber it diejes 
Prefjudenthunn umermüplich darin, alleo, was als Ausdrud und 
Verhätigung lebendigen drftlichen Glaubens im deutfchen Volfs- 
leben zu Tage tritt, zu verhöhnen und in den Staub zu ziehen, 
das Chriftentbum als eine längit überwundene Aulturjtufe hin: 
zuftellen. Für die immer mehr id verbreitende refigionsfeindliche 
Stimmung in weiten deutjhen Voltskreifen ift zum großen Theil 
die jüdiiche Preife verantwortlich. Belonders merkwürdig it dabei, 
dal; diefelbe Wreile fich vor einem Angriff auf die jühiiche Neligion 
wohl hütet, obwohl diefe mit ihren ftarren abgelebten Formeln 
und Buchitabengejegen eine abfällige Mritif weit cher heraus 
fordert. Auch ganz veraltete jühliche Gebräuche, die wie das 
Schähten mit dem ethiichen Nern der Neligion, den die Juden 
fonjt immer jo gern in den Vordergrund ftellen, garnichts zur 
thun haben, und nod; dazu eine große Thierquälerei find, werden 
von jener Breife brampfhaft vertheidigt. — Unter jolchen Umftänden 
üt der moderne Antifemitismus weiter nichts al6 eine durchaus 
berechtigte und natürliche Notwehr. Weber einzelnen, zum Theil 
allerdings bedentlichen Ausichreitungen, die dieje Bewegung hervor 
gerufen hat, muh man ihven geiunden und vernünftigen Nern 
nicht Überfchen. Die Antiiemiten haben das große Verdienit, 
zuerjt das deutiche Wolf aufgerüttelt und auf die vom Judenthum 
her drohenden Gefahren aufmerkiam gemacht zu haben. Won den 
übrigen Parteien waren die Nonfervativen die erften, die dem 
Weeruf folgten und ji dem Nampfe gegen das Judenthum 
anfchlojfen. Neuerdings bat aber der antiiemitiiche Eifer der 
Noufervativen wieder merklich nachaelaffen, nicht aus fachlichen 
Gründen, weil die Gefahr geringer geworden wäre, fondern aus 
parteipolitiichen Nücichten, weit die fonfervativen Ariftofraten 
fi als Gegner der demofratiich angehauchten Antifemiten fühlen, 
und weil diefe den fonfervativen Vefigitiand an Wahlitimmen 
betrohen. Die übrigen Parteien, die id Anfangs hartnädig 

















Parteien in Deutichland. 497 


jeder antiemitiichen Warnung verichlofien, die Bewegung als 
ungejundes Produkt einiger birnverbrannter Schwärmer Tenn- 
zeichneten, fangen jegt doch ganz allmählid) aud, an, hier und da 
antifemitiiche Anwandlungen zu zeigen, natürlich wit Ausnahme 
der ganz unheilbaren Freilinnigen. 

As Vertreterin der Intereffen des Vittelftandes, der Hand 
werfer, Heinen Sewerbetreibenden und Beamten, der Heinen Yente 
überhaupt ift auch die deutich-Tozinle Neformpartei eine Standes- 
partei; fie fteht aber doch, ebenjo wie die Cosialdemofraten, 
durchaus im Gegenfap zu den übrigen Standesparteien, infofern 
das Vetonen der Standesintereifen, die fie vertritt, ebenfallo auf 
das engite Frage zulammenhäng am wenn 
die ichnell fortichreitende Anflangung des Mittelitandes durd) das 
Proletaviertäum aufgehalten, und jhliehlich ganz zum Etilljtand 
gebracht würde, wenn ein leiftungsfähiger Mittelitand in der 
Form von jelbjtändigen Einzelbetrieben erhalten bliebe, dann wäre 
wirtich die Gefahr der jozialen Nevolution befeitigt, und damit 
ein wichtiger Theil der fozialen Frage gelöit. 

Die antitemitiiche Bewegung frankt, jo beredhtigt und noth- 
wendig ihr Nern aud) fein mag, an einigen großen Mängeln, 
die allerdings mehr auf Äuere Umftände alo auf innere Unfadhen 
zurüdzuführen find. Vor allem fehlt es der Partei an 
wirklich bedeutenden Xührern. NAuher dem Neichstagsabgeordneten 
Liebermann von Sonnenberg beit fie feinen Vertreter im 
Keihstage, der Über das Durcichnittsmah hinausragt, und and) 
Liebermann ift mir ein politifcher Führer zweiten Nangeo. Daf 
einige dimfle Ehrenmänner wie Ahlwardt fi an die Partei 
berangedrängt und ihr Anfehen jchmer geichädigt haben, ift zwar 
beflagenswerth, gehört aber zu den Abjurditäten des Moftes, der 
zulegt doch noch "nen Wein giebt. Alle jtarfen elementaren Vollo: 
bewegungen haben Achnliches erlebt. Weil der Antifemitismus 
nicht im Befige des nöthigen Napitals if, befindet fid) die 
antifemiitifche Preffe, mit wenigen Ausnahmen, noch auf einer 
vecht rohen, den gebildeten Leler wenig befriedigenden Anfangs: 
ftufe; fie feidet an bedenklicher Cinjeitigfeit, indem fie alle Dinge 
zum Jubentpum in Beziehung bringt, und andere Fragen von 
allgemeinem Intereiie, die feinerfei Beziehung zu jenem haben, 







































498 Parteien in Dentichland. 


zu wenig beachtet. Der Hauptpflicht eines jeden Agitators, fic) 
vor Uebertreibungen zu hüten und beftändig zum Mahhalten zu 
mahnen, it von antijemitifcher Seite bisher nur in recht mangel 
hafter Weife genügt worden. Xiele Antifemiten glauben, von 
der Löfung der Judenfrage das alleinige Keil der Zukunft 
erwarten zu bürfen; aber jo dringlich die Judenfrage auch geworden 
fein mag, gegenüber der joginlen Frage ift fie num von neben 
fäghlicher Vedeutung. Während dieie faum jemals ganz zu lölen 
fein wird, hieje es an der gefunden Kraft des deutichen Volkes 
verzweifeln, wenn man annehmen wollte, co werde ihm nie 
gelingen, ji) der fremden jüdiihen Eindeinglinge wirfam zu 
erwehren, und jo die Judenfrage in irgend einer Form zu Löfen. 
Eine völlige Aufhebung der Judenemanzipation wird fidh freilich, 
naddem einmal dieie Emanzipation thörichter Weile gewährt 
worden it, Faum duchführen laffen, aber co giebt ja fonit noch 
Mittel und Wege gemug, den jüdiihen Einfluh einzubämmen und 
unfhädlich zu machen. 

Wenn die deutich-Toziale Neformpartei, wie Verfafier alaubt, 
fh als Zufunftspartei von danerndem Beltande bewähren wird, 
fo ijt cS nicht das negative Element des Antifemitismus, jondern 
das pofitive der jozialen Neform, was ihr einen jolhen Beitand 
fihert. Ein jolhes rein negativeo Clement it überhaupt nicht 
im Stande, eine Partei auf die Zänge der Zeit zufammenzuhalten. 
In keinem Falle ift der Antiiemitiomus als parteibildender Faktor 
von Dauer: denn wird die Judenfrage nicht über hurz oder lang 
gelöft, fo fheitert ev an der Nichterfüllung feiner Aufgabe, und 
wird fie, wie eo wahriheinlich it, in irgend einer einigermafien 
befriedigenden Weile gelöit, fo mu er ebenfalls aufhören, weil 
ihm dann nichts mehr zu hun übrig bleibt. Dann wird die 
deutich-fopinle Neformpartei, der bio dahin hauptlächlid der 
Antijemitiomus fein darafteriitiches Gepräge aufgedrüct hatte, 
noch mehr alo jegt zur jogialen Neformpartei auf vein pofitiver 
Grundlage. 

Die Chriftlih:- Sozialen ftehen, obgleich fie fi exit 
in jüngitee Zeit von der fonfervativen Partei abgelöjt haben, 
innerlich den deutjch-fozialen Neformern viel näher. Beide Parteien 
verfolgen im Grunde das gleiche Ziel der jozialen Neform, mu 

















Parteien in Deutichland. 499 


dab die Dentich-Sozialen mehr die Judenfrage, die Chriftlich 
Sozialen mehr das refigiöfe Wloment hervorheben. Innerhalb 
der hriftlich-fogialen Partei beitchen feit fuzem zwei verichiebene 
Schattirungen derielben Nichtung: ein Theil der Partei unter 
Stöcer jteht mehr nad rechts, während ein anderer Theil unter 
Führung des Parrers Naumann in Frankfurt a. DM. eine 
vadifalere Tonart anfchlägt. Ih hatte Ende Februar diejes Jahres 
Gelegenheit, diefen in fegter Zeit jo viel genannten Mann 
in Dresden in zwei Volfoverfammlungen zu hören; fein Auftreten 
hat nicht mur auf mich, jondern auf die ganze Verfammlung einen 
gewaltigen Cindrud gemacht. Ic babe noch niemale zuvor einen 
Volfsredner fennen gelernt, der jo ganz durddrungen mar don 
dem, was er Iprac, der jo jehr bereit ihien, feine vorgetragenen 
Anfihten mit der Wucht feiner gangen Perfönlichteit zu deden, 
und der zugleich mit fo wohlthuender verföhnficher Wilde die 
Anfihten feiner Gegner befämpfte. Naumann befitt alle 
weientlichen Cigenichaften eines Neformators im großen Elit: 
binreißende Vegeifterung für die von ihm vertretene Sache, 
Opferfreudigfeit, den unerfchrodenen Muth der Ueberzeugung, 
und and, wie aus feiner Schilderung der von ihm in's Leben 
gerufenen evangelifchen Arbeitervereine offenbar wurde, ein 
bedeutendes praftifhes Organifationstalent. Ohne Zweifel wird 
er bald in den Neichstag gewählt werben, und überhaupt in 
‚Jufunft eine mahgebende politische Nolte fpielen, einer der 
führenden Geifter feiner Zeit werden. Wenn es überhaupt 
jemandem gelingen fann, das Ziel, das Naumann fi geitedt 
bat, zu erreichen: die großen Mailen der Arbeiter für 
Ehriftenthum, Monarchie und Vaterland znrüczuerobern, dann 
wird cs ihm gelingen, der dazu berufen jcheint, wie fein anderer. 

Die deutich-fogialen Neformer umd die Ghriftlid-Coginlen 
werden gewih; in abiehbarer Zeit zu einer einzigen großen fozialen 
Neformpartei verichmelsen, und als folde den Hauptfampf mit 
der revolutionären Sosialdemofratie auszufechten haben. Wie 
wird die Enticeidungsichladht ausfallen? 


Dr. Eduard Edhardt. 



































Beiträge zur Bejhigte der Unterwerfung Nurlands, 


vornehmlich nad) den Alten des preuhiichen Staatsarhivs. 


GFortiesung. 


3.9, 6. Oft. Nücmann fährt fort, den Unzufriedenen 
Verfprechungen zu machen. Manteuffel hat aus Warjchau dem 
Herzog gemeldet, daß; er auf feiner Heimfehr aus Narlsbad in 
Dresden erfahren habe, Prinz Karl von Sadıien habe in Pillmig 
den König gebeten, dahin zu wirfen, dah feine Tochter den Titel 








Pringeffin von Nurland und 100,000 Dufaten erhalte, um ein 


pajfendes Unterfommen zu finden. Der Herzog fei mn in Corge, 
dah er die Ausjteuer werde zahlen müjfen, dah ferner dadurd) 
eine Heirath zwiichen diefer Prinzejfin umd dem ältejten Sohne 
des Prinzen Narl Viron zu Stande fomme, infolge deren der 
Nurfürit, wenn er Nönig von Polen werde, die Erbfolge in 
Sturland der jüngeren Linie Biron zuwenden Fönnte. Dann würde 
diefer Zweig aud die Herrichaft Wartenberg beanfpruchen, die 
nach dem Fibeifommih Ernjt Johann’s beim Herzogtdum bleiben 
jolle, Freilich Habe die Stiftung, da fie nicht vom Nönige bejtätig 
fei, in Schlefien feine Geltung erlangt; dennoch, würde, wenn der 
König daraus nicht ein weiblicheo Zehn mache, ein erbitterter 
Nechtsitreit entitehen. 

64.8, 13. Oft. Der Herzog jei jehr in Sorge wegen 
der Pläne Karls von Zadjen. „Em. Miajeftät werden den 
wiffen, dah der jüngere Prinz von Oranien von Allen der 
erwünictejte Schwienerfohn für den Herzog und die Herzogin 























Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlande. 501 





wäre”, Der g dränge D. immer wieder, ihm zu Tagen, wie 
der König darüber denke, weshalb D. nochmals darauf zurückomme. 
„Yor Allem beginne ich mit dem  ehrfurdtsvollen Befenntnifi, 
dab bei der gegenwärtigen Sachlage meiner fchwachen Einficht 
nad) Nurland feineswegs mir als ein für die preuhiche Monardie 
gleichgültiges Objekt eriheint, jo Klein diefer Staat aud) ift; feine 
Lage icheint ihm für uns Vedentung zu verleihen. Zwei jeiner 
Nachbarn haben freifid einander entgegengeiegte Pläne, die aber, 
ob nun der eine der Nachbarn oder der andere fiege, ftets zu 
unferem Schaden gereichen werden. Die Gefhichte diejes ganzen 
Jahrhunderts giebt greifbare Beweiie dafür, dal; Nufland urland 
wie eine vuffüiche Provinz behandelt hat.“ Nuhland habe jtets 
geiucht, dort feinen Cinfluh ausjudehnen durch Förderung der 
Projekte zu Gunften des Grafen Bobrinsti, des Fürften Potemfin, 
des Grafen Woronzom auf das Verzogthum, „und noch eine Dienge 
anderer Umftände bezeugt, dah diefer ehrgeizige und unternehmende 
Hof immer bemüht it feine Macht in diefem Lande zu mehren. 
Wenn cs ihm gelänge, dem Lande wieder eine feiner Nreaturen 
zum Herzog zu geben, und wenn dieje Nreatur von Nation rufliich 
wäre, fo würde Nurland weniger als jemals ein Fwiihenitnat 
zwifchen Rußland md Preußen fein, jondern eine Art von vor: 
geichobenem Werke fir erjteres, weldhes fid) bis zu unjeren 
Grenzen ausdehnen würde”. Dieje Erwägung mülfe in der 
gegenwärtigen Lage den Ausichlag geben. Der ruhe Einfluß 
ei angenblilich zwar gefunfen, aber Nuhland itrebe darnad), ibn 
wieder zu gewinnen; man müfle den Wloment bemipen, um cs 
daran zu Hindern; einen gefährlichen Nachbar joweit wie möglich 
zu entfernen jucen; Nurland die Exiftenz zu fihern fuchen, deren 
«5 fähig it, wıd es für Preuhen nugbar machen. Ebenjo mühe 
Polen gehindert werden zu mächtig in Kurland zu werden, fei 
durch Errichtung einer von ihm allyu abhängigen Tynaftie, Tei 
es dur Inforporation. in legterem Falle tönnte Polen fich 
einen direkten Handel fchaffen. Alle diefe Mihftände fönnten 
befeitigt werden, wenn der Nönig Nurland eimen Herzog gebe, 
der, weder von Polen noch von Nuland abhängig, Cr. Mojejtät 
nahe genug, jtände um ih auf ihm zu verlafen ohne bei den 
Nachbarmächten Vihtrauen zu weden, wie 8 bei einem Prinzen 




















502 Zur Geichichte der Unterwerfung Sturlands. 


eines großen Haufeo geliehen würde. Alle diefe Einenfuaften 
finden fid) bei dem jungen Prinzen von Oranien. Man fönnte 
fragen, ob Nurland eines inneren Zuiammenhalts fähig jei, ob 
die Unterftügung, die Preußen ihm leijten müßte, diejes nicht zu 
fehr befaften würde, ob eo der Mühe Lohne, ihm zur Haltbarkeit 
zu verhelfen. Die Negierung Herzog Jafobo jei eine Antwort 
auf zwei diefer Fragen. „Diefer Firjt liefert den Beweis dafür, 
was ein Herzog von Nurland, der ein Mann von Kopf ijt und 
feine Quellen auszubeuten weiß, zu leiften im Stande ift, und 
die Nolle, die er in fritiihen Zeiten zwiihen Nuhland, Polen 
und Schweden jpielte, bezeugt, von welchem Nuten ein Souverän 
diefes Yandeo für Denjenigen fein fan, zu deiien Guniten er 
fich entichieden hat.“ Bei der Förderung des Prinzen von Oranien 
würden Holland und England Preußen zur Seite jtehen und 
vielleicht vortheilhafte Ausiihten für den Handel Kurlands bieten. 
Freitid) bringe diefer Plan aud) Gefahren, und diefelben wären 
in einem anderen Zeitpunkt vielleicht fogar unüberwindliche. Aber 
offenbar bedürfen die Höfe von Wien, Dresden und Warjhau der 
Unterftügung Preufens für ihre Pläne umd mühten co daher 
ichonen, und was Nufland angehe, fo werde man, wenn jemals, 
feine Zuftimmung jest erlangen, da co vom Nriege erichöpft jei. 
Endlich wäre diefer Wan ein Prüfftein für die Gefinnungen all 
diejer Höfe. Wenn aber der König fd für diefen Plan enticheiben 
jollte, fo wäre Eile noth, ehe das Geheimnih gebrochen würde. 
9. bittet endlich noch um Genehmigung, dab Pilten den Köni 
zum Schiederichter in jeinem Streit mit Polen anrufen dü 
denn Yilten siehe dem Wrtpeil einer _parteiifchen Nommifiion 
dasjenige der Höfe vor, welde eo für die Garanten feiner 
Eriftenz anfche. 

65.8, 16. Of. Yaut Nadrihten aus Petersburg Tuche 
Potentlin mit allen Mitteln den Abichluß des Friedens mit der 
Pforte zu hintertreiben. 

R, 27. Oft. Das Projeft der Heirath zwiichen Friedrich 
von Oranien und Wilhelmine von Nurland fei zur prade 
gebracht worden von der Prinzeiiin von Oranien bei ihrem legten 
Vefud) in Berlin. Sowohl die Yiebe zur Schweiter alo die 
Ausficht auf den Nugen diejes Planes lege denjelben dem Könige 















Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 503 


jehr nahe. Der Herzog werde durch bie Herzogin jchen benachrichtigt 
worben fein von den vorläufigen Schritten des Könige. Er habe 
dem Wiener Hof vertrauliche Eröffnungen gemacht, indem er den 
Kaifer gebeten, den ruifiihen Hof zu jondiren und zu bearbeiten. 
Er erwarte num die Antwort, je nach welder er direfte Ver: 
handfungen mit Petersburg oder mit Polen anknüpfen werde, 
Verichwiegenheit jei Hauptbedingung des Gelingens. — Der 
Friede follte infolge energiichen Widerftandes der Na gegen 
die Wünfche Potemtins hen am 22. September a. St. in Jally 
unterzeichnet werden. 

66.8, 20. Oft. Die Nechte des Herzoge müllen ganz . 
bejonders jet geldüigt werden, feit der Plan beitche, den Prinzen 
von Oranien zur Nachfolge zu bringen; daher müffe verhindert 
werben, dah; die fonzeräne Macht die Herzoglichen Nechte einichränte, 
Die Ihätigfeit der Kommiffion mühte aufgehalten werden bis die 
Herzogin nad) Warfchau komme amd bewirfe, daf günftigere 
Dispofitionen in derielden berrichend würden. Jeut Tei der aller: 
günftigite Voment um die Zufzeffionsfrage durdhzufeten in 
Petersburg, wo, wie Viele fürdten, Potemfin durd irgend einen 
At der Willfür verfuchen werde, die Pforte zur Erklärung der 
Unabhängigteit von Moldau und Wallachei zu nöthigen, entgegen 
dem Willen der Nail Auch werde in Petersburg erzählt, cs 
werde dafür intriguirt, daf; die Grohfürftin einen „.amant“ nehme, 
wozu Potemfin antreibe. 

N, 29. Oft. Der König it erfreut mittheilen zu fünnen, 
dafı man in Warichau durcigefest habe, dahı die Sipungen der 
für den Brosch zwiichen Herzog und Adel niedergefegten Nommiffion, 
um 3 Monate prolongivt worden jeien, To daf; die Herzogin, 
welde dorthin unterwegs fei, Zeit haben werde einzugreifen. 
Golg werde fie unterjtügen. Wenn cs fi mit dem Friedens 
Tongreh; fo verhafte wie I. berichte, jo Fönne der Tod Rotemfin’s 
der Naiferin nur angenehm geweien fein. m werde der Friede 
wohl raid) gezeichnet werden, da Kotemfin kurz vor feinem Tode 
den Vefehl erhalten Habe, die Verhandlungen zu beichleunigen. 

67. 8, 27. Dit. In den riflihen Nachbarprovinzen Alles 
ruhig; die Truppen ziehen fih ins Innere zurüc. In voriger 
Woche Habe er, D., einige Tage beim Herzog, 5 Meilen von der 




























504 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 





adt, wo die Jagd den Herzog zuriichatte, zugebradht. D. hat 
ihm die Befehle des Nönigs in Betreff feiner jelbit Towie die an 
Golp in Vetreff Piltens mütgetheilt. Der Derzog habe die 
Vetheuerungen feiner Dankbarkeit und Ergebenheit erneuert. Der 
Heryog babe ihm feinerjeits Briefe der Herzogin über die Pläne 
des Nönigs wegen der Erbfolge mitgetheilt. ©. habe bie 
Gelegenheit ergriffen, um dem Herzog die Nothwendigteit Mar zu 











machen, fd eine cigene Partei im Yande zu fchaften, ohne weldhe 
er zu beforgen habe, dab der Adel ihm jtets Sinderniffe bereiten 





und die Höfe das bemuten fönnten, um den lan mit dem 
Bringen von Oranien zu vereitehn. „Unglüdlicher Weite halte id) 
den Herzog für unfähig, meine Nathichtäge auszuführen, fo viel 





Mühe ich mir auch gebe, um fie ihm annehmbar zu machen; und 
id) glaube, da wenn es darauf anfommen wird, Hand ans Werk 
zu legen, es beffer it, ohne ihn zu Gunfien des Pringen von 
Oranien eine Partei zu bilden, von der man im Nothfall Gebrauch 


machen könnte, am jelbit Se. Fürfil. Durhlaucht zu nöthigen, 
fich den Vorkriften zu unterwerfen, welche das Jintereife einer 
eigenen Familie von ihm fordert. Was mich beunruhigt, it die 
voreilige Diittheilung, welche der Herr von Needen dem Fürften 
Jablonowsfi in Berlin“) gemacht hat; dem wenn die Eadıe zu 
früh. befannt wird, fo fängt die dem Herzog feindliche Nabale an, 
davon Augen zu ziehen, und wenn fie auch nicht aufrichtig dem 
Prinzen Narl von Biron ergeben Üt, jo würde jte fi doc ftellen, 
als wäre fie e9, und wird cs {ehr leicht finden, Die Unterhandlungen 
zu verwideln und zu hindern. Noch immer bejtimimter Befehle 
von Zeiten Ew. N. Majeftät in diefer Pinficht entbehrend, 
befchränfe ich mich darauf, ohne Affeftation zu jagen, dal; nichts 
für den Aurländiichen Hof wünfchenswerther fein Fönnte, als die 
Möglichfeit, recht bald und bei Kebgeiten des Herzogs die Thronfolge 
feitguiegen“. Die Verwünfhung, welche die Naiferin Natharina 
vor mehreren Jahren gegen den jüngeren Zweig des herzonlichen 
Haufes befanntlich ausgeftofien habe, diene ihm (9.) als Beweis 
dafür, dahı 3. Di. nie Diefen Zweig zur Thronfolge werde gelangen 
lafjen. Der Herr von %. fuche fidh ihm zu nähern. Wan dürfe 




















*) Polnifher Gefandter in Berlin, 


Zur Gejchichte der Unterwerfung Nırlande. 





id, diefem Vianne nicht anvertrauen, aber man mühe ihn beitechen 
und fönnte davon einen erheblichen Vortheil ziehen. Die häuslichen 
Angelegenheiten 2.’ drängen ihn, andere Hülfsquellen aufzuiuchen. 

KR, 7. Nov. Stimmt dem von ©. dem Herzog erteilten 
Kath vollfommen zu. ©. werde an der Herzogin, wenn jie 
heimfehre, eine gute Stüge finden. 

68.8, Nov. 9. hat eine Kleine Neife durd das Yaud 
gemacht, um Velanntihaften anzufnüpfen und die Stimmung zu 
beobachten; das jei der einzige Weg, denn der Adel fomme jehr 
wenig nad) Pitau, um jo weniger als der Herzog jo ifolirt (ebe. 
Bisher fei das Sufzeffionsprojeft noch nicht laut geworden. &. 
hat ein paar Leute an ich gezogen, deren man jpäter vielleicht 
fich werde bedienen Fönnen. Man faje Vertrauen in die Jder, 
daß der Stönig fich fünftig für Nurland interefiren werde, gewöhne 
fi auch an ihn, 9; die alten Srethümer werden aufgegeben. 
D. icjlägt mm vor, eine vom Herzog unabhängige Partei zufammen- 
zubringen, die dem Nönige allein folge. Denn der Herzog Tei 
fähig eine Partei zu fammteln oder zu erhalten, umd aud) die 
Herzogin werde das nicht vermögen. Cine preufüihe Partei aber 
werde and dem Herzog die Hichtung geben Fönnen. Der Herzog 
müjje die Ntoften tragen. 9. it neulich in Würzau beim Herzog 
geweien, der ihn gebeten hat eine Vermittelung mit Howen zu 
übernehmen. Er entgegnete, dab wenn der Herzog ihm jein 
Ehrenwort gebe, die Sache geheim zu halten, und ihm die nöthigen 
Summen zur Verfügung jtelle, er mit Howen im Namen des 
Nönigs in Verhandlung treten wolle. Der Herzog ftinmte zu, 
Hüttel Hat die Verhandlungen eingefädelt, durd) welche, wenn fie 
gut enden, der Oberburggraf Nreatur des Nönigs werden mile, 
was jehr müglich für die Sufzeffionsfrage fein werde. — Der 
Herzog fei entzüdt von der Aufnahme der Herzogin in Berlin, 
befonders von ihrem Aufenthalt in Potsdam, Habe darüber Briefe 
derfelben im, &., gezeigt, Towie einen Brief der Prinzeffin von 
Oranien. Der Herzog will darauf mun antworten. 9. bittet, 
man möge in Betreff des Frangöfiichen „glisser sur les formes 
et le style de cette röponse en faveur de la sinedrit6 des 
sentiments®, denn weder verftehe der Herzog gut franzöfiich, nad) 
jei ein guter Sekretär vorhanden. 


























506 Zur Geidichte der Unterwerfung Nurlands. 





3, 13. Nov. Billige den Man der Bildung einer preußüchen 
Partei, worin die Herzogin 9. unterflügen werde. Billig and) 
die Unterhandlungen mit Howen; nur wird Lorficht gerathen, 
damit der Nönig nicht fompromittirt, durd den Herzog die Sache 
nicht nochmals verrathen werde. 9. Soll die Oraniiche Angelegenheit 
im Auge halten. Diel jei damit erreicht den Herzog fo voll: 
fommen dafür gewonnen zu haben, jedoch das volle Gelingen 
deo Planes hänge immer von dem guten Willen des rufffihen 
dofes ab. 

69. 8., 6. Nov. Potemfin’s Tod iit überall in den ruffüichen 
Nachbarprovinzen mit Freuden begrüßt worden, weil er den Frieden 
hinderte. Er juchte jteto die Armee an fich zu in, um jeine 
perfönlichen Abfihten auf die Moldau durchjuiegen. Manche 
glauben nicht an einen natürlichen Tod. um werden die 
Ortow ficher wieder auf der Bühne eriheinen, wenn die Naiferin 
fie wünice, und die Engländer werden in Alerio Orlow dann 
einen eifrigen Parteigänger haben. Veiborodfo ift zur Armee 
abgereift. 9. hat ein Gejpräd mit Howen gehabt, das ihn in 
dem Slauben beitärkt, man werde von dowen Nupen ziehen fönnen. 
Diefer hat fc in Vezeugungen der Ehrfurcht und Berunderung für 
den Sönig ergangen. Cr winfhe fchr einen gütlihhen Vergleich) 
der Stände mit dem Herzog, verberge nicht, daher bereit wäre 
mit dem Herzog anzufnüpfen. D. entgegnet, das Vorausgenangene 
erichmere die Sadje fehr, aber er jei bereit zu verfuchen was fich 
thun faffe, wenn Dowen ihm eine Grundlage biete. Der König 
wüniche and die Veilegung des Streites, und wer dazu beitrage, 
Fönne der Proteftion und veeller Zeichen des Föniglichen Wohl: 
wollens ficher ein. Yomen habe Mag der Hervorhebung deo 
Unrechts auf Seiten des Herzogs bereit geidhienen, fi gewinnen 
zu laffen. Er habe betont, da; die Yehngüter gegen die Ansprüche 
des jegigen Herzogs geihügt werden mülfen, damit ein Fünftiger 
Herzog aud) was habe. antwortet: 0 wenn ein fünftiger 
Herzog Yehn und Allod vereinigt, fo werden Sie bie Gefeplichfeit 
des Alod’s nicht beftreiten?“ „Nein“ entgegnet Honen. 

N, 17. Nov. Legt Gewicht auf die Mittheilungen 
vom 6. November über die ruffiichen Dinge. Wahriceinlich werde 
nun Soltyow das meifte Gewicht bei der Zarin gewinnen. Er 






































Zur Gefchichte der Unterwerfung Sturlands. 507 


icjeine fich auf die Gunft Subow’o zu jtügen, während Aleris 
Orlow fi in Moskau zurügezogen Halte. Veiborodfo fei in 
Jafiy angefommen und der Friede werde alfo wohl bald geichloifen 
fein. England habe den Plan der Oranifcen Heirath gebilligt 
und durch Knith in Wien unterftügen lafien, was der Nönig dort 
durd Baron von Jafobi habe anregen lajfen. Nufland aber jei 
bierin am meiften zu fürchten. Die Iudisfretionen mehren fich 
indejien Schlag auf Schlag, um die Sache zulegt zu verderben. 
Der Fürft Statthalter im Hang habe vertraufihe Mittyeitungen 
davon den Seneralitaaten gemacht, was fo gut fei alo wie eine 
öffentliche Nundgebung. 

70. 8., 10. Nov. Cs fei Gefahr für das Sufzeffionsprojeft 
vorhanden in den vielen Mitwiljern, obwohl es nod) nicht öffentlich 
befannt jei. Der Herzog unfähig und unbeliebt, die Herzogin und 
ihre Schweiter, die „pivots du parti dueal- haben doch wenig 
Anhang, eine herzogliche Partei für diefes Projekt habe wenig 
Ausficht. Die Sache ftehe auch Ichleht wegen des Streites mit 
den Ständen, der feinenfalls ein gutes Verhältnih im Lande 
zur Folge haben könne. Ein gütlicher Vergleih fei dringend 
wünfchenswerth. Aber der Herzog werde dazu nicht zu bewegen 
fein, obwohl icon Viele vom Adel fih an ihn, 9, mit dem 
Anfinnen gewandt hätten, einen folden Vergleid zu vermitteln. 
9. bittet den König, ihm einen ausdrüdlichen Befehl zu ertheilen, 
dem Herzog in feinem Namen zum Vergleich zu rathen, als 
mothwendig zum guten Ausgang des Zufzeifionsplanee. Die 
Verhandlungen mit Howen geben weiter, welcher jchr eifrig fi) 
$. nähere, Nach dem Tode Potenmfin’s, über den Katharina, 
wie 9. ficher annimmt, im Stillen erfreut jei, werde fie nur um 
fo mehr ihrem Grundiag folgen, fidh mur mit mittelmähigen 
Leuten zu umgeben, die fie nicht in Schatten ftellen fönnen. 
Wenn aber die Furcht für ihre Perfon fie die Hilfe einer tüchtigen 
Perjon juchen faffen jollte, jo werde fie wahriheinfich zwiicen 
den beiden Orlow, Aleris und Feodor, wählen. 

%, 20. Nov.  Vefünvortet wieder die Vildung einer 
preufiichen Partei. Ueberiendet das von 9. gewünichte Netript, 
um den Herzog zum Wergleich zu beitimmen. Die Lraniidhe 
Sache joll beim Adel noch nicht zur Sprache gebracht werben, da 























508 Zur Gefcichte der Unterwerfung Kurlands. 





fie noch unreif jei. Der Raifer hat auf die erfien Eröffnungen 
geantwortet, «5 wäre gut, die Sache mod zu verichieben bis 
Tejterreih und Preufien der Jarin das Snitem ihrer gemeinfamen 
Allianz vorschlagen fönnten. Da wegen der Jndisfretionen diefer 
Antwort nicht Folge geneben werden fönne, jo habe der König 
feinen Antrag in Wien erneuert, welcher angenommen worden 
fei. Statt aber dem Veripreden gemäß direft durch, Korreipondenz 
mit der Zarin die Sache anzuregen, Habe er fie durch Injtruftion 
an Gobenzl*) eingeleitet, überzeugt dah co vergeblich wäre, jeht 
fih an die Jarin zu wenden, wo fie withend über Polen jei und 
von dem lan gewmartert werde, die nene polniiche Ronititution 
mmuwerfen. Da fie nun unter folchen Umftänden chwerlich 
einigen. werde, Suırland einen von 1 hen Protsgirten Sir 









Bei den Abfichten, welde man jeht dem Yeerabunger 
Betreff Polens beilege, Fönnte eo leicht fommen, dab wenn 
Preußen, jolde line weiter verfolgend, fd ohne vorherige 
Zuftimmung beider Nailerhöfe an Natharina wende, diejelbe 
Gegenforderungen jtelle, infolge deren der Plan mühe zurüd 
gezogen werden. 

71.8, 13. Nov. Die Zarin habe fh aus Furcht vor 
dem Tode, der fie jehr unterliege, nad) der Nachricht vom Tode 
Potemfin's fofort zur Ader gelaffen. Cs jei mod ungewif, wer 
feine Aemter erben werde, Chef des Nriegedepartemento werde 
wahrjceintid Zoltpkow werden, was wegen der Nichtigkeit dieies 
Mannes wahricheintich Tei. Kaube die Naiferin noch immer 
jeher beichäftigt mit den franzöfiichen Angelegenheiten, die fie 
ordnen wolle; dazu fucht fie eine Partei juiammenzubringen, was 
Drlom mifbillige, weil dem Neich Ruhe moth the. Daher Fnne 
«5 fommen, Ddaf; wenigftens Weris Orlow nicht an den Hof 
berufen würde. In Nunland hofft 9. der Auoföhnung zwifcen 
Herzog und Ständen näher zu Fommen. Howen arbeitet an 
einem Plan dazu; er hat ein Gefchent won 3000 Dufaten 
angenommen, das d. ibm im Namen des Nönigs mit Genehmigung 
des Herzogs angeboten hat. Der Herzog hat ©. verinrochen zu 

































=) Dejterreichüicher Gelandzer in Petersburg. 





Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 





erklären, dab er die Domänen mr am eingeborene Evdelleute 
verpacpten werde. Von dem Zufzeifionsplan fcheint von Berlin 
aus etwas verlautet zu haben. 

N, 24. Nov. Man halte in Petersburg Soltotom für 
einen fehe gemandten Mann; er fei von Zubow begünftigt, der 
jeit der Abreife Veiboronfo's die auswärtigen Angelegenheiten 

Stadelberg ihmeichle fü jehr ins Minifterium zu Fommen. 
efannter jeitbem der Fürit 
hen Gefandten im Haag, 








leite. 
Die Sufzeifionsfinge werde immer bi 
halter fie auch noch dem ru 
Ralifchemw, mitgetheilt habe. 

3., 17. Nov. Aus Warihau hat der Herzog Nachricht 
erhalten über einen dem Neichotag vorgelegten Entwurf der 
ritterichaftlichen Delegirten zu einer Nonjtitution für Murland, die 
Altes über den Haufen werfen und den Einfluh des Herzogs 
gänzlich vernichten würde. Cr werde bald dem Könige einen 
Auszug enden, damit die nötbigen Miahnahmen getroffen werden 
fönnen, um das Projekt zu Kalt zu bringen. vermutbet, die 
Führer in diejem Unternehmen wollten die Inforporation Nurlands 
herbeiführen, um dann die ehngüter alo Starojteien für fid) zu 
befommen. Die Leitung des Yandes jei in den Händen eines 
im Grunde vielleicht vedlichen, aber bornirten Wienfchen, der 
unter dem Ginfluh gefährlicher Yeute fiche und dem 
perfönlich feind jei: des Yandesbevollmächtigten Mirdad). 
Herzog ermangele der Thätigfeit, des Xleihes, der Einficht und 
der Nathichläge, und fein Ber .le Sr. de Raison 
est au moins au courant des a Howen babe bei 
den neuen Plänen ficher die Hand im Spiel. Die Verföhnung 
jei weit jcherer geworden. Die Zufeiftonsfrage fei num von 
Berlin ber durch Briefe on Mira befannt geworden. Dieier 
erzählte 65 dem ruffiichen Minifter, welher den Herzog darauf 
aufmerfiam machte, da bei ähnlicher Gelegenheit die Nailerin 
im Jahre 1786 eine Dellaration erlaffen babe. od made die 
Sacje im Yande fein Aufichen. 

. Nov. t ‘lan einer Nonjtitution fei wohl nicht 
gar gefährlich, es werden fich noch Wiittel finden, um den Gegnern 
des Herzogs die Etien zu bieten. Co ei nidhte zu fürchten, 
„surtout ni pour labolition de la dignite dueale. ni pour 
















































510 Zur GSefchichte der Unterwerfung Kurlande. 


Pincorporation du pays. IImperatriee de Russie ayant 
eatögoriguement en plus d'une  oceasion. 








elle risquerait plutöt la chanee d'une guerre*. 
Ferner habe der Nönig von Polen auf die Anterzejfion des 
98 durch den polnifchen Kefdenten in Berlin Zabloci erklären 
taffen, daß er diele Sache immer alo eine Toldhe angefehen habe, 
welche die Aufmerkjamfeit der Nachbarmächte auf füh lenfe, und 
dah der Neihstag die Nathichläge Preußens gewii beachten werde. 
20. Nov. Ueberjendet einen deutichen Auszug aus 
zur Nonftitution. Viele von den Grundjägen feien 
der franzöfiichen Nonftitution entlehnt, die Autorität des Herzogs 
vernichtet, derielbe unter Vormumdichaft des Mathe und des 
ftändigen Yandtages geitellt. Im Lande feien die Parteigenoifen 
des Herrn von Heyfing und Genoffen felbit in Verlegenheit. 
Bowen erfläre, nichts damit zu tham gehabt zu haben. Pirbach 
tabele nur die Meberjtürgung der Delegirten, wodurd aber der 
Vergleich mit dem Herzog nicht gehindert werde. D. glaubt, 
da es nur Yerger über das Yautwerden des Planco jei, was 
dahinter rede. In Warihau geht die Sade des Herzogo gut, 
die Herzogin beitätige das; leider aber entfernen ji „Diele 
Damen“ um fo mehr von der Ansföhnung, nad der fie jo jehr 
verlangten, als die Sachen fchlecht Ttanden. Wenn die Sache des 
Herzogs völlig triumphirt, To würde das im Yande hödhlich 
verbittern und der Eufzeifionsfrage fhaden. Die Herzogin tänfche 
fh über ihren Nredit im Lande. Sie fe feineswegs belicht, 
vielmehr jei man gegen fie erzürnter als gegen den Herzog. 
Wenn fie gewinne, jo werde das jehr zunehmen, bejonders bei 
den Neichen, die zur Führung der ritterihaftlichen Sache Held 
hergegeben haben und daljelbe dann verlieren würden. Auch 
Haben die Herzogin und ihre Schweiter in den Verhandlungen 
große Fehler begangen. Die Herzogin laffe fh in ihrer 
Vebhaftigfeit fortreiien, die Schweiter jche die Pienfchen und 
Dinge nie fo wie fie find. Die berzogliche Kartei beftehe aus 
Menichen ohne Kopf und Gharafter, ohne Thatkraft und Nredit. 
Die Herzogin, nun überzeugt, dal; der Herzog nie eine Partei 
fich werde fchaffen Fönnen, höre nicht auf, ihm, 9., zu Ichveiben, 

















Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 511 


er möge eine jolde für fid) bilden. Ex tue es nad) Kräften. 
Er hoffe auf Howen, obwohl es möglich fei, da; aus dem ganzen 
Handel mit ihm nichts werde. Aber wenn er weiter in diefem 
Sinne arbeiten jolle, jo wiederhofe er die Bitte um offenbare 
Infteuktionen, damit er auf den Herzog flärfer wirken und die 
Herzogin bewegen fönne, ihren Feinden eine goldene Brüde zu 
bauen. Die Sufzeffionsfrage werde in allen Briefen aus Warichau 
beiproden. Ebenjo ein anderer Plan, nämlich den der Fürjtin 
von Württemberg: Mömpelgart zu Gunften ihres Sohnes, des 
Pringen Ferdinand. Der erite Plan finde im Lande mehr 
Anklang als der zweite; der Prinz von Württemberg werde 
gefürchtet als der Bruder der fünftigen Naiferin von Rußland. 
Auf die Eröffnung des Herzogs an vier feiner Näthe haben dieje 
dem Plan Dranien zugejtimmt, 

NR, 1. Dezember. Vetont die Notwendigkeit weiterer 
Bemühungen um Ausföhnung zwifhen Nerjog und Ständen. 
Die Sache Dranien werde täglich fchwieriger, man fönne nur 
pajfiv abwarten, was in Petersburg geichehen werde. Der 
Statthalter wie die Herzogin haben große Fehler gemad)t. Der 
Prinz Württemberg werde nicht hindern, denn die Polen würden 
gegen ihn fein, vielleicht Natharina felbit. 

74. 8, 24. Nov. 9. jendet Heute an Howen ein erfles 
Memoir zurüd mit dem Bemerfen, daß es gegen die Zundamental- 
gefege des Landes verftohe und dab D. fein Vertrauen in bie 
guten Abfichten Howen’s fallen könne, jo lange derjelbe diefe 
Nichtung verfolge. Aber Howens Privatverhältniffe find ganz 
zerrüttet, er bedarf der je, und daher glaubt ©, daß er 
Tommen werde. Der Herzog hat feine Haltung in ber Frage 
der Vildung einer Partei geändert, bei welder auch Kowen mit: 
helfen jollte. Die günftigen Nachrichten aus Warfchau haben ihn 
feit 8 Tagen in biejer Frage abgefühlt, nachdem er vorher dafür 
eiftig gewejen und fich erwieien hatte, daß bie Deklaration, welde 
er im Lande verbreitet hatte, um fie nad) Warfcau zu fenden, 
fait von Niemandem war unterzeichnet worden. Er habe aber 
doc) nicht den Muth gehabt von dem eingeihlagenen Wege 
abzugehen, naddem am 22. ein Brief der Herzogin angefommen 
fei, in dem fie erfläre, daß fie niemals in einen Vergleich willigen 


4 









512 Zur Geihichte der Unterwerfung Kurlanbs. 


merbe, fondern Alles dem Spruch des Souzerän’s anheimftelle. 
Der Herzog habe hinzugefügt, er fchliehe fihh dieler Anfiht an, 
indem er den Brief an 9. überjende, worauf 9. erwiderte, dab 
wenn ber Herzog in ber fehwanfenden Haltung verharre, er, 
gewungen fein werde, dem Könige vorzuftellen, dal; er dem Herzog 
feine Dienjte werde leiften fönnen. 9. wendet ji) an die Herzogin 
mit Darlegungen über ihre faliche Behandlung der Sadıe. Dazu 
Tomme noch Folgendes: Die Vürger hätten gerechte Beichwerden 
gegen den Adel, verlangten aber mehr als das Gerechte, weshalb 
die Feindfhaft groß jet. Der Herzog begünftige die Bürger, 
mwoburd) der Hal des Adels gegen ihm erhöht merde. Die 
Vürger fonnen aber dem Derzog nicht Helfen, arbeiten doch 
nur für den eigenen Vortheil und Fönnen am wenigften in der 
Sufzeffionsfrage etwas ausrichten. Auf die Lorftellung 9.8 
wurde im September der Nammerherr von Solten bei feiner 
Abreife nad Warfchau angewiefen, die Bürger zu unterflügen 
und die beiden anderen herzoglihen Delegirten, Manteuffel und 
Medem, haben ih offen für die Bürger erllärt. Das habe der 
Herzog gelhan ohne vorher D. etwao mitzutheilen. Cr habe alle 
Welt vom herzoglichen Dofe entfernt und werde die Bemühungen 
9.5, eine Herzogliche Partei zu ichaffen, fehr eridhweren. Unter 
dien tut der Herzog nichts alo Jagen, in Gefellichaft von 
Kofaken, die ihm einen Bejucd, gemacht haben. Auf die Herzogin 
fegt 9. wenig Hoffnung, ei vielmehr froh, daß fie erit Ende 
Januar zurüdfehren wolle; eine Partei lafe fh ohne fie beifer 
bilden, als mit ihr. 








R, 3. Dep, Der König erfennt die fcnwierige Lage 9.6 
bei der unbeit 








digen Haltung des Verjoge und den Ueber: 
&s) der Herzogin an. 

„Nov. Der Einfluß; des Nönigs habe in Warfchau 
die Inforporation Piltens abgewandt, wofür biefer Areis jehr 
dankbar jei. Die Schwierigfeiten der Anoföhnumg wachlen von 
Zeiten des Hofes. Die Verzogin hat an 9. geichrieben. Der 
Inhalt jei, eo fei bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge 
„dommage de s’accomoderz“ dab, um die Augen deo Landes 
über das Unheil zu öffnen, in weldes einige Intriganten daifelbe 
geftürzt, man dieje leßteren verderben und demasfiven mühe. 








Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlands. 513 


Ein fonzeräner Schiedeiprud) allein werde den Adel überzeugen; 
jest fi) zu vergleichen würde aud) die Zarin verlegen, deren 
Viediation man vor 9 bio 10 Monaten zurücgewiefen habe. 
Jept eben wäre die Lage für einen Vergleich günftig; man fönnte 
viel erlangen, wenn die Herzogin fich entichläfe, Opfer zu bringen. 
9. hat die Herzogin ernftlich gewarnt, den Weg des Vergleichs 
zu verlajfen. 

R, 8. Doz. Wenn der urländifche Hof fortfahre den zu 
den Plänen 9.6 entgegengefepten Weg zu gehen, fo werde man 
ihn feinem Schidjal überlafien müfen Toll, um Verwicelungen 
zu vermeiden, fic) nicht zu jehr vormagen. 

76.8, 1. Dez. Soltytow, ein mittelmäßig begabter Mann, 
verdanfe feine Erfolge nur feiner Gefehwindigteit. Ohne wirkliche 
Einficht, ohne Grundfähe und Energie, jei fein einziges Verdienit, 
wie das “auch bei Veiborodfo zutreffe, nie ber ftaiferin wider: 
iprocden zu haben, jobald jie jtarf einer Sadye zimeigte. — Der 
Oraniice Pan findet im Yande allgemeinen Anklang. 9. hat 
der Herzogin gefchrieben, dafı er feine Perbindungen im Sinne 
einer Annäherung nicht mehr jerreifien Fönne ohne ben König zu 
fompromittiren. 

R, 11. Dez. Der Maricall Graf Rumänzow wolle das 
Kriegsdepartement übernehmen, um die großen Unordnungen wieder 
zu tifgen, welche unter Potemfin eingerfen feien. — Wenn die 
Raiferin den Oranifchen Plan vereiteln wolle, werde fie immer 
einen Vorwand darin finden die Kinder des Prinzen Narl zu 
beichügen. 


7 

















3, 4. De. 9. hat dem Herzog in Würzan das 
oitenfible Neffript über die Ausfähnung vorgelefen. Eine lange 
Unterredung folgte, in der fidh der Derzog ganz mit der Meinung 
des Königs einverfianden ertlärte; er fhimpfte auf den Adel, der 
ihm Unrecht thne. Rad) vieler Mühe 9.'s ward ihm  geitattet, 
die Verhandlungen über den Ausgleich fortjuießen. Der Herzog 
veripricht an die Herzogin zu fhreiben, dal; ein Lergleich im 
Sinne 9.5 einem Schiedsfprud des Somyeräns vorzuiehen fi. 
Bas den Oraniichen Plan betr , jo femme ex genug 
den Grafen Cobenzl, um zu willen, daß jobald nur ein Schatten 
von ihbilfigung jeitens dev Naiferin auftauchen werde, er fofort 








x 


514 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlands, 


an den faiferlichen Hof in abmahnendem Sinne jehreiben werde. 
Auffallend fei, daß die Naiferin, feit über 6 Wochen in Renntnif 
des Planes, bisher noch feine Trdre an ihren Minifter in 
Mitau erlaiien habe. Nücdmann hat dem Herzog mitgetheilt, 
dab Bichofswerder mit geheimer Mifftoen vom Nönige nad) 
Ketersburg gehe. 

78.8, 8. Dez. Von Zoltyfow meint er dei nicht 
, habe die Routine des Hofmannes, infinuire fich ftets 
duch Schmeichelei gegenüber dem Gefhmad der Kaiferin. Er 
habe den Herrn Jermolow der Nailerin gegeben, und durch ihn 
und feine Vermittelung jet auch Subow in Gunt gekommen. 
Er habe mehrfad; gegen Potemfin intriguirt, den er hafıte und 
veradhtete. Im Jahre 1786, als Potemfin feinem Sturze jo 
nahe wie nie war, haben Coltyfow und die Gegner durch 
Yermolow auf die Naiferin gewirkt, welcher ihr über den elenden 
Stand deo Heeres Vortellungen machte. Zoltyfow, befragt in 
dem inne, als ob die Naiferin die Wahrheit nicht hören wolle, 
fuchte Jermolow zu entichuldigen, der dadurd in Ungnade fiel. 
Auf diefe Anekdote hauptjächlich ftüge cr, 9, fein Urtheit über 
Soltyfow. Mit mehr Charakter hätte er damals Potemtin wohl 
geftürgt, die Neife nach Cherion und den Krieg gegen die Türfen 
verhindert. Er jei Obergouverneur der jungen Gvohfürlten, Chef 
des Ariegsraths, Glied des Natho der Kaiferin, und fönne wohl 
noch weiter fteigen. Aber fchwerlih werde er großen Einfluf 
auf das Spitem der ruffüichen Politif haben. Er liebe das Geld. 
Subow jei Ihn früher von der Naiferin bei Gelegenheit in die 
Politif Hineingezogen worden; jest, da Bejborodfo abweiend, 
möge er wohl mehr gebraucht werden, wenn and mur wegen 
a Gefallens, den die Kaiferin an Martom finde. 
über die Pachten der Yehngüter beftehe darin, dafı 
der Adel verlange, cs follen feine Tefonomien mehr gebildet 
werden, bie Pachten jtatt auf 3 auf 6 Jahre vergeben, die 
Pachtfummen firirt, nicht durch Vieijtbot geiteigert werden. Der 
Mdel Habe formell unrecht; aber er fei im Dunchjehnitt arın, habe 
teine Gelegenheit der Verforgung durch Dienft wegen der geringen 
Anzahl der Stellen; der alte Adel fei wüthend, dah ein Biron 
im Ueberflufi lebe, während er darbe oder doc) fich einihränten 



























gun 


mühe. Diefe Sadje fei die Quelle aller Animofität gegen den 
Herzog, daher bemühe er, 9, fi) weiter, einen Vergleich, herbei- 
zuführen. Er wolle folgende Vorichläge maden: 1. Der Herzog 
nimmt in Verwaltung nur die Lehngüter an der großen Straße 
mad) Memel und Kibau, und zwar wegen der Pot. 2. Er fäfit 
die Pachtgüter einzeln, nicht verfhmolzen, bejtehen. 3. Die 
Pachtzeit bleibt 3 Jahre, aber die Pachtimnme wird firirt und der 
Herzog verjpricht, nad) Ablauf der 3 Jahre für weitere 6 bis 9 
Jahre zu denijelben Zap die Padhtgüter an Leute, die fih als ihm 
wohlgefinnt ermeifen, zu vergeben (aus diefem Grunde, um fi) 
willige Lente durch die furzen Pachten zu erhalten, ift der Herzog 
gegen lange Termine); die Lizitationen werden abgeihafftl. — 
Menn diefeo durchgeiegt werden Fünnte, vermödhte man eine 
itarfe Partei für den Nönig zu bilden. 

R, 18. Doz, Dementirt die Mifion Vifhofswerder's. Cs 
jei wahrideinlic, dab wenn Oftermann jtirbt, nicht Soltyfow, 
fondern Befborodfo das Auswärtige erhalten werde. — D. werde 
fi in den Fwifchen Angelegenheiten wohl zurüdhalten müjlen, 
da 6 umwahricheinlich fei, dab der dortige Hof werde gefehriger 
werden. Denn obwohl der Plan der Nonjtitution in Warfhau 
abgewiejen worden, Laie die Herzogin nicht ab, die gewaltfamen 
Wege zu verfolgen, welche die Kluft zwiiden Gerzog und Adel 
erweitere. 


Geigichte der Unterwerfung Nurlands. 515 











8, 11. Doz. Die Sache des Kettleriihen Allod's madıt 
9. Sorge. Die Hergogin wolle von feinem gütlichen Lergleid) 
hören. Diejer Gigenfinn ftöre unendlich die Verhandlung 9.8 
mit Howen, denn ohne die Zuitimmung der Herzogin fönne er 
nicht anf den Herzog rechnen. Die Nettleriche Exbichaft jei nicht 
die einzige Gefahr für das herzogliche Erbe. Durd, die Unklugheit 
des Herzogs jei der Befük von Würzau fraglich geworden. Dieies 
herrliche Gut mit einem Jahresertrage von gegen 25,000 Dutaten, 
vom Lehn zu Gunften Ernjt Johann’o abgejchieden ehe derjelbe 
Herzog wurde, jei durch Mıguft III. allodifiztet worden; dennoch 
habe Ernit Johann immer Würzau in die Kategorie der Lehngüter 
geteilt. Dur) die Lit Dowen’s Habe der Herzog fih überreden 
laifen, eine nochmalige Allodififation beim Nönige von Polen 
nadzujuden. Naum war fie erfolgt, jo ertangten Howen und der 


















316 Zur Gefchiehte der Unterwerfung Nurlande. 


Schwiegerjohn von Stadelberg*) durch Rufland die Allodifizirung 
zweier von ihnen im Aftertehn beiefienen Güter. Cbenfo wurden 
Grendfen und Jrmlan zu Gunften des geieslid alten, aber 
tatfächlich bisher nur in der Phantafie eriitirenden fogenannten 
Landesfajtens allodifizirt. Der Herzog widerfegte fidh und «6 
entjtand ein Streit. Während der Abweienheit des Herzogs 
vermochte Howen die Negentichaft, Würzau für 200,000 Thaler 
für das Lehm zurückufaufen. Der og verglich fi nun mit 
dem Schwiegeriohne von Stadielberg durch eine Yebensrente von 
500 Dufaten. Aber das Land fordert die ebergabe von Srendfen 
und Jrmlau, und Mürzau bleibt daher ebenfalls unficher. Die 
Herzogin hat 9. mitgetheilt, dal; fie Antwort von der 
Habe in der Eufzeiftonsfrage. Nach der fcharfen Art, mit der 
IM. fih bei mehr als einer Gelegenfeit über den jüngeren 
Zweig Viron geäußert hat, fönne er, id) ihwer davon 
überzeugen, da dieje Fürftin ernfthaft für die Söhne des Prinzen 
Karl eingenommen fei. Er Halte das cher für einen bloßen 
Vorwand ...., 08 jei denn, daß die Wrinzeffin Karl plöglich 
für fie intereffant geworden wäre in ihrer Eigenjchaft als Schwejter 
des Fürjten Poninsfi. Der Herzog wife nichts von der Ntorrefpondenz 
feiner Gemahlin mit der Ntaiferin. 

N, 22. De, Der Oranien-Plan fteht ichlecht. Gobenzt 
ichnweigt darüber gegen Golg; die Herzogin hat Nachrichten, wonad) 
wenig Hoffnung auf guten Ausgang bleibt. Cie werde entweber 
den Plan zu gefegener Zeit wieder aufnehmen, oder die Tochter 
mit anjtändiger Mitgift verheirathen. Auch jolle die Herzogin in 
weit wichtigerer Sadıe nad) Petersburg reifen und werde dort die 
unliebjame Sache nicht berühren, da der Herr Bulgafow der 
Frau von der Nede zu verjtehen gegeben habe, dal; die Hailerin, 
weit entfernt die Wahl des jungen Prinzen von Cranien zu 
billigen, die wirfjamften Mittel anwenden werde, um fie zu 
verhindern. „Unter diefen Umftänden wäre eo vollfommen nuplos, 
gegen den Strom zu fÄwimmen und fi Abweifungen zugusichen, 
welche allen Beteiligten jdhaden würden. Id habe daher meine 
Viinifter in Petersburg und Wien angewiefen, jeden weiteren 























*) Schopping. 


Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 517 


Schritt anzuhalten, und Sie werden Ahrerfeits fühlen, daf-Ihnen 
michts übrig bleibt, als dafjelbe zu tbun, ohne jedoch den Herzog 
die wahren Motive, welche Sie zu handen hindern, willen zu 
lajien, da diefer Fürft, wie Zie jagen, in Unfenntniß über die 
Beziehungen feiner Gemahlin zu dem ruffiihen Hofe it.“ 

80. 8, 15. Dez. Ueber die Abideidung der Rettlericen 
Allodien vom Lehn find feine Karten oder Natajter vorhanden. 
9. glaubt fürdhten zu mühlen, dah alle Vemühungen für ein 
Gompromih erfolglos Fein werden; die Herzogin verlange immer 
eine richterliche Entjcheidung, und der Herzog wende fih wieder 
diefer Anficht zu 

81. 3. Dep. Die Herzogin Hat auf $.s Brief 
wegen des Vergleiche und Vowens geantwortet. Sie läft 
fid leiten durch ihre juriftiichen Nathgeber und ihre „ressentiments“. 
Wie cs fcheine habe der Herzog der Herzogin gerade das Gegentheil 
von dem geichrieben, 1as er zu jchreiben veriprochen habe, d. b. 
gegen die Kompofition. D. zieht fi feit 3 Wochen leife von 
der Sadje zurüd, verhandelt nur mod) mit Howen, beifen- Pacht 
im nädjiten Jahre erliicht und der dadurch in Geldnoth gerathen 
werde. 

N, 1. Jan. 1 VBei den Verhandlungen mit A. Chartornsfi 
in Dresden mache man den Verfuh, den Plan der Wieder 
beritellung Herzog arts wieder zu beleben. ©. Nolle werde 
dadurch, jowie durd; den mangelnden quien Willen des furiichen 
‚Hofes immer paffiver, und er jolle feine Aufmerfiamteit nur mehr 
Nufland zumenden. 

82.8, 25. Dez D. glaubt nicht, dal Numänzem Chef 
des Kriegsfollegiums werden wird, denn er jei ein Mann, der 
für die Zarin zu .tranehant, caprieieux. caustique* jei 
Numänzew habe dur diefe Stelle nichts zu gewinnen. © 
Habfucht Line er cher auf feinen großen Gütern befriebigen. 
Der türfiiche Nrieg habe Wiillionen in feine Tafche gebracht, 
indem er feit Iahren alleo Getreide der Ufräne billig aufgefauft 
umd heuer an die ruifiiche Armee verkauft hat. Wahriceintich 
werde Rif. Soltyfow das Nollegium behalten. Vefborodfo feite 
nicht eigentlich jelbit die äußere Politit, fondern erhalte die 
Anweiiungen von der Nailerin, die in ihm ihren Zögling fieht 



























318 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 


und vor Ojtermann bevorzugt. Vejborodko werde auch lieber den 
Einfluß behalten, den er als Hofmeifter und Nabinetsjefretär hat, 
als Vizefanzler werden. Beiborodfo jei „insoueiant. mou, timide 
vis-a-vis de l’Imperatriee*, bejonders aber Habfüchtig. Die 
Dranienfache jei fehr benadhtheifigt worden durdy den Brief, den 
Mlopäus*) auf Wunfch der Herzogin an den ruffiichen Hof gerichtet 
babe, ehe die Dinge vorbereitet waren. lopäus fei übrigens ein 
reblicher Dann aber ohne Talent. 


1792. 


1. 8, 1. Januar. Die Herzogin hat aus Waricau ihren 
Vertrauten Medem nad) Mitau gefandt, um &. zu überzeugen, 
dab man die dee einer Verföhnung aufgeben mühe. Die 
Nacprichten aus Warihan jeien nicht jo gut als cs Anfangs 
idjien. Das Projekt der Konftitution fei nicht völlig verworfen 
worden. Man plane in Warihau, eine Nommiffion zur Unter: 
fuhung der angeblichen Deterioration des Lehns nad Sturland 
zu jenden, fowie in Mitan eine „preture romaine- zu errichten. 
— Die Zarin zeicine Nepnin aus, aber wahriheinlih werde er 
nicht die Kriegsfanzlei befommen. 

N, 11. Jan. Luchefini hat Auftrag erhalten, gegen jene 
beiden Pläne in Warichau jejt aufzutreten. 

2.8, 5. Jan. Nücmann erzählt, die Pringefiin von 
Dranien habe jihh an die Naiferin um Vegünftigung der Heirath 
des Prinzen Friebric) gewandt. Won Frau von der Nede erhält 
9. zwei Mal wöchentlich Briefe. 

R,, 15. Jan. Die Nachricht von dem Schritt der Pringeifin 
von Dranien jei falich. Die Sadıe jei überhaupt bei Seite gelegt 
und werde nicht fobald wieder aufgenommen werden. 9. werde 
nur nod) einfacher Veobachter jein fönnen, da die Haltung des 
Herzogs und der Herzogin jeine Thätigfeit unmöglid machen. 
Rußland fol den Hafen von Neval und die finnländiiche Grenze 
befejtigen wollen, was Mihtrauen gegen Schweden bezeuge. 








*) Rufficer Gefandter in Berlin. 


Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 519 


3. 9, 12. Jan. Man jprigt von einer Heirath des Kron- 
prinzen von Schweden mit der Großfürjtin Alerandrine. 

4. 8, 19. Jan. Rußland werde feine alte Stellung gewih 
wieder zu gewinnen verjuchen, jobald es die Arme frei habe. 

24. Yan. Es jcheine eine Wandlung in der Kaltung 
Aublands zu Preußen vor fid) zu gehen, da der ruffiiche Gejandte 
voll Rüciichten für den König fei und fid) ihm zu nähern fuche, 

5. 3, 26. Jan. Der ruffiich-türfiihe Frieden jei ab- 
geichlofien. Graf Medem, Abjutant des Nönigs von Preußen, 
it as Warichan in Würgau angekommen. Die Herzogin hat in 
Petersburg fondiren laifen, wie eine Neije dorthin würde auf 
genommen werden, welde fie im fommenden Sommer zu unter: 
nehmen gebenft. Peyfing hat eine Broihüre anonym erfheinen 
fajlen, die auf Kaflation der Furländifchen Nommiifion zur Trennung 
des Mlob’s vom Leon ausgeht. — Frau von Venfendorif ift in 
Ungnade gefallen, hat fich nad) Dorpat begeben und will von da 
mit ihrer Familie nad) Deutichland gehen. Dadurch werde vielleicht 
die Harmonie zwifchen den grol lichen Serrichaften wieder 
bhergeftellt werden und der antipreußiiche Einfluß diefer Frau auf 
bie Gro| n höre auf. 

N, 5. Februar. Die Gejundheit der Zarin joll angegriffen 
jein. @ucchefini weil; nichts von. der „Nommilfien“ mod) der 
„preture“ für Rurland. E 

6. 8, 29. Jan. Nufland will anfcheinend die Majle der 
polnifchen Nation jtügen, welde die Nonftitution nicht billige. 
Der Herzog hat H. die gefammte Storrefpondenz der Herzogin mit 
ihm, mit Rußland und mit der Prinzefin Oranien zur Einficht 
überfandt. Der Herzog denke daran, der Prinzeffin Wilhelmine 
Sagan zu verjhreiben für den Fall, daß ihr Gemahl nicht 
Herzog wird; andernfalls befommt jie Wartenberg und 200,000 
Dufaten baar. 

NR, 8. Febr. Der Plan Oranien jei hoffnungslos, wenn 
auch der Herzog ihn noch verfolge. 

7.8, 5. Febr. Das Zirkular des Herzogs wegen des 
Konititutions-Entwunfs der ritter haftlichen Delegirten in Warfchau 
ift vergeblid) gewejen. Der Herzog hat durd den jüngiten Grafen 
Diedemm jehr gute Nachrichten aus Warihau, werde vielleicht 




















520 Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande. 


enttäufcht und gegen die Herzogin eingenommen werden, bejonders 
wenn er ihre Schulden wird bezahlen müllen. Aus Warfchau 
werde nächjtens ein Pole, Minsfi,') anfommen, mit dem Vorjchlage 
einer Heirat ywiicen Jofef Bonietowsti und der zweiten Pringeffin 
von Kurland. Der Dof fei ganz dagegen, werde aber nicht 
abweijen fönnen, jondern einen Ausweg Tuchen müfen. 

88, 12. Febr. Marl Viron fucht einen Vergleich ein- 
zuteiten. In Livland glaubt man, Nukland werde bald thätig in 
die polniihen Dinge eingreifen. Wlande meinen, dah die Kaiferin 
in den franzöfiichen Angelenenheiten blos demonjtriren werde, dal; 
fie die Nachbarmächte verwideln und dann als Schieberichterin 
Europa’s auftreten wolle. 

N, 22. Febr. D. foll auf Hufland adıten. „Les projets 
de eette puissanee sur la Pologne sont toujours egalement 
enigmatiques. quoiqwil y ai de donndes pour Iui en 
supposer de tr&s serieux et de trös v: 

9.8, 19. Feb Der Herzog hofft, zu günjtigerer Zeit 
den Oranifchen Plan wieder aufnehmen zu fönnen. Leber die 
Sejundheit der Kaiferin berichtet D.: Schon vor feiner Abreije 
aus Petersburg habe D. gehört, da; die Zarin immer mehr 
beläftigt werde „de cette deseente de matrice. qui lui est 
restöe de ses eouches avec son fils naturel Bobrinski.” 
Man gebe die davon rührenden Schmerzen für Molit aus. 
Generafgouvernem Brown in Niga habe wegen „des absenees 
esprit“ feinen Abjchied nehmen müflen. 

N, 1. März Die Zarin hat Narl Bivon bewogen, jeinen 
Anfprüchen auf urland zu Gunften feines äfteften Sohnes zu 
entfagen, der in Peteroburg werde erzogen werden. € jei zweifellos, 
dab die Naiferin damit dem Oranijchen Projekt ein unüberwindliches 
Sindernif Habe entgegenftellen wollen; man müfle daher „se 
rabattre sur le mariage projettö®: der Herzog mühe die Sadıe 
io fdmell als möglich durch direfte Verhandlung mit der Prinzefiin 
Dranien zu Stande bringen. 

10. B., 23. Febr. Der Herzog bat 9. erzählt, er habe 
den Brief, den er vor Wochen an die Prinzeffin von Oranien 
































*) Zoll wohl Epominsti heifen; vergl, Bericht IL, 1702. 


Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlande. 521 


icrieben, mod nicht abgeididt, da jeine Vermögensverhältniiie 
unficher feien und er daher nicht jagen fönne, wieviel er feinen 
Sindern hinterlajfen werde. Er werde nun die Abjendung jojort 
bejorgen. — Die Allodififation von Würzau werde jet angegriffen, 
und feine Erträge betragen mehr als die von allen den jchlefiichen 
Befigungen zufanmmengenommen. Der Nerzog fürchtet die poniiche 
Kommilfion in der Frage der Yehngüter nicht, er werde fie cher 
beitehen Fönnen alo feine Gegner. hat ihm biefen frivofen 
Standpunkt etwas Har gemacht. Die Herzogin und Lucchefini 
in Warfchau then falt zu einander, weil alle Parteigänger 
Preußens dort gegen den Herzog find und die Herzogin glaubt, 
dab Lucchefini nicht den nöthigen Eifer für ihre Cache Habe. 

11.8, 1. Mär Die Ankunft Chominsfi's*) fjei ver: 
ichoben. Nad) einer unverbürgten Anekdote behandle die Kaijerin 
den Großfüriten mit mehr Vertrauen, höre jogar mandmal auf 
nen Nat. Der Grof babe jeit Potemfin’s Tode eine 
feftere Haltung angenommen. 

N, 18. März. Die Kai 
polnifchen Dingen. Der % Herzogs an die Prinzefiin 
Dranien jei angefommen; der atthalter jei mit der 
Vitgift zufrieden, es handle fd) nur noch darum, den Prinzen 
Friedrich geneigt zu machen, was nicht fchver fallen werde. Im 
Haag jei man der Vieinung, dahı die Pringeffin aufer der Vitgift 
nod) einmal an dem Allodinterbe theilnehmen werde, dab überhaupt 
ihr Erbtfeil erheblich machen werde, da der Herzog feine 
Sparjamfeit joweit treibe, jährlih 50,000 Dufaten für jede 
Toter zurüczutegen, was vielleicht übertrieben fei. 

13.3, 11. März Die Wohlgefinnten feien in Furcht 
wegen der Abficht Nuhlands, den Sohn Karl Biron’s zum 
Nachfolger zu machen. In Warjchau erklären die ritterfchaftlichen 
Delegirten, dah wenn der Herzog den Prozefi gewinne, die Etände 
fh unter ruffiiche Proteftion jtellen würden. Der Herzog hat 
ertlären faffen, da wenn die von der Nitterichaft proponirte 
Verfalung angenomme x die Garantiemädte anrufen 
werde. An alle ru jei der Befehl gelangt, 



























itarf mit den 

















che Bericht 7, 1702. 








Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlands. 





iffe anszurüften für eine Cofadre, die Truppen nad Tftende 
bringen folle. 

14.8, 15. März. Die Pringeffin Apollonin Biron hat 
die Kaiferin gebeten, fie befuchen zu dürfen; diele hat abgeichlanen, 
fi aber erbeten, den Älteften Sohn unter ihrer Aufficht erziehen 
zu laffen. Tie Polen hat diejes Auftreten Karl Virons aufgebracht 
und dem Herzog nenähert. Der Wojewode Chominjfi it feit 
3 Tagen angefommen und vom Herzog gut empfangen worden. 
Yaron Brinden it vorgeftern zur Veglücwünichung wegen des 
hier foeben notifisivten riedens von Nafin nad) Petersburg 
abgereit. Nücmann hat gegen Brinden bemerkt, Nufland habe 
5 übel empfunden, dah Filten fih in irgend einer Cache an 
andere Höfe als den ruifiichen, namentlich an Preufien, wende. 


R, 25. Mär. Cine monie bahne fih mit 
Rußland an. Das Gerücht von einem “Plan, zu Gunften des 
frangöfiichen Prinzen 30,000 Dann zu ichieen, fei übertrieben, 
aber nicht unwahr. 

N, 30. März.  Kriedrich von Oranien bat feine Zuftimmumg, 
zu dem Plane gegeben und will im Sommer nad) Nurland reifen. 

15. 8., 18. Därz. Co hat fich herausgeitelft, dal; Chominffi 
zwar von gewiflen Wlänen des Königs von Polen auf die 
Pringeffin Pauline dem Herzog gegenüber geiproden, aber feine 
Heirat) mit Iofef Wonintowsfi vorzuichlagen hatte, fondern 
beauftragt war, bein Herzog eine Anfeihe zu machen. In einem 
Brief, den der Herzog ans Petersburg erhalten habe, heiht co, 
Subow werde Glied im Auswärtigen Nollegium werden, fein 
Nachfolger als Günfling werde fein fiebenswindigerer Bruder 
VBalerian werden. Im Preobraihensfiihen Negiment allein find 
über 3000 junge Yeute als Unteroffisiere verzeichnet, die dann 
als Offiziere in die Armee gehen und dort alle Beförderungen 
bis zum Napitän hinauf hindern. Gin Was foll das fünftig 
bejeitigen. 

16. 9. März. Die Nalferin weilt die Abficht der 
turiichen Nitterichaft ab, auch ihrerjeits fie durch einen befonderen 
Delegirten zum Frieden zu bealücwünfchen. Die ruifiichen Bank: 
billets jtehen 10 Stüd oder „Souverains“ 1. Ab, 



































Zur Gejcichte der Unterwerfung Nurlands. 


R, 1. April. 9. foll auf Ruhland achten mit Nüdlicht 
auf Schweden, wo in Folge des Mordes (des Königs) Wichtiges 
bevoriiche. 

17. 8, 29. März Man fpricht von einer bevorjtehenden 
Allianz zwilhen Preußen und Nufland und wolle damtt die 
Polen fhreden. Ein Fürjt Tichetwertynsti, Nyewudi und Branidi 
Find nad) Petersburg durchaereiit, fegterer wegen der Potemtin'fchen 
Erbfchaft. 

RS. April, Eine Allianz bejtche nicht, wohl aber gute 
Harmonie, 

18.3, 1. Ypril. Man meine, da; die Nailerin feineswegs 
gleihgiltig fei gegen die nad) dem 3. Mai in Bolen eingetretenen 
Zuftände; dal; wenn fie ihre Meinung mod) zurüchalte, fie bie 
Gewohnheit Habe, ihre Abfichten nicht cher Fund zu hun, als bis 
eine Auofiht auf Erfolg vorliege; dah fie, um für Polen freie 
Hand zu haben, es ehr nem fjehen würde, wenn die deutichen 
Mächte mit Frankreich beichäftigt würden, und dah fie hieran 
arbeite. Um die Polen zu entmuthigen und von Preußen 
abzufenfen, fomme fie diefem eich entgegen, während die 
Emifjäre Gerüchte über eine neue Theilung verbreiten, die jtatt 
finden fönne, wenn die Polen ih nicht unter den Schup von 
Kufland begeben; lepteres bedürfe Feiner Vergrößerung, wie es 
der Hauptwunfc gewifler anderer Höfe fei. 

MUS die Herzogin von der verfprochenen Mitgift der Prinzeffin 
MWilpelmine erfuhr, habe fie gefürchtet, daß der Herzog durd) feine 
Vorliebe für die ältefte Tochter fi) hinreihen laffe, fie auf Noften 
der anderen zu bevorzugen. Der Herzog jei gewiß; jehr veich und 
feine vorherrichende Pailton fei zu thefamiren. Aber da er in 

































feiner Tefonomie mehr geifig als weile jei, nicht zu rechter Zeit 





auszugeben wiile, in der Hand vieler und theurer Leute fei, jo 
fönne er nicht 150,000 Dufaten zurüclegen. 

Die saiferin habe im Hang heimlich dahin wirfen laflen, 
dh der fhwantende Fürft bei den Eheftipulationen Schwierigfeiten 
mache und der Herzog dadurch abgeichredt werde. Man dürfe 
daher, wolle man die Deiratt) jürdern, feine neuen Schwierigleiten 
bereiten, fondern mühe den Bertrag raich abichliehen. Die 














524 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlande. 


Teilung des Allodo nad) dem Tode des 
ja von jetbit. 

N., 13. April. Man fenne wohl die Miftimmung der 

Kaiferin gegen die durd die Nevolution in Polen geidhaffenen 
uftände, „mais e’est aller trop Join. que de Iui attribuer le 
dessein. de subjuguer exelusivement ce Rayaume par son 
influence politique et par des machinations insidieuses contre 
la Prusse. J'ai des donndes pour mieux augurer dans ce 
moment-ei du eabinet de Petersbourg”. Da die Craniiche 
Heirath mun von der Frage des ehno getrennt worden fei, jo 
fünne fie die Naiferin wenig intereffiren. 
April. Wenn Guftav II. in Folge des Attentates 
fterbe, To Lönne das für den ruifiichen Einfluh günftige Folgen haben. 
Tie Kaiferin Habe fih jeit dem Attentat nicht mehr lich, 
gezeigt, jo Fehr fei fie erjchüttert worden. 

20. 3, 12. April. Die Verbindung mit Würzan ift unter: 
brachen, die Wege jeden unter Waller. Die Nailerin hat fi 
geweigert, Yaron Brinden als Abgejandten des Herzogs zu 
empfangen, was cin deutliches Zeichen ihrer Verftimmung über 
die Oraniihe Heirat) fei. Den Serzog werde das mit doppelter 
Aengitlichfeit bei Verfolgung des Planes in feinem Aeimmutb 
erfüllen. 

21. 8, April. Herzog will folgende Nachrichten 
erhalten haben: Nücmann fei angewielen worden, falls der Prinz 
von Oranien im Sommer nad) Nurland fommen jollte, bei Zeiten 
die Gemüther vorzubereiten, damit auf dem nächjten Landtage im 
Auguft das Verlangen einer definitiven Negelung der Sufzeffion 
geftellt werde. Der Gonverneur in Riga habe Anweifung auf . 
60,000 THl. Alb. erhalten, um die Glieder des Yandtages zu 
bejtehen, und General Pahlen foll ihn unterftügen. Der 9 
überlaffe e9 dem Könige, demnad zu entidjeiden, ob co befier 
wäre, die Neife des Prinzen bis nad) dem Landtage aufzuichieben. 
Der Herzog ei etwas empfindficd über einige Stellen in dem 
Briefe der Pringeffin von Oranien, welde Gelbfachen betrciien. 
Yreinden fei in allgemeiner Audienz wie Gefandte einer Madıt 
dritten Nanges empfangen worden, übrigens ganz höflich. Der 
Herzog ift fehr für Betreibung des Heirathavertrages. 





13096 veritche fich 





















































Zur Gejhichte der Unterwerfung Rurlande. 325 





N, 29. April. Der Nönig hat im Haag gerathen, die 
Neife des Prinzen zu verihieben. Dort fei die Angelegenheit 
fonjt ziemlich im Neinen; man arbeite am Nontrakt. Brinden 
habe eine Unterredung mit Oftermann gehabt. 

3, 22. April. Die Naiferin Hat an die Herzogin 
geihrieben, ob es nicht befier wäre, die Prinzeffin Withelmine 
an den Sohn des Prinzen Narl Biron zu vermählen. Die 
Herzogin hat geantwortet, eine folde Ehe werde der Herzog 
niemals zugeben, worauf die Norreipondenz von Petersburg aus 
völlig abgebrochen worden ift. YWuch it die Anfrage der Herzogin 
wegen einer Neife dorthin unbeantwortet geblieben. Yon Petersburg 
ans wird im Haag weiter gegen den Heiratheplan agitirt. 














2 April. In Warichau erzählt man, im nächiten 
Monat würden fi 80,000 Mann Nufen an der Grenze jammeln. 
N, 4. Mai. Die Kaiferin jei entjchieden gegen die Konftitution 
Mai und wolle fie vernichten. 

248, 29. April. Die Truppen aus Niga marjchiren 

mach Polozk; es Heißt, fie würden von da über die Düna nad) 
Polen einrüden. Die Polen in Petersburg hätten zu gewifien 
Zweden von der Naiferin große Summen erhalten. Die leptere 
joll an eine Ehe des jungen Prinzen Biron mit einer Örohfürjin 
denfen. Diefe Nachrichten feien nicht. ficher. 
25. 3, 6. Mai. Aus Petersburg kommen Eriegerifche 
Nacprichten gegen Polen; cin Manifeit gegen die Nonflitution 
vom 3. Mai fei jhon fertig. Man habe in Petersburg Kunde, 
daß der Jafobinerfiub in Paris einen Meucelmörder ausgefandt 
habe, um die Staijerin zu ermorden, weohalb entipredende Weifungen 
zur VBerwadung der Grenze ergangen jeien. In einer grohen 
Veratjung habe man beichloffen, alle Franzofen, deren co etwa 
20,000 in Rufland gebe, bei Todesitrafe auszwoeijen, mit 
Ausnahme derer, die jhon 15 Jahre lang im Yande find. 

26.3, 10. Mai. Brinden ift aus Petersburg heimgefehrt. 
Er berichtete, die Naiferin jei bei jehr guter Gejundheit. „Toujours 
ide encore de ces pl qui dans tout le cours de 
le“ -- mache fd) doch das 

















a 
sa vie ont eu de Fattrait ponr 
Alter geltend; daher Yaunen, Nervofität, Jährern, Unvorfichtigfeit 








2 Zur Gejchiehte der Unterwerfung Nurlande. 


im Bewahren ihrer Gedanfen. Aenferit eigenwillig, dulde fie 
feinen Wideriprud. Die Nälte zwiihen ihr und dem Sroffürten 
wächlt; biefen ärgert es, dal; jein ältejter Sohn ins Vertrauen 
gezogen und möglichit in die Geidhäfte eingeweiht werde. Zn den 
Minifterien Herriche immer noch das Prinzip, Mittelmäigfeiten 
zu haben und zu halten. So werde Nitolaus Soltykom Chef des 
Kriegsfollegiums werden, Dftermann und Beiborodfo werden ihre 
Aemter behalten, obgleich Subon das Mögliche gethan Habe, um 
leteren zu jtürzen während deijen Abmwejenheit zum Kongrei. Es 
fdjeint, dal; Zubow die Naiferin zu Gunjten der infurgirten Polen 
geitimmt habe. Indeifen jei wahridjeinticher, daj; Subow mur 
nach den Inftruftionen der Naiferin jelbft in diefer Sache gehandelt 
babe und biefe einen feiten und alten lan verfolge. 











Sortfegung folgt.) 




















Züge ans unjerer provinziellen Rhyfioguomie 
vor 30 Aahren. 


Nadyorud verboten. 

Der Geichichtichreiber unferer Tage und der fommenden 
Jahrhunderte wird in den Zeitungen und politiichen Zeitfchriften 
eine der wichtigiten hitorifchen Quellen erblien mühlen. Die 
politiihe Prejie bat eine Neihe anderer hiftoriiher Quellen 
das fann nicht ohne ein gewifies Bedauern regijtirt werden — 
ftarf zurücgedrängt, wie die Memoiren: und Kalender-Litteratur, 
oder gar völlig aufgelagen, wie die Chronifen; das it zu bedauern, 
denn in der Tagespreiie haben wir ein unbequem weiticichtiges, 
breitipuriges, ivrthumreides und hiftoriich jehwer zu bewerthendes 
Material vor uns.  ichwer füllt cs, fih in dem unabgeflärten 
Gewirr der Tageseindrüde, im Ballafı des oft Fritit- und 
tommentarlos aufgehäuften nadten Nachrichtendienftes, in der 
mit der wachjenden Inanfpruchnahme des Telegraphen Tich 
fteigernden Unverdaulichfeit der dargereichten politiichen Materie 
zurechtzufinden, das Dauernde an Nulturgedanfen und Sultur: 
momenten von dem flüchtig vom Augenblid Geborenen ımd flüchtig 
und folgenlos in dem Angenblid Verraujchenden zu jcheiden? Auf 
der anderen Zeite aber leitet uns die in der ‘Brefle  erichlofiene 
biftoriiche Quelle ein friichiprudelndes, werthvolles Material zu, 
das für die Zeitgeidichte geradezu unentbehrlich erichei 
einen direkten Abglanz der Wirkung der Seichehniffe und geiitigen 
Vewegungen auf die Zeitgenoffen, eine, allerdings Teineswegs 































528 Bor fünfsin Jahren. 


fütenlofe, aber in voller Zriiche vor uns erfichende Neihe von 
Momentbildern unmittelbariter iubjeftiver Wahrheit fi das 
objeftiv vom Kiftorifer zu zeihnende Zeitbild. 





Einige jolcher Momentbilder ans dem politiihen und geiftigen 


Leben unferer Heimath vor 50 Jahren, nicht etwa ein Fritifch zu 
entwerfendes Vollbild damaligen Lebens, jei mm ans einer 
unjerer Hiftoriich-politifchen Zeitfehriften jener Epoche der jeigen 
Seneration ins Gedähtnifi zurüdgerufen — in der Hiinung, dal 
Manchem eine Erinnerung an den Ausgangomunft der in dieh 
teten 50 Jahren zuücgelegten Wegeftvede nicht umvillfommen 
fein wird, zumal fh für den Weiterblidenden daraus aud) hier 
und da Zielpunkte für die zufünftige Entwidelung ergeben werden. 
Gefchöpft Find diefe Erinnerungen aus dem Jahrgange I816, 
der feider jeit mehr alo 30 Jahren eingegangenen vortreiflichen 
einftigen Dorpater Wochenihrift „Das Inland“. Mic wenig 
aud) diefe eime Quelle für eine allgemeine Schilderung jener 
geit ausreichen mag, jo nimmt fie dad, wenn icon einmal nur 
eine Zeitichrift zur Belebung der Neminiscenzen aus jenen 
Tagen herangezogen werden foll, unter ihren Geidniften gerade 
für die Hervorfehrung der Sauptzüge jener zeit die erfte Stelle 
ein. Zwar war icon damals dao „Inland“ in Bezug auf 
Monnentenzahl durch die „Nigiiche Zeitung”, zumal feit deren 
täglichem Gricheinen, bei Weiten überflügelt; aber eineotheile 
konnte 09 togdem nicht mit Unrecht als „Das Dauptorgan der 
eprovinzen“ von Neval aus apoftropbiet werden, weil «6 
jaftiich in gewiflen Uinfange die Zumma des geiltig Ichöpferifchen 
Lebens der Provinzen veprälentirte, anderentheils eignet jie fi 
im Vergleih mit den mehr dem Nachrichtendienft zugewandten 
vein politiichen Blättern jchon alo Wochenblatt, welches mit ehr 
anerfennenswerther duftiver Yeiltung feiner zahlreichen Mit 
arbeiter gereiftere, mit größerer Muße durchgearbeitete Negiitrirung, 
des einheimischen Stoffes verband, wie auch durch feine relativ 
ebenmähige Vertretung der Juterefien aller dreier Provinzen in 
bejonderem Mahe zur Verwerthung zu dem in Nede jtehenoen 
Zwed. Nit einigem Stolz wird im „Inland“ fetbit vermerkt, 
dab damals dieje Zeitihrift (als einzige inländiiche aufer der 
fig. 319.) Sich zu einer Auflage von mehr ale 300 Eremplaren 







































Vor fünfzig Iahren. 5 








erhob, dab feine Lejer über das ganze ruffüiche Neich „von den 
amerifantichen Nolonien herab bis nad) Cibirien und Trans: 
faufafien“ verbreitet waren und dah; felbft ins Musland einige 
Eremplare gingen. — Als Redakteur des „Inland“ fungirte jeit 
Begim des Jahres 1816 Profeilor Dr. €, v. Hummel; unter 
feiner Medaftion nimmt dieie „Wochenichrift für Lio-, Cjt: und 
Aurlands Gefhichte, Geographie, Statijtif und Yitteratur“ einen 
entfchiedenen Mufichwung. 











+ 





Tas Jahr 1846 fteht unter dem Eindrud zweier Ereignifje: 
unter dem der Hungeronoth der Jahre 1844 ımd 1845 umd 
unter dem der großen Konverjion, des Liebertritts des 
Landvolfes zur  griechiich « orthodoren Kirche.  Dieje beiden 
Ericheinungen find im Jahre 1846 gegebene IThatiahen, mit 
denen man fid) abzufinden hat. In Mandhem erinnert jene Zeit 
an die Phyfiognomie unferer Tage: wie heute, jo jtand aud) 
damals der Kandınann umter dem jhweren Druc_ einer materiellen 
Nothlage, und wie wir heute der durchgeführten „Neorganifation“ 
umferes Lebens in Schule, Gericht und Verwaltung von Angeficht 
zu Angeficht gegenüberitchen, fo ftand man damals vor der offenen 
Breiche, welde die stonverjion in die fonfeffionelle Geichlofienheit 
der baltischen Yandbevölterung geichlagen hatte. - Das Bezeichnende 
der Zeit vor 50 Jahren liegt darin, daß man gegenüber den 
eingetretenen Dingen nicht in jchwächlicher Nejignation die Hände 
in den Schloß legte, jondern ich vielmehr zu geiteigerter geiftiger 
und wirthichaftlicher Negiamkeit, zu neuen vorgejchritteneren Jdeen, 
zu vermehrtem Arbeiten für fid) und das Gemeinmohl angetrieben 
fühlte. Wenigitens gilt das von den beiferen md führenden 
Geiftern jener Tage. 

Schwere Wunden waren 06, die den drei Provinzen von 
der Hungeronothb und Theuerung der Jahre 1544 und 
1845 geicjlagen waren und die mun im der enjten Hälfte des 
Jahres 1846 zu ihrer volliten Erjcheinung gelangten. Ueberall 
im Yande herricht Roth und Entbehrung und nur der Senfenmann 

Der offizielle Bericht („Anland“, ©. 637) 
das Jahr 1845 in der Nubrit „verhungert” 





























Vor fünfsig Jahren. 


für Livfand nur die aber abgeichen davon, dah hier 
and die 2 „an den Folgen des Hungero Beftorbenen“ und fraglos 
wohl aud) der gröfte Theil der 33 (1) „todt Gefundenen“ hinein 
tangiven, war dev Hunger bei Tanienden die verhängnihvolle 
Vorfrucht für den unter den verichiedenften Nranfheitoformen fie 
binmähenden Tod. Da it die im Frühjahr in Niga auftauchende 
„Modefrantheit Grippe” nod) eine ziemlich unfchuldige Plage; 
furchtbar wüthet an vielen Orten, im Dörpticen, Fellinfchen u. |. w. 
die Blntruhr. „Nranfheiten aller Art”, heist eo in einem Bericht 
vom Mai 1846 ans Kurland (2. 551), „haben id) über Stadt 
und Yand verbreitet, Falte Fieber, Nervenfieber, Zluhficber, Augen 
entzünbungen u. |. w., und große Sterblichfeit it zu dem Vangel 
und der Thewerung noch hinzugefommen; überall ift die Zahl der 
Gejtorbenen größer, als die der Geborenen md in manchen 
Gemeinden igt fie das Doppelte”. 

Die Sterblidteit in Yivland ii für dao Jahr 1845 
größer, als fie in dem jclimmjten Cholera:Jahr geweien üt; 
während in Yivland in dem auch schon jehr böfen Jahre 1844 
bie Zahl der Tobten noch nicht 23,000 betrug, tritt man in das 
Jahr 1846 mit einer Todtengiffer von 33,500 Todten aus dem 
Vorjahre. Diefen 33,500 Todesfällen jtehen nur 22,790 Geburten 
gegenüber (gegen mehr als 27,000 in den Jahren 1813 und II), 
jo dal; Fivlands Vevölferung zum Jahre 1816 fh um 10,777 
Seelen vermindert bat — eine um jo bezeichnendere 
Erfcheimmg, alo dieie Provinz felbft in den Jahren 1813 und 
IS noch einen natürlichen Bevölferungszumacds von 10,050, 
bezw. 9807 Zxelen aehabt hatte. 

Das „Inland“ wirft mit Bezug hierauf die frage auf: 
„Woher dieje merfwürdige Verichiedenheit?" md beantwortet fie 
dann, wie folgt: „Wir können nicht anders, als darauf erwidern, 
dah die totalen Mihernten der beiden feyten unmittelbar auf 
einander folgenden Jahre durch den Mangel und das übergroße 
Elend, das fie für alle Yandbewohner heibeiführten, von großen 
Ginftuh daranf geweien, ja ale die unmittelbare Urfache anzuiehen 
find. Wohl haben allgemein herriende Nranfheiten, wie die 
bösartig auftretende Nuhr, die peitartig im manchen Gegenden 
ihre Opfer forderte, viel mit dazu beigetragen. Aber — abgeiehen 


















































Vor fünfzig Jahren. 531 


davon, dab diefe alo unaunbleibliche Folge der überall fchlechten 
oder fehlenden Nahrungsmittel anzunehmen fein möchte —— bat 
fi nad) den eingegangenen Parodial-Liften und Nachrichten die 
auffallend größere Sterblichkeit auc) in jolhen Gegenden erwiefen, 
wo die Ruhe garnicht geherricht hat”. 

Wie auf dem Yande, jo ijt natürlich auch in den Ztädten 
gedrüchte Stimmung, viel Elend. „Schlechte Zeiten, leerer Beutel, 
leere Herzen, feine Geichäfte* wird aus der Embady-Stadt im 
Januar 1846 geflagt (2. # Das mag jicherlid auch für die 
anderen Städte zugetroffen fein, nur gegen die „leeren Herzen“ 
dürfte vielfad) und mit gutem Recht Yroteit eingelegt worden 
fein. Denn mit der zunehmenden Notl vegte fi) aud) menjcen: 
freundliche Opferwilligfeit. Won der Negierung wird darkchensweih 
Getreide für mehrere Humderttaufende von Nubeln für die Oftfee- 
provinzgen aufgefauft und Sammlungen für die Nothfeidenden 
werden mit Erfolg organifit. So wird im März 1846 über 
aus Moskau von Wohlthätern bei den Trtopredigern eingelaufene 
Spenden von 700 Nbl. €. für die Nirdipiele Noddafer, Torma, 
Naweledht und Ningen quittivt; eine mod) gr „aus Moskau 
und von MWohlthätern im Innern Nuflande“ fammende Summe 
fommt den Kirchipielen Iheal- Folk, Mariendurg, Schwaneburg, 
Handen, Namby, Nauge, Saara, Marien-Magdalenen, Wendan, 
Lais und Nüggen, jowie der Alt-Yaipenichen Gemeinde zu gute, 
In den baltiichen ädten wird fait überall Bilfe für die 
Nothfeidenden organifirt. So treten in Nina, Dorpat, Wenden 
und anderen Orten Suppenanjtalten in Wirffanfeit, in Wolmar 
üt eine „Armen-Nommiffion“ thätig, „welche den erforderlichen 
Lebensbedarf herbeiichafft und vertgeilt”. 

And auf dem Yande fehlt eo nicht an Zügen großer 
Opferwilligteit. Das  hübichefte Weilpiel wird wohl aus 
Krengburg erzählt. In dem Bericht de „Inland“ 
2 7) heiht eo Hierüber: „Won den ca. 845 zur hie 
evangeliich-lutheriihen Gemeinde gehörigen Vauernwirthen war 
der größere Theil jowohl durch mancerlei göttliche Heimfuchungen, 
als dur eigene Schuld in groje Gutojchulden hineingerathen, 
welche, nad) Geldeswerth berechnet, die Summe von - 100,000 
NL. überitiegen.... Da jandte Gott dur) den Erbieren 













































Vor fünfin Nahren. 


des Gebiets von Nreugburg Dilfe, indem diefer, da er felbjt die 
Verwaltung feiner Leute und Güter übernahm, von einem mit: 
fühfendem SHerzen und chrilihen Sinn getrieben, dem Prediger 
von Nreugburg den freudigen Auftrag gab, am heiligen 
Weihnachtsfeite feinen Exrbleuten anzuzeigen, dal er denfelben 
alle alten Schulden erlafie, indem er ihnen durch dieje 
Feftgabe zeigen wolle, wie jehr er fie liebe und ihr Wohlergehen 
wüniche und da cs ihm eine wahre Herzensfreude fei, ihnen mit 
diefem jtarfen Beweis einer Liebe allen ihren guten Geborfam 
und Treue zu vergelten, mit der fie in allen, fowohl 
leiblihen als geiftliden Veriuhungen  jtandhaft 
ausgeharrt haben und jeder Zeit, jelbft auch in den fehwerjten 
Zeiten, bereitwillig gegeben haben Gott, was Gottes, und dem 
Raifer, was des Nailers üt. — Nad beendigtem Gottesdienfte 
am Weihnachtsfefte verfündete der Prediger feiner Gemeinde dieje 
zeitliche Sreude. — Zugleich muß auch deifen hier gedacht merden, 
wie gütig und weislich die Verwaltung von Kreugburg für ihre 
Leute, jo viel fie nur mag, Sorge trägt, damit Keiner Hunger 
leide. Von dem Getreide des Gutes wird nicht ein Yoof verkauft, 
iondern es ift nad für 10,000 bl. E. Getreide angefauft 
worden, welches mit Strujen erwartet wird...“ In der That, 
ein Akt hohherziger Opferwilligfeit! 

So viel über die materiellen Mittel, mit denen man der 
Nalamität Herv zu werden fuchte; wie die Noth der Zeit auf die 
landes: und agrar:politüchen Verhäftniiie zurüchwirfte, wird weiterhin 
befonderer Betrachtung unterzogen werden. 

Das Jahr 1846 jelbt bringt eine ziemlich exgiebige Ernte. 
Die Nornpreife finfen vajch; jtatt 10 Nbl. ©. pro Tichetwert 
Noggen und Mehl wird nm etwa die Hälfte davon bezahlt. 
Zeit dem Jahre 1846 haben die Tftjeeprovinzen nicht wieder 
unter einer allgemeinen Kungeronotf zu leiden gehabt. 




















Neben der Hungersnoth war die Nonverjion von 
Leiten und Eiten zur griehiid-orthodoren Kirde 
diejenige Thatfacbe, welde im Yande am tiefften die Gemüther 
bewegte. Wie die Yungersnotb, jo hatte aud) diefe „unrubige 





Vor fünfsig Jahren. 


Verwegung unter dem Landvolfe“ im Jahre 1846 ihren Höhepunkt 
bereits überichritten. 

Der offizielle Bericht des Miniftero des Innern pro 1845 
1235 1239) fonftatirt: „Das bemerfenomwertheite 
Ereigniß im der Antheriichen Nirche in Nufland war der 
plöglihe Wunid vieler Bauern des livländiicdhen 
Gouvernements, mit der Nechtgläubigkeit fi zu vereinigen; 
diejes führten gegen 14,000 eeten aus.“ Dem „plöglichen 
Wunich” der Bauern folgte Anfangs jummariih und ohne 
Weiteres die Erfüllung. Dann erging ein Allerhöchiter Befehl, 
wonach die Saldung „der fid Yereinigenden“ nicht früher 
bewertitelligt werden jolle, al nadı Verlauf einer 6-monatigen 
Friit nad Erklärung ihres Winfcher zum Uebertritt in die 
griechiic-orthodore Kirche; das hatte den Effekt, da feitdem nur 
no 2500 Seelen unter den Wünjchenden eridjienen. 

Das Jahr 1846 bringt dann jeitens der Negierung eine 
Neipe von Mahnahmen, um die durch den plögfichen Wunich der 
griechifch-ortHederen Kirche gewonnenen Seelen Firdenregimentlich 
jev anzugliedern. An pril 18:46 ergeht im Auftrage des 
lv, eft- und Furländiichen Generalgonvernemo Golomwin cin 
Vefchl folgenden Inhalts (2. 103 

1) dal nach dem Allerhöcten Willen Zr. Naiferlichen 

Dajeftät im Yivländiichen Gouvernement 34 vechtgläubige 

‘Bforrbezirke, von denen 18 für Yetten und 16 für 

Giten, eröffnet werden; 2) daß zur Zahl diefer Bezirke die 

jest beitchenden 9 vredhtgläubigen Kirchen gehören, und zwar 

namentlich die zu Niga, Torpat, Yenjal, Bernau, Wenden 

und Werro und die in den Dörfern Tichornaja Derermmja, 
und Nappin - - die übrigen 25 Nirchen jollen ohne 
Aufenthalt neu erbaut werden, fowie die Däufer für die 
Seiftlihen und Kirchendiener und für die (bei 
Schulen; 39 dab bis zur Errichtung dieler bejtändigen 
Bfarrbezirfe und zur umverweilten Befriedigung geijtlicher 
Notbdurft der Neuvereinigten bereits zur Errichtung temporärer 
Nirchen geichritten it; 4) dab zu diejem Ende die beftimmten 
Parrbezirfe bis zur allendlichen Errichtung der beftändigen 
Nürchen unter die temporären irchen vertheitt werden; 5) 
dal jonad) den rehtglänbigen Geiftlichen, wenn fie ihre 
Eingepfarrten befuchen, jedem in den Grenzen feine Bezixts 
jede Mitwirkung der Orts Autoritäten zu Iheil werden muß; 









































534 Vor fünfzig Jahren. 





diefen ift, dabei die Erfüllmg der die Jreibeit des 
redtgläubinen Sottesdienites fidernden Ber 
fnmungen 1. Abth., 1. Nap., 14. 3b. des Em. der 
Gejege eingelbärft worden; 6) daf die zur Nedhtgläubigeit 
vereinigten Bauern unter feinem Vorwande und in feiner 
Weile von der Erfülhung der Verpflichtungen des Glaubens 
und des (Gottesdienjtes abgelenft werden dürfen; 7) dab 
Diejenigen, welde fid noch ferner vereinigen 
wollen, zu Verzeichnung ihrer Namen in die dazu 
befonders errichteten Schnurbücher ımaebindert fidh bei 
den rechtaläubigen Geiftlichen derjenigen Kfarrbegirfe, in 
denen fie wohnen, melden Fünnen, ohne deshalb von ihnen 
irgend welche bejondere_ Erlaubnißicheine v yettel zu 

verlangen; 5) daß die foldbergeftalt beim Weiftlichen vers 

jeichneten Bauern von denfelben ein gedrudtes Yeugnil; 

darüber erhalten, dal die deshalb gefeslich vorgefchriebenen 

Normen beobachtet worden und ie nad) Ablauf der zu Diefem 

Ende bejtimmten jebomonatigen Frift, wenn fie ihre Abficht 

nicht Ändern, ungehindert zur vedjtgläubigen Nice durd) 

jeden Geiftlichen vereinigt werden fünnen, aud wenn er 
der Geiftlihe ibres Pfarrbezirfo nicht wäre, jobald 
das obbemerfte gedrudte Zengnih erweilen; und endlich 

9 da die Anwejenheit der Zivilbeamten bei 

Verzeihmmg und Befragung der Bauern durd) den Geiftlichen 

— behufs ihrer Belehrung Darüber, va mit der 

Veränderung der Religion gar feine weltlihen 

Vortheile verbunden find und dah ihre Verbältnifle zu 

den Gutobejipern, als durd Neichsgeiege beitimmt, heilig 

und unangetajtet bfeiben in früherer Grundlage jtatt- 
finden mu. 

Ein beigelegtes Verzeihnih macht die vechtaläubigen Part 
bezivfe (Miga, Wenden, Wolmar, Walt, Yemjal, Dorpat, Werro, 
Fellin, Pernau, Diorigberg, Denjelohof, Nolzen, Uerfüll, Kofen: 
bufen, Groß Dohn, Keritenböhm, Lojohn, Marienburg, Alt-Pebalg, 
Eihenbof, Aujen-Tornai, Cichenangern, ITihornaja: Derewnja, " 
Noffow, Nappin, Bahnhof, HYeimaden, Narolen, Zagnig, Zoontaf, 
Kajtolag, Rawelecht, Manhof und Oberpahlen) nambajt; ein 
weiteres Verzeihnih zählt die zu eröffnenden temporären 
rehtgläubigen Kirchen auf. 

Bereits vorher (2. 42 127) war die Anordnung gelroffen 
worden, daß an denjenigen Orten, wo Feine Gottesäder 
der griediih-orthoderen Nirden vorhanden oder für 





















































Vor fünfzig Jahren. 





5 


die zur Nechtgläubigfeit übergetretenen Yandbewohner nod) feine 
befonderen ‘läge des Nirchhofes eingewiefen find, vorläufig, jedod) 
ohne Theilnahme des Pajtors, Nüjters oder jonjt eines Iutberiicen 
Sürchenbenmten, die zur griediic-orthodoren Kirche Neuvereinigten 
auf dem Iutheriichen Kirdbof „beerdigt werden können” 
und daß „die Herren Prediger die Herren Nirdenvorjteher 
zu reguwiriren haben, um Mahregeim zur Beerdigung der 
Vebergetretenen in gefeglicher Crdnung und Tiefe ergreifen zu 
lajien.“ 

Auf den Ss. und 12. Juli werden dann Torge zur 
Erbauung orthodorer Kirchen nebit Gebäuden fir 
Priefter und Schulen auf den Gütern Uerfüll, Nofenhufen, 
Morigberg, Henielshof, Grofdohn, Neritenbehm, Pebalg, Cidhenbof, 
&viohn, Wariendurg, Nujen- Tornai, Cihenangern, Heimadra, 
Bahnhof, Karolen, Naweledht, Najtolag, Soontat, Jmjärw, Vlanhof 
md Oberpahlen angefeßt. 

Für die im Bau begriffenen orthoboren Kirchen fliehen, 
begünitigt von Naiferlihen Guadenerweiien, Spenden ein. Co 
wird unterm 15. Jumi 1846 für Darbringung folder Gaben 
dem Petersburger Nommerzien Nath Ponomarow, dem ehemaligen 
Mostauer Stadthaupt Scheitow und dem Petersburger Ehren 
bürger Nudrjeichen das Wonarchiiche Wohlwollen net und 
dem Yeptgenannten überdied eine goldene Medaille am Andreas: 
Vande verliehen. 

- Wie ftellte man fh im Yande zu diefer Bewegung? 
Was wir aus dem Jahrgange 1846 des „Inland“ hierüber 
erfahren, beichränft ih naturgemäß mehr auf Andeutungen und 
fomptomatiiche Berichte. 

Ueber die am 14. Auguft zu Walf eröffnete fivländiice 
Provinzial-Symode bringt das „Inland“ feinen Eigen 
bericht. Es meldet über den Zujammentritt der Synode nur 

2 2m 14. Augujt begann hierjelbit tin Walt) mit 
Gotteodienit in der Stadtfirhe die diesjährige 
livländiiche Provinzial- Synode. Herr Paltor von Holit aus 
Sellin begrüßte die Spmodalen in einer Fräftigen Anrede über 
Jeremias 30, 10 u. 11 und adminiftirte die Liturgie. Die 
Predigt hielt Here Paltor Näylbrandt aus Nen-Pebalg über 























Bor fünfsig Jahren. 





Joh. 7, 37.39 und behandelte hiernach die von Chrifte der 
Kirche geftellte Aufgabe, damit Ströme des febendigen Wafers 
nad) feiner Verheißung aus ihr fliehen.” —- So viel über die 
nächjtbetheiligte der Synoden der drei Provinzen. 
Mehr teilt — und zwar nach Ulmann’o „Mittheitungen“ 
— der Jahrgang 1846 des „Inland“ 573-575) über die 
im Auguft 3845 in Mita abgehaltene II furländiice 
Provinzial-Spnode mit. hr gaben die Signatur wohl 
die unmittelbar nad der Begrüfiung jeitens des General: 
juperintendenten aehaltenen beiden Vorträge, worüber berichtet 
wird: „Paftor Elverfeld aus Zelmeneefen und Pajtor Vraiche 
aus Nieder-Vartau praden über das Thema „Vetus illud 
Lactantii: augetur religio. quanto magis premitur“.*) 
Anklänge an diejes Thema jcheinen aud) andere Zunodal- 
Vorträge enthalten zu Haben; mehrere derielben behandeln Fragen 
zur praftiicen Seiligumg des religiöfen Lebens. So erörtert 
YPajtor Zimmermann aus Holjumberge die Grfahrung, dal 
die bereits Nonfirmirten der lettifhen Gemeinde 
fi) nad der Nonfirmation in der Hegel wenig mehr um das 
Fortichreiten in der Lehre bemühten und cs daher bei der oft 
mangelhaften orbereitung der Nonfirmanden Noth tue, dem 
möglichft abzuhetfen. Er tyeilte mit, da ex in diefer Abficht die 
Nonfirmirten des vorhergehenden Jahres an einem Modentage 
verfammele und ic dabei vornehmlich bemühe, die Bibel mehr 
als das Gejangbuch zum Hausbud der Yerten zu machen. 
Diefe Mittheitung wurde (ebhaft beiprochen und jheint auf volle 
Zuftimmung geflohen zu fein. — Weiter empfahl Paltor Seeberg 
aus Wahnen „die fogenannten Nleindeuticen und deren 
Sindererzichung“ der befonderen Beachtung der Spnodalen. 
„Die Synode ertlärte fh nad Mittheilungen anderer Amtobrüder 
in diefer Sinfidht vollfonmen einverfianden mit dem Antrage 
Paftor Hillmer’s: die Emmode möge erklären, dal; fie «6 
für fehr beiten halte, dah jeder Prediger mit der durd die 
möthige Wantoweisheit gebotenen Perüdichtigung der Tpegiellen 

















































* Das alte Wort des Yartanlins: „Die Neigion wird um fo mehr 


geitäctt, je mehr fie bedrüdt wird.“ 





Vor fünfsig Jahren. 


Verhältnifte jährlich aud die Kinder der dbeutichen Gemeinde 
in ihrer Neligionsfenntniß prüfen und fo viel als möglich auf 
ihren Unterricht im Chriftenthum  eimwirfen möge.” — Paftor 
Scyesmn aus Tauroggen — dies ift wohl zugleich ein Nachflang 
aud) der Hungersnoth;Nalamität iprad) über eine mit der Kirche 
zu verbindende Almojenpflege. — Oberlehrer Engelmann 
onnte die Mittheilung machen, dah die Bibelverbreitung 
„af Überrajchend erfreuliche Weile” zugenommen babe. Mit 
der wärmjten Sympathie wide die Auftorderung des General: 
Konfitoriums zur Stiftung eineo Vereins behufs Förderung 
der geiftlihen und firdlihen Zwede der ärmeren 
evangeliihen Gemeinden des Neiches aufgenommen. 
— Mit dem GChdoral „Eine feite Burg it unfer Gott“ ward bie 
furfändifche Synode geichlojien. 

Die eitländiihe Wrediger-Zynode des Jahres 
1546 tagte in Neval vom 16. Juni.  Gröfnet ward jie 
(vgl. ©. 1180 -1191) vom Generaliuperintendenten Dr. Nein 
mit einer Predigt über Matth. 16, 3 „Nönnet ihr denn nicht 
aud die Zeichen dieier Zeit urtheilen?“ Nach dem 
Synodal-Hotteodienft wurden dem Generaliuperintendenten von 
einem Ungenannten 300 RL. &. für die nothleidenden 
eitnifchen Bauern und vom Negierungsrath v. Schwebs 2500 
Gremplare des eitniihen Traftate „Dalte fei, wao du 
daft!“ zur Verteilung in den Nirdipielen eingehänbigt. 
Propft Slanftröm und Palter Scholvin beantworteten 
die Frage: „Was hat die gegenwärtige Wufregung unter 
unjerem Yandvolf verujadt?” Pater Harten von 
Fietel ftellte die Behauptung auf, dab die Kulturftufe unjeres 
Kandvolkes zu niedrig jei, um die Höheren Wabrheiten der 
Neligion würdigen zu innen, 5 müe daher durch Schulen 
i i Die Symodal- 
9: zu allen Seiten, in denen bie 
Kir de verfiel, it fie durd) ihre Diener verfallen -— hiftoriich 
nachweiien?” beantwortete Paitor Grohmann von Turgel. 
Eine zweite Frage: „Wenn Ale, denen das gedeihlihe Fort: 
beitehen der evangelifhen Kirche am Herzen liegt, 
darin einverftanden fein möchten, daß in unierer viels 






































538 Bor fünfzig Jahren. 





bewegten Zeit Cinigfeit unferer Kirche dringend Notb the, 
jo fragt es fd: unter welcher Bedingung fann eine folce 
Einigkeit nur beftehen oder worauf muß fie fh gründen?" — 
beantwortete Pajtor Hoerichelmann von Diartens, 

Aus dem, was id) aus diefen auszüglicen Mittbeilungen 
und Andeutungen herauslefen läht, geht mit genügender Deutlichfeit 
bervor, daß die Iutheriiche Geiftlichfeit die din die Hungersnotb 
und die Nonverfion zu Tage getretenen Schäden mit thatkräftigen 
Vorgehen zu heilen bemüht war —- dr religiöfe und fittliche 
Auftlärumg des Voltes, durch Hebung des Schulmelens. Wie 
weit in diefer Beziehung das Volt noch immer zuräditand, beweilt 
1. der Unftand, dafı auf einer Kigafchen Sprengels-pnode 
der Oberpaftor Trey auf den Mihbraudh aufmerfiam machen 
muß, der mit der Vejtattung von Leichen „auf dem Mududs, 
oder Kämmerberge, einem ungeweihten Ort“, nod immer 
getrieben werde und dafi man, um diefem Unfug abzubelfen, fidh 
zu der Bitte entichlieht, es möchte diejer verrufene Ort eingezäunt, 
geweiht und zu einem Kreibegräbmii für die Armen 
jenfeits der Düna bejtimmt werden. 

Die Nonverfion hatte Breiche geichlagen in eine vielhundert 
jährige Entwidelung: feit der Vorväter Zeiten war man garnicht 
auf den Gedanfen gekommen, «9 Fünne in dem gejchloffenen 
Zufammenhalten der Bevölkerung der drei Oftfeepropingen in dem 
evangeliich-tutheriichen Vetenntnih; eine Aenderung überhaupt ein 
Ireten, und num jab man plöglich die bisher feite religiöie 
Gemeinfchaft der drei Provinzen durchbrochen. 
er hifteriichen Tragweite und dem tiefen Gindrud diejes 
Greigniffes fonnte fh fein Einfichtiger entziehen. Die Wirfung 
der Vorgänge des Jahres 1845 fpiegelt fich mit befonderer 
Deutlichfeit in den am 5. und 6. Dezember abgehaltenen Jahres 
Verfammlungen der „Sefellichaft für Geichichte und 
Alterthumsfunde der Oftfeeprovingen in Niga“ 
wider. 

Da liegt der Gefellichaft zunächft ein Schreiben vor, das 
den Wunfd ausimict, „eine vollitändige Sammlung 
aller Aetenjtüde, welde auf die in diefem Jahre unter 
der fettiichen und eitniüchen Bevölterung Yivlands vorgefommene 























Vor fünfzig Nahren, 538 
Glaubenoveränderung und die Folgen diefes wichtigen 
Greignifies für Yandadel und GSeiftlichteit beider Nonfeffionen, für 
Handel und Gewerbe, für Gejtaltung der inneren Verhälmifie 
und der äneren Wohlfahrt des Yandes nd feiner Bewohner 
Bezug haben, anzulegen, um unferen Nachkommen ein möglichit 
getrenes Bild diefer Zeit zu überfiefern und eine parteiloie 
Darftellung der Verhältnifie vorzubereiten“. 

Ann 6. Dezember, dem Namenotage des Kaifers, tritt man 
dann zu der „allgemeinen feierlichen und öffentlichen Jahres 
verlammlung” zulammen und der Präfident der Gefellichaft, der 
ausgezeihnete A. 3. X. Zamjon von Dimmelftiern, 
Landrat) und Nonfiftorial-Präfident, eröffnet fie mit einer Nede. 
Mo Aufgabe der Gefellichaft jtellte er bin, aus den Weberreften 
des Altertpums die Geidichte der Provinz zu vervolljtändigen, 
Zerfwwenteo zu jammeln, Yüdenhaftes ausyufüllen und dasjenige 
aufzuflären, wao fich alo mangelhaft und zweifelhaft in den 
Uebertieferungen dev Worgeit darftellt; bezeichnend jagt er von 
diefer Aufgabe: „Fe will die Gegenwart nugen, um der Zuunft 
ein belohnendes Denkmal ihres Kleihes zu hinterlaifen“. 

Und dann heiiit es weiter im Bericht des „Inland“ (E. 151: 
„Snden er (Medner) ferner andeutete, dah Diele Vejtrebungen 
von der Yiebe zu unjerem gemeinfamen Laterlande zeugten und 
dah; dieie Yicbe in den Gemüthern Aller von neuem erwacht zu 
fein fcheine zu einer yeit, wo einerleits die Baltiihen Nedhte, 
Privilegien und Verfaflungen zufammengeitellt ih abermaliger 
Anerkennung und, wie wir hoifen können, danernder Befejtinung 
von der Duld unfereo Monarchen erfreuen und wo andererieils 
das Drangial der Gegenwart ung ungewih darüber läht, wie 
fidh unfere zufunft geitalten werde und wie aus feiner Ace 
der Khöniv unferer Provinz von neuem erfichen möge, 
wies er, fo groß auch uniere Sorge fein mag, auf das Vertrauen 
zu der Weisheit und Oerechtigfeit des Monarchen bin, woran 
wir neuen Muth ichöpfen follen. Ergebung und willige Fügung 
in Unabwendbares Ichrt und die Sefcjichte unferes  eigeniten 
Vaterlandes, das, im Innern neu gefräftigt, mehr alo einmal 
aus feinen Trümmern wieder hervorging und - wir jagen co 
mit ftolzen Benuftlein an politiichen Mwäften flein und 









510 Vor fünfzia Jahren. 


unfcheinbar, immer jo viele moraliiche Kraft Fich erhieft, 
dab es, bedentiam in Tich Telbit, Anderen als Vorbild 
der Treue, des Gehorfams und der Gefittung diente. 
Erhalten wir uns diefes VBenußtfein! Co zu nähren und zu 
bei 
Bejtrebungen, auch unjeres Vereins. Hier, wo uns zunäcjit die 
Vergangenheit und das Alterthum beichäftigen, erwähnte der Herr 
Feitredner der Gegenwart, weil fie, bedeutfam für die Gedichte 
imferer Tage, chen jegt eine forafältige Sammlung alles deiien 
zu erheifchen fcheint, was täglich vor unferen Augen vorgeht und 
an uns vorübersieht. Eine parteilofe Daritellung aus diefem 
reichen Vaterinl möge dereinft der Nachwelt befunden: „dah 
wir als danfbare Söhne der Vergangenheit aud den 
Enfeln ein nfmal würdiger Gefinnung binterließen 
und nicht mit Ächnödem Undanf uns des Ueberlieferten 
alo morich nnd in ji zerfallen entäußerten“. 

Ans einer Gefinnung, wie fie ih in dieien mannhaft: 
fernigen Worten ausipricht, mußte eine kräftige Neaftion gegen 
Trägheit auf geiftigem und firdlihem Gebiet hervorwadjien. 

Für die Velebung deo Firdliben Sinnes in 
unjeren Provinzen bietet der im Nede ftehende Jahrgang des 
snland“ jo manches Beilpiel. Unter Anderem werden von 
mehreren Predigern Nigas „zur Förderung chr tfenntnih“ 
außer den Tonntäglichen Gotteodienjten veligiöje jammlungen 
in der Kirche an den Wochentagen eröffnet md dort Bibel: 
erflärungen gegeben. „Für diefe Verfammtungen ipricht fich 
duch zahlreichen, die beitimmten Räume überfüllenden Befuch die 
regefte Theilnahme aus“ 203). 

In befonders hellem Licht aber titt der it in Anlah 
der Gedächtnihfeier des 300-jährigen Todestages Martin 
Luthers tam 6. (18.) Februar) hervor. 

Am begeihnendften lautet der aus der „Dörpt. Ztg.“ vom 
„Znland“ übernommene Bericht aus der Univerüitätsjtadt, wo «6 
heißt: „Dorpat, den 8. Febrmar. Am 6. d. Wits. fand die 
Gedächtnihfeier des Todes unferes großen Neformatoro Luther 
“am gleichen Tage mit der Feier im Auolande) jtatt. „Der 
todte Yuther?* mögen Einige achielzutend, Andere triumphirend 








gen ei die eigentliche Anobeute der wiilenichaftlichen 

















che 


























Vor fünfzig Jahren. 54 





austufen. Ia, der todte Yuther, aber von feinem Sterbelager 
gilt, was Widlif auf feinem Mranfenlager den auf feinen Tod 
boffenden Vettelmönchen zurief: Ich werde nicht jterben, fondern 
leben und eure böjen ten verfündigen... Was aber die 
Art der Feier anlanat, jo fand fie bei uns nicht in der Weije 
ftatt, wie fie in Dentichland vorbereitet worden — die utheriiche 
Gemeinde bei uns it als wie eine binterlafiene Withwe: fie 
trauert gleih Nabel und will fi nicht tröften faffen. Darum 
fand feine Öffentlie afademifde rt (wie Manche 
erwartet) flatt, jondern cs hatte cin Profeilor der Theologie 
die Lehrenden und Iernenden Glieder feiner Fakultät zu fh ins 
Hans geladen und cs ward dujelbjt nach einer Anfprache über 
Nom. 2, 12 ein Todeobericyt und Luther’s Velenntnii von 
3. 1528 verlefen. Darum fand aud Feine Kirchliche Feier jtalt, 
jondern «5 hatten fh bie und da in einzelnen Häufern 
Vefenner des durch Luther wieder ans Licht gebrachten evangeliich- 
apoitoliichen Glaubens zu einer jtillen Feier vereinigt. In 
der Sigung der (Belehrten) eitniihen Gelellihaft aber, 
welche gerade auf Dielen Abend fiel, ward nad) Beendigung des 
zue Ingesordmung Gehörenden Dr. Juftus Jonas Nachricht von 
dem en des chrwürdigen Vaters Yuther verleien und die 
Anwejenden jahten, erquicht durch den einfachen, aber aniprechenden 
Bericht, einmüthig den Veichluf, felbigen and in ejtnifcher 
Spradpe diuden zu Inffen und fomit and den Glaubensgenofien 
aus dem ejtnüchen olfe zugänglich zu machen“ 

In der St. Johannis:Kirche (eine Univerfitäts Nirche eriitivte 
damals befanntlich noch nicht) fand dann am 10. Kebruar „eine 
ernjte und würdige Nachfeier des 300-jährigen Todes:bedädhtniit: 
feites ftatt, in welcher der Prediger «5 der zahlreichit verlammelten 
Gemeinde dringendit ans Serz zu legen bemüht war, unerichütterlich 
feitzuhalten an dem Einen Deren umd dem Einen Glauben, der 
die Welt überwindet mit aller ih Angit amd der auch dem 
teuren Gotteomann Luther allein die Nraft verlieh, Welt und 
Tod und Grab zu überwinden“. 

Ju Riga wird ebenfalls am 10. Februar die firhliche 
Feier des Yuther-Tages in den jtäbtiihen und verfädtiichen 
Kirchen begangen Zuperintendent Bergmann 






































52 Vor fünfsiq Jahren. 





mahnt in der Petri nicche zu tenem Halten am Evangelium. 
Unmittelbar nad) dem Gottesdiente findet im Zanle des 
Gymmaftiums die Seneralverjammkung der Nigaichen Sektion der 
Bibel-Seieltichaft ftatt, die mit einer Yuther-Sedenkrede eröffnet 
ward. Der Direktor der Sektion gab darauf eine furze Ueberfiht 
über die „eritaunenswertben Forticritte der Vibelgefellichafts 
Thätigteit innerhalb des Zeitraumes von 42 Jahren“, Weiter 
„lieh Nedner Martin Yuther jelbft in feiner herrlichen Rraftiprache 
die Macht md den Zegen des Hotteswortes verfünden“, woran 
fich der Gefang des legten Berfeo aus Yuther's Triumphliede 
„Ein feite Burg it unfer Gott” anjchloh. Ferner tritt am 
18. Februar, dem Nalender- Datum des 300. Todestages Luther's 
nach Jufianiicher Zeitrechnung, die Große Gilde zu ihrer zweiten 
Faftnachts-Zufammenfunft zufamnen; an diefem Tage, „an welchen 
vor 300 Jahren der Nämpfer für Licht und Necht, für Wahrheit 
und Freiheit diefe Welt verlieh“, beichlieht fie, aus Mitteln der 
Side 2000 NbL. &. zum Aufbau der i. I. I812 eingeäfcherten 
St. Hertrudstivche Herzugeben und für den Neubau einer 
evangelifden Kirde jenieits der Düna ein Napital von 
10,000 Rbl. &. abzulafien. Weiter wird eine Subitription 
freiwilliger Beiträge gu Errichtung eines Martin-Luther 
Waifenhauies eröffnet und das Werk nimmt „einen gefegneten 
Fortgang”. Endlid) finde bier aus Niga nad) folgende Notiz 
vom Schlus des Nahres (©. 1187) Pag: „Durd wahrhaft 
hriftfiches Entgegentommen von etwa 300 Mitbürger unierer 
Stadt, die fid) zu einem jährlichen Veitrage von 1 Mol. ©. 
verpflichtet haben, it der Prediger der St. Hertrud:Kirche in 
den Stand neieht, am 10. November, als am Geburtstage unieres 
großen Neformators, eine Schule für Kinder armer, feiner 
Semeinde angehöriger Eltern, genannt St. Sertrud-Gemeinde 
Schule, nach eingeholter höherer Genehmigung zu errichten. 
so Ninder, cbenfo viel männlichen als weiblichen Gefchlechts, 
jollen in dient le in unden wöchentlich unentgeltlich 
Unterricht erbalten in der Neligion, im Kirchen-Gefange, im Yeien, 
Schreiben und Nednen die Mädchen auch Unterweifung in 
den weiblichen Handarbeiten durd) > Tamen, die fich dayu anfeiichig 
gemacht...“ 

































































or fünfzig Jahren. 543 


An Reval wurde der Todestag des Neformators am 6. 
(18.) Februar „in unferen Hauptichulen feierlich begangen“ 
und af Anordnung des Stadt-Konfifteriums am nädjitfolgenden 
Sonntag von allen hutheriihen Kanzeln in Neval „den Gemeinden 
in angemefiener Weife in Erinnerung gebradt” (©. 289). Im 
Haufe des Paftors TH. Luther, eines Nacfommen vom Bruder 
des Grofvaters Martin Luther’s, wurde ein als „die fchönfte 
Frucht diefer Todtenfeier” bezeichneter Vortrag gehalten und dann 
zum Velten zweier Aenenfchulen veröffentlicht. 

— — Man mochte durd die Konverfionsbewegung hier 
und da das Gefühl gehabt haben, der Bau des evangelifch: 
Iutherifchen Kirchenwefens in den drei Provinzen fei ins Manfen 
gefommen; das Jahr 1546 zeigte fchon, auf wie jtarfe Pfeiler 
er fich jtügte, 





* * 
* 

Wie es fih hier auf geiftlichem Gebiet regt zur Belebung 
des Eritarrten und Feitigung des Schwanfenden, fo jehen wir in 
dem Jahrgang 1846 der uns beichäftigenden Zeitihrift and) 
manche Symptome für das heihe Bemühen um Fortfchreiten 
auf agrarpolitiihem Gebiete und um materielle Fort- 
entwidelung. Das auf feine Gutsherrlichfeit fid, zurüdziehende 
Junferthum wird fcarf verurtheilt; der Anwendung der Prinzipien 
vollfter Sumanität, der neignung entwidelterer Formen ber 
Aderbewirthiehaftung, der Selbftarbeit und Selbtbilbung des 
Gutsbefigers wird das Wort geredet. 

&o zieht gegen junferlice Indolenz ein patriotifcher 
ferer mit folgenden zürnenden Worten (©. 54) zu Felde: 
+ „Wir tennen unfere Provinz micht, und weil wir unfere 
Provinz nicht fennen, fennen wir aud) unfere Güter nicht. Wie 
Vlandhem verflicht ein halbes Säfulum auf feinem Landfig und 
noch hat er nicht daran gedacht, in feinen Wald zu gehen, ein 
VBauergefinde zu betreten, ja Mandjer ift kam bis zur änferften 
Grenze jeiner Felder gefommen! Cinfam mit dem Anbau des 
eigenen Grumdftüctes beichäftigt, Faum die Bevölferung, die Kultur 
und den Voben des Kirchipiels fennend, freift Fein Gedanfe an 
bie mögliche Bedeutung der Oftfeeprovinzen hin, die geöfier find 








54 Vor fünfgig Iahren. 


als Boiern, als Jrland, die wahrheinfih mehr innere Quellen 
des Neichsthums, gewiß eine günfigere Handelstage haben und 
nur durch beifpiellofe Indofenz und Lereingelung der Landbefiger 
verhältnigmäßig jehe arım und jeher unbedeutend find... Mit 
Trauer erblidt man die Vetrebungen edler Patrioten, wie des 
vortrefflichen Landrat Bruiningf, die Gefundheit und Kräfte 
dem Laterlande barbringen — wenn die einfadhe Genugthuung 
ihnen verjagt wird, Thätigfeit und Eifer einer jüngeren 
Generation zum Gemeinfinn, zum Thaten blühender 
Vereine, zum wahren Wohle des Vaterlandes zu weden, 
wenn ed ihnen nur Wenige zu überzeugen gelingt, daß der 
Wohlftand des Einzelnen weit gewiiier aus dem Mohlitande des 
Ganzen, als umgefehrt hewwvargeht. Gott verhüte, ba unfere 
Nachkommen in gleicher Unwienheit der nächiten Umgebung, der 
vaterländifchen Zuftände aufwachien”. 

Die bänerlihen Verhältniffe werden denn aud im 
„Inland“ durchaus von einem aufgeflärten, durd) die nachmalige 
Entwicelung glänzend gerechtfertigten Standpunkt aus betrachtet. 

Von hohem Intereife it gleich der erfte Artifel des Jahr: 
ganges 1846, in weldem Ernft v. Nechenberg:Linten unter 
ipegieller Berüdfichtigung Nurlands die „Yauernverhältnifie in der 
Detonomie, in Beziehung auf die frühere Leibeigenfchaft und bie 
Entwicelung des Banernitandes nad) derielben“ behandelt. Nod) 
waren nicht 30 Jahre feit Aufhebung der Leibeigenfhaft veritrichen 
und jenjeits der Narowa und Melifoja fand die Leibeigenfchaft 
noch völlig ungebrochen da; aber der Verfaiier des Anfiakes 
fonftatirt gleich Eingangs: „Der Befig einco Leibeigenen üt 
bei uns {hen ein ganz veralteter, nad) dem gegenwärtigen 
Vildungsftande unferer Provinz aud moraliid ganz 
unwendbarer Nedtsbegr Herr und Diener würden 
fich ganz eigende gebehrden, wenn fie fih nicht trennen Könnten, 
und Erjterer, wenn er ihm auch fortzutreiben Uriache hätte, für 
ihn dennoch Nopf- und Nefruteniteuer bezahlen oder, im Fall der 
Diener entlaufen und zurüdgebracht werden würde, das jogen. 
Fanggeld von 10 Ahle. Alb. dem Ergreifer entrichten mühte. 
Ein Länfling in jenem Sinne it ein ganz obioleteo Wort, 
denn Niemand entläuft fich mehr felbit, indem die Perfon aud 














Vor fünfsig Jahren. 545 


nur fich jelbft angehört”. — Er tritt weiter für thunkichit humane 
Behandlung ber Bauern im eigenften Intereife der Gutsbefiger 
ein und fonjtatirt u. X. mit Befriedigung, da «6 „eine Menge 
Güter giebt, wo die Förperliche Hauszucht bei den Hofesarbeitern 
der Gefindesbauern garnicht angewendet wird.” Den eigentlichen 
Kern des Aufiages aber bildet eine |don im Jahre 1840 dem 
furländiihen PLanbtage vorgelegte Denkihrift des Landeo- 
bevollmädhtigten Baron Hahn. In weit ausfchauender agrar- 
politifcjer Weisheit wird hier — Then im Jahre 1840! — für 
die völlige Abihaffung der Frohne und Griegung biejer 
durch Geldpacht mit Mäme plaidirt; in Verbindung damit follen 
die Gehorchsverpilichtungen auf dem Hofe einer für Lohn ein: 
gurichtenden Rnechtswirthfhaft weichen. Das wird dann eingehend 
begründet. „Zur größten Genugtuung“ bemerkt Craft von 
Necenberg zum Schluß: „dab die Nitterfchaft felbit als 
Mufterwirthihaft und als nahahmungswürdiges Beipiel durd) 
die überwiegendite Stimmenmehrgeit die Einführung der Zins: 
und Anehtswirthichaft auf einem ihr gehörigen Patrimoni 
gute bejchloffen und ihre Repräfentation joldes bereits ausgeführt 
hat, dai; die Berathungen hierüber aus freiem Antriebe ber 
größte Beweis von dem Forti—reiten des Zeitgeiiteo find, 
ja dafs jeldjt diefer Aufiap, den ich als GYutsbefiger in meinem 
eigenen Interefie geichrieben, von diefem Geifte fpridht, indem 
jebt jeder Gebildete und beohalb meine Kandolcute vorzüglich, 
feinen Inhalt würdigen und verjtehen werden, während am Ende 
bes vorigen Jahrhunderts ih als ein Neger und Feind des 
Vaterlandes ohne Barmherzigkeit in der öffentlichen Vleinung 
gerichtet worden wäre", 

In dem nämlihen Geifte wird (2. 494) aud für 
Livländiihe Verhältniffe die Einführung der Knechtswirthfehaft 
befürwortet und namentlich auf diefe, in Heimthal von B. v. 
Sivers mufterhaft organifirte VBewirthihaftungs-Vtethode hin: 
gewiejen, 

Auch in Ejtland it man nicht unthätig und fucht den 
Erforderniffen einer neuen Zeit nadzufommen. So bildet fich 
dort 737) „zur Beförderung des Mohlitandeo der Bauern 
der Dftfee-Gonvernemients” aus Gliedern des ejtländiichen Adels 











546 Vor fünfzig Jahren. 


eine Gejellicaft, die fih zum Ziwed fest, ein Gut anzufaufen 
und darauf „MuftersVerhältniife der Bauern zu den 
Gutsherren zu verjuden“. Zu diefem Behuf waren damals 
ihon 21,500 Rbl. ©. aufgebradt; außerdem fand no ein 
Darlehen von 50,000 Nbl. S. aus dem Neihsichag zur Dispofition. 

Mit den wirthichaftlichen und jonftigen Landesangelegenheiten 
beichäftigen fi in jenem Jahre angelegentlic, die auf Allerhöchiten 
Befehl, mit Yinzuziehung von Nepräientanten der Nitterfchaften 
niedergefegten „Stommijfionen in bäuerlihen und Provinzial: 
Angelegengeiten”. Vom Generalgowvernenr find für Yivland als 
Deputivte der Landrath N. I. &. Samfon von Himmeljtiern und 
v. Fölferfahm zu Nujen-Grofhef deiignirt: weiter nahmen ber 
Livländiihe Landmarichall Karl v. Lilienfeld und als Nitterichafts: 
Delegirte Landrat) A. Dettingen und Nreisdeputirter Baron 
Nolden an den Kommiffions-Beratpungen theit. 

Necht weitgehende Hoffnungen auf eine wirthichaftliche 
Velebung der Provinzen ruft in jener Zeit aud ein Eifenbahn: 
Projekt wad. Aus Libau wird dem „Inland“ im Februar 
1846 (S. 207) geichrieben: „Wir hören hier viel von einer 
Eifenbahn, die von Petersburg nad Baltiihport 
gelegt werden fol. Würde die Bahn nodh um 300 Werft 
verlängert und nad) ihau hin gelegt werden, jo würde fie nicht 
mur die an eine Yahn nach Baltiihport gefnüpften Bedingungen 
in vollem Mahe erfüllen, jondern aud) die Städte Narva, Dorpat, 
Niga, Mita und Eiban in direfte Verbindung mit der Nefidenz 
fegen und fönnte noch weiter geführt werden, ftatt daß fie mit 
Baltiihport ein Ende Hätte. Mas mühte nicht der Berfonen- 
verkehr und namentlich der zwiicen Niga und Mitau dem 
Unternehmen einbringen, und wie wilde eine Gifenbahn von 
Libau nad) Warfchau, von der wieder die Rede if, den Unter: 
mehmern vortheilhajt und für Liban fegenbringend fein! . ..“ 
Das ganze Eijenbahn-Projeft nimmt fehliehlich eine recht übe: 
rafchende Wendung: die zur Gründung der Bahn Petersbung- 
Valtischport zujammengetretene Gejellicaft erhält nämlich von 
der Negierung die Veitätigung nebjt Garantirung von 4 pGt. 
des Anlage-Napitals, jedoh fürs Erite für einen Schienemveg 
von Petersburg über Dranienbaum nad) Aronftadt (Z. 1017). — 














Vor fünfsig Jahren. 517 


Noch mehr als zwei Dezenien verjtrichen, bis endlich bie Yahn 
Petersburg-Baltijchport verwirklicht war. 
* » 


* 

Modte and in den Städten fid die materielle Noth 
der Zeit aufs empfindlichite fühlbar machen, jo Hinterläht das 
Jahr 1846 dod) durchaus den Eindrud, da bas jtäbtiide 
Leben fih in aufiteigender Linie bewegt. Es ift icon darauf 
hingewiefen worden, wie in Anlah der Hungersnot und Theuerung 
in den Städten freudig thatkräftige Hifsbereitihaft in Wirfamfeit 
trat und wie die Nonverfions-Vewegung id) in den Städten, 
namentlich gelegentfic des Luther-Gedenktages wieberipiegelte. 
Diehrere größere fommunale Werke und Projekte beichäftigen die 
Vürgerfhaften -- fo in Niga der Plan zur Anlage einer 
unteriediichen Waiferleitung für die Petersburger Vorftadt, die 
Umpflafterung der jtädtifchen Straßen, das Projekt der Erjegung 
der Höfgernen Nöhren dur eiferne Wafferrören bei der aus 
dem 17. Jahrhundert ftanmenden „Waflerkunit” und zugleich der 
Ban, „die Triebfraft diefes Hydraulifchen Wertes dem Pferde: 
gejchlecht zu nehmen und durch eine Dampfmachine zu erjegen“, 
endlid) die Begründung eines Aredit- Vereins der täbtifhen 
Immobilienbefiger (331332). 

Belondere Negiamkeit thut fi in der Univerjitäts: 
Stadt fund. In rühriger Weife it der von der Staatsdame 
Fürftin Barclay de Tolly gegründete Hilfe-Verein thätig: pro 
1545 hat er an vegelmäßigen Beiträgen die Summe von 895 
No. (darunter ein Beitrag von 85 Nbl. feitens der Großfi 
Helena Panfonma) aufgebracht md Rerloofungen, Sonzerte, 
teatraliiche Vorftellungen und eine „Kollefte im Privat-Theater- 
Verein“ veranftaltet; im Jahre 1846 hält aud) Profeffor Mädler 
einen öffentlichen Vortrag zum Beten des SHiljs-Vereins über 
feine Auffindung des Zentralförpers in unferem Firftern-Syftem; 
wiederholte tejtamentarifche und andere Zuwendungen — jo von 
dem am 12. April 1846 verftorbenen Sekretär Karl Schuls 
5000 RL. und ein neucs zweiftödiges Haus und vom Gärtner 
Neubauer 5147 N. ©. -—- legen Zeugnih; ab von den 
Sympathien, deren fich diefer Verein erfreut, und von der damals 
angutreffenden gemeinnügigen Gefinnung. 















518 Vor fünfzig Jahren. 


Die Stadt-Verwaltung unternimmt allerlei Neuerungen 
und Vervollfonmnungen. Im Herbit 1846 wir für die Beleuchtung 
der ftäbtifchen Strafen Spiritusgas tat deo bisherigen 
Hanföls angewandt (mit Bezug darauf jchreibt Bulgarin an 
ein rufflihes Blatt: „die Nachts durd unfer Dorpat Neifenden 
wundern id jegt, da es bei ums jo licht ill, wie auf dem 
Newjtisßroipeft”); zwei artefifche Brunnen werden angelegt; man 
beginnt damit, für die Bauern des Stadtgutes Jama\jteinerne 
Häufer aufzuführen; der Plan zur Errichtung eines Zwangs- 
arbeitshaufes („KRorreftions = Anjtalt”) wird ernjtlih ins Ange 
gefaßt. 

Man freut fih jeder Verihönerung der Stadt -— fo der in 
Ausficht ftehenden Enthüllung des Yarelay-Denfmals und der 
Anlage des Tedelferfhen Barkes. Weber den lepteren 
Punkt bietet das „Inland“ unterm 21. Augujt die nachftehende, 
wohl für manden Lofal- Patrioten intereflante Mitteilung 
(©. 838-839): 

„AS id) nad) einem Zeitrgum von 32 Jahren dns 
eine Werft von Dorpat beiegene Gut Tedelfer und 
die malerifche Umgebung defielben mit theils freubigen, 
teils wehmüthigen Jugenderinnerungen  befichtigte, erfuhr 
id) die Gegenwart des derzeitigen Herrn Beligers, den ich 
vor mehreren Jahren in der Nejidenz fennen gelernt, und 
ward bei einem Verud) beionders angenehm überrajcht durd) 
die Aeuferungen und Vittheiungen diefes burd) Neiien 
und Selbftiudien fein gebildeten, nod jungen Mannes, 
defjen wohlwollende, für die Annehmlichkeiten in unferen 
Provinzial-Städten jo ehr vermihten öffentlichen Lebens 
tätig forgende Gefinnungen dem Dorpatichen YPublitum 

le und mannichfaltige Erholungen im Techelferichen Bereich 


Q 











hat nämlid) befchlofjen, ein fruchtbares, 
es, 12 Dejjätinen betragenbes Ader: Areal, von der 
an mit dem Lufigarten des Herrenhaufes 
verbunden, zu einer rohartigen Park:Anlage fürs Publiftum 
zu opfern und zu eröffnen, deshalb einen geidicten Kunjt: 
gärtner angeftellt, Pläne entworfen und bereits anfchnlide 
Summen dazu angewiefen, um während feiner bevorfiehenden, 
vielleicht Jahre lang dauernden Abweienhei 
näcdjiten Herbjt wilde Baum: und Sträucer-Bilanzungen 
edler Arten zu beginnen (Fahrıege, Fußftege, Kanäle und 











Vor fünfzig Jahren. 549 


DBrüden find bereits im Werfe) und für die zivilifirte Melt 
ein vollitändiges Nejtaurations » Gebäude mit Pavillons, 
Niosts und anderweitigen Sefellihafts-Fofalitäten aufzuführen 
als Abtheilung von der jchon beftehenden Hofesichenfe, 
u welder legteren jedoch ebenfalls eine bedeutende Aderz 
fläche in der Nähe auf der anderen Zeite des Hofes, ganz 
von dem Hauptpark mittelit einer hohen Befriedung getrennt, 
zu einem Lnjtwäldchen für John Bull eingeräumt wird. 
Möchten folde gemein Vorfäge, auf wahrhaft liberale 
Anfichten gegründet, einen ungehinderten Fortgang haben 
und andererjeits nicht durd engherzige Meinlidhe Ich: 
Moilofophte geftört, jondern vielmehr nad) dem Veijpiel 
aller zivififirten Länder durch Handreichung, d, . Entgegen 
Tommen in Pinficht guenznachbarligher, grunbherrlicer und 
öffentlicher Nedytsgrundiäge, und Ddadurd) bieie hödjt 
lobenswerthe Unternehmung gefördert werden, aud der 
Herftörungsfucht der niederen laffen Einhalt geichehen, um 
wenigftens auf die Meile die dem wmeigennügigen Unter: 
nehmer zuguerfennende Erfenntlichfeit zu bethätigen“. 
Die jhmude, Heine Embad:Stadt jtand damals im Zeichen 
vollen Aufblühens: ihren Hauptitolz bildeten die Univerfität und 
die Schulen. Neiches Lob wird ihr au von Nicht-Alteingefefienen 
gegollt. So bemerft Th. Bulgarin in einem feiner „A 
aus Livland“ an N. I. Gretid) (S. 943): „Ueberhaupt find die 
hier amveifenden Nufien von der Bequemlidfeit und 
Ordnung in der Etadt entzädt“. — mit böchjter 
Anerfennumg äußert fh die j. 3. vielgelejene, in Petersburg 
ausgegebene „Nord. Biene“ über die Stadt. „Dies it” —— jo 
heißt es in der Nummer vom 4. Diai 1846 („Inland“, &. 476) 
- „feine große, aber eine fojibare Perle in der Nuffichen Krone. 
6 ft fängt Mode geworden, Doorpat ein Petersburg en 
miniature zu nennen, obgleid) diefe Parallele allerdings ein 
wenig übertrieben üt; allein Dorpat ift unter den Nreisftädten in 
ganz Europa unzweifelhaft dazu berechtigt, denfelben Pag ein: 
zunehmen, welden Petersburg unter den Nefidenzen behauptet. 
Dorpat ijt eine reinfihe Etadt und für eine Nreisftadt jonar 
prähtig gebaut -- bei einer herrlichen, maleriihen Lage, welche 
dem bekannten Nünftler Lera dazu Veranlaffung bot, die Anficht 
von Dorpat in fein Kosmorama des ganzen MWeltkreifes ein 
zuighließen, und was das Allerwightigite it: Dorpat genieht des 


























550 Vor fünfzig Jahren. 


Nuhmes Äußerft gelunder Luft... In den Dörptiden Buden 
und Magazinen können Sie alles dasjenige finden, was Eie in 
Mosfau und St. Petersburg antreifen, alle ruffiiden und 
ausländiichen Woaren. Allein die Pauptiadhe bleibt, da man 
wohl nirgends feine Kinder beiderlei Geidhledts 
jo gründlich und dad jo billig ausbilden lajien 
Tann, als in dem gelehrten Dorpat, wenn man fie 
unter elterlicher oder doch wenigitens gehöriger fremder Aufficht 
erziehen laffen will, und es giebt wohl faum irgendwo 
eine bejjere mebiziniide Fakultät, ale in 
Dorpat“. — Gegenüber diefem, freigebig von ruffifcher Seite 
geipendeten Xobe fann man die daran gefnüpften tadeinden 
Veerfungen j—hon verichmerzen; diefe beziehen fic) darauf, dal; 
der Rufe fi in Dorpat nicht ganz heimiid) fühle, dal es 
hier „fein allgemeines Leben“, feine „allgemeinen anjtändigen 
Vergnügungen“, wie z.B. fein Theater, überhaupt aber feine 
„ruffüiche Treuherzigfeit, vuffüihe Gaftfreundi—aft und ruffiiche 
‚Heiterfeit“ gebe. — Ob der Verfafler diefes Artitels auch nad) 
hentzutage folhes Lobipenden und feine Defideria gerade in folder 
Färbung vorbringen würde? 








Fortfegung folgt.) 


_ 























Neber granenlitteratur. 





Zwei Vorträge von F. Sintenis. 





I. Was jchreiben Frauen? 


Wenn e8 mir neulich) nicht vollfommen hat gelingen wollen, 
auf die Frage: Warum dichten Frauen? eine bündige Antwort 
zu geben, fo trifft deshalb nicht mid) allein der Vorwurf; der 
Grund Ing vielmehr zugleich in der großen Mannigfaltigfeit der 
in Frage fommenden perfönlihen und öffentlichen Verpältnifie, 
welde die moderne Frauenwelt auf bie litterariiche Laufbahn 
gelodt, ja gebrängt haben. 

Vielleicht wird 8 eher möglich von einer anderen Ceite 
her eine Peripeftive zu gewinnen, welche bejieren Aufichluß; giebt 
oder wenigitens eine ergänzende Ueberficht geftattet; vielleicht läht 
fich die Frage: Was dichten, was jhreiben Frauen? 
derart beantworten, da wir aud) auf das Warum einen Rücichluf 
machen fünnen. 

Nur ungern und zögernd werde id) enblid; eine britte 
Frage zu entf—heiden- wagen: Wie dichten Frauen? Id habe 
mid) bisher geflifientlih fait aller Qualififation weiblicher Pocfie 
enthalten und werde diefe Nejerve doch faum weiter bewahren 
fönnen. 

Unterfuchen wir zunächt, was Frauen in früheren Zeiten 
gedichtet, fpäter überhaupt geichrieben Haben. 

Dicyterinnen alter Zeiten bis zur Neformation giebt es fo 





Weber Frauenlitteratur. 


wenige, daß man fie als ganz individuelle Erfdeinungen betrachten 
fann. Die hervortretende Perfönlichfeit äußert fi denn aud) in 
derjenigen Dichtungsart, weldhe das fubjeftive Gepräge der 
augenblidlichen Stimmung trägt, in der Lyrif. Das Lied und 
feine Verwandten find der Ausdrud gelegentlichen Empfindens; 
fie entjpringen der Erregung des Moments. 

Nun, die Frauen haben fid) bis vor dreihundert Jahren fait 
ausichliehlih in den Grenzen der Iyriicen Poefie gehalten. 

Das ältefte Frauenfied jteht in der Bibel; es ift der 
Triumphgefang der Deborah, ben fie anftimmte, nachdem fie mit 
Varaf den Sifjera geihlagen und Jirael von den Kanannitern 
befreit hatte. Gott wird gepriefen, da er ihre That hat gelingen 
lajien, jowie die der Jael, der Keniterin, die den Siifern getödtet 
hatte. Cs it ber Ciegesjubel patriotifher Vegeifterung, dejien 
Etheit aud) die radifalften Krititer des Kanons nicht bezweifeln 
in dem jogar die Ertremften das ältefte Denkmal hebräiicer 
Koefie anertennen. 

Wir befigen aber no) einen zweiten Siegesgefang einer 
anderen jübiihen Heldin im Schluffapitel des apofruphen Epos 
von Judith, die den Holofernes erichlagen; indefien fällt fein 
Urfprumg fier erft mit der Abfaffung des übrigen Gedichts 
zufammen amd das Lied it aljo der Judith mur in den Winnd 
gelegt; an und für fid dürfen wir ihr freifid biefelbe (yrifche 
Fähigkeit zutrauen, welche Deborah auszeichnet. 

Durd) ungewöhnliche Veranlaffung aus dem alltäglichen 
Lebenskreiie hervorgehoben werden Frauen zu Heldinnen und 
Dichterinnen; zu beiden Nollen infpirirt fie die Vegeifterung für 
das bedrängte Vaterland, der Enthufinsmus jteigert die Energie. 
Diefelde Spanntraft, welde den Arm zu männlidem Handeln 
ftärft und bewaffnet, rüftet aud) den Geift aus zu Schwung 
und Flug. 

Schauen wir uns um in der Weltgefchichte: nad) mandyes 
Mal hat ein Weib die Jhrigen, ihre Vaterjtadt, ihr Vaterland 
zum Ziege geführt feine andere aber hat ihre Heldenthat 
befungen. So it das ältefte Frauenlied zugleich das einzige 
feiner Art. 














Ueber Frauenlitteratur. 553 


Im Gegenjag zum femitiihen Heroismus einer Deborah 
fteht das ariiche Frauenideal, weldes die Epen und Dramen des 
alten Indiens uns idildern; auf's Neigendjte und Nührendfte 
wird weibfiche Ahugheit, Anımuth, Liebe und Treue verherrlicht; 
aber id wühte nicht, dab die Originale einer Damajanti, 
VBafantafena, Safuntala uns Gefänge binterlajlen hätten; *) fie 
find felbjt Gedichte, erfüllt von echter Weiblichfeit wie Gordelia, 
Dphelia, Julia und Desdemona, die mur in der Dichtung 
gefungen haben. 

Erit in Griechenland erklingt wieder das Frauenlied, wenn 
aud) noch felten, doc deito fhöner. Die Gejänge der Sappho 
galten den Griehen als das Wollfommenfte in der Ipriichen 
Dichtung. Und dad) hatte fie jo gewaltige Konkurrenten wie 
Alaios, Anafreon, Pindar. „Wie Homer unter den Vlännern, 
fteht fie unter den Frauen einzig und unerreihbar da für alle 
Zeiten” jagt ein griediiches Epigramm und es hat bis heute 
echt behalten. Mir haben leider falt nur Bruchjtüce ihrer 
Lieder, aber au) diefes Wenige, meift Licbesklagen, athmet einen 
Geift, eine Innigleit, eine naive Unmittelbarfeit ohne Gleichen. 
Wer diefe Ueberreite beiradhtet, mu an Blumen benfen, bie, zur 
Erinnerung aufbewahrt, Nunde geben von bahingeichwundenen 
Tagen; verboret zwar und zerbrödelt haben fie doc) ihren Duft 
bewahrt, der nod) jest mıferen Sinn gefangen nimmt. **) Auch 
die Landsmänninnen der Sappho halten fd) alle in den Grenzen 
der Lyrit; Erinna, Diyftis, Norinna, Telefilla, Prarilla u. A. 
gehören wie Jene dem äolifhen oder doriihen Stamme an, 
weld)e dem weiblichen Gejchlecht eine freiere Stellung einräumten 
als der ionifche. 

Rad) einem halben Jahrtaujend werben zwei römifche 
Dichterinnen namhaft gemacht; beide heihen Culpiein, beide haben 
erotiiche Lieder verfaßt. 

Wieder vergehen Jahrhunderte — bis in Spanien aus der 
glängenden Nulturwelt des arabiichen Ralifats einige Dichterinnen 











=) Die indifche Tiche hai gehört. unjerer 
vielleicht unter dem Einfluh europäiic.indiicher Nultur. 
9. Auflage, Seite dd. 

**) It. Hod, Alaios und Sappho 1862. 


jeit an und. ficht 
herr, Weltlitteratur 











554 Ueber Franenfitterahir. 


auftauchen; zur Lyrif gefellt fi hier das den Orientalen jo 
geläufige Märchen. Cine diefer femitifhen Mufen, eine Sultanin 
ichreibt fogar, als wäre fie ein weiblicher Dr. phil. des 19. 
Jahrdunderts, jchen hifterifche und äjthetiiche Unterfuhungen. 

Zu gleicher Zeit jteht einfam im deutfchen Mittelalter die 
Nonne Hroswith von Gandersheim; mit pädagogiichem Cifer, 
aber ohme Geihid und ohne Glüd verwandelt fie chrüftliche 
Legenden in (ateiniiche Leiedramen. 

Am Anfange des 12. Jahrhunderts endlich Lebt in Byzanz 
die Naifertochter Anna Nomnena und jchreibt die Geichichte jener 
50 Jahre, deren Mittelpunkt der erite Sireuzzug bildet. DIveten 
wir aus dem Mittelalter über die Schwelle der neueren Zeit. 
As nad dem Falle von Stonjtantinopel die Verehrung für 
griehiihe Bildung fi über Italien verbreitete, ergriff Diele 
geiftige Vewegung auch die Franen der Höheren Stände; fie 
vertiefen fid) in die Nenntnib des Alterthums und eifern antifen 
Vorbildern nad; bald ift der Humanismus auch in Frankreich, 
und Dentichland zur Herricaft gelangt und im felben Maahe 
wächjt aud) die Vetheiligung der rauen an der Nenaiffancelitteratur. 
Doc Ii das Alterthum nicht neu beleben und die einjeitige 
Abhängigkeit von Grieden und Nömern hätte fid) bald geitraft 
durch den Diangel an jugendlicher Jnitiative. Die Wärme, mit 
welder man die Lebensanidanungen des Afterthums adoptirte, 
tonnte höchftens eine Treibhausdichtung von fümmerlichem Wuchs 
und furzer Dauer hervortreiben. Es gab zum Ghüc ein moderneres 


















Ingredieng — die Vorbilder Petraren und Voccacio; und ein 
attuelles Interefie — die glänzende Aumftentwidehung des 16. 
Jahrhunderts. Die fornwollendeten Sonnette des Petrarca, die 





Iebensfrifchen Novellen des Voccaccio, die Meifterwerfe Nnfacls, 
Leonardos, Michelangelos verbinden ihren Einfluß mit dem des 
Altertfums und geitalten ein ganz neues geiftiges Leben. Auf 
foljem Boden erwucjien die Dichtungen der Schweiter Franz 1. 
von Frankreich Margarethe von Valois: Novellen, Lieder und 
Lohrgedichte; unabhängigere Wege geht die Ihöne Seilersfran von 
Eyon Luife Lnbe; fie hatte 1542, euft 16 Jahre alt, in Männer: 
Heidung als Kapitän Loys an der Belagerung von Perpignan 
theitgenommen; nach ihrer Verheiratjung wird ihr Qaus der 








Veber Frauenlitteratur. 555 


Sammelplag von Künftlern, Dichtern und Gelehrten; fie aber 
dichtet und fomponirt zugleich ihre Lieder, denen man natürliches 
Gefühl, echt Ipriihen Schwung, Neinheit und Wohllaut der 
Sprache nadrühmt. 

In Jtalien, der Heimat der Nenaiffaneebewegung, vollzog 
fi) jene *) „Losipredung“ -— Emancipation im beiten Sinne des 
Wortes — welche die Frau als eine Gleihberedhtigte neben dem 
Vanne anerkannte; Hier, wo fie ihre Begabung und Bildung 
ganz im Dienfte edler Weiblichfeit verwerthete, gewann fie eine 
Bedeutung auf das gejammte Nulturleben wie bisher nod) nic. 

Wir erfahren, dah die Venetianerin Naffandra Fedeli am 
Ende des 15. Jahrhunderts in Whilojophie und Theologie einem 
gelehrten Manne gleihbewandert war; Gregorovius im Yeben der 
Kucrezia Vorgia nennt eine Keihe Anderer. Alle aber überftrahlt 
Vittorin Kolonna, welche für den Verluft ihres Gatten, des 
Marqueie von Pescara, Troft findet in der Pocfie; um ihrer 
wundervollen Sonnette willen it fie von Mit: und Nachwelt 
hochgefeiert; unter den Zeitgenofien haben Michel Angelo und 
Ariofto ihr gehuldigt, die Folgezeit hat ihr eine ganze Yitteratur 
gewidmet. 

Noch) einer Anderen fei gedacht, der ebenfo geiftreichen als 
icjönen Olympia Morata, welche als Gattin des Heidelberger 
Profefjors Grundler 1 geitorben üit. 

„Nirgends **) tt in der Frauenwelt jener Zeit die 
verflimmende Abficht zu Tage, um jeden Preis fid Hervorzuthun, 
denn Auszeichnungen werden mer jenen zu Theil, in dereu 
Perfönlichteit fi) Anlage, Schönheit, Erziejung, gute Sitte und 
Frömmigfeit zu einem harmonicen Ganzen fügten. Und die 
Männer brauchen mit ihrer Anerkennung nicht zu Iparen. 

Eine ganze Gallerie von nen erbliden wir in oen 
Generationen des 16. Jahrhunderts, welche der Dichtkunft ergeben 
waren; Häufig find es raube Schtefale, welde die Verfe hervar- 
rufen. 














ullio d’%rcagona in Weftermanns Monatsheften TA, 


1 Spaligei he. &. 130, 





556 Ueber Franenlitteratur. 


Der Schweiter Karls V., der Nönigin Maria von Ungarn 
fepreibt man das geiftlice Lied zu: „Mag id) Unglüd nicht 
widerjtahn“; mit gröfierem echt vielleicht das Lied auf den Tod 
ühres Gemahfs Ludwig, der bei Mohacz gefallen war: „Ach 
Gott, was joll id) fingen"; beide find einer tiefbetrübten Königin 
nicht unwerth. 

Ebenfo gern glauben wir an die Echtheit jenes rührenden 
DMadrigals, in melden Maria Stuart ihrem Schmerze Ausdrud 
gegeben hat, als fie von Frankreich und ihrer glüdlichen Jugend 
Abichied nahm; auf der Meberfahrt nad) Schottland entftand, jo 
erzählt Brantöme, *) wenigftens der Anfang des Gedichts: 

&eb wohl, mein Kieblich Heimathland! 





das uns zu fcheiden eilt, 
Hat meine Seele mir getheilt; 
Die Hälfte blieb bei dir zurü 
Die mahnt did) nun zu jeder Friit 
Dafı du der andern nicht vergift. 

Arc) ihre Gegnerin Elifabeth hat der Nummer zur Dichterin 
gemacht; im Gefängniß zu Wooditoc hat fie 1555 mit Holzfohle 
auf einen Fenfterladen folgende Stage über das gewaltjame 
Verfahren ihrer Halbihweiter Maria geihrieben: **) 

D Schidjal, wie dein unjtet Walten mir 
Häuf't auf's verftörte Haupt Vefümmerniffe, 
Bezeugt der vauhe Kerker, welcher hier 

Dich einschlieht, und die Freuden, die id) mifle. 
In Feffeln, wie fie Schuld’ge follten tragen, 
Haft graufam die Unfhuld’ge du gefchlagen; 
Und frei von Yanden wandelt zum Beneiden, 
Die wohl verdienet hat, den Tod zu leiden. 

O Gott, bezwing der Feindin Da und fende, 
Das mir beftimmt war, ihr: ein jühes Ende! 

Von beiden Nöniginnen giebt es noch andere, fpätere 
Gedichte; aber fie betreffen unfpmpathiihe Lorgänge, felbit 














p- 132 201, 


Ueber Frauenlitteratur. 557 


verjchuldete Verwidlungen: es find Sonelte Maria Stuarts an 
Bothwell und Vejchwerden Elifabeths über die Umtricbe der 
gefangenen Maria — Percy bemerkt zu Pepteren, das jei feine 
Probe reichquellender Pocfie. 

Yon den fen Italiens, Frankreichs, Englands und 
Deutichlands geht die Poefte auf die Frauen der höheren 
Stände über. 

Als eine wejentliche Erweiterung des Gefichtsfreiies erwähne 
id) die vielgelefenen Nomane der Madeleine de Scudery, die 
Haffiichen Briefe der Marquife de Evi, fowie die unter den 
adfigen Damen Frankreichs durd) die Gräfin d’Aulnoy eingeführte 
Vorliebe für Feenmärden. Cs find dies us der Frauen 
zur Maffiichen Yitteratur Frankreichs im Jahrhundert, an 
weldhe fih dann die Schaufpiele der Banane de Goaffigny 
anfdlieen, deren Genie aus Leifings Dramaturgie nod heute 
woglbefannt ift. 

Nod) weiter geht die gelchrte Anna Dacier, die Heraus: 
geberin und Ueberfegerin griediicher Maffifer in's Franpöfiiche; 
mit Erfolg verthe fie die Größe Homers gegen die plunmen 
Angriffe ihrer Zeitgenofien. So geht der Humanismus allmählich 
in die Philologie über umd Madame Dacier vertritt in diefem 
Brocch die Franenwelt. 

Wie in Frankreich mehrt fi auch in England das Interefie 
der Frauen an der Yitteratun; einzig im ihrer Art bleibt zum 
Glüd Aphra Vehn, die Q rin fittenlofer Nomane und 
Schauipiele; Walter Scott erzählt‘) von einer vornehmen Danıc, 
bie ihm verfiherte, wie noch in ihren Jugendjahren dieje wüllen 
Schriften jelbit unter den jungen Mädchen allgemein verbreitet 
gewejen; zufällig fei fie fpäter wieder einmal auf einen jener 
Nomane geitoßen und fie habe fid als adtzigjährige Oreilin 
geihämt dajielbe Bud) auszulchen, das man ihr alo fünfzehn: 
jährigem Mädchen ohne Arg in die Hände gegeben, 

In Deutfhland wagen es die Frauen des 17. Jahrhunderts 
nad) amd nach von der geiltlichen Licderdichtung zu weltlichen 
































*) Hettner, Yiterat. Geh. des IS. Lahr. 3. Hull 


558 Meber Frauenlitteratur. 


überzugehen — zunäcjt ohne merflichen Erfolg, fo fehr ihnen 
auc) die Dichtergefellichaften den Hof machen. 

Im Zeitalter Paul Gerhardts find Choräle des allgemeinen 
Veifalls her; fie werden in zahlloien Gefangbüchern der Nachwelt 
aufbewahrt und überall gelungen. 

Ih weiß nicht, mit welchen Necht behauptet wird, bie 
Gräfin Anna von Stolberg fei die Verfaferin des Liedes: 
„Shriftus, der ift mein Leben“; noch zweifelhafter ift, ob die 
Gemahlin des Großen Kurfüriten Luie Sunriette gedichtet habe: 
„Iefus, meine Zuverficht“, oder: „Ich will von meiner Miffethat 
zum Heren mich befehren“; aber wohlbeglaubigt als Dichterinnen 
noc) gebräughlicher Choräle find zwei Fürftinnen von Schwarzburg: 
Audolftadt, z.B. von: „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“, 
oder von: „Schaff in mir, Gott, ein reines Herz.” Diefe geiftliche 
Eyrit bleibt unjterblich, jo lange es Protejtanten giebt. 

Verichollen dagegen find die gleichzeitigen wettlichen Dichtungen 
der Herzogin Sophie Eliiabet) von Braunfchweig-Molfenbüttel, 
die dem Palmenorden angehörte; die Kirtenlieder der Pegnit- 
fhäferin Gertrud Möller, einer gefrönten fatierlichen Poetin; 
vergeffen die Lieder der Katharina Negina von Greiffenberg, die an 
der Spie der Lilienzunft in Zefens deutichgefinnter Genofienfchaft 
ftand, und all der anderen Frauen. 

Auf Frankreichs Hafliiche Periode im 17. Jahrhundert folgt 
die Deutfchlands im 18. Wie dort, beginnen aud) hier Frauen 
an allen geiftigen Veitrebungen theilzunehmen, Anfangs palliv; 
man jehmärmt in fentimentaler Entzüetung für Aopftedt, Gellert, 
Goethe -- bald folgen auch eigene Verfude auf dem Gebiete 
des Nomans und des Schaufpiels; Wieland führt feine Jugend: 
freundin Sophie a Node mit ihrem „Fräulein von Sternheim“ 
in die Welt ein; Goethe erlebt «6,*) daß man „Agnes von 
Lilien“, ein Wert von Schillers Schwägerin Karoline von 
Wolzogen, ihm, dem Verfaier des Wilh. Meifter zuichreibt; in 
der That übertrifft diefer Noman die meiften Franenromane bis 
anf den heutigen Tag. Bon Schauipielen diefer Zeit ift Tchon 
das vorige Dal die Nede geweien. 


















hilfer an Goethe, 6. Dezember 1796 — 16. Mai 1797, 


Ueber Frauenlitteratur. 550 


Das 18. Jahrhundert gilt befanntlid als die Periode der 
Aufklärung; engliiche und franzöfihe Phitofophen und Dichter 
betehren die Menfchheit über ihre Nechte; die Lehre von den 
Pilihten Hat erjt Kant und das 19. Jahrhundert hinzugefügt. 
Dur) Nouffenus Erziehungsfyftem wird die heranwachiende 
Generation auf nafürlichere Yahnen gelentt. 

Für diefe Aufklärung nun begeiftern ih namentlich) die 
vornehmen Damen von London und Paris; in den Calons 
derfelben verfammeln fi die hervorragenditen Geifter, von ihnen 
gehen die Schlagworte aus, welde im ganzen Lande widerhalfen. 

In fol einem Streife Londons erfchien *) — c6 war eine 
unverzeihliche Yernahläffigung der Mode ein vornehmer 
englifcher Geiftlicher in blauen Strümpfen und die Damen, 
welde daran feinen Anitoh nahmen, fondern feinen Morten 
anbächtig faufchten, wurden „Vlauftrümpfe* genannt; dies ward 
insbefondere der Spottname für alle diejenigen Damen, melde in 
den Gefellichaften der Ms. Velen fh um Samuel Johnion 
ihjaarten und endficd ift es eine Vezeihuung geworden für all 
die unweiblichen Wefen, welche über geiitreicher Unterhaltung und 
Beidäftigung cs verfäumen ihr Hausweien in Ordnung zu halten. 

Dieje biue-stockings liefen es aber bald nicht mehr bei 
der Litteratur bewenden; fie gingen anf Politif über und bei 
der nahen Verbindung Franfreihie mit England entwidelt fich 
diefes geidhäftige Calontreiben gegen Ende des Nahrhunderts 
bejonders in Paris. 

Zwei Franzöfinnen mögen als Topen vieler Geringerer 
gelten, beide ungewöhnlichen Geiftes, fonft aber in jeder Beziehung 
verichieden: Neders Tochter, Madame de Staöl und Madame 
Roland, die Gattin des Girondeminifters. Iene neigt in der 
Politit zur englüchen Parlamentspraris mit einer beichränften 
Monarchie im Hintergrunde; fie ftcht im Widerjpruc gegen die 
Iafobiner und das Naiferreich, die fie beide überlebt; dieje ült 
als feurige Nepublifanerin ihre Zllufionen aufs Schaffot 
geftiegen. Madame de Staöl hat in mannigfaltigen Schriften 
Proben eines glänzenden Talents und einer VBeobachtungsgabe 














*) Schloffer, Gejcichte des 18. Jahr. 3. Aufl, II, &. G01. 


560 Ueber Frauenlitteratur. 


geliefert, welde an einer Franzöfin bewundernswerth ift — nur 
Eines fehlte ihr, wodurd Vadame Noland gerade imponirte und 
jelbft ihren Gegnern gefährlich ward, die Grazie der Erjheinung, 
vertlärt durd) die reinfte idealiftiiche Neberzengung. NPadame 
Noland fand in den flürmiichen Jahren der Nevolution feine 
Muße um Romane oder Bücher über fremde Yänder zu jchreiben; 
ihre pofitiichen Briefe exihienen erft nad) ihrem Tode und ihre 
glänzende Vertheidigungsrede verhallte im Setümmmel des Konvents. 
Madame de Staöl dagegen fonnte ihre Neifen zu ihren beiden 
Romanen und ihr Tpäteres Exil zu dem berühmten Buche „über 
Deutfchland” verwerthen. 

Beide Frauen find vehte Mufter jener Emancipation, deren 
Lerwirftihung fih feit der Nenaiffancgzeit deutlich verfolgen läht 
— aber, abgelenkt auf die politiiche Bahn werden fie Blau 
ftrümpfe im volljten Sinne des Wortes, denn die Eine opfert 
ihr häusliches Glück auf dem Altare des undankbaren Vaterlandes, 
die Andere jucht ih in der „Delphine“ über ihr chelicheo Unglüc 
Nechenihaft zu geben —- fo find beide achaben und getragen von 
derjelben Hochiluth, aus melder nur die Eine fidh zu retten 
vermag. Aber eben weil fie durd) ihre eigenthümliche politifche 
und foziale Yage genöthigt werden fi auszuipreden, it die 
lebendige Wirkung ihrer Schriften für alle Seiten gefichert, 
Hätten fie Frankreich, die Eine vor den Jafobinern reiten, die 
Andere von Napoleon befreien fönnen, fie hätten dod) feinen 
Triumphgelang angeftimmt, denn fie waren weit hinaus über die 
naive Epade Ipriicher Vegeifterung. 

Bis hierher babe id) die originellfien und hervorragenditen 
Dichterinnen früherer Jahrhunderte nambaft gemacht; id habe 
darauf Hingewiefen, wie aus jener urprünglicen Anlage und 
Neigung zur Fyeif mit zunehmender Sultur nad) und nad die 
mannigfaltigiten Intereiien fid entwideln, nicht nur poetifche, 
fondern au) wiflenichaftliche und politiiche; diefelben Fortichritte 
laffen fi beobachten in Kordova wie in Byzanz, in Nom und 
Florenz, wie in Yondon und Paris -- ich braudie feinen 
ausdrüclic darauf aufmerkiam zu machen, da; unier Jahrhundert 
nur in Male reprodueirt, was frühere Zeiten im Eingelnen 
energifch errungen haben. 











Ueber Frauenlitteratur. 561 


Unfer Jahrhundert unteriheidet fi von jeinen Worgängern 
durd) die große Anzahl der Schriftitellerinnen, durd) die gleichzeitige 
Verbreitung derfelben über alle möglichen Gebiete — einige nen 
Hinzugefommene werde id) jpäter anerfennen — durch die wachiende 
Betheiligung Sfandinaviens und Amerikas; alle diefe Momente 
jufanmen geben unjerer Zeit den Anfchein bes gänzlich Neuen, 
Niebagewefenen. E$ mag wenige fogenannte neuen Ideen geben, 
welche nicht frühere Jahrhunderte angebahnt und ausgeipraden 
hätten; aber in modernem Gewande, in theoretifcher Breite, in 
unbefangener Zuverfiht vorgetragen und vor allen Dingen in 
willfürtichen Zufammenhang gebracht, geben fie fi) für jünger 
aus, als fie wirklid, find. 

Soll ic) num Nechenichaft geben von den mannigfaftigen 
Nightungen, welche Frauendichtung und :ichriftitellerei unferes 
Jahrhunderts eingeichlagen Hat, jo werden Sie mir's gewiß; nicht 
verdenfen, wenn ich mich wiederum auf Deutichland beichränte; 
aud) jo wird es fchwer halten, eine deutliche Neberficht zu gewinnen 
und ein Ende zu finden. 

Von der Lyrik find die Frauen auf das Epos und Drama 
übergegangen, haben fi aller Zweige der erzähfenden Proja 
bemächtigt: des Romans, der Novelle, des Märdens, der einfachen 
Erzählung, der Stizze und HSumoresfe; neu entdedt ift das Yebiet 
der Jugendlitteratur, der Mode, des Haushalts und der Nochkunft; 
mannigfaltiger Handarbeit; der Gefundheitspflege und der Kinder: 
ernährun Feuilfetons und Bücher handeln von Kunft- und 
Litteraturgefchichte, von Vlufit und Theater — die unvermeidlide 
Kritit eritredt fid) hauptiächlich auf ähnliche Gegenftände; gering 
Üt die Vorliebe der Frauen für Natnrwifienshaften und Welt: 
geichichte; perfönficher Anteil an Nahejtchenden veranlaft fie 
häufiger Biographien derfelben zu verfaifen, merfwürdigerweile 
entichliehen fih aber Frauen jelten Selbjtbiographien zu idhreiben; 
an Neifeerlebniffen und -beobachtungen in Brief und Tagebuchform 
üt fein Mangel; das Intereife für Neligion, Phitojophie, Pädagagit 
fent manche Feder in Bewegung; viel Arbeit wird auf bie 
Nedattion aller möglichen Zeitichriften verwendet. Füge ich mın 
noch Anthologien und zahlreiche Ueberfegungen hinzu, To bleibt, 
last not least, die rührige Thätigfeit in Grörterung fozialer 

















562 Ueber Frauenlitteratur. 


Probleme, namentlich) der aktuellfien aller Fragen, der Frauenfrage 
Hervorzuheben ——- und dor bin ich von Wollftändigfeit ziemlich 
entfernt; habe ich doc z.B. Stenographie und Volapük zu nennen 
verfäumt. 

Erftaunt über den Umfang diefer Litteratur, welcher faum 
noch Grenzen fennt, fann man nicht umbin auszurufen: Worüber 
ihreiben unjere Frauen nicht? 

Doc wäre 8 voreilig zu behaupten, die Mehrzahl diefer 
Frauenleiftungen fei ebenio entbehrlich, wie ein fehr großer Theil 
deflen, was Männer geichrieben haben. 

65 wäre auch ungerecht fo abzwurtgeilen. Denn Frauen 
haben es viel fchwerer, Kichtiges umd Großes zu Stande zu 
bringen als Männer; abgeiehen von manchen anderen Vor: 
fenntniffen und Vorbegriften, fehlt ihnen meift die gründliche 
Vertrautheit mit der Weltgeichichte, für deren objektive Gefidhts 
punfte und Lehren fie weniger empfänglid) find, während fie cher 
geneigt find ihrem Herzen zu folgen und für Alles, was Vitleid 
oder Bewunderung erregen fann, lebhaft einzutreten. Die 
Schwierigkeit Liegt alfo hier wie anderwärts nicht in den Gegen 
ftänden jelbft, jondern in der wefentlichen Anlage der Frau, deren 
Sympathien und Antipathien auf Empfindungen beruhen, bie 
ftärfer find als nüchterne Neflerionen; eine Gigenichaft, welche 
nun einmal Frauen liebenswürdiger macht als Logit und idarfer 
Verftand in einfeitiger Gutwidlung, und welde ohne Zweifel 
mandjer weiblichen Dichtung beionderen Neiz verleiht. 

Statt weiter jummariihe Vetradtungen anzuftellen, die dad) 
ftets auf Ausnahmen ftohen, ziehe ih «s vor, die einzelnen Zweige 
der Frauenlitteratur näher in’s Auge zu fallen und fie im 
Allgemeinen abzuichägen, Cinzelnes aber, joweit id) orientirt bin, 
herauszußeben und zu charatterifiven; wenn id gleich fürchten 
muß, Jhnen nicht viel Neues zu bieten, jo wird dad) diefer erite 
Verfuch einer Ueberficht vielleicht von Werth fein. Lyriiche Bochie 
verfhwindet auch dann nicht, wenn bei fortgeicrittener Sultur 
das Drama, Künfte und Wiffenihaften die Herrichaft angetreten 
haben. 

Dementiprechend giebt es auch heute nod eine fehr ans- 
gedehnte Fraueniprit; aber es mul bezweifelt werden, ob fie mit 























Ueber Franenlitteratur. 5683 


der der Dichter einen Vergleich auspält. Wie zahlreiche volfs- 
tümlid) gewordene Lieder von Dichten unferes Jahrdunderts 
giebt es! Dagegen fenne id nur zwei joldhe, welche Frauen zu 
Verfafferinnen haben: „Müde bin ich, geh zur Nuh“ von Louife 
Henfel und das vielgefungene: „Ach, wenn du wärft mein eigen“ 
von der Gräfin Jda Hahn-Yahn. 

Die Lyrik ift die Sprache des Perzens; nur was warın 
vom Herzen fomint, wird im Siebe wirfam fein. Co redht für 
die empfindfame Frauenfeele geihaften, enthält die Lyrik dod) 
auch große Gefahren. Ihre umniterblichen Motive von Liebe und 
Haf, von Freude und Leid, von Sonnenhelle und Sternenfchein 
und was fonft noch im Liede wiederktingt, Alles will aud im 
Meinen bedeutend aufgefaßt und geichmadvoll ausgedrüct fein. 
Goethe und Eichendorff, Uhland und Heine, Paten und Geibel 
Haben uns verwöhnt und gegen Verichwontmenheit und Form 
tofigfeit empfindlich gemacht. Nod) verdriehlicher wirkt Anlehnung 
an allzubefannte Viufter. 

Solche Mängel mögen der Frauenkyrit anhaften, da es 
ihr nicht gelingt, fih geltend zu madjen. Nur wenige Iyriiche 
Dichterinnen erheben fi über den Durchihnitt; bereitwillig nenne 
ich als folde Annette von Drojte-Hülshoff, Betty Paoli, Adelheid 
von Stolterfoth -— doc) bald mahnt mid) mein fritifches Gewiffen, 
nicht zu freigebig zu loben. 

KReinem menfclihen Wefen darf man es verdenfen, wenn 
&5 feinem vollen Heren in Verfen Luft macht; jelbit das Nichtige 
tann durch feine Wendung und epigrammatifche Zufpigung für 
den Augenblick wichtig werden, aber nur für das eigene Benuftfein. 
Wer mag wohl aller Welt geftatten, in die MWerfjtätte des 
Geiftes Hineinzubliden, wenn nicht aud Meifterftüde darin zu 
ande fommen? 

Alzuvielen Dichterinnen ift 68, wie «6 ideint, folgender: 
mahen ergangen: fie haben für den Hausgebraud), für das 
Familienbebürfnii; ihren Hübfchen, runden, gefälligen Vers gemacht 
und ihre Umgebung angenehm damit unterhalten. Gs wäre aber 
unbillig zu erwarten, dab das große Publikum fi cbenjo über 
die beicheidene Gabe freuen, ja davon entzüct fein joll, wie die 
nächiten Angehörigen. Tritt nun fol ein häusliches Genie 
































564 Ueber Frauenlitteratur. 


öffentlich auf, jo mul es eine ganz andere Beurtheitung erfahren. 
Co löblic es üft, wenn die Hausfrau md ihre Töchter den 
poctiichen Bedarf des täglichen Lebens felbjt Kiefern, fo unvonfichtig 
bleibt es doch auch, vom Publifum diefelbe Voreingenommenheit 
zu erwarten, welde jene bei den Ahrigen 

Ich weih; wohl, unfere heutigen Lnrifer gründen ihren Nuf 
aud) nicht felten auf Formgeflingel und renlijtifche Spipfindigleiten, 
Vorzüge Höchjt zweifelbafter Art. Das wäre denn ein weiterer 
Beleg für den Niedergang der Iprifchen Rocfie überhaupt. Schon 
vor hundert Jahren hat Schiller die Frage aufgeworfen: 

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache, 
Die für did dichtet und denkt, glaubt du fchon Dichter 
zu fein? 
Dazı fommt die unvermeidliche Nacabmungoiucht; vor 
5 Jahren waren die „Lieder einer Verlorene“ von Ada Chriften 
erihienen; dafi fie aber in 3 Jahren 3 Auflagen erfebten, hatten 
fie ficherlic mehr Paul Lindans harmlojem leinftäbterbrief zu 
verdanfen, welcher nadhwies, dab Alles, was Ada Ehriften zu 
fagen wuhte, von Heine fchon viel früher und treifender gelagt fei. 

Wir haben aus beiferen Zeiten fo veiche Schäge, dab wir 
die Aprifchen Veiträge der Gegenwart daran geben fönmen, wenn 
fie nicht wirttic, vorzüglich Find. 

Mit mehr Strenge und richtigerem Gei—hmad find uns von 
Frauenhand Vlumenfefen ausgewählt; dieie Geidenfe nehmen 
wir lieber und danfbarer an, als cbenjo viele Wände eigener 
Gedichte. 

Noc) glücklicher bewährt fich das weibliche Talent der An- 
und Nadempfindung in den zahlreichen Weberjegungen. Exit 
Karoline Schlegel vor hundert Jahren Shafeipenre's „Romeo und 
Julia” übertrug -- es war der Anfang des Klaffiichen Shafeipenre, 
welchen Dorothen Tied*) ihrem Vater vollenden half -- haben 
Tatvj ihre jerbif—hen Voltstieder, Amalie von Imhof die Fridjofs- 
füge, beide Goethe gewidmet, nadhgedichtet, Luife von Ploennies 
englifche Dichter verdeuticht; aus allen lebenden Sprachen befiten 
wir heute ähnliche Beiträge zur Weltlitteratur von Frauen. 

















*) Köpfe, 8 Ti 2., &. 61. — Gocdefe, Orundrih; DIL, 


fie Agnes. 


Ueber Frauenlitteratur. 565 


Vrauchbar und zwedentipreend mögen aud die „Wolter: 
abendjcherze” von Lucie Jdeler, der „Hauspoet“ von Charlotte 
von Franken und der „Neue Yauspoet” von Gertrud Tviepel 
fein für folde Seile, welche genöthigt find zu feitliden 
Gelegenheiten eine poetifhe Anleihe zu machen. 

Epihe Dichtungen, welde vor 40--50 Jahren noch mit 
Genuß gelejen wurden, Läht man heute im beiten Falle eben 
gelten, ohne fi) dafür zu erwärmen; rauen zumal werden fid) 
nicht feicht von der auf diefem Gebiet bergebradhten Romantif 
losmachen, die fie an infel und Nedwig lieb gewonnen haben; 
nod) fchlimmer it es, wenn fie auf der breiten Heeritraße wandeln, 
auf der Julius Wolff mit verführerii—en Liedern vorangeht. 
Daher haben wohl die vielen epiicen Gedichte von Frauen ihren 
ap mehr in Nürjdners Yitteratur-Ntalender als auf unjeren 
VBüchertifchen. 

Dagegen finden Dichterinnen nicht jelten auf der Yühne 
wohlverdienten Beifall. Giebt es aud) fein großes Traueripiel, 
fein bedeutendes Luftjpiel von foldyen, jo Haben doch die bürgerlichen 
Gharatterdramen der Prinzeffin Amalie von Sadıfen, die Zugftüde 
der Charlotte Bird: Pfeiffer, die Luftipiele von Elife Henle und 
mandıes Andere mehr als ephemeres Yeben. Freilih will es 
wenig fagen, wenn von 150 dramatischen Dichterinnen nur etwa 
6% die Probe vor den Lampen ausgehalten haben. Zedenfalls 
Laien fi) noch werthvolle mittlere Schaufpiele und feinere Kuftipiele 
von Frauen erwarten. 

Ganz ratblos jtehe ih nun dem Chaos von Nomanen, 
Novellen und dem jonjtigen Arjenal der Unterhaltungslitteratur 
gegenüber. 

Id) fühlte mic) geborgen, wenn id ein für allemal von der 
Qualität jo viel zu rübmen wüßte, wie von der Quantität. 
Aber leider ftehen die Beiden in umgefehrtem Lerhältnih zu 
einander. 

Auch unfere Yeihbibliothefen befiten von Henriette Hanke, 
Fanıy Tarnow, Yuife Mühlbach, Amalie Schoppe nr immer 
einen Theil ihrer Werke, wenn aud die Titel ganze Zeiten der 
Verzeihnüffe füllen. Keine von diefen hat weniger als 100 Yände 
zuianmengeidirieben. Nahezu ebenjo ftattlic find die Keiitungen 














566 Ueber Frauenlitteratur. 


von Karoline Pichler, Fanny) Lewald; von unferen Zeitgenoffinnen 
fönnen es Lola Kirfchner, Augute von der Deden und einige 
Andere zu derjelben Anzahl bringen, wenn fie es nicht müde 
werden und es erleben; dazu haben fie ja aber alle Ausficht. 

Dan fragt fi umvillfürlih: woher nehmen diefe beenden 
Arbeiterinnen die Zeit, welche zum Erfinnen, zum Ausarbeiten 
eines Nunftwerfes erforderlich zu jein jcheint? 

Wie 08 in älteren Zeiten herging, davon Fann id aus 
eigener Erfahrung Beicheid geben. In meiner Vaterjtadt Defjau 
lebte in ihren alten Tagen Janıy Tarnew — damals nod) 
ebenfo fchreibluftig wie in ihrer Jugend. Id) hatte das Vergnügen, 
meinem verehrten Lehrer Profeffor Lindner, dem Vorfteher der 
herzoglichen Vibliothef, beim Musfuchen und Ausgeben der 
gewünichten Bücher fremder Sprachen zur Hand zu gehen. Yon 
Zeit zu Zeit brachte man einen Waichforb voll Bücher, welde 
Fanny Tarnow als ausgebeutet zurücichiette; fobald diefer Korb 
erichien, winkte mir Lindner mit feinem boodafteiten Lächeln und 
übergab mir die meue Lite zur Velorgung; aus dem reichen 
Schage alter franzöfiicper Nomane und Plemoiren, den bie Deifaner 
Bibliothek befab, fuchte id nun die lange Neihe heraus — deren 
Inhalt war 66, aus weldhen Fanny Tarnom ihren Honig fog. 

So gründlich wie fie fann aber Kuife Mühlbad) ihr Quellen: 
ftudiun unmöglich betrieben haben, fonit hätte fie nicht die Zeit 
gehabt, in 36 Jahren ca. 260 Bände meiit hiftoriicher Nomane 
zulammenzufcreiben; in guten Jahren hat fie durchichnittlich 
8 Bände geliefert. 

Schwerlid darf fi eine heutige Nomanfchreiberin eine jo 
naive Praris erlauben; um jo mehr bewundere ich die rege 
Erfindungsfraft amd fingerfertige Gewandtheit ieler. Nicht 
Aller! Gar Mande nimmt fh mehr Zeit und es it dem 
fe immer anzumerfen, wenn mehr Neberlegung darauf verwandt 
ift. Und wenn es der Dichterin dann aud nicht gelingt, Großes, 
Verwimdernswertöes hervorzubringen, jo fühlen wir uns doc von 
der Sauberkeit der Form und der Wohlordnung des Inhalts 
befriedigt. 

Derartige Sorgfalt wurde früher häufiger bemerft bei 
Dichterinnen, die weniger jchnell j—hrieben, wie Henriette Paalzon, 








Ueber Frauenlitteratur. 567 


oder von Natur bevorzugt waren, wie Nanny Lewald, ober einen 
Heinen Kreis beherrichten, wie Oktilie Wildermuth. 

Was den Inhalt diejer Nomane betrifft, jo it er hödjt 
mannigfaltig. Ich beginne mit den Tendenzromanen, deren Inhalt 
meift fo gelafzen ift, dafj er Aufichen erregt. 

Das war vor 42 Jahren der Fall, als „Eritis sieut Deus“ 
erichien, ein Roman, der alle Diskretion verlengnete, damit um 
jeden Preis die Neligion vor der böfen Philofophie, befonders der 
ichwäbiien geichügt werde. Man riet) damals auf hohe und 
niedere Perfonen als Verfaifer, bis fih nad) Jahren Elifabeth 
Ganz dazu befannte; da fie fpäter Hausmutter einer Bildungs: 
anftalt für Keinfinderpflegerinnen in Würtemberg geworden üft, 
wird fie hoffentlich jelbjt das bedenkliche Madwert bedauert Haben. 

Ms vor 6 Jahren Bertha von Zuttner ihren Appell an 
Fürjten und Völker richtete, lächelte man über ben gutherzigen 
Einfal, da Europa auf den Vorfchlag einer Frau Hin die Waffen 
niederlegen würde. Dod) war an diefer Abfiht weniger aus- 
zulegen, als an gewiiien Offenheiten, die gar nicht zur Sade 
erforderlich waren. 

Wer ih an Verfehltem erbauen will, der nehme das 
„Berfehlte Leben” von Hedwig Dohm zur Hand; es ift darin 
von einer unglüdlichen Ehe die Rede, einem Thema, das unjere 
Dichterinnen — doch nicht fie allein nicht müde werden zu 
erörtern, wenn gleid) die Ausficht af Erfolg nicht größer ift, als 
wenn man Weltfrieden predigt. Will man die Plänner gefügiger, 
die Frauen vorfichtiger machen, jo muß man wenigtens über 
etwas mehr EihiE und Piychologie verfügen. 

Vollserzählungen von Frauen giebt &8 eine Menge; ob fie 
ihrer Abficht entiprechen, Tann ich nicht beurtheilen. Die Arbeiter: 
romane von Frau Bertha Neumann find gewiß cbenjo gut 
Ausdrüdlid) für arme Dienftmädden jchreibt Nojalie 








Euife Mühlbach hat ıms gelehrt, wie gefährlich der hifterifche 
Noman werden fann; man findet fo fer das Ende und das 
mu die Mitte bühen. Doc) hat das abjehredende Beifpiel 
wohlthätig gewirkt; es ift beifer geworden. Im unferer Nähe 


508 Ueber Frauenlitteratur. 





entftand 5. B. „Die Abtiffin von Herford“ von Frau du Feaur; 
Yuife von Frangeis hat mit der „legten Nedenburgerin“ viele 
Freunde gewonne 
Der Hiftoriiche Noman foll nur über die Zeit Dinwegtäuicen; 
aud) in entfernte Näume, aljo gleichfalls in eine fremde Welt 
veregen uns die Japanifchen Nomane und Novellen von Emma 
Branns, Ergebnifie ihrer Neifeerfahrungen; rieda von Bülow 
verwerthet ihre Nenntniß von Cftafrifa zu dort Ipielenden Geihichten; 
„Die Miftonsbraut” von Helene Wachsmuth führt uns in die 
weitabgelegene Einöde einer Herrnhuter Kolonie Grönlands. 

Höchjt befiebt und gejucht fcheint der Zalonroman zu fein. 
Er bietet Gelegenheit zu den augenfälligiten Kontraften: wirkliche 
und gemachte Vornehmbeit, hohe Bildung und fade Blafirtbeit, 
Shrenhaftigleit und Intrigne, vor Allem glänzendes Elend und 
elender Glanz, das find Motive, die Cinem in diefer Ephäre 
von felbit in den Schoß fallen. Und mit behaglichem Wohl 
gefallen fpiegelt fie) dann das bürgerliche Gemüth in diefer Welt 
des Scheins md denft im itllen: wir Wilde find doch im 
Ganzen beffere Denfcen, als die Helden Cfiip Schubins. 

Ueber mehr Phantafie, wärmere Cintleidung und eine 
reinere, trefendere Sprache verfügen Mite Nremmik und Natalı 
von Gichjtruth. Den Yurus der Wagnericwärmerei erlauben fh 
die „Zonntagefinder“ von Frau von Bonin (Hans Werder); die 
Verfafferin entuliasmirt id aber darin nicht nur für den 
Vaireuther Meifter, fondern unnöthiger Weije ad für einige 
ihrer eigenen Geichörfe. 

Künjtlerromane reizen überhaupt leicht zu außerordentlichen 
Anftrengungen; die Nomanfünftler befipen neben dem  felbit 
verftändlihen Genie meift abnerme Gharaltereigenichaften und 
verworrene Begriffe von Necdht und Wücht; daran jcheitern fie 
dann häufig und man gönnt ihnen die Nube, zu welder die 
Verfafferin fie geleitet. Leider zichen fie nur meift auch Unschuldige 
mit in’s Elend. 

Dir gefällt „Thalia in dev Sommerfrijche* darım  bejjer 
als viele andere derartige Nunftwerte, weil Goswina v. Berlepid) 
fid) nicht auf Uebertreibungen eingelafien hat. 

Jedenfalls treffen «5 diejenigen Frauen glüdlicher, welche 




















Ueber Frauenlitteratur. 569 


fi) weniger einfeitige oder verwidelte Probleme wählen, wären 
8 aud) nur einfache Herzensgeihichten, wie fie Bertha Behrens 
aus dem Leben ihrer alten Freundin erzählt; es it erfreulich zu 
feben, wie weit fie dod) über die unbehitflihe Manier der Marlitt 
bhinausgefommen it. Zolden Mittelgutes haben wir eine Fülle. 

Einftimmig giebt man den Nomanen und Erzählungen der 
Varonin Ebner von Ejchenbah den Vorzug, worin gebildete 
Sprade und gebiegener Inhalt fid) vereinigen. Das Gritere 
trifft aud) zu für die Erzählungen von Helene Böhlau; an ihrem 
Nompofitionstafent ließe ih Manches ausfegen, nad) mehr vielleicht 
an ihren ethiüden Grundjägen. 

In den Namen Novelle Hleidet fih jo Vericiedenartiges, 
daf; man «8 untereinander faum vergleichen fann.  Güödele’s *) 
hartes Urtheil über die Novelle und ihre Gefährdung der wirklichen 
Dichtkunft fheint nicht ganz unbegründet: „je mehr man fid) in 
die Täufhung hineingewähnte, dab die Novelle Kraft und Nam 
für alle Arten poetiiher Elemente habe, deito weiter wurde der 
Kreis der poetiichen Glemente gezogen, jo dab zwijchen der 
gewöhnlichen Altäglichleit und dem poetifchen Vollgehalt des 
gebens faum nod) eine Grenze fühlbar bleibt. Man findet die 
Novellenform bequem für Alles und Allen ift fie bequem; die 
Dichtung wird zur Proja herabgezogen. Das geiftvolle Gerede 
beginnt die geiftwolle Vehandlung zu verdrängen und jo bezeichnet 
die Selbftändigfeit der neuen Novelle vielmehr eine Stufe des 
Verfalles der Borfie, als eine neue förderliche Entwicklung derjelben“. 

Natürlich trifft diefer Vorwurf nicht foldhe Kabinetftüde, 
wie Paul Heyle fie gemalt hat, wohl aber eine große Anzahl 
von geringeren Novellen, befonders md) jolde von Frauen. Und 
doc) bejtechen Diele Genrebilder, wenn fie nur anmuthig eingefleidet 
find; wenn fie aud) feinen großen poetifhen Genuß gewähren, jo 
unterhalten ie wenigiteng für den Augenblid. Yon diefer lebens: 
würdigen Art find die „Novellen“ der Frau von Bülow (Hans 
Arnold), mehr noch die von Helene Stöft. Carmen Sylva verleiht 
ihren novelfiftiichen Steinigfeiten zuweilen ein vomantiüches Parfüm, 
an das wir kaum nad) gewöhnt find. f 








*) Grundriß III, ©. 19. 


570 Neber Frauenlitteratur. 


Alles in Allem hat die Technik der Frauen auf dem Gebiete 
der Profaerzählung ich derart vervollfommnet, dal; man Hinter jo 
mandiem männlichen Penbonym faum eine Frau vermuthet; ja 
ich glaube diefem Gebiete der weiblichen Dichtung ein nad) 
günftigeres Prognoftifon jtellen zu dürfen alo dem dramatifchen. 

Weniger will Frauen die Nompofition von Märden gelingen; 
die meiften find erfünfteft und nur wenige haben fid) fo bewährt 
wie die Jrrlichter von Marie Peterfen. Mit vielen Märchen dat 
8 diejelbe VBewandtniß wie mit Jo mandıem Liede: was für den 
Hausgebrauc genügte, zerrinnt vor der Nritif in Nichts. 

Mit Freuden gehe id) zu den neugewonnenen Provinzen 
der Jugendlitteratur, des Haushalts, der Kockunit, der Mode, 
der Handarbeiten und ähnlicher Veihäftigungen über; denn bier 
find Frauen vollfommen in ihrem Clement und haben bisher 
Vorzüglicies gefeiftet. Ueberdies fällt Hier die Ronkurrenz mit 
den Männern größtentheils weg und cs ift mur in der Ordnung, 
daf diejelbe überboten wird. 

Unfere Kinder: und Jugendichriften frehen denen Englands 
nur in der Quantität nad: id brauche mu an die Namen 
Thefla von Gumpert, Johanna Spyri, Nlementine Beyrich, ara 
stron, Helene StÖH zu erinnern; wie mandes Kind, wie mander 
Vadjüch hat fi an deren Dichtungen über die Jahre der Unreife 
Hinweggeholfen und in den Vertand Dineingelefen. Agnes Willms 
und ihre Schweiter Adelgeid fegen die beicheidene Thätigfeit ihrer 
Mutter Ottilie Wildermuth auf derjelden gemüthlichen Bahn fort. 
Die beliebtefte von Allen nenne ich zulegt: Auerdiek, die 
Dichterin von „Rarl und Marie. 

Ueber die Vorzüge der vericiedenen Haushaltunge: und 
Nohbücher find natürlich) die amwefenden Damen weit bei 
orientirt als Unfereins. Ich bemerfe nur, das Henriette Tavidis 
bie Bahn gebroden.. hat und dah co für jede Yimmelsgegend 
eigene Anleitungen giebt, die fich den provinziellen Bedingungen 
anpafien. So bat denn aljo Mitau und Dorpat, Niga und 
Petersburg je ein eigenes Nochbud) oder wohl aud) deven zwei 
hervorgebracht. 

Ganz gleiche Autorität Fönnen Frauen in Fragen der Mode 

















Ueber Frauenlitteratur. 571 


und der weiblichen Handarbeiten beanfpruchen; daffelbe gift für 
die Belehrung über fonventionelles VBetragen. 

WÜt du, was fi) gejiemt, genau erfahren, 

o frage mr bei edlen Frauen an, 
die befonders ihren Töchtern manchen guten Rath zu geben willen. 
Das „Tajchenbud) des guten Tons für die weibliche Jugend“ 
von Sophie Chrift Hat während eines Jahres drei Auflagen erfebt. 
„Der Beruf der Jungfran“ von Henriette Davidis wird Die 
Verfafferin noch Lange überleben. Yehnlichen Zweden dienen: 
„Die Sitten der guten Gejellihaft“ von Marie Nalm, „Der gute 
Ton“ von Hermine Schramm; für Oefterreicherinnen fcheint: „Der 
vollendete Damencic” von Marianne von Auenhammer berechnet; 
und „Die elegante Jausfrau“, fowie „Das feine Dienftmädchen“ 
von a von der Fütt tragen ohne Zweifel dazu bei, Mihhelligfeiten 
zwifchen den beiden Parteien vorzubeugen. 

Auf cbenfo wohlbefanntem Terrain bewegen fih hugienifche 
Anmweilungen, wie „Das Normaltind“ von Anna Wons, „Mutter: 
pilicht und Ninderpflege” von Aolfine Breithaupt, das „Buch, der 
richtigen Ernährung Gefunder und Stranfer” von Marie Ernit 

Ungern dagegen beiehäftigen fih Damen mit der 
fhaftlichen Erfenntnih; der Natur, *) die doch im Laufe des Jahres 
jo mannigfaltig zu ihnen fpricht und für deren Schönheit fie 
offenen Sinn haben. Auher einigen botanifchen Cifays und einen 
zoologiichen Verfuche wei; id) nur das befannte „Naturforicherichiii” 
von Sophie Wörishöffer namhaft zu machen. 

Evenfo wenig fühlen Frauen fi in der Wettgeicichte 
heimifch; der verichwindend fleinen Zahl hierher gehöriger Werte 
fteht eine ftattliche biographiiche Bibliothek gegenüber. Werthvoll 
Find die Studien dev Lady Vlennerhafet, z.B. Madame de Sta, 
Talleyrand; ferner die beiden Lebensbilder „Otto Magnus von 
Stadelberg” und „Carmen Splva”, die wir der Baronejie Natalie 
Stadelberg verdanfen; Fehr aniprechend find die „Rrauenbilder” 
von Anna Fremd; mit Wärme jdilvert die Frftin Eleonore von 
Neuß den Eonfervativen Yorkümpfer Adolf von Tadden-Triglaff 



































dem hat in ‚Freiburg die Promotion der Gräfin Maria Linden 
auf Grad einer dotaniicen Abhandlung katigsfunden. 


572 Meber Frauenlitteratur. 


und die Gräfin Friederife Neden; Elpis Melena (Eiperance von 
Echwarp) hat Garibaldi zweimal gerettet, in der Gefangenidaft 
gepflegt, den Verjtorbenen aber in mehreren Bänden von „lit 
theitungen“ verherrlicht. 

Auch Lilly von Aretichmann hat fih durch die Denk: 
würbigfeiten der Baronin Guftebt (Xenny von Pappenheim) auf's 
DVejte empfohlen, befonders der Hocthe-Hemeinde. 

Merkwürdiger Meife find aber Celbftbiographien von Damen 
nicht häufig, fei e8 von Yebensabjchnitten, wie die „Vemoiren 
einer Diafoniffin" von Julie von Wöllworth, fei 5 des ganzen 
Lebenslaufs, wie die „Unpolitifhen Grinnerungen einer alten 
Fran“ von Thefla von Humpert. 

Wo Frauen ihr feines Veobachtungstalent geltend machen 
fönnen, auf Neifen fammeln fie gern Stoff zu Briefen und Tage: 
büchern. „Entdeden fie gleich nichts Nenes, fo willen fie doc dem 
Belannten Intereifantes abzufchen. Die Neifelitteratur ift fo recht 
aus der fubjeftiven Anfhamıng, der Stimmung des Augenblids 
hervorgegangen, der Frauen gern fid) hingeben. Die frembe 
Umgebung, der Wecjjel bunter Vilder und felbjt unlicbjame 
Weberrafcjungen reizen den Blick und befeben die Feder. Fanny 
Lewald, Elpis Melena, Ferdinande von Bradel, Helene Böhlau, 
die Prinzeifin Therefe von Yaiern, Martha Nmbauer Können als 
Mufter gelten neben vielen Anderen. 

Toätiges Interefe für Fitteratur: und Rulturgeicichte haben 
Frauen erjt jeit den legten Dezennien bewicfen, ich Fann cs daher 
bei diefer Notiz bewenden lajfen. 

Aelter ift die mufifalische Literatur, denn die mufifaliichen 
Märden von Elife Polfo und die mufialiichen Charakterföpfe 
von Marie Lipfins (Ya Mara) gehören einer früheren Epoche an; 
feitdem beichäftigt mufifalishe und litterarijche Kritit gar mande 
Mitarbeiterin an Zeitichriften; der Nunttritit fühlt fi fogar die 
erjt zwanzigjährige Ella von Hutten gewadjen. 

Da Franen die Redaktion von Zeitihriften Leiten, Habe id) 
fchon das vorige Dial angedeutet; cs find nicht mur Hausfrauen 
zeitungen oder Jugendblätter, -— diele find freifich in der Mehrzahl 

nein aud) Litterarifche, pädagogiiche und foziale darunter. Wie 





Ueber Frauenlitteratur. 573 


energifch die Lepteren der Männerwelt zu Leibe gehen, wird Tpäter 
zu erwähnen fein, 

Frommen Zinn wird man bei rauen verbältniimähig 
häufiger finden als bei Männern; der Frömmigfeit, der Religion 
gewidmete Schriften von Seanenhand wenige, am wenigiten von 
den frauen, welde nad Emanzipation ringen. Eher fünnen 
gewifte Voltoerzäblungen und mande populäre Unternehmungen 
Dierher gerechnet: werden. 

Ganz felten mag Frauen das ernfte Studium der Pilofophie 
äufagen, wie der vorgenannten Emilie Wepler; die drei *) Doftoren 
der Phitofophie weiblichen Gefchlechts, die mir befannt find, dürften 
fih eines folhen faum rühmen fönnen. Sufanne Aubinftein 
wenigjtens hat fich zuviel zugetraut, als fie über „Zelbiterlöfung“, 
„Schidjalsbegriff“ 2c. fchrieb und ift einer vernichtenden Kritif 
anheimgefallen. Mehr Werth haben vielleicht die Unterfuchungen 
von Helene Drusfowip über Zeitfragen. Ueber Fräulein Ella 
Mensch zu wetheiten fei dem Schluh vorbehalten. 

Es wird in der That die höchite Zeit, dab ich fchliehe; fo 
jeher ich mich beftrebte in gedrängten Worten von der Aus: 
dehnung der Franenlitteratur eine Vorftellung zu geben, jo wenig 
babe ich Ahnen und mir genug thun fönnen. a ich muß fürchten, 
daf; die allzugroße Fülle des Materials auf engem Naume der 
Neberfichtlichteit geichndet hat. Zu diefer Beforgniß gefellt ich 
die Bangigteit, wenn ic num die delifatefte aller Fragen, die 
Franenfenge berühren mufi. 

Schon vor 100 ahren hat Mary Wollitonecraft die Frauen 
rechte in Aniprucd) genommen; aber ihre Stimme verhallte im 
Getöfe der Nevolution, die ja ohnehin die gefamimten Penfchen- 
tedhte proflamirte und damit auch die rauen entfeifel 

Indeffen rubhte feitden die Yerregung weder in England 
noch in Deutjchland gänzlich. Endlich fand die unklare BYemühung 
einen beredten Anwalt in John Etuart Dill, der 1869 in feiner 
„Sörigfeit der Kran“ die Forderungen etwa zu folgenden Punkten 
formulirte: 4. Befreiung der Frauen von dev Unterdrücung duch) 


























E 









*) Eine wirkliche Gelehrie, die Gräfin Cartai-Yovatelli it von der 
Aniverfität Halle zum Ehrendotior ernanıt worden. 





574 Ueber Frauenlitteratur. 


die Männer. 2. Verforgung lediger Frauen. 3. Zulafung der 
Frauen zum Univerfitätsftuwdinn. 4. Lösbarfeit der Ehe. 5. 
Heichheit der politischen Nedhte. 

Das find Wünfe von fchr verfdiedener Berechtigung; aber 
fie wurden von freiheitsdurfiigen Frauen, die fih allzuichr 
jurücgefeßt fanden, als gleichwertbig hingenommen und (ebhaft 
verfochten. 

Schön vor Stuart Mill Hatte Luife Otto-Peters den „AL 
gemeinen beutichen Frauenverein“ und ihr Blatt „Neue Bahnen“ 
gegründet, „das Necht der Frauen auf Erwerb“ geltend gemacht; 
mn vedeten und fehrieben Frauen Über ihre Nechte weit mehr, 
als fie verantworten fonnten. Viele ereiferten fid) für den Umfturz 
des DVeftehenden und erwedten aud bei Jhresgleichen ein leicht 
begreifliches Unbehagen. Cs gab feine böfe Abjicht, feine jchnöde 
Willtür, die man den Männern jeit Adam nicht nadjgefagt oder 
wenigitens zugetraut hätte. 

Verftändige Leute Fonnten diefes Schelten und Heifchen mur 
mit Kopfichütteln und Lächeln beantworten. 

Bald beruhigte fi) denn auch der Aufruhr wieder etwas 
und hat fih in Deutihland vielfach in fegensreide Strömungen 
ableiten lafen, da man fiatt des fernliegenden Zufunfteideals 
eine Thätigfeit gründete, zu welder die Gegenwart gebieterifch 
aufrief! 

Lina Morgenftern hat für die Berliner Voltsfüchen gearbeitet 
und geichrieben; Jenny Hirih hat über die 25-jährige Thätigfeit 
des Lette-Vereins berichtet, der —— auch ichen vor Stuart Dill 

- zur Förderung der Erwerbsfähigfeit des weiblichen Geihlehts 
in’s Leben gerufen war. Marie Locper:Houifelle Hat in der 
jungen Zeitfehrift „Die rau im gemeinnügigen Leben“ bie 
Nefultate des Badiicen Frauenvereins mitgetheilt, Helene Lange 
hat Realkurje für Mädchen eröffnet. 

Frauen haben alio Punkt 2 zu verwirklichen gelucht, haben 
verwahrlofter Kinder fih angenommen, fchwädjlichen Mädchen in 
Ferienfolonien Gelegenheit gegeben fich zu erholen, Mädchenhorte 
für Erziehung und Unterricht gegründet, die Veihäftigungsfreif 
der Frauen erweitert, die Verwendung der Frauenarbeit befü 
wortet, furz in jeder Weile zu helfen gefucht jolden, die ich 


























Ueber Frauenlitteratur. 575 


bisher nicht hatten helfen fönnen. Aud) verbanden fie fih) mit 
der inneren Miffion und unternahmen es, Qerirrte zu retten, 
Gefunfene heraufzugiehen. So lenften die Gemäßigten und 
Praftiichen auf Bahnen ein, wo fie mit den Männern Hand in 
Hand gehen fonnten. 

Dody würde man irren, wollte man glauben, der Sturm 
fei vorüber, das Gewitter habe fi verzogen. Luife Otto-Peters, 
Luife Büchner, Hedivig Dohm haben Geifter heraufbeihworen, bie 
fich nicht fo leicht bannen Iaffen. 

Wie diefe Schwärmerinnen fid) bie anderen Punkte der 
Frauenfrage zu erfüllen gebenfen, davon nur zivei Proben neueften 
Datums, welche beweifen, da die eleftrifhe Spannung es an 
Big und Donner nod) nicht fehlen läht. 

Im ihrem jüngft erfhienenen „Entihronten Amor“ läßt 
Fräulein Lifa Weile (Lih-VBlanc) Dlinerva zu Amor jpreden: 
„Das Weib war Sklavin, als der Vlann dich zum Gott feiner 
Liebe erhob —- die jelbjt denfenden, gemüthstiefen Zukunftsfrauen 
werden dich entihronen. Sie wollen treue, geadhtete Aameraben, 
die ebenbürtigen Gefährten des erwählten Geliebten fein; jehende, 
tieffittlich)e und geiftig hohe Yiebe wird beide Beichlechter verbinden 
und eine eblere Verförperung als du wird ihre beifere Liebe 
ibealifiren.” 

Das Elingt nicht jehr fhmeichelhaft für die bisherigen rauen; 
überdies was hat Dinerva je mit Amor für Erfahrungen gemacht? 
Hätte berfelbe enblid) nicht erwidern Lönnen, ex heihe eigentlid) 
Eros und ihm jei hen vor mehr als 2000 Jahren in Platos 
Gafımahl bie von Fräulein Weife angewiefene Holle von Sofrates 
zugeteilt worden? 

Fräufein Ella Menjc*) aber Hat, eine neue Deborad), das 
ftolge Berwußtfein, „bereits im Geifte auftauchen“ zu fehen: das 
„Neuland“, das Eldorado der Freiheit, aus dem jedes Vorurtheil 
Ranaans ftreng vertilgt üft. Zeit die Freilanderpedition des Dr. 
Herpla an ihrer eigenen Unmöglichkeit fo Fläglid geicheitert ift, 
muß man für foldhe Entdedungsreifen ernftlich bejorgt fein. Und 
auf wie Hohen Stelzen geht Fräulein E. Menich einher! 


*) €. Menich, Neuland. Stuttgart 1892, 


576 Ueber Frauenlitteratur. 


„Nachdem *) die Vernichtungsichlaht ausgetobt, theifen fid, 
die Wolfen, aus den wogenden Nebelmafjen fteigt, von der Sonne 
gefüßt, die neue Erde hervor.” Diefe Manier nennt man „die 
Moderne.” 

Ic will nur noch verrathen, daß das immer noch die alte 
Sonne Homers fein foll — Fräulein E. Menfh meint freilich, 
der befannte Pentameter **) am Schluß des „Spaziergangs“ fei 
von Hölderlin — daß aber auf der neuen Erde ein Pantheon 
fih erheben wird, in welchem neue Götter auf höheren Roftamenten 
ftehen; Heine führt den Reigen — ein fonderbarer Jupiter — e8 
folgen bien, Björnfon, Zola, Giacofa, Doftojewsli, Sudermann 
u. 4; felbjt Tovote wird zugelaflen. Unerflärlich bleibt es, wie 
Carmen Splva in diefe Gefellichaft geräth; diefe Königin wird 
&, fürchte ich, ablehnen als einziges weibliches Welen in biefen 
lymp zu berrichen. 

Doch ich will nicht länger bei dem müffigen Gefhwäp des 
munberlihen Buches verweilen, will nicht mit einem Mißklang 
endigen. Das wäre aber der Fall, wenn id) mit Iphigenie fprädje: 
Der Frauen Schicjal ift beflagenswerth. 

Aud) hat eine Frau vor folchen Verirrungen bereits gewarnt; 
die Nigenferin Sara Mohr (Marholm)***) weilt an febenden 
Beilpielen nad, daf zwei Nünftlerinnen, drei Dichterinnen und 
eine Profefforin der Mathematit trog aller Adeen, troß aller 
Erfolge kranken, theilweile zu Grunde geben an dem inneren 
Ziwiefpalt, der durch die Frauenfrage in die Welt gefommen ift. 
Wie auf einen wüften Traum wird die fnftige Zeit auf foldhe 
felbftgeichaffene Feiden zurücchauen. 


48, heift 8: „Die Sonne Homers, ficht, 
fie uchtet auch uns!” „ewiß, wir haben cin Recht, dieje Worte dem Dichter 
d65 „Öuperion” machjuipreihen.” — Hat die Dame wirklich Schiller für den 
Verfaffer des „Hoperion“ gehalten? Tann hätte vielleicht Hölderlin dir „ötter 
Griechenlands” gedichtei? Webrigens fagt Schiller „lächelt“, nicht „lenchtet". 

#**) Sara Marholm, Das Yu) der Aranen, 1805. — As rau hatte 
fie das volle Recht, auf das Wein um das Yedürfnift ihres Gejchlehts 
nagpbrüdlich hingumeilen und in der Gauptfache hat fie chen Naht. Leider 
beeimträdpigt fie das Durd) fichtliche Ueberkchägung Ährer Veldinnen, durd) 
fprachliche Witkfür und ftliftiige Manier. 


*) €. Menkc, Neuland, ©. 3 
*" €. Menich, Neuland, 






















Ueber Fratenfitteratur. 577 


Mas am Streben der Frauen unferer Tage naturgemäfi 
und. was erreichbar ift, läßt fi) am beften erkennen, wenn man 
in die Vergangenheit zurückbfiedt und fi) vergegenwärtigt, was 
einftmals Frauen mit weniger Haft und mehr Glüc gelungen it. 

Gerade in demfelben Maße werden auch die fommenden 
Jahrhunderte ihmen gewähren, was fie verbient haben: Huldigung 
jeder Größe und Schönheit, Liebe jeder Yiebenswürdigfeit, 
Dankbarkeit jedem Berdienfte, Erfolg jeder redlichen BYemühung. 


—e—- 


gu 

















Beiträge zur Geihihte der Unterwerfung Anrlands, 


vornehmlich nad den Akten des preufifchen Staatsarhios. 





(Fortfegung.) 


Beim jungen Hofe herriche die größte Uneinigfeit trog des Erils 
ber Frau von Benfendorff. Der Großfürjt werde immer bitterer und 
heftiger, Niemand theife jein Vertrauen in Fräulein Nefidon, von der 
man fage, daß fie ihn den Ausländern zu entfremden juche. Er habe 
feine ernfle Veihäftigung, (ebe mähig, feine Gefundheit habe fich 
verfhleghtert. Die Politif der Raiferin gehe dahin, ihren früheren 
Einfluß auf ihre Nachbarn zurüczugewinnen, befonders auf Polen. 
Dort werde fie erjt durd Intriguen zu wirten fuhen, aber wenn 
diefe fehlichlagen, glaube man, daß fie ihre Pläne dennad) weiter 
führen werde. Cie hoffe die Polen von den anderen Höfen 
abzufenfen, wolle nur gegen einige Artifel der Konftitution vor- 
geben. Eine Nonföberation foll gebildet werden, die Nufland 
unterftügen würde. Man fei in Petersburg überzeugt, dab die 
Kaiferin fid) in die franzöfiihen Händel niemals thätig einmiiden 
werde. Die deutichen Mächte wünjhe fie dafür lebhaft bort zu 
beichäftigen um die Hände freier zu haben. Die Gefinnung der 
Raiferin gegen Preußen jei na allen Berichten nicht fehr 
aufrictig; in der Annäherung dev beiden Höfe erblide man in 
Petersburg eine Finte der Naiferin, um den König von einer 
Unterftügung der Polen abzuziehen. Das Gerücht werde 
gefliffentfich in Petereburg verbreitet, als werde der König ber 
Kaiferin in Polen freie Hand (ajjen aus eigenfüchtigen Abfichten; 












Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands. 579 


man hoffe dadurd die Polen von Preußen abzuziehen. Das 
Vorftehende habe Brinden an 9. geihrieben. Die neuen Unter: 
nehmungen der Kaiferin rufen in Nußland Unmillen hervor, 
denn die Finanzen jeien jdplecht, Gold: und Silbergeld jehe man 
fait gar nicht mehr. 

N, 20. Dai. Die Naiferin jei nun fejt entihlofien, bis 
zum 11.22. Mai nöthigenfals ihre Truppen in Polen einrüden 
zu laffen und in einem Vlanifeit zu erklären, dafs fie die Konföbericten 
unterftügen werde. Das werde unter Vlitwilfen von Preußen und 
des Königs von Ungarn geichehen, welche Höfe über eine gemeinfame 
Bafis für Behandlung der polnischen Gefchäfte unterhandeln. Im 
Haag geht die Heirathsangelegenheit fehr gut vorwärts; man hat 
vorläufig and auf die Meile des Prinzen nad) Nurland fofort 
verzichtet. 

27.3, 13. Mai. Brinfen erzählte 9. über feine Mifften 
Folgendes: Dftermann habe ihm nicht gut empfangen; er babe 
erffärt, die Naiferin fei mit dem Herzog äuferft unzufrieben und 
er felbft ihm and nicht freundlich gefinnt. Die Gründe jeien: 
daß der Herzog andere Stügen als Nufland aufgefucht habe; 
daf er übernommen habe, die preuiichen Truppen zu verproviantiven, 
wenn fie gegen Hufland marfchiren würden; daß er fid) in dem 
Streit mit der Nitterfchaft nicht an Nufland, fondern an ben 
polniichen Reichstag gewandt habe. Er rathe dem Herzog, in der 
Frage der Verpachtungen die Nitterichaft zufrieden zu Stellen. 
Die Kaiferin äuferte fich fpit über die Neifen der Herzogin nad) 
Berlin und Warihau. Bei der Vorftellung des jungen Prinzen 
Biron in der Eremitage wandte fie fich zu den Hofleuten mit den 
Worten: „Voiei, messieurs, le jene prince Biron et le due 
futur de Courlande.“ Man ipriht noch immer von einer 
Heirath des Prinzen mit einer Großfürfin. — Dit Nüdmann 
herricht noch immer äuferjte Kälte. 

28. B, 17: Mai. Der Herzog bat dur Brinfen in 
‘Petersburg nad) einem eigenen Agenten juchen lajjen und einen 
folchen aud) gefunden. 

29. B., 20. Mai. Graf Nomanzew, Sohn des Feld- 
maridalls, wird in Kiga erwartet und foll mit 60,000 Mann 
adıt Tage fpäter in Polen einrüden. 








580 Zur Geidjichte der Unterwerfung Kurlands. 


R., 29. Mai. Es fei fein Gcheimniß mehr, dafi die Hufen 
in Polen eingerüt find und Bulgafow am 18. dem polnifchen 
Reichstag eine Dellaration überjandt hat. 

30. 3, 24. Mai. Es foll in der ruffiichen Armee Un- 
äufriebenheit hevrichen, die von Dünaburg bis Kiew in Stationen 
aufgejtellt jei, und zwar weil fie ftatt Geld nur Rupons befomme, 
die Verfufte verurfadhen. Die Nuffen find am in Bolen 
eingerüdt. 

31.8, 27. Mai. Adam Chartorysfi intriguire in Warichau 
gegen den Herzog. 

N., 6. Juni. Die Sache des Herzogs fei in MWarfchau zu 
feinen Gunften entidieden worden. Cine Kommilfion von 12 
Gliedern werde die Frage der Kehngüter unterfuchen. Die Herzogin 
und Luchefini beeinfluffen die Wahl ber Glieder biefer Nummillion. 

33. 3, 3. Juni. Der Reichstag hat am 26. Mai ein 
günftiges Urteil für den Herzog gefällt, bie Konjlitution verworfen, 
die ettferfchen Güter dem Herzog gelaffen, aud Würzan. Uebrigens 
fei der von dem Reichstag gefällte Sprud) nicht von zweifellofem 
Erfolg bei der jegigen Lage der Dinge; ein der Nittericaft fehr 
ungünftiger Sprud) werde diefe veranlaffen, unter rufiihen Au: 
ipigien fih an einen neuen Neichotag zu wenden. Gefährlich fei 
der von bem Könige Staniolaus Augujt in feiner legten Nede 
erhobene Anfprud) auf die Hilfe furländifhper Truppen. Der 
Herzog müfje juchen, die Nittericjaft durch Nongeifionen zu verföhnen. 

R, 14. Juni. Der König giebt den Kath, daf Rurland 
die von Nücmann übergebene Note, durch weldhe Aufklärung über 
die Haltung Nurlands gefordert und verlangt wird, dab Kurland 
fh aller Theilnapme an dem ruffiidh:polnifcen Streit enthalte, 
nad Warfcau überjende mit der Erklärung, da wenn Polen 
nicht im Stande fei, Aucland gegen Nubland zu hügen, der 
Herzog genöthigt fein werde, der ruffiichen Nebermadht nadızugeben. 

34. 8, 7. Juni. Der Herzog bitte den König als feine 
einzige Stüge in der Welt um Schup. Aus Petersburg fomme 
das Gerücht, Prinz Karl habe zu Gunften feines älteften Sohnes 
der Nacjfolge entjagt und Nuland werde die Anerkennung des 
Prinzen vom nächjten Landtage verlangen. 














Zur Gejihichte der Unterwerfung Aurlande. 581 


35. 3, 10. Juni. Die Kunde von der Enticheidung des 
Neichstages lüht mehr als je das Geichrei fid verbreiten, man 
mühe fi in die Arme Nuflands werfen. Die ritterfchaftlichen 
Delegivten in Warfhau haben fid) fofort offen nad Petersburg 
gewandt mit der Bitte, durch den fünftigen Neichstag den Spruch 
des legten Faffiven zu laffen. -—- Zwei ruffiice Negimenter find 
in Olay angefommen und follen in Kurland einrücden unter dem 
Vorwande, die Grenzen gegen die Polen zu fhügen. 

36. 8, 14. Juni. Leptere Nachricht fei verfrüht. In 

Livlaud erzählt man, die Kaiferin jei bejonders über die Beftimmung 
der Konftitution entrüftet, nach welcher Jeder frei werde, der den 
Boden der Nepublif betrete. In den letten Jahren follen daher 
zwiichen Riga und Kiew 20,000 Vienjcen nad Polen entwichen 
fein. — Die Herzogin jei am 2. Juni von Warfchau abgereift 
und gehe über Königabe: Herr von Yatowjfi jei vom Neichstag 
zum san fchen en in Witau bejtimmt worden. 
. Juni. Die Herzogin ift angefommen. Der 
neue polnifche Minher folle darüber waden, daß von feiner 
Scite die Interefjen des Sonzeräns verlegt werden. lan fei 
am Hofe in Sorge, dah der Hab Yatomjfi's nicht zu Konflitten 
mit den Nuffen führe. Frau von Nede habe geihrieben, man 
wünfde im Haag, da wenn Wilhelmine von Kurland Einderlos 
fterbe, Sagan dem Prinzen riedrid) verbleibe. Das werde aber 
der Herzog nie zugeben. 

38. 8, 20. Juni. Der Hof ift in großer Verlegenbeit. 
Rücdmenn hat erflärt, die Naiferin erwarte, dab der Herzog 
die Mittel zum Unterhalt des Prinzen Guflav hergeben werde. 
Und man wiile, dab fie diefe Diittel auf 40,000 Nbl. jährlich 
angejegt habe. 

R, 1. Juli. In Petersburg ift durd) den Gefandten dahin 
gewirft worden, daß das Einrücen ruffüicher Truppen in Kurland 
abgewandt werde. Wenn man im Yang die Forderung zu bad) 
geitellt habe, jo feien anderfeits die Bedingungen, die man von 
Seiten Rurlands in Berlin durd) den Grafen Viedem habe ftellen 
fafjen derart, dafs fie im Yang nie angenommen werden fönnen; 3 DB. 
alleinige Dispofition der Pringeifin über die Paraphernalgüter 
u. dergl. 















582 Zur Gefchidhte der Unterwerfung Kurlands. 


39. B., 24. Juni. Im Adel rührt es fih. Die Herzogin 
glaubt, es werde ein Komplot zur Unterwerfung Kurlands unter 
Ruhland gefgmiedet. X. will daran midht glauben: e6 würden 
fi) faum fo unvernünftige Leute finden und Rußland werde jo 
ernfte Verwidelungen f—enen. 

40. 3., 28. Juni. Der durd) Brinfen angeworbene herzogliche 
Rorrefpondent in Petersburg fchreibe, die Raiferin hege immer 
die alte Abneigung gegen Preußen und handele nicht aufrichtig 
gegen ben König. Alles ziele daranf ab, Preufien von ben Polen 
zu trennen; daher allerlei Verdächtigungen Preußens und 
Veripredungen an die Polen: Befreiung des Weichjelpandels, 
Nücerwerbung von Weitpreufen. Bei Riga fanmelt fih ein 
tuffiiches Korps von 10—15,000 Dann. Eine aus 17 Perjonen 
bejtehende Deputation des furiichen Adels habe durh Nüdnann 
den Schuß der „deesse tutelaire“ angerufen. 

N, 7. Juli. Der König habe Beweife der guten Gefinnung 
der Raiferin, welde wahriceinficd bald offenfunbig werden würden. 

41. 3, 1. Juli. Der At der adligen Deputation jei eine 
Felonie. 9. hat dem Herzog geraten, den Oberhauptmann Sa 
zu gewinnen unb durd) ihm zu verbreiten, ba er in der Frage 
der Pachten nachgeben werde, wenn die Nabale aufhöre. Cafı jei 
ein mittelmäßiger, aber anjtändiger und angefehener Dann. 

42.8, 5. Juli, Aus der an Nüdmann übergebenen Schrift 
der abligen Deputation und deifen Antwort gehe hervor, dal 
Nufland feine Hand im Spiele babe und daß die Sache gegen 
den Herzog gemüngt fei. Die Gefahr fei fehr groß und errege 
den Diitauer Hof außerordentlich, indem man fürdte, dah Rufland 
ihn zu einem von dem Belieben Nußlands biktirten Vergleich 
mit der Nitterfchaft zwingen önnte. Nüdmann habe die Annahme 
ber ihm vom Herzog zugegangenen Entideidung des polniicen 
Neichstages abgelehnt unter dem Worwanbe, dal; er weder polniich 
nod lateinifch verfiehe und fie von einem illegalen Neihstag 
ausgehe. Die erfolgte Anfunft YBatomfli’s vermehre nod) die 
Gefahr. Eine Vereinigung des Adels, zu der fon 63 Perfonen 
gehören, habe fih gebildet, um in jedem der vier Areife jührliche 
Verfammlungen zur Vebung in Waffen zu veranjtalten. Aus 


Zur Gejcjichte der Unterwerfung Kurlande. 583 


Petersburg jlimmen bie neueren Nachrichten mit denen bes 
Heryogs darin überein, dal; die Kaiferin ein Doppefipiel mit 
Preußen fpiele. 

R., 16. Juli. Der König habe vorausgefehen, ba Nuhland 
die Entjheibung des für illegal erflärten Neidstages nicht 
anerfennen werde, aber er Fönne für den Herzog nichts mehr 
tun als was er bisher gethan. 

43. 9, 8. Juli. Der Herzog bietet Alles auf, um bie 
17 Nirchipiele, welde die Note an Nuhland unterichrieben Haben, 
zur osfagung davon zu bewegen und bie 7 anderen zu einem 
Proteit. Es werde aber Alles nicht Helfen, die Gegner haben zu 
großes Gewicht im Lande und drohen fehon mit dem Einrüden 
ruffiiher Truppen in die Güter der Anhänger des Herzogs. Co 
gehe der Hof einer trüben Zeit entgegen; fein Thron und das in 
Rurland befegene Erbe der Pringeifinnen fei fehr bedroht, wenn 
nicht eine fremde Macht, befonders Preußen, fid den Rufen 
entgegenftelle. 

44.8, 12. Juli. Vatowffi hat nad) Warjcau Vorftellungen 
gemacht gegen die Forderung des Furländiichen Truppen-Stontingents. 
Der Herzog hat dur den Grafen Medem trop der Geheim- 
Haltung, die fih 9. auferlegt hat, in Erfahrung gebracht, daß 
der König fih durd) Golg in Petersburg für den Herzog verwandt 
habe. Aus Petersburg melde man, daß die Kaiferin günjtiger 
für Preußen zu denfen beginne. Ihre Gefundheit ei im Abnehmen. 

R., 23. Juli. Vatowffi’s Benehmen fei ug und umfichtig. 
Man könne fih in Rurland wegen eines Einmarjdes rufiicher 
Truppen wohl beruhigen, welcher unwahriceinlich fei. 

35. B., 19. Juli. Die Herzogin in MWarihau durd) bie 
„enjoleries“ des Nönigs etimas „gätde“, ımd „exaltee* durd) 
die dortigen Erfebniffe, habe nad) ihrer Nüdtehr eine Art von 
Enthufiosmus für die polnifche Nation gezeigt; jegt fange fie an, 
wieder vernünftiger ju werden. 

46. 8, 26. Juli. Der Herzog habe den Brief des Königs 
mit großer Freude empfangen, worin ihm die Intervention für 
ihn verjproden wurde. — Nüdmann hat bie Forderung einer 
Penfion für den Prinzen Guftav erneuert. ©. glaubt einige 
euere Anzeichen dafür zu haben, dab; Rußland wirflid (wie der 











584 Zur Geidichte der Unterwerfung Hurlands. 





ig immer behauptet) aufrichtig gegen Preufien handele. Der 
Rönig von Polen fheine dem Drud nachgeben zu wollen. 

47. 9,, 2. Aug. Die Yage des Herzogs verichlimmere fid) 
täglich. Nücmann hat focben dem Herzog eine Note feines Hofes 
vorgelefen, darin Jeder zum Nebellen gegen feinen Soujerän 
erklärt wird, der die „gefährliche” Entfheidung des Neichstages 
für rechtsfräftig anerfenne. Die Enticjeidung fei dur) Intriguen 
und Beltehung zu Stande gebracht und die Kaiferin werde nicht 
dulden, da der Adel unterdrüdt werde. Auf die Frage des 
Herzogs, worin die Unterdrüdung bejtehe, habe Nüdmann die 
Adyjeln gezudt. Nücmann hepe feinen Hof gegen den furländiichen 
auf, er Habe ned) jüngit von der oppofitionellen Nabale 2500 
Dufaten befommen. Die legtere fhüre und Lärme, während im 
Xande eigentlich die Entf—eidung des Keichstages für im Ganzen 
billig und annehmbar angefehen werde. 9. bat dem Herzog 
gerathen, einen Vertrauten nach Petersburg zu fenden, der feine 
Sache dort vertreten und die Abneigung Natharinas bejeitigen 
tönne. Gr bittet um Juftruktionen an Oolß in gleichem Sinne. 
— Die Notififation über den Ausbruch des Nrieges gegen 
Frankreich habe er erhalten, jowie ein Exemplar des „Expose 
des raisons qui vous ont determine, Sire, & prendre 
armes contre la Rı dem Herzog übergeben. 

R, 13. Ag. Billige den Nath 9.6, den er dem Kerzoge 
gegeben, tehint aber ab, Golg für den Herzog zu inftruiren. 
Katharina werde fi cher erreichen lajjen, wenn der Herzog fi 
offen in ihre Arme werfe. 

48.8, 5. Aug. Rücdmann Hat durch Stafetten alle Gegner 
des Her; nad) Dlitan berufen; man glaube, der Yandlag werde 
unter ruffiihen YAnfpizien wieder zufammen treten.  Vatowfli 
fürdte einen Gewaltjtreih Mußlands, zu dem der Landes: 
bevollmächtigte Virbad) fih hergeben Lönnte, um Batowjfi aus 
Mitau zu vertreiben. ©. habe, um den Verdacht gegen feinen 
Verkehr mit dem Hofe zu beihwichtigen, fi) für einige Wochen 
auf das Gut feines Schwiegervaters, an der Straße nad Memel 
gelegen, begeben. Die Prinzeffin art Vivon ijt nad) Petersburg 
dund) Mitau gereift, 

49. 3, 9. Aug. Der Landesbevollmägtigte Mixbad it 



























Zur Geidichte der Unterwerfung Kurlands. 585 


von Rüdmann aufgefordert worden, von Yatowffi zu verlangen, 
daß er das Land verlafie. Mirbad) wendet ein, dab ihm das 
nicht zuitehe. Hierauf entgegnete Nücmann, dafj nachdem bie 
Stände die Intervention Nußlands angerufen, fie den Vorichriften 
der Naiferin gehorhen müßten. Zulegt habe man fidh dahin 
geeinigt, dab Mlirbad) einen Wroteit gegen den Aufenthalt 
Vatowjti's bei der Herzoglichen Kanzlei niederlegen folle, in dem 
der Herzog aufgefordert werde, Batowli zur Abreife zu bewegen, 
da fein Verweilen gegen die Grundgejege des Yandes veritoße. 
Der Herzog hat darauf geantwortet, dab er jept nichts ihun 
fönne, weil nur ein Glied der Negierung amweiend fei. Die 
anderen find nämlic) fortgereift aus Furt, zu Schritten genöthigt 
zu werden, die Nußland mihfallen fönnten. Darauf dichte 
NRüdmann jeinen Sekretär zu Vatowjli mit der Forderung, er 
möge, um Unannehmlichfeiten zu vermeiden, abreifen. Daranf 
verlieh Batowffi Diitau und lieh von Doblen aus 9. um Kath 
fragen, was er tum folle. 9. vie) ihm, Nurland zu verlaflen, 
da er in Doblen ebenfo wenig fiher jei vor einer Gefangennahme 
umd Auslieferung an einen polnicen General der Nonföderation, 
als in Dlitan. Batowjli reifte nun nad Wiemel weiter. — 
Der fogenannte Landtag habe bisher jeine Sigungen nicht wieder 
begonnen, fonferive täglidh mit Nüchmann, der eine empörende 
Verachtumg gegen den Hof zur Schau trage. Howen habe mert- 
würbiger Weife abgelehnt, den Nufe Nüdmanı’s zu folgen und 
fahre unter der Hand fort, Neigung für eine Annäherung an den 
Hof zu jeigen. 

» 20. Aug. 9. Haltung gegenüber Batowili wird 
gebilligt. — An Stelle Luchefini’s fei Buhholg nad Waridau 
ernannt. 

50. 3, 12. Aug. Der Herzog Hat 9. einen Theil der 
ihm von Nücdmann vorgelefenen Depeide verihwiegen. Won 
anderer Eeite hat 9. erfahren, es fei darin ausgeiproden, daß 
die Raiferin „die Undantbarfeit des Herzogs verachte, dab fie 
aber bie Kühnheit, eine fremde Stüge gefucht zu haben, zu 
beiteafen willen werde”. Es jei um fo nothwendiger, daß ein 
Vertreter nad) Petersburg gehe, um die Vorurtheile zu zeritreuen. 
Durcy Vrinfen erfährt X. Folgendes: der Herzog zahlte jahrelang 





586 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands. 


dem Grafen Velborodfo eine Penfion, hat aber plöglid die 
Zahlung eingeftellt. Dadurd; habe ex fih einen gefährlichen Feind 
gemacht, um fo mehr als Vejborodfo unter dem Einfluß des 
Fürften Woronzow ftehe, zwiihen dem und dem Derzog ein alter 
Haß beftehe. Rüdmann beobachtet gegen 9. nicht die Regeln 
der Höflichkeit; auf die Ueberfendung des Königlichen Erpoies über 
bie Kriegserflärung habe er garnicht geantwortet. 

51. B., 16. Aug. Batowffi ijt nicht abgereüt, jondern 
auf einem Gute bei Würzan. — Nuffiihe Truppen marichiren 
dur) Kurland nad) Yittauen. In Petersburg jprede man von 
einer Heirath zwiichen dem Prinzen Guftav und einer Groffürjtin, 
fowie davon, daß der Herzog zu Gunften jeines Neffen auf 
Kurland verzichten jolle. 

NR, 27. Aug. Batowifi's Verbleiben fei unflug; er werde 
indeflen doch abgereift fein, da ihn der Nönig von Polen abberufen 
habe. Der König glaube nicht an die Mihheivath mit Guflav 
Viron. 

52. ®, 19. Aug. Generalmajor Budberg, Gonvernenv 
Guftav Biron’s, jei Mittwoch angefommen. Er habe ohne alle 
Beglaubigung oder Brief, mur auf feinen Nang geftübt fich beim 
Herzog vorgeftellt und gefragt, was derielbe für feinen Neffen zu 
tun gedenfe. Er weigerte fi) über irgend welche Einwände des 
Herzogs zu verhandeln, fondern habe bLos die Intentionen der 
Raiferin dem Herzog vorzulegen, die er als freund anzunehmen 
rathe. Der Herzog hat 6000 Thl. Ab. jährlid) vorgeichlagen, 
Yudberg hat 12,000 Dufaten verlangt, fowie fategorijche Antwort 
im Laufe des Tages. Mit Mühe Hat der Herzog 24 Stunden 
Aufihub erhaften und 9. um Nath gefragt. Dieiem Rath gemäh 
hat der Herzog geantwortet, er jei bereit, dem Wunide der 
Raiferin nachzutommen und werde fofort einen Vertrauten nad) 
Petersburg fenden, um die Eadye zu regeln. Yun hoffe der 
Herzog, dal der König ihm in Petersburg unterjtügen werde in 
dem Wunfche, dal; damit die Anfprüche des jüngeren Viron’ichen 
Bweiges abgethan feien. 

53. 3, 25. Aug. Die hauptfählichen Anjchuldigungen 
Rußlands feien: dah Nurland nad) 1783 anderen als ruffiichen 
Schup gelucht habe; da es in dem Streit mit dem Adel die 












Zur Geihichte der Unterwerfung Aurlanbe. 587 


Mebintion Ruhlands abgelehnt habe (während hierzu dod) aller 
Grund vorlag, da Meftmacher und Nüdmann die hauptjächlicen 
Schürer der Zwietradht waren); daB ia leten Jahre nahe der 
preußiichen Grenze Korn- und Fourage-Vlagazine angelegt worden 
feien und Gefälle der herzogliden Güter in Semgallen dort auf 
gefpeichert wurden jtatt nad) Niga geführt zu werden, mo fie 
nad der Konvention von 1783 allein verfauft werden burften. 
Der Herzog fehe, nahdem der Songerän zerichmettert worden, 
nur nod) Rettung in dem Schuge des Nönigs. Alle Unterrwürfigfeit 
gegen Nuhland werde nicht helfen, wenn nicht höhere Ermägungen 
auf die Raiferin wirkten. Der König meine, feine Intervention 
in Petersburg werde mehr fhaben als nüßen. D. erlaube fich 
eine Bemerkung: Wenn bie Kaiferin aufeichtig eine Annäherung 
und ein vertrauensvolles Werhältnif zu Preußen wolle, fo werde 
fie wegen der Intervention des Königs wohl nicht ihre Ungnade 
gegen den Herzog verdoppeln. eichieht es doch, fo icheine ihm, 
dal; die Abneigung gegen Preufien nicht geichmunden fei, dafi alle 
Annäherung nur Schein fei und daß zuleßt, wenn fie ihr Ziel, 
welches e8 auch fei, erreicht haben werde, die wahren Gefühle 
wieder an's Licht treten werden. Es wäre immerhin ein Vortheil, 
aud nur einen Zipfel des Schleiers -zu lüften. Niemand fei 
mehr als er übergeugt von dem Nugen einer ruffifchen Allianz; 
Niemand wünfche mehr ihre Miederherftellung, falls bie Raiferin 
anfrichtig die Verbündete und nicht die Beichügerin (Protektrice) 
Preufiens fein wolle; aber Erfahrung und Nachrichten, die er 
erhalten, machten ihn unruhig über die Aufrichtigfeit (candeur) 
Nulands. Friedrich I. habe fich erihöpft in Gefälligfeiten gegen 
Katharina; im Augenblid, wo er meinte ihnen Grenzen jegen zu 
müfjen, war die Freundicaft der Naiferin für ihn verloren; 
Eiferfucht und Animofität traten an ihre Stelle.) — Der Hof 
ift damit beihäftigt, einen ordinären Yandtag zu berufen, weil 
derjelbe geießlid) 14 Tage vor dem polnijchen Reichstag zuiammen: 


*) zur Erflärung diefer fcharfinnigen umd glänzenden Deprjche diene 
die Beer! dafs Preußen und Hufland jid) über die polniichen und die 
Turifchen Angelegenheiten bereits am 7. Yuguft durch einen Dertrag geeinigt 
hatten, der der Nenninif; Hüttel's vorenthalten blich, weshalb feine Erörterungen 
micht mehr der Sadylage antiprehen. 















588 Zur Gejchichte ber Unterwerfung Kurlands. 


treten muß. Auf Verföhnung fei nicht zu rechnen. General 
Vudberg hat fich mit dem Veriprechen des Herzogs begnügt. 

54. 3, 2. Eept. Batowffi ift noch bei Dantenffel, Vater 
des herzoglichen Delegirten, in Platonen, und kommt gelegentlich 
von da nad) Vita und Würzau. Er habe noch feine Nadyricht 
über feine Abberufung. Im Publilum Gerriche die Ucberzengung, 
daß fid) in Livfand und Polen etwas zum Schaden von Preußen 
vorbereite. Das und vieles Andere habe zu feinen mihtrauiichen 
Vortellungen an den König Anla gegeben; ev freue fidh, dafı 
ber König ihm über die guten Beziehungen zu Nußland habe 
Verfiherungen geben fönnen. — Brinfen hat auf 9.’ Rath die 
Miffion nad) Petersburg angenommen. 

N, 14. Sept. — zeigt G. den Abihluß eines Defenfiv- 

vertrages mit Nuhland am 7. Auguit an. *) 
. BD, 6. Sept. Der Gedanke einer Mifheivath liege 
nicht in der Sinnesweile der Haiferin, cher in der des jungen 
Hofes. Die Kaiferin verfolge jtets das Ziel, den Einfluß Ruflands 
auf bie Nachbarn zu verewigen, und für diefen Zwed würde fie 
nie vor der Heiratl einer Enkelin mit einem Biron zurüdichreden. 
Das furifche Lehm fei reich und fünne um 40 — 50,000 Dutaten 
jährlih nod vermehrt - werden, wenn die Verpflichtungen des 
Vertrages von 1783 aufgehoben würden. 9. rät dem Herzog, 
den Kanzler Nuthenberg, einen ehrlichen, aber unbedeulenden 
Mann durch eine Penfion aus dem Mlinifterium zu entfernen 
und an feine Stelle Brinden zu feben, um ein Gegengewicht 
gegen Howen zu erlangen. Der Herzog hatte Brinden bie erite 
Vafanz im DVlinifterium veriproden, fchene aber die Ausgabe der 
Benfion. 








.B., 9. Sept. An Petersburg erzählt man fih: General 
Popow, Xertrauter Potemfin's, habe unter deilen Papieren 
15 Millionen Nubel in Obligationen von Amfterdam und London 
gefunden und fie der Kaiferin abgeliefert, die fie behalten und 
für die polnifce Erpedition verwandt habe. Ferner: Mamonom 
fei in Verdacht gerathen, Haupt einer geheimen Jakobinergefellichaft 


*) Der Vertrag felbit wurde vorläufig ©. nicht mitgetheilt, weil der 
darin enthaltene geheime Artikel über Rurland nicht zur Nenutmif; des Furiichen 
Hofes Fommen folle 


Zur Gejdhichte der Unterwerfung Kurlande. 589 


zu fein und fei von Moskau nach Schlüffelburg gebracht worden. 
Die dumpfe Gährung in Mostau fchreibe man den vielen dort 
beftehenden geheimen Gefellihaften zu. Brinden fahre heute nach 
Petersburg, mit dem Leripreden, nad) feiner Nückehr Nanzler 
zu werden, während Nuthenberg eine Arrende erhält. Die Raiferin 
bat befohlen, Guftan Biron in Niga zu ersiehen. Deboli,*) auf 
Befehl der aiferin Petersburg verlaffend, it durch itau gereift. 
3, 13. Sept. So hodhfahrend der Ton in Petersburg 
fei, fo bewahre der Großfürit, wie Deboli erzählte, doch eine 
arofe Anhänglichfeit für den König, und wenn er zur Negierung 
fomme, fo werde eine enge Allianz mit Preußen die Grundlage 
feines Spitems bilden. Leider fei fein Förperlices Befinden „une 
eonstitution qui se mine.“ Die Kaiferin fehe, wie man behaupte, 
ihren Enfel, den Grohfürften Alerander als den unmittelbaren 
Nachfolger an. 

58. B., 20. Sept. Der Landeobevollmächtigte Mirbach hat 
gegen bie Mifften Brindens Proteft eingelegt. Die Zwietracht 
foll gefchiirt werden; Nücmann unterjtügt den Schritt. &. väth 
dem Herzog fortwährend zu verföhnlichen Maßregein. 

59. 8, 23. Eept. Der Abichluß des Vertrages mit 
Nubland zerftrene das Mitrauen, welches er, S., gegen diefe 
Macht Hegte. 

60. 8., 30. Sept. VBerubigende Anzeichen für den Herzog. 
Der Adel feine wirklich an eine friedliche Rompofition zu denfen, 
fei es weil er jchledhte Nachrichten aus Petersburg erhalten über 
feine dortigen Ausfichten, jei es aus beiferen Motiven. Won drei 
Seiten hat der Herzog Vorfchläge erhalten zu einer Ausföhnung, 
die beten vom Oberhauptmann Saf. Gewik fpielt dabei mit, 
dab im näcften Jahre 86 Pachtgüter frei werden. Der Herzog 
fei in entiprechender Stimmung, jo dai vielleicht ein guter Abjchluh 
erfolgt. Die fortdauernde „liaisons du chevalier de Batowski 
avec Mme. la Duchesse® und feine Anweienheit in Pitau 
jobald die Herzogin dorthin Tomme, gebe der Naiferin leider nad) 
immer viel Yergeı Batowffi denfe daran, den Dienft in 














") Wotvanter des Nönigs Stanislans Muguit und polnifcher Sefandter 
in Petersburg. 


500 Bur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 
Polen aufzugeben und fi als Privatınann in Vlitau nieder: 
zulafen. — Eben komme die Nachricht, dah Batowifi abberufen 
fei, daß aber der König von Polen ihn dem Kerzoge, da er 
in Ditau bleiben wolle, fdriftlih empfohlen habe als einen 
Vertrauensmann. Die Herzogin werde daher weniger als je 
geneigt fein „ä moderer ses liaisons avec ce Polonais selon 
les regles de la prudence, a moins que le Duc ne finiase 
par y trouver ä redire lui-möme*. 

N., 9. Oft. Golg ift beauftragt worden, Brinden zu unter: 
fügen; er fprede mit großem Lobe von Brinden und hoffe auf 
gute Erfolge. Die Hauptaufgabe fei, die Penfion des Prinzen 
Guftav auf das Lehn allein abzuwälgen; ferner, den Streit mit 
dem Adel zu fhlichten. Der König ift ungehalten, dab bie 
Herzogin, während Sol bieje Sachen zu unteritügen beauftragt 
worben fei, fi) auch nod) an den holländifcen Gelandten Hogguer 
gewandt habe; das fönne man in Petersburg übel nehmen. 

61.9, 4. Oft. Brinden fchreibt aus Petersburg, er fürchte 
ba die Raiferin nach dem Tode des Herzogs die Kettler’ichen 
Alodialgüter zum Lehn zu icplagen gedenfe, wodurd) das Vermögen 
der herzoglichen Familie um 1 Million Tl. Ab. verringert 
werben würde. Der Herzog neigt zu einer Ausföhnung und 
hat in eine Begegnung mit dem Landeobevollmäcjtigten gewilligt. 
B., 7. Of. VBatowffi hat dem Herzog fein Abberufungs: 
fchreiben überreicht. Als cr aud) bei Nüdmann feinen Abjchieds- 
beiuh machen wollte, wurde ihm feine Karte durch den Diener 
zurüdgeiciet. Die Unterredung zwifdhen dem Herzog und Mirbad) 
hat ftattgefunden und der Herzog hat veriproden, einige Berfonen 
zur Unterpandlung mit Wirbad) zu beitimmen. &. it jehr für 
Ausföhnung. Der Projeh gegen den Adel Fotet dem Herzog 
icon mehr als 1 Million Tl. Holländih. — Der Herzog hat 
eben die Herrichaft Nadyod in Böhmen für 250,000 Dufaten gekauft. 

63. 8., 11. Oft. Die Unterredung des Herzogs mit Vlirbad) 
it die Folge einer WVerjtändigung des fehr populären Ober: 
hauptmanns von Zah mit Mirbad) geweien. Mirbad) hat von 
dem Herzog 3 Wochen Frift erbeten, um ihm den Entwurf zu 
einer Nompofition vorzulegen. Kowen fei wütend und wolle 
nichts ohne jeine Mitwirkung zu Stande fommen lajjen. 














Zur Geichichte der Unterwerfung Sturlands. 591 


64. 8., 14. Oft. In Folge des Abichlufes der Allianz 
zifchen Preußen und Nufland it das Verhalten Nicmann’s zu 
9. ein anderes, freundliches geworden. Fürjt Boninofi ift infognita 
in Mitau. 

65. 8, 18. Oft. Die Herzogin beträgt fi jeit ihrer 
Nückehr aus Warjhan nicht nad den Negeln der Kugbeit, 
befonders in ihrem „engonement“ für Batoniffi. 

66. 8, 21. Oft. Brinden fchreibt aus Petersburg: die 
Beziehungen der Raiferin zu Defterreich erfalten trog der jüngjten 
Auffriihung. Die Haiferin wolle nur ihren Einfluß auf die 
Nachbarn wiedergewinnen und werde weder Truppen noch eine 
Flotte gegen die frangofen fenden. Cobenzl erichöpfe fich vergeblich 
in Niedrigkeiten und mache fd mr verächtlich. Die Aufmerkiamteit 
der Raiferin jei auf Schweden gerichtet, wo Stadelderg gegen den 
Negenten vergeblic) intriguire. 

R., 2. Nov. Nücmann hat von feinem Dofe foeben „une 
forte mereuriale“ befommen wegen feines Betragens gegen D. 

67. B., 28. Oft. Da nod) immer nicht Hlar jei, was den 
Born der Ntaiferin nad) weiter nähre, und was fie von ihm 
verlange, jo wäre cs wünichenswerth, dal Golg in Petersburg 
dahinter zu fommen juche. Die Prinzeffin Marl Viron hat auf 
ihrer Durchreife durch Miton eine Zujammenkunft mit den 
Vifgefinnten gehabt. Der „eiderant prince Poninski*. ihr 
Bruder, jei von der Naiferin in Witau internirt worden. 

68. 3, 1. Nov. Der 9 wünfche in feinem legten 
Neffript, daf; der Furiiche Hof ic) möglichit freundfid) gegen 
KRufland zeige, um Lrinden feine Aufgabe in Petersburg zu 
erleichtern. Das jei jedod Idhwer, da man nicht wilje was Rufland 
wolle. Offiziell werde eine ompoiition befürwortet, Insgeheim reije 
Nücmann die Oppofition an, Vebingungen zu ftellen, die nicht 
können angenommen werden. Cs wäre vielleicht am beiten, wenn 
der Herzog direft die Haiferin bäte, die Viediation zu übernehmen. 
Mirbad) hat den Entwurf dem Herzog mod) nicht vorgelegt und 
Nücdmann meint, 8 werde aus der Eacye nichts werden. Die 
Herzogin mifcht fich j—einbar in nichts umd erklärt, fie glaube 
nicht an die Aufrichtigfeit der Oppofition; das fei Ichäblich, aud) 
wenn fie nicht im Ztillen gegen die Ausiöhnung wirten jollte. 

















592 Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlande. 





Sie hat ihre Beziehungen zu Batensfi wohl modifisirt. hat 
das ihr vom Herzog donirte Neillerice Gut Gailhof eben an den 
Grafen Medem verkauft. Die Derzogin bat die auf der Durdhreiic 
nad) Petersburg in Friebricsluit vom Verzug empfangenen 
Pringeffinnen von Baden *) nicht empfangen, in Mürzau Schnupfen 
vorfhügend. 

N, 11. Nov. Der König äußert fih höhft ungehalten über 
die Beleidigung, welche die Herzogin Nufsland zugefügt habe durch 
die Behandlung der babiiden Prinzeifinnen. 

69. 3., 8. Nov. Die Würdenträger in Petersburg, vielleicht 
Graf Oftermann ausgenommen, find jeit lange gewohnt, von einem 
Herzog von Kurland bedeutende Jahrgelder zu beziehen, baar oder 
in Arrenden. Die Gefahr schwebt über den Kettler'schen Gütern 
noch immer, vielleicht veranlaht dadurch, da das Lehn allein, 
durch die Konvention von 1783 um etwa 100,000 Thl. verschlechtert, 
dem ringen Guftv mır 50--60,000 Thl. Alb. Einfommen 
bringen werde. — Eeit 14 Tagen hat der Herzog oft und fange 
Unterredungen mit Howen, fpricht aber zu Niemandem darüber. 
— Wahriceinlich follte der Herzog die höheren Yürger gegen den 
Adel in Schus nehmen und jo die Ausföhnung mit lepterem 
unmöglicd; gemacht werden. 9. warnt den Herzog, der ihm auc, 
verjpricht, nicht in die Falle zu geben. Mirbach hat dem Herzog 
zwei Fragen vorgelegt: ob er die Mediation Nuflands annehmen 
würde, und ob er den prorogivten 4-jährigen Yandtag al legal 
anerfennen würde. D. väth die erite frage zu bejahen, die zweite 
Dinauszuichieben bis jur Mediation. 

70. B., 11. Nov, ‚Herzog fcheint bereit, dem Nath zu 
folgen. Diirbad) hat einen aus 20 Artifeln beitehenden Entwurf 
zur Kompofition dem Herzog vorgelegt, darin alle die unannchmbaren 
Streitpunfte der legten 4 Jahre enthalten find. 

71. 8, 15. Nov. Aus Petersburg fommen Nachrichten, 
wonad) man die Entjheidung in den furischen Angelegenheiten 
dem nächjten polnischen Neichötage überlaffen wolle.  Brinden 
meint, dal wenn der Herzog die Verpachtungen der Nitterichaft 
einräume, die Naiferin ihre Forderungen nicht weiter treiben 
































*) Zur Brantfchan nach Petersburg befohlen, 


Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 593 


werde. Der Herzog möge fi) auf die Jllegalität des Landtages 
nicht fteifen. Nüdmann jcheine feinen Antheil an dem Verjuch 
Howens zu haben, die Lage durch Hereinzichen des Streites 
zwiichen Adel und Bürgern zu verwirren. 

72. 3, 18. Nov. Ca giebt den Nath, einen neuen 
Landtag zu berufen, dem die Vorfchläge zur Nompofition zu machen 
wären, da er 18 Rirchipiele für die Nompofition gewonnen habe. 
Brinden, jeit drei Wochen ohne Briefe vom Herzog, bat erklärt 
Petersburg verlaffen zu wollen. Der Herzog hat ihn darauf 
Tofort gebeten, zu bleiben. 

73. 3., 22. Nov. Brinden räth, geftügt auf die veränderte 
Anfchanung der Raiferin, bie ganzen Streitigfeiten an ben nädhften 
Neichstag im Grodno zu verweilen, wo die Entjheidung bes 
Marihaner Neichstages vom 27. Mai wohl werde bejtätigt 
werden. Nücdmann nähert fid dem Kofe. Der Entwurf der 
Antwort auf die Vorichläge Virdad’s it von Medem ausgearbeitet 
worden und findet die Billigung Ds. Der Herzog verjpricht 
darin, die Pachten der Yehngüter, die nicht in Adminiftration 
ftehen und deren es über 60 giebt, an den Adel billig zu vergeben, 
hält im Webrigen aber feine Nechte aufrecht. Der Landtag foll 
fi einfeitig nur einmal fimitiven dürfen; dns Yand joll dagegen 
feine Aniprüche auf die Verfcpmelzung der Ntettlerichen Güter 
mit dem Lehn aufgeben und deral. mehr. Brinden fehrt doc 
zurüd. 

TB, 25. Nov. 9. überfendet die Schriften in der 
Rompofitionsangelegenheit, weldhe zwüchen bem Kerzog und Mirbad) 
gewechielt worden find. Der Herzog hat darnad) veriproden, einen 
Theil der von der Nitterfchaft für den Proyeh eingegangenen 
Schulden zu übernehmen, die Stellen von 16 Afjeiforen md 8 
Minifterialbeanten bei den Hauptmannichaften mit 100 Dufaten 
Gehalt zu gründen. Die Antwort des Herzogs ift Mirbad) mit: 
getheilt worden. Der Herzog hofft auf Unterftügung des Königs 
wenn bie Sade nad) Petersburg gelangen follte. 

R., 7. Dez. Der Nönig verfichert den Herzog auf's Nene 
feines ntereiies an deijen Angelegenheiten, fürdtet aber, dafi 
die Nichtanerkennung des Landtages der Kaiferin mififallen werde. 

75. 3, 29. Nov. Cs ei fraglich, wer die Tppofition 











4 Zur Geicichte der Unterwerfung Aurlands. 


machen werde. Im Lande jei man des Zanfes immer mehr 
müde geworden, nehme auch Nücficht auf die im nächiten Jahre 
kommende Vergebung der Padıtgüter. Mirbad) werde andrevieits 
Alles aufbieten, um die Legalität des Landtages zu vertheidigen, 
werde aber Mühe haben, eine Majorität im Landtage zu idaffen. 

Howen hat eben einen unerhörten Streich begangen. Am 
legten Montag fandte er dem Herzog ein Gefucd ein, um die 
Erlaubniß, in Privatangelegenheiten nad) Petersburg au reifen. 
uf den Nath des Minifteriums verweigerte der Herzog ihm 
die Erlaubnih. Trogdem reite Howen am 27. ab. Tas fei 
beumzuhigend, bejonders da Vrinden feit geftern in Mitan zurück 
fei. 9. bittet Golg anzuweilen, daß er Dowen überwache (legteres 
wird vom Könige veriproden). 

6. 8. Ey Brinden erzählt, Titermann habe ihm 
erflärt, die Kaiferin wolle nicht als Schiederichterin in Kurland 
auftreten, noch eine Mediation annehmen; fie wünfde nu die 
Eintradit zwiichen Herzog und Nitterfhaft herzuitellen. Die alte 
Verfaffung joll mit den herjogliden Necdhten aufrecht erhalten 
werden, namentlich die von 1768 und 1 Die Kailerin Fönne 
die getroffene Vereinbarung durb ihre Garantie befräftigen; 
fomme fie nicht zu Stande, jo möge der Herzog die Sade an 
den Neichstag bringen. — Der Herzog will nun die ganzen 
Streitfachen in extenso an Oftermann ichiefen. Er will ihm 
ferner jchreiben, dah er die Waricaner Enticeidung als nichtig 
betrachte, da die Kaiferin fie als folde erklärt Habe; endlich wolle 
er ihn vor den Jutriguen Howen’o warnen. Die Umjtimmung 
in Petersburg jei nur Preuhen zu danfen. Sowen wolle fich 

fentlih auf die Frage des Stettlerihen Allod's ftügen Die 

Kompofition jei in Gefahr, wenn nicht Nüdinann den Auftrag 
erhalte, die Erklärungen Titermann’s dem Adel zu wiederholen; 
man würde fie jonjt für eine Erfindung des Herzogs ertlären. 

77. 8., 6. Dez. Howen hat 15,000 Thl. Alb. mitgenommen 
und von Niga aus nad) weitere 4000 Tufaten verlangt. Er 
werde dur den (General Yudberg, Gouverneur des Prinzen 
Gujtav, intriguiren; das fei Alles jehr geführlih. Bei der legten 
Unterredung mit dem Herzog habe Howen von diejen für Nüdmann 
20,000 Dutaten verlangt, und jei durch die Ablchnung mun erit 







































Zur Gefchichte der Unterwerfung Kıurlande. 595 


recht aufgebracht. — Brinden erzählt, die Gefundheit der 
finfe, fie fei häufig melandeliich, ihre alte Seiterfeit jchwinde, 
Die Entfremdung von dem Sohne jei unzweifelhaft. Man glaube, 
Zubow werde nicht mehr geliebt und werde erfegt werden. Der 
Barometer der Stimmung der Naiferin fei Soltyfow. Marko 
habe wohl an Einflufs gewonnen, fönne aber wegen feiner Schulden 
nur durch Geld mugbar gemacht werden. General Budberg und 
ein junger Graf Golowin machen fi bei der tuiferin  belicht, 
indem fie den Sroßfürten Paul läherfih machen. Die Sorge 
der Raiferin fei, ihren Ginfluß auf ihre Nachbarn wieder zu 
gewinnen; nad) Polen werde Schweden dran fommen. Gegen 
efterreich jei Erfaltung eingetreten. Die Naiferin wilnfche die 
Rortdauer des franzöfüchen Srieges, um ihre Zwede beifer verfolgen 
zu Tönen. Ueblen Eindrud habe das Gerücht hervorgerufen, 
daß der König einen Zeparatfrieden mit frankreich ichliehen woll 
Die Natlerin babe im Krühling, als der Bruch zwiichen Defterreich 
und Franfreih befannt wurde, fich jo darüber gefreut, dah fie in 
die Hände Hatichte. Im Innern Nußlands bemerfe man 
‚Freiheitsideen und auch in Petersburg rede man viel von Freiheit, 
Gleichheit, Menicenrechten; die fiberalen Schriften Fommen in 
Mafje über die Grenze. Die Negierung fei jehr aufmerffam auf 
das Verhaften von Mosfau, tue aber nichts zur Vefeitigung der 
inneren Unordnung. Juftiz und finanzen feien in dem alten 
elenden Yuftande. as harte Geld jei völlig verihwunden; es 
werde wohl viel Geld geprägt, aber man jage, die Naiferin 
jammele dafjelbe zu einem Schage an. ls die fombinirten 
deutjchen Heere fid zwrüczogen (vor den Franzofen), verlangte 
die Kaiferin fofort die Abberufung der ruffichen Offiziere, damit 
fie nicht fernen Fönnten vor dem Feinde zu weichen. 

78.8.9. Doz. Die Kompofition finde große Schwierigfeiten 
in den perjönlicen Intereifen der Häupter der Oppofition. Mirbad) 
habe auf den mahvollen Vorichlag des Herzogs an diefen einen 
Brief voll Vitterfeit gerichtet, darin vor Allem die Anerkennung 
des jogen. Landtages gefordert und mit dem Zorn Nuklands 
gedroht wird. Zugleich hat Mirbad) ein Nundichreiben ins Land 
gefchitt um die Stimmung zu bearbeiten. Cs jei nothwendig, 
dab Nüdmann bejtimmte Ordre in dem Sinne befomme, wie 













































596 Zur Gefchichte der Unterwerfung Murlands. 
Sftermann fid) gegen Golk und Vrinden geäuhert, fonjt werde 
es nicht anders werden. 

N, 21. Dez. Golg hat Weifung erhalten, dahin zu wirken, 
dah Dftermann pofitive Befehle an Nüdmann jende, damit diejer 
die Erklärungen des LVicefanzlers offen dem Adel fund gebe. 
Dan mühe gegen Nuhland vorfichtig fein, denn das fei ein 
äuferjt empfindlicher Hof. *) 

79. 3, 13. Dez, Der Brief Mirbado an den Herzog 
tafle in feiner herausfordernden Dreiftigfeit nichts Gutes erwarten. 
9- hat dem Herzog gerathen, eine Abjchrift deifelben an Oftermann 
zu fenden nebjt dev Bitte, eine Erklärung der Naiferin zu veranlaffen, 
durch welche die Furiiche Nitterihaft zu einem Vergleich) auf: 
gefordert und vor Angriffen auf die Hechte des Lehns gewarnt 
würde, wie fie von Aufland in den Konflitutionen von 1768 amd 
1775 garantivt jeien. Der Viüllerauffiand mehre die Verwirrung. 
Ueber 500 Müller find nad) Ditau gefommen und haben andere 
Gewerke mit fih fortgeriffen. Ahr Anwalt jei ein Edelmann. 

80.8, 16. Dez. „Am Nachmittag des legten Donnerstages 
verjammelten fh die Müller, fowie die Sejellen von den anderen 
Mitauer Gewerken, die doc) mit dem Etreit nichts zu Ichafien 
haben, wieder vor dem Schloß und forderten, da man ihnen den 
Amtmann GSrünbojt herausgebe und der Herzog ihnen 10,000 
pl. Wb. zahle, um ihre in den verichiedenen Herbergen der 
Stadt gemachten Schulden zu bezahlen. Der Derzog weigerte jich 
natürlich, jo unverfhämten Forderungen fid) zu fügen. Schon 
am Morgen deffelben Tages hatte Se. Turdlaucht an die Viüller 
einen Befehl richten Lafjen mit der Aufforderung, fh allen 
rdnungswidrigen und aufrühreriichen Vorgehens zu enthalten und 
nady Haufe heimzufehren, indem er ihnen prompfe und genaue 
Jufiiz veriprad), falls ihre Stlagen id) als begründet herausftellten. 
Statt füh diefem Befehl zu fügen, fchiehten fie ihm, ohne ihn nur 
zu öffnen, zurüc, jammelten fi) in größerer Anzahl als vorher, 
ergingen fi in beleidigenden Neden gegen ihren Eomverän, 
beichimpften feine Garden, Drohten fie zu maflafriren und 
bemächtigten fih endlid) eines Narrens, darin Privatperfonen 




















*) Diefe Bemerkung feet in den Verliner Nejteipten häufig wieter. 


ur Geidichte der Unterwerfung Kurlands. 597 





gehörige Dokumente auf's Schloß gebracht werden follten, unter 
dem Borwande, dal; diefer Karren Pulver enthalte. Nadydem der 
Herzog alle Vittel der Vähigung und der Nachficht erichöpft und 
diefen Unfinnigen die unvermeidlicen Folgen ihrer Angriffe, wenn 
fie nicht fi befinnen würden, vorgeftellt hatte, und fehend, dal; 
alle jeine Verfuche ftuchtlos blieben und dafs dieje durch jiarte 
Getränke erhigte Menge von MVioment zu Moment unvernünftiger 
werde, griff er wider Willen zu Viitteln der Gewalt und lieh zwei 
Kanonen, mit Granaten geladen, abfeuern, von denen die eine, 
zu hoch gerichte, Niemanden verlegte, die andere aber 15 bis 18 
Menichen niederwarf, von denen ein Dugend getöbtet wurden oder 
jeitdem geftorben find. m Augenblit föfte fih die Menge, die 
Auffahrt zum Schloh wurde gejäubert und die Nat war ruhig. 
Am jelben Abend lief der Herzog den Magiftrat rufen und befahl 
ihm, alle nöthigen Vahregeln zu ergreifen um die Ordnung und 
Nube aufrecht zu halten. in der That üt feitden nichts geicheben, 
was die Fortdauer der Gährung andeutete. Die Gejellen der 
Handwerker Find zu ihrer Arbeit bei ihren Meiftern zurücgefchrt, 
die Müller haben verjprachen, ji in ihre bezüglichen Wohnfige 
zurüdzubegeben und Alle haben um Lergebung ihrer Fehler 
gebeten. Der Herzog hat jeinerfeits ihnen Hoffnung auf eine 
allgemeine Amnejtie und das Vergeifen des Geichehenen gegeben. 
Die Opfer diefes Aufitandes find geitern alle zugleich öffentlich 
beerdigt worden, von der ganzen Bürgerichaft geleitet.“ Der 
Herzog habe recht gehandelt, er habe nicht anders handeln fönnen. 
Die Gegner tadeln ihm natürlid) heftig. 

81.8, 20. Dez. 9. wünjcht Stüc zu den Siegen md 
zu der Einnahme von Frankfurt. Der Herzog fei gleichfalls jehr 
erfreut. Die Bürger von Ditau und Kurland dagegen feien gany, 
auf Seiten der Franzofen.  Diefe Gährung der Bürger fünnte 
jofgen haben, ohne den Hah der Bauern gegen fie als 
gegen Fremde, was fie zum großen Theil auch jeien. Kerzog 
und Adel follten fich gegen den gemeinjamen Feind verbinden; 
aber ex, 9, predige mit geringem Erfolg einer jo furzfichtigen 
Wenge, als der Auifche Adel im Ganzen fei, welder nur gegen 
den Fürjten feine Politif richte und fih auf die Treue feiner 
Sttaven verlaffe, deren Jod) drüdend jei. Rüdmann habe Auftrag, 





















508 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 


die Demrofraten hier genamer zu beobachten. Ein großer Theil 
der Aufjtändiihen vom Donnerstag und and ihr Führer feien 
geborene Unterthanen Er. Diaj. des Königs. 

N, Der König lobt die Haltung des Herzogs 
gegenüber den Müllern. Die „Sazette de Berlin“ habe darüber 
fehr ausführlichen Bericht gebracht. Bol hat Crdre, in Petersburg 
darauf aufmerfjam zu maden, dal; der Herzog gegen den Abel 
unterftügt werden mühje, der ji, mit dem niederen Volk verbinde 
und dafjelbe zu Meutereien aufhege. 

s2. 8, 23. Do, Der derzog habe den Müllern zu jchnell 
die Anmejtie und Geldhilfe gewährt, wodurd er den Eindrud 

v Schwäche hervorgerufen habe; er hätte erit einige Wochen 
follen veritreichen Iafien. Die adlige Oppofition fchreie über 
Despotiomus md wolle die zwei Nanonenfcüfle zu neuen 
Veichwerden auf dem näcjten Yandtage ausnugen. Der Herzog 
hat einen neuen Yandtag auf den 31. Januar berufen, auf dem 
wahrjiheinfic) diejelben Leute wie bieher herricen werden. D- 
bittet um Jnitwaktion wie er fid) verhalten jolle, falls der Landtag 
ibm durd) eine Deputation feine Eröffnung anzeigen follte, was 
indeijen ummahridpeinlid, jei. 

NR, 5. Jan. 17 joll ji im Falle der Nichtanzeige 
von allem Verfehr mit den Gliedern des Yandtages fern halten 
bis er vom Könige weitere Befehle erhalte. 

53. 8,, 30. Dos D. hat fih) an Golp in einem Schreiben 
gewandt, darin er darauf hinwies, dab ohne eine Ordre an 
Nücmann, dem Adel die Erklärung des Srafen Oftermann mit 
zutheiten, die dem Yaron Brinden geworden jei, der Streit 
zwifchen Serzog und Adel micht beizulegen je. Goly hat 
geantwortet: als er Dieriber mit Oftermann habe reden wollen, 
Habe diefer durchaus fi geweigert ihn anzuhören, mit der 
Venertung, daß die Undanfbarfeit und die wiederholten Fehler 
des Herzogs gegenüber der Nailerin diefer niemals erlauben 
würden, ihn zu begünfigen. „Aber nachdem fie Ci. Viajejtät 
prochen Habe, die Verfaifung des Yandes aufrecht zu erhalten, 
fowie die Garantien, welde fie übernommen, die Naijerin fih in 
nichts michen wolle und les der Entiheidung des fünftigen 
Warfhauer Neicstages überlaijen werde. Tab I. R. Viaj. iym, 























Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 599 


Grafen Oftermann, befoplen habe, dem Grafen Golp zu infinuiren, 
dab fie von der Gefälligfeit Em. Maj. erwarte, dai Sie, Zire, 
die Miffion von bier zurüczichen werden, welde in einem Moment 
der Kälte zwiiden beiden Höfen errichtet worden jei, und die zu 
geringes Interefie für Ew. Maj. Habe, mm fie nicht der Kaiferin 
zu opfern.” Herr von Alopäus habe jchon Befehl, id in diefem 
Sinne gegenüber den Miniftern des Königs zu äußern. —- Diele 
jo veränderte Sprade des Grafen Uftermann beftätige den 
Verdacht 9.6, da man am rufen Hofe eine bejondere 
Animofität gegen den Herzog und die Herzogin hege, die früher 
oder fpäter zum Ausbrud) fommen werde. Die Konjtitution, deren 
Garantie Hırfland übernommen habe, werde fortgejegt verlegt, 
und zwar unter Antrieb Nuhlands fetbft. Der Herzog jollte daher 
den Yandtag anerkennen und fid) jo gut es gebt einigen, um 
fein Allodialvermögen womöglid zu fern. 9. it über bie 
ruifiiche Forderung jeiner Abberufung nicht überrajcht. Nücmann 
habe das Längit prophezeit. Falls cs geidhehe, jo bitte er, der 
König möge es jo einrichten, dai «s nicht Icheine, als geihehe es 
nur auf die Forderung Nuhlands. 

N, 11. Jan. Das Bemühen des Königs, die Kaiferin zu 
Gunften des Herzogs und der Herzogin wieder umgujtimmen, jei 
vergeblich. D. joll allmählich den Nüczug antreten. Die äußeren 
Formen würden gewahrt werden; der König jinne darauf, ihm 
einen ehrenhaften Abzug zu fidern. 












Schu folgt.) 


5 





Trudiehlerberihtigung: 
Seite 513, Jeile 13, von oben fies: Geihmeidigfeit jtatt Geihwindigfeit. 

















Notizen. 


Zwei Publikationen zur alt-livländiichen Verfafiuugsgeidichte. 


Ein to mancher |häbenswertber Vorarbeiten noch wenig gellärtes 
Gebiet ift die Geichichte unferer öffentlich:reiptlichen Jnftüntionen. Es it dal 
großes Lerdienft Arel von Germets, daher in foftematiicher Weile 
einzelne größere ragen aus der fehr Lomplicivien Berfaffungsaciichte At 
Yiolands eingehend unterfudht und zur Darftellung gebracht hat. Im Jahre 
1803. erfchien von ihm das erite Seit jeiner „Aorihungen zur Mejchichte des 
Yaltifhen Wels”, weiches „Die Darriich;Wirifhe Nitterihaft unter der Berridaft 
des Teutjchen Trdens bis zum Erwerb der Jungingenihen Gnade“ behandelte 
und aud, cin Band IXL. &. 691. diefer Zeifhrift zur Anzeige gelangt. üt 
Seit einigen Monaten it nunmehr das zweite Heft der „Aorfdungen“ heraus: 
gelommen, dus „Die Anfänge der Fivländifcen Nitterfcaften" 
zum Gegenftande hat (Nemal 1895, erlag von K- Kluge - &. 135) Aus 
bejondere handelt 5 fit um die Ausbildung der Vajallenfdaften 
des Erzbisthbums Niga und der Visthümer Dorpat und 
Tejet-Winf zu geibloifenen Norporationen. Das geiduh 
bier fpäter, als im ehemals dänifchen Ejtland, d. b. im 14. und 15. Jahrhundert, 
während die Anfänge der Turländiichen Stifisritterihaie und der Nitterichaft 
im Crvenstande einer jehr viel fpütcrer geit angehören, ud das Wischum 
Neval überhaupt feine Lafallen gehabt hat. 

Die Fragen der inneren Urganijation der Bafallenfchaften behält der 
Werfaffer einer befonderen Abhandlung vor, bietet jedod zur befferen Crientirumg 
gleich andy den eriten 24 Zeiten einen Meberblid über die Bedingungen, unter 
melden die Yehusinhaber zu privilegirien Genoffenichaften berangensachien find 
Sind num Gerneis Arbeiten „Rorkhungen zur Geihichte des Baltiihen 




















































Adels” beitelt, und heit 5 auch S. 3 im der in Nede ftehenden Einleitung 


von den „Wurgmannen und Sofleuten in Heval md auf den anderen 
Schlöffern des Deutfchen Cd gehörten wicht zur Alajie des 
Zehnsmannen und jcheinen überhaupt nicht edler Derfunft gewelen zu fein“, 
jo empfängt der unbefangene Yeler den Eindrud, c5 jei die „edle Herkunft mit 















Notizen. 601 


eine Vorausichung gewelen für die Belehnung mit gröherem Grundbejih. Da 
bedarf 5 des befonderen Pinweifes, daft das feineswegs der Fall genen! 
Gernets „Rorihungen“ beziehen Fi eigentlich nicht auf die Geihichte des 
battifchen Adels, fondern auf die des baltiihen Bafallenitandes. 

Was das geicloffene Zufammenhalten der Vafallen in den ivländiicen 
Stiftern auferordentlich gefördert hat, war der durch die Verhältnifie gebotene 
Gegenfab zwifchen ihnen und ihrem geiftficen Yandesheren. Yeiptere waren 
erb: und ehelos, meilt aus der Fremde jtammend und vielfach ganz in ber 
Freimde febend, zu einem geofien Theil and garwicht won den heimifchen 
Dormfapiteln gewählt, jondern vom Papit in ihre Würden eingeept, mithin von 
der furinten Poliit in einem Grade abhängig, da fie nur wenig an den 
watürlichen Antereffen der Nolonie Antheil nehmen tonnten, Der Lajall hin 
gegen war an die Scholle gebunden, feine Interefien fielen mit denen des 
Landes zufammen. Die Folge war das Zufammengehen der ftifiihen 
Lafatlenfejoften mit derjenigen einheimifchen Macht, melde ihrer ganzen 
Pofition nad) vor allem auf den Schub des Yandes vor auswärtigen Angriffen 
bedacht fein mufte: mit dem Orden. So geitalteten fidh, wie von all zu Fall 
gezeigt wird, Die Verhältniffe wenigftens im 14. Jahrhundert, nachdem im 
13. Jahrhundert die Eroberung vollendet und um die Wende des Ichteren der 
erfte fivländiide Bürgerfrieg ausgebroden war. Ms jedoch, der Crden am Ende 
des 14. Jahrhunderts bei der Nurie ce durchiehte, daß nicht nur die Rigaer 
DTomberren, jondern auch der Erzbiichof jelbit ihm angehören follten, änderte 
fü die Situation, inden die Valallenfdajten die Uebermadht des Ordens zu 
fürchten beganmen: jo feben wir, dafı damals eine neue Koalition gegen den 
Trden umter der Führung des Dorpaier Vijhofs Diedrid) Damerom zu Stande 
kam, der id namentlich auch die Dorpater Wafallen und ein Theil der 
ichen anichlofien. ber in jpäteren Konflitien innerpalb der Wisthümer 
Dorpat und Cefel-Wiet Hand der Erden wicherum auf der Seite der Vafallen, 
weil er in ihmen ja mehr und mehr die Träger der wahren Interefjen des 
Landes erfannte; feine Mactitellung war feit der Scyladht von Tannenberg 1410 
ohnehin von Polen jhwer bedroht. Die in ihren Territorien jo fehr erjtactten 
Vafaltencaften fuchten nun zwijcen dem Orden und feinem Dauptgegner, bem 
Erzbifchof, zu vermitteln, und unter folgen Umjtänden fam es endlid) im 
Jahre 1435 auf dem Yandtage zu Walt zu einer Yandesı 
eimigung auf jeihs Jahren, welche Yivland tbatfägylid) zu einer dauernden 
Nonförderation verband und abgeidplofien ward zwijden dem Erzbiüchof, den 
Viicöfen von Dorpat, Tejel, Aurland und Neval und ihren Kapiteln, dem 
Trdensmeifter und feinen Gebietigern, deu Nitteridaften von Miga, Dorpat, 
Tefel, Hareien umd Wirland und den Städten Higa, Dorpat und Neval; 
unter anderem wurden jedem Stande feine Weite, Privilegien und Freiheiten 
garanirt, mithin aud den genannten Yajallenigaften. 
Berner it im Eegenfab zu den früeren Yandeseinigungen die von 1435 
mehr von den Sandesherren für jih und in Vollmadjt ihrer Unterja| 
abgeichloffen worden; «3 erigjeinen Tegtere vielmehr nelen ihren Sandesherrn 
















































602 Notizen. 


als Kontrahenten", mithin als gleihberegtigte Aaftoren innerhalb 
des Koländiichen Yandesftantes und erlangten zugleich Die Yanditandiaft. 
rd diefer Yandeseinigung ju Walt”, heiht 5 gegen Ende, „it die politiiche 
Ennoidelung der Lafallenicaften glä zum Ausprud gelommen”, und 
während in Prenfen die & ang Des Crdens ausbeuteten, 
um den ftaatlicen Zufammenhang des Yandes angelnander zu prengen, waren 
in Yioland gerade die Stände überzengie Vertreter des inheitsganfen 
Weit in Yioland die Yanditandichaft und die forporative Werfaffung ih auf 
dem Boden der Bolitif heransgebildet haben, ift der Berfaffer gepwungen 
gewefen, die einzelnen Phafen der fangen Kämpfe wide dem Crden und den 
Viicöfen vom Ausgang des 13. Jubrhunderrs au bis zum angegebenen yeit« 
abicitt in geöherer Ausführlichleit darzulegen; wir erhalten atto zugleich, eine 
Gedichte dieler Nänpfe. Eingehender wird bei der Suterpreiation derjenigen 
Verträge vermeilt, bei deren Abichluis vie Baalten beibeiligt waren, und dieje 
vor altem geben das Cuellemmaterial, während die chranifalen Nachrichten 
geringfügig find. Nicht felsen ficht fid) der Werfaffer in der Yage, Einzelheiten 
Anerflärt zu affen; Das vorhandene, zum Teil jehr ipröde Material hat er 
irdod) in großem Umfang ausgenupt und 5 zu einem feffeinden Gefammabild 
dermandt, Deffen Zuverläfiglet im Ganzen, zumal im Wergleih mit den 
Arbeiten X. ©. v. Bunges, wohl aufter Frage jtehen dürfte! Mm Schluis der 
Abhandlung erfahren wir, da) die mit dem ‚jahre 1435 beginnende Periode den 
Inhalt des näciten Hchtes der „Korkchungen“ bilden foll. 

Gleichzeitig mit obiger Beröffenttichung hat A. von Gernet feine 
„Berfaifungsgeihigie des Visthums Dorpat bis zur 
Ausbildung der Yanditände" als Zonderabdrud aus Band NV. 
der „Verhandhungen der Gefehrten Eitniichen Oeieiliheit zu Torpat“ heraus 
gegeben (Neval, Verlag von F. Auge, IS — &. 201). Sie beruht auf 
einer im Jabıe 188% von der biiterild;pbifotoglicen Safnltät der Unive 
Torpat mit der goldenen Medaille prämirten Preisiheiit um ült Der 
Wrofeffor Dr. Mihard Hausa zum 2. Januar IS 
3 um die baftiihe Geicictsforidung houyerdienten afademijden Yehreıs, 
in Dantbarteit gewidmet. 

„Da eine Lerfaffungsgeichlihte ih) vornehmlich anf Urkunden ftütt, 
fänmtiche öffenıtiche Archive Dorpats aber wührend der langjährigen ruffüichen 
Herrihaft im 16. Jahrhundert verloren gegangen find, fan die Yearbeinng 
der Verfaffungsgeichipte dieies Wisthunis zu feiner and) annähernd vollfommenen 
werden", heit 5 im „Vorwort“. Oteihwohl tenmzeicniet auch Diefe Arbeit der 
Hauptvorzug der focben beiprochenen: die umfarfenoe Yenubung des uellen“ 
materials, fomohl des gedrudien, al6 auch mehrerer Urkunden aus dem 
fommedifchen Neichsardhio zu Stochotm, deren Tert im „Anhang“ mitgetheitt 
(65 find Das das Privileg des Wihois Bartholomäus Saviferwe an die 
Stadt Dorpat vom 27. Mai 1455, die Dorpater Yandescinigung vom 5. Anqut 
1458 und die Wohlfapitulation des Nrodjutors s von Mellintrode 
um 1461). Im Einzelnen erörtert der Lerjafler Die Vegründung des Vischumns 








































































Notizen. 603 


und dann in eingehender Weife den Umfang des biichöffichen Territoriums. Lehteres 
unfahte eima die gegenwärtigen Areife Dorpat, Werro und Fellin, dad war die 
Yälfte der Diöcefe, d.h. d08 Sand weitlich und nördlich vom Wirzjerw, dem Orden 
zu Sehm vergeben worden; deun dafi die Abhängigfeit des Ordens auch dem 
Vichof von Dorpat gegenüber bis zum Danziger Frieden von 1366 ein Yehns: 
verhältniß; begründet war, wird hier aufs Neue nachgemiefen. Des Weiteren 
wird die Stellung des Visthums „im hierarcjichen Syften’, namentlich dem 
Bapit und dem Erzbifchof von Riga gegenüber, unterucht, fodann die Bedeutung, 
die Zufammeniegung und das Veiisthum des Domfapitals, die Wahl und 
Ernennung der Bilchöfe und die Stellung des Viihofs „als Divcefan“; im 
diefem Abichnitt finder fih amd ein Werzeidnihs der Dorpater Parobien. An 
Köftern Anfien fi bis zur Mitte des 15. Nahrhunderis nur drei nadnoeiien: 
das in der Kalge mil reichem Lannbefit musgeilattete Ciitereienferfloiter zu 
Valfena, deen Gründung Gerne in das Jahr ten möchte, amd. zwei 
ftäpriiche Möfter, ein Möucsttofter ver Dominikaner und ein mahrjcheintich den 
Arancisfanerorden angehöriges Nonnenflojter. Eine umitändlice Darlequng 
erfährt das ftaatsrechtliche Verhälniß zum deutchen eich und zu Sefammt- 
Nioland, und eingehender beiprüht der Verfafler Die Iamdesherrlichen Rompetenzen 
des Vichojs, die Entwidelung dis Yehnsiefens, Die Ausbildung der Nitterichaft. 
melde jich bier in den Ztürmen ds ausgehenden 14. Jahrhunderts unter Den 
vorhin genannten Wijcef Diedrich Tamerom endgittig vollzogen hat, ohne d 
fich Näheres über ihre innere Crganifation angeben tiefe, und das Empor» 
kommen der Stadt Dorpat. Bezüglich diejes einjigen hädtifchen Gemeinwelens 
im Stift erfahren wir aus dem „Norwort“, dai im Jahre 1873 feitens der 
Univerfiät eine reisihrift des Varons Harald Toll über den „Math der 
Stadt Dorpat in bifflicher Zeit" dalfo bis 15%) prämlirt worden it, von 
der auch wir hoffen wollen, daß fie bald durd den Trud weiteren Areilen 
zugänglich gemacht werden möge! — Das Schluhtapitel behandelt den Meiprung 
der tanpjtändiichen Lorlaffung. Sir, wie in den früheren Abihnitten, wird 
Mandıes wiederholt, was mit gröferer Ansführlicfeit bereits im. yweiten Deft 
der „Rorichungen“ gelagt worden war. „Die Gejhichte der Lerfaflung der 
geiitlichen Füritenthümer Yiotands“, heit «9. „läht fh in zwei grofe Perioden 
ideiden: im der eriten ericheinen Die mit der Yandesherrlühfeit ausgeitatteten 
Trgane der Kirche im alleinigen Befig der Nepierungsgewalt, in der zweiten 
geniehen die Yandflände ein Mitwirfungsrecht bei der Negierung. Die Grenze 
zwifchen beiden Perioden ft eine flühige Im Dorpat ift die Wahlfapitnlation, 
die der von Biichof Bartholomäus Savijeriwe zum Aoadiutor erhobene Helmicus 
von Mellinfrode um I6L mit dem Domfapitel, der Nitterichaft und der Stadt 
Torpat abihloh, in gewiifen Sinne die Epoche.” Hier cben verlangten dus 
Tonfapitel, die Nutcrjhaft und die Stadt Dorpat die Yanditandidait; der 
Abt von Talfena bingenen dat feinen danerwen Einfluß auf die Yandesı 
vegierung gewonnen. Am Arüheften machte sich der Einflu des Domr 
Lapitels qeliend, dann verjenige or Balalten -- zumäcjt in innireter 
ie Dur Den anfangs m aus Nertretern diehes Standes gebildeien 

































































604 Notizen. 


Stifisrath, deijen Eriften; — neben berienigen des fon feit dem 13. Nalırı 
Hundert beitehenben ftäbtiichen Magiftrats — fich mit Sicherheit erit in einer 
Urtunde des Nahres 1385 machweifen läht. „Im der Folge Hat eine 
Vericmelzung ftattgefunden, indem in den Stifisrath; eine Wertretung des 
Domtapitels aufgenommen wurde, während der jtädtifche Rath, wie im Risthum 
Cefel, ausgefchlofjen blieb.” Die Zeit Diejer Werfhmelzung läht fc freilich 
ebenfo wenig genauer feitftelen, wie Art umd Umfang der uriprünglichen 
Kompetenzen des Stifisraths, welcher in fehe viel fpäterer Zeit nad) 3 ©. von 
Bunge die oberite Regierungskehörde des Yandes und Nuftigbehörde zweiter 
Inftang ward. Much durch) das Amt des Stifisnogls, melher in erjter Linie 
die Tondesherrlice Oefonomie zu leiten hatte, hat der Tafalfenftand früh Einfluß 
auf die Landesverwaltung gehabt, fofern Diejes wichtige Amt fhon feit der 
gmeiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von eingejeffenen Tafalten befleidet morden 
üt. Und mas die Stadt Dorpat betrifft, fo nahm auch fie neben den 
Bafalten feit dem Ende des 14. Jahrhunderts bei der Entideidung der das 
gane Bisthum betreffenden Fragen wiederholt Ihärigen Antheit. Schon in der 
Yandeseiniqung von 1435 it, wie wir jahen, ben genannten Ritte-ichaften und 
drei grofien Städten bie offizielle Anerfennung als gleihberechtigten Fafteren 
in der fioländifcen Ronföberation zu Theil gemorden. Die verfaffungsmäf 
Mitwirkung an der Regierung im Stifte Dorpat crı de, wie 6 
fdreint, erft durch jene Wablfapitulation um 1461, deren Erörterung im 
Zulammenbang mit einigen anderen, aus früherer yeit jtanmenden urkundlichen 
Zeugniffen die intereffante, fehe danfenswertpe Schrift abfchlicht. 























F. Re. 

















Jüge aus unferer provinziellen Rhyfiognomie 


vor 50 Jahren. 


Nachorud verboten. 


(Shui). 





Das bulweien der Dftjeepropinzen fand — 
trog des forden von rufücher Seite ihm geipendeten Yobes — 
im Vergleidh zu der machmaligen Entwielung in ben ficbziger 
und achtziger Jahren ned) vedht weit zwüd. Der offizielle 
minijterielle Bericht pro 18- ichnet den damaligen 
Dorpater Lehrbezirt mur 4 Gymnafien (Riga, Dorpat, Mitau 
und Keval), während in der Folge — abgefehen von den beiden 
fioländifcen Yandesgymnafien in Fellin und Virkenrul — nod) 
Gymnafien in Niga, Pernan, Arensburg, Voldingen, Yibau und 
Neval hinzufamen. 

Eine fehr wichtige Nolle fpielten damals angenfcheinlich die 
Privat-PBenfionen und Schulen. Nad) dem zitirten 
minijteriellen Bericht (S. 710) gab es im Dorpater Lehrbezirt 
4 Symnafien, I Ceminar für Elementarlehrer, 24 Nreisichulen 
und 87 Elementar- und Nircipiels- Schulen mit 5 Schülern 
beiverlei Gefchlechts; diefen Krons- Schulen ftehen zur Seite 
155 Privat: Penfionen und :Schulen mit nicht 
weniger also 4945 Schülern, aljo mit einer an die der 
eriteren Nategorie ziemlich nahe heranrüdenden Schülerzapt. 

Die damalige Univerfität Dorpat erfreute fich, 
wie wir {chen fahen, eines vorzüglichen Nufes, der in dem 
ehrenden Diltum des Nuffen: „Es giebt wohl faum 

















it 


606 Vor fünfzig Jahren. 


irgendwo eine beifiere mediziniihe Fakultät, 
als in Dorpat“ — gipfelt. Sie zählte jedod erit 575 
Stubirende — eine Ziffer, die aber erhöhte Bedeutung gewinnt, 
wenn man erfährt, dab die damals meiftbefuchte ber 
6 Umiverfitäten des Neiches, die von Mosfau, aud nur 981 
Studirende aufwies. 

An die damalige ftaatliche Stellung zum baltiihen Schul- 
wefen erinnert der Schlußfag im minifteriellen Bericht (S. 763): 
„In den Oftfeeprovinzen wurden bie durd) die bisherigen Maß: 
vegeln fier begründeten Fortihritte in der rulliiden 
Sprade bis zu dem Grade der Reife gebracht, baf das 
Minifterium ohne alle Schwierigkeit zu den Schluhverfügungen 
in diefer Angelegenheit voridreiten Fonnte”. 

In Bezug auf die Univerfität hatte ein mebizinifches 
Komite in der Mefidenz fih mit der „Vertheilung der zum 
Lehrftuhl der Stantsarzneifunde an der Dorpater Iniverfität 
gehörigen Gegenftände” beicäftigt und dabei auf die Noth- 
wendigfeit bingewiejen, „daß die Vorträge über die Mebdizinal- 
Einrichtung im Neiche und die Uebungen der Studirenden in der 
Abfafung gerichtlich medizinischer Protokolle in vuffiicher 
Sprade ftattfinden“. 








r e . 

Innerhalb der geiftigen Atmoiphäre jener Zeit vor 
50 Jahren teitt vor Allen der erfierfte hiftoriihe Sinn 
marfant in den Vordergrund. Es war eine Zeit, in ber man 
ungleich beicjauficher, als heutzutage fidh anslchte, wo die geiftigen 
und politifchen Gedanfen nicht jo raich fich dem Augenblicishedarf 
anpafsten, fondern fih, troß des regen Fluthens neuer geifliger 
Strömungen, mehr ausreiften. Won der Gegenwart aus verticjte 
man fid) in die Vergangenheit der Heimaih, und der fhen in den 
dreifiiger Jahren fräftig wieberbefebte hifteriiche Sinn erfiarfte 
in der Berührung mit den vitalen Fragen der Gegenwart, für 
die man wechfelieitig wiederum Straft ichöpfte aus dem reihen 
Erbe der Vergangenheit. 

Im hellftem Lichte fand die Vereinigung von Vergangenheit 
und Gegenwart in den pietätvoll begangenen hüfteriichen Gehent- 








Vor fünfjig Jahren. 07 


tagen des Jahres 1846 ihren Ausdrud. In diefem Geifte ward 
dev 300-jährige Todestag des Neformators Martin Luther, 
auf welde feier in anderem Zufanmenbange bereits hingewiefen 
worden, in Kiga, Dorpat, Neval u. j. w. begangen. — Co 
ward ferner am 5. November „in füller Betrachtung der wedjlel- 
vollen Ereignifle” des Tages gedacht, da vor 500 Jahren der 
dentfche Orden in Preußen ımd Yivland die Provinz Ejtland 
vom Dänenkönig Waldemar küuflih erwarb. „... Wir haben 
die von ihm (dem Orden) und in den drei folgenden Jahrhunderten 
nicht minder auch von feinen Nachfolgern im Negiment reichlich 
vermehrten und verbefferten Gnadenbriefe, Freiheiten, Rechte und 
alten wohlhergebradhten Gewohnheiten, foweii fie als offenbar 
vernünftig und gerecht fich auch auf unfere Zeit noch anwendbar 
erwiefen haben, ned) mit dem Beginn diefes Jahres in verjüngter 
Kraft aus Gnaden der gegenwärtigen huldvollen Negierung unjerer 
Provinz erneuert und für alle Zukunft gefidert 
gefehen — vereint mit den Nechten amd Freiheiten auch der 
einheimiichen lutheriichen GSeiftlichleit und der Vürgerichaft in 
den Städten, wofür Danf und Preis gebührt der allwaltenden 
Vorfepung, welde mit gleicher Almadht und Liche die Geihice 
der Völker wie der einzelnen Menfchen lenkt..." 

Ein dritter Gedenktag des Jahres 1646 fiel auf den 28. 
November, der Jahrestag der Aufhebung der 
Statthalterihafts-Verfaiiung. An diefen Gedenktag 
mahnte auf der allgemeinen feierlichen und öffentlichen Verfammtung 
der Nigaer Geellichaft für Geichichte und Altertjumofunde anı 
6. Degember 1816 in feiner Feftrede der Präfldent, Yandrath 
R 3% von Samjon-pimmelitiern, mit Worten 
danfbarer Erinnerung. „Es it" — jagte er unter Hinweis auf 
diefen „denfwürdigen Tag” (. 1217) - „der adhtumdzwanzigite 
November dieles Jahres, der Tag, welder das halbe Jahr: 
hundert befchloß, feit die Huld des im Gott ruhenden Nailers 
Baul 1. unferer vaterländiichen ‘Provinz die Rechte und Ver: 
füilungen wiedergab -- Nedhte und Verfaifungen, die wir dem 
Patriotiomms und redlihen Sinn unterer Vorfahren verdanken 
und von welchen wir uns, wenn auch mur vorübergehend, mit 
dem jepmerzlichen Yewuhtjein deffen trennten, mas wir ihnen 






































1 


608 Vor fünfzig Jahren. 


verbanfen, Nedte und Verfaifungen, die uns als 
heilige Weberlieferungen der Vorzeit ewig 
theuer fein müjfen und gewiß ewig thener 
bleiben werben!” 

Für Hiftorifhe Unterfuhungen herricht damals lebhaftes 
Intereffe — das beweifen die im „Inland“ felbjt veröffentlichten 
sahlreihen geichichtlihen Auffäge und Neminibenzen, eine felbit 
im abgelegenen, fleinen Lemfal veranftaltete Kunft, Imnduftrie: 
und Alterthums:Nusitelung, vor Allem endlid die Thätigfeit 
der damals noch jungen, zu Ausgang ber dreihiger und Anfang 
der vierziger Jahre gegründeten hilterifchen Qereine und Inftitnte 
— der Rigafchen Gefelliaft für Gefchichte und Alterthumsfunde 
der Dftfeeprovingen, der Gelehrten ejtniihen Gefellichaft, des 
Eentra-Mufeums vaterländifcher Alterthümer an der Univerfität, 
der Ejtländifhen litterariihen Gefellfchaft in Reval, des neu 
belebten Mitauer Litteratw- und Kunftvereins. Diefe Qereine 
waren damals in gewiflem Umfange fleine Zentrafpunfte des 
geiftigen Lebens überhaupt und fo fehen wir fie einerfeits in 
reger Fühlung mit den Ereigniffen des Tages, andererjeits wohl 
auch über die Schwelle der ehriamen, jtrengen Witenihaft hinaus: 
und in das ber Aunft und Poefic hineintreten. Beilpielsweile 
verlieft €. v. Reinthal in der Dezember-Sigung der Gelehrten 
eftnifhen Gefellihaft den Anfang einer dramatiihen Arbeit 
„Rurit“ und der Oberlehrer Santo widmet dem fürzlich an 
der Ruhr verftorbenen trefflichen Zeichner &. von Viaydell 
einen poetihen Nadıruf (S. 1093— 1094). 

€s ift ichon mehrfad) hervorgehoben worden, in wie engem 
Konner unfer früheres provinzielles Leben mit den geiftigen 
Strömungen des Wejtens ftand, und das gilt in befonderem 
Mahe von der geiftigen Atmofphäre der zweiten Hälfte der 
viergiger Jahre — einer begeifterungsfrohen Zeit, erfüllt von 
unklarem Freipeitsdrange und idealem Humanismus, von den 
Tränmereien ber Romantif und von jdmwärmerichem liberalen 
Doftrinarismus. 

In die Zeit der Vorläufer zum „tollen Jahre” jtellt uns 
au das Durdblättern des 1846. Jahrganges des „Inland“ 
hinein. Die „blaue Blume der Nomantif” jteht bier nicht 


Vor fünfzig Jahren. 609 


minder in voller Blüthe, wie jenjeits der Grenzpfähle nad) Weiten 
bin. Dan jdwärmt — idwärmt für die Nitter-Nomantit bes 
Mittelalters wie für die „unterdrüdten“ Heinen Völfer, für den 
„freien Geift“ als „das Prinzip oder die Bedingung aller 
GSefchichte” (S. 177) und für Bildung und Aufklärung. In 
einer die Gefinmung der damaligen „Patrioten” hödit ehrenden 
Weile, wenn aud) mitunter in geradezu bizarren Formen nimmt 
man fi der „unterdrücten” Cjten und Zetten an: in hödit 
lobenswerther Weife wird den Bauern gegenüber vollfte Humanität 
gepredigt (€. 533 u. jf.); im öfonomifden Interefle finden die 
Mäßigfeits: oder vielmehr Enthaltfamfeits:Veftrebungen angefights 
der damals befonders ruindien „Branntweinpeji” Förderung, 
freilich aud Widerjpruch; die Gelehrte ejtniiche Gefellihaft geht 
damit um, für das Wolf eine ejtniidhe Zeitfhrift zu gründen 
(3. 101); Paftor Büttner in Kurland giebt lettijdhe Volkslieder 
im „Magazin“ der lettijch-litterariichen Gefellichaft Heraus (©. 293). 
Aus Bizarre greift jlellenweije die fentimentale Schwärmerei für 
ejtnifche Poefie hinüber; den Gipfel in diefer Beziehung erflimmt 
wohl der Verfafler des Gedihts „Die Poejie ber Ejten“ 
(3. 578, Beilage), wo es heißt: 
„Ginit jchlief in goldner Wiege 

Ein zartes Sötterfind, 

Ter Ausdrud jeiner Züge 
Herzen jdnell gewinnt. 
Man hört des Kindleins Träumen 
Voll jeel’ger Himmelstuft: 
Sedanfen nen entfeimen 
In vieler Menihen Bruft.... 
brechen Näuberhorden () 
end in das Land 

Und jengen, rauben, morden 

Tas Volt mit freder Hand. 

D, glüdlich! die fid beiten 

In Erde fühlen Schoß; 

Tes Sklaven Eijenfetten 

Der Nacıgeblieb'nen Yoos .. . 

Dann folgt nod ein poetiich nicht fhöner, mit der geihmad: 
vollen Phrafe von „jahrhundertlangem Wüthen“ verfehener Lers, 
der ebenjo wie das ganze Gedicht, rejp. deilen Aufnahme in das 
„Inland“, für die blind-romantijche Naivität jener Zeit fprict. 




















610 Vor fünfzig Jahren. 


So reht ein Sind jener Zeit ift der „Nuf eineo 
Adeligen“ 531, Beilage), von deijen jede Verjen die 
vier nadhitehenden wiedergegeben feien: 

Was fünnen frommen Wappen uns und Abnen 

Veraltet ijt der Name, todt der Stlang. 

Wir jchwören zu des Geifteo hehren Fahnen, 

Ter Aberglaube weicht dem freien Drang. 

„Die wahre freiheit und bie freie Wahrheit!“ 
as foll aud) fünftig un're Yojung jein, 
Wir bleiben dann in diejeo Yichtes Klarheit, 
Tem wahren Adel treu und feind den Schein. 
Nicht finge id) von indiich roher Bande, 
Das Yand der Geifter zieht durd’s ganze Al, 
E; windet funfelnd fid) durd) alle Yande 
Und einet Aller Kraft in einen Ball. 


Doc) was veraltet it und was vermodert, 

Es jei anf ewig ftumm und falt und todt. 

Denn feht ihr nicht, wie es am Himmel lodert, 

Begrüßet froh das junge Morgenrotb. 

Heute haben wir für diefe fhwärmerifcen Neime wohl wicht 
viel mehr, als ein halb mitleidiges Yächeln übrig; wie Viele 
aber mögen vor 50 Jahren diefe Verfe „ihn“ gefunden haben? 

Wohl in feiner reiniten und edeljten Form prägt fi der 
Geijt der Zeit, joweit das „Inland“ in Betracht fommt, in der 
vädagogiichen Dionats Beilage diefer Zeitirift aus, Diele „Beilage 
für pädagogiiche Aufjäge und Nachrichten“ oder „Blätter für 
Erziehung und Unterricht“ werden vom Dorpater Ober 
fehrer Th. Thrämer vedigirt, der fie mit einem [chmonngvollen 
„Yorwort“ eröffnet und der unit des gebildeten Publifums 
empfiehlt. 

Welche Themata damals die Gemüther beichäftigten, gebt 
nımentlic aus einer jehr langen Neihe von Sägen und Fragen 
bervor, melde die Nedaftion der „Wlätter für Erziehung und 
Unterricht” fi von Rädagogen und Nichtpädanogen hatte ein 
fenden lafjen — Zäte und Xragen, über welde die Cinfender 
Erwas mitzutheilen oder mitgetheilt zu Lejen wünjchten 
30 u. ff, Beilage). Da finden wir beijpielsweile folgende 










































Vor fünfyig Jahren. su 


„In Vaiern bat uadweislid die Theilnahme 
des Bublifums und der Gemeinen am Schulweien in 
demjelben Maße abgenommen, je mehr bis in's 
Einzelne die baieriide Negierung die Sorge und 
Beauffichtiqung in der Beziehung auf fid) genommen hat. 
Aus welchen allgemeinen Urfahen Tieße id eine jolde 
Gricheinung ertlären?" 

„Welde Leranjtaltungen fönnen dazu führen, bie 
höheren Stände zu vermögen, daß fie den Sindern 
eine längere Schulzeit gewähren?“ 

„Nur der jelbjtthätige Lehrer arbeitet 
freudig und fegensvoll. Zu jehr in’s Einzelne 
gehende Lehrpläne und DVienftanweilungen, zu ängitliche 
Vewachung von Seiten der Vorgejegten drüden den guten 
Lehrer nieder und beifern den Ihlechten nidt. Wie 
läßt fih mit der dem einzelnen Lehrer ‚geitehenden 
Freiheit die gleichfalls nothwendige forgfältige Beauf- 
fihtigung feiner amtlichen Thätigfeit in Vlebereinjtimmung 
denfen?“ 


Befonders beachtenswertl unter den mandjerlei päbagogifchen 
Aufiägen ericheint ein folder des unvergehlihen Schulmannes 
2 von Schroeder, welcher in einer Furzen Studie, „Einige 
Gedanfen über die deranbildung unferer Jugend 
ju einer tühtigen Gefinnung“, feine Anfchauungen 
über das Endziel der Jugenderziehung entwidelt (S. 553 
Beilage). Wir dürfen, führt er aus, nur dann auf 
Srfolge rednen, wenn wir mit Ernjt und größter Anftrengung 
dahin wirken, dal unfere Jugend zu einer tüchtigen Gejinnung 
herangebildet werde. „Gefinnung jchreiben wir dein Menichen 
zu, bei dem die möglichit Nichtung feines Willens auf 
die Verwirklichung der höchften fittlicen Aufgaben gerichtet fl.” 
Darum gelte es bei der Jugenderziehung, erftens das richtige 
Ziel erfennen zu laffen, d. b. die Erfenntniß der Wahrheit 
in der Jugend zu wirfen, und weitens bie Fähigkeit zur Erreichung 
des Zieles zu fördern, d. b. die Seite des Willens zu entwideln 
und die Jugend zu thatfräftigem Dandelm zu erziehen. 
„Selingt es uns num aber auch” — jo heißt es im legten Abjag 
- „Die Jugend nad) beiden beiprodenen Richtungen hin tüchtig 
durchzubilden, jo fann nicht genug daran erinnert werden, wie 
biejelben in ftets lebendige Beziehung und Wechjelwirfung zu 




































612 Vor fünfzig Jahren. 


einander gebradht werden müjlen. Gelingt es uns, dies rechte 
Wechjjelverhättnifi zu treffen, nur dann wird es uns möglich, fein, 
Venihen von Gefinnung zu bilden, von entjdhiedenen 
fittfijen Grudiägen, mit dem entjchiedenen Veitreben, un jeden 
‘Preis und durd) jedes Opfer das zu verwirflicen, was fie als 
wahr und recht erfannt haben, und es zum Gemeingute der 
Menicpen zu maden; Venfcen, die entfchlofien find, das Nechte 
und Gute in der bürgerlichen Gefellichaft aufrecht zu erhalten, 
und die zu jeder Zeit bereit find, mit der Schlechtigfeit, der 
Nohheit und der Unfittlichfeit einen Vernichtungsfampf zu Fümpfen. 
Damit ferner die Aufgabe vollfommen gelingen fünne, it es 
methwendig, daf ein füchtiger Geift die Xugend trage, eine 
Fräftige Luft fie ummwehe Mir Haben in Gefammtheit 
die Verpflichtung, durd) Leben und Beiipiel voranzuleuchten. 
Vögen unjere Anaben und Jünglinge von uno jchon früh durd) 
unfere ganze Erfcheinung lernen, daß fie nicht zum Geniehen, 
nicht zum. jelbftfüchligen Streben, jondern zum Opfern und zu 
uneigennügiger Thätigfeit berufen find...“ 

Dit diefen goldenen Worten befchliehen wir die „Aland“: 
Neminiscenzen aus der Zeit wor fünfzig Jahren. 

Einen reichen geiftigen Beligitand durfte jene Zeit ihr eigen 
nennen. Diefes geiftigen Befitftandes war man fi voll bewußt, 
und ihm zu vertheidigen und zu erweitern, war man entichloiien. 
































Zur gran» Entwielung in Aurland 


von 


RS 








Die Cigenartigfeit der Agrarentwidelung in den baltiichen 
Provinzen hat diefelbe wiederholt zum Gegenftand verichieden 
gerarteter Veurtheilung gemacht, und mod) neulich hat unfere 
einheimifche Kreife mit Zugrundelegung intereifanten jtatiftifchen 
Viaterinls die Agrarfrage beleuchtet. Das hieraus fid ergebende 
Vild einer von dem gefammten übrigen Neiche grundverichiedenen 
Eutwicelung wies auch innerhalb der Dftfeeprovinzen felbft 
mannigfache Abweichungen auf, und zwar nicht nur begüglid) des 
durch Gefcichte und Gejep beflimmten Charakters des „Bauer: 
Landes“, fondern auch im Hinblid auf den Fortfchritt des 
Eigentbumserwerbes an Grund und Boden durch die Bauerihaft. 
Ter Banerland-Verfauf ift in Ejtland am langjamten, in Kurland 
am fchnelfiten vorgeichritten, und hat lesteres mit feinen über 
90% verfauften Gefinden der Privatgüter (incl. der erft feit 
1870 verkäuflichen Gefinde der Fideifommiffe) diefen wichtigiten 
und grundlegenden Aft jeder Agrarentwicelung nahezu vollzogen. 
Und doch gab «5 und giebt es ned) heute in den beiden Schwejter: 
Provinzen gefebmählg viel beftimmtere Abgrenzungen und Schu: 
vorrichtungen für dasjenige Areal, welches der bäuerlichen Nugung, 
vorbehalten fein joll, als in Kurland. — Eine irgend erichöpfende 
Beantwortung der Frage, woher die langfamere Entwidelung in 
Liv: und Ejtland kommt, liegt auferhalb des Nahmens der 





614 Zur furl. Ugrarentwidelung. 


Aufgabe, die wir uns hier geftellt; 8 mögen daher Andeutungen 
darauf genügen, daß neben dem  ungleichen geichichtlidhen 
Werdegange auch die Mimatifchen und Boden-Verhäftniffe in den 
Diftfeeprovinzen verfchiedene find, dah die Art der Befiedehung 
(Dorfinftem ober Einzelhöfe) von Anfang an nicht die gleiche 
gewefen, wie endlich, daf der Volfscharakter der Letten und Eften 
vielleicht auch im wirtbihaftliher Veranlagung feine Brihieden- 
beiten hat. 

Unjere Betrachtung bejchränft fid auf Kurland. Ad auf 
dem fo verengerten Gebiete giebt es Kragen, deren Beantwortung 
ichwanft. Dem Einheimifhen der mit und in den Verhältniffen 
aufgewachlen und ihr allmähliches Werden miterlebt hat, ericeint 
Vieles gar einfad) und flar, was dem aus anderen Theilen des 
Neiches Kommenden zunägjit recht unverjländlid, wenn nicht gar 
mit dem Wejen und Zielpunft der Agrarentwidelung unvereinbar 
vorfommt. 

Das Urtheil von dem Gefichtspunfte der praftiichen Lebens: 
erfahrung aus, ift eben ein anderes, ala das der theoretiächen 
Konftruktion. 

Zu den Fragen nun, die im Lande felbjt Vielen wie müjl 
ercheinen mögen, deren Beantwortung jedoch Ferneritehenden oft 
recht fchwer fällt und bie daher im täglichen Verwaltungsleben 
immer wieder auftauchen, gebört auch die: Was iit in 
Rurland „Hefinde‘ im agrarrehtliden Sinne? 

Selbftredend muß «5 eine Definition diefes Begriffes und 
eine Interpretation des Wortes geben, die alle nothwendigen 
Merkmale derart umfaßt, daf es für Jeden zweifellos wird, 
auf welche Art ländlicher Grundftüce die gefepfichen Beitimmungen 
der Agrarregeln vom 6. September 1863 zu beziehen find. 

Wenn das Gefep felbjt eine näher eingehende Definition 
unterläßt, jo liegt bierin der deutliche Beweis dafür, dah zur 
Zeit feiner Gmanation die Bezeichnung „Gefinde” oder „Pacht 
gejinde” einen alffeits amd allevorten feitfichenden Begriff, einen 
terminus teehniens bildete. Um nun heute wieder aus jeder 
Schwankung heraus und zu felter Begriffsbeftimmung binzugelangen 
wird es daher geboten jein, fi) den Zuftand zu vergegenwärtigen, 














Zur furl. Agrarentwidelung. 615 


den die Agrarregeln vorfanden, umd da diefer ein in organiicher 
allmählicher Entwidelung gewordener war, fi aud Dielen 
Entwidelungsgang vor Augen zu führen. 

Zur Zeit der Leibeigenfchaft, wie auch nad Aufhebung 
derjelben durd; die Bauerverordnung von 1817, war die in 
Kurland übliche Wirtbichaftsmethode dergeftalt beihaften, daß die 
auf fepariten Einzefhöfen angefiedelte Vauerihaft nicht nur die 
diefen zugetheilten Ländereien (Sefindesland) zu bearbeiten hatte, 
fondern daß ihr zugleich aud die Bearbeitung der im direkter 
Rugung der Gutsbefiger ftehenden Ländereien (Vofesland) ablag. 
Die Inhaber der Vauerhöfe (Gefindeswirthe) hatten daher eine 
über das eigene, unmittelbare Bedürfuig weit hinausgehende 
beitsfraft am Wienfhen umd Pferden zu unterhalten. Die 
Größe der einzelnen Gefinde bejtimmte fid nicht nur dur) das 
Vedürft des und feiner Familie, fondern gleichyeitig 
durd) die von ihm für das Hofesland zu leiftende Arbeit und zu 
löhnende Arbeitskraft. Mit jeder Vergrößerung der Nofeo- 
Wirthicaft ging demnad) auch eine entipredende Vermehrung 
oder Vergrößerung der Bauergefinde Hand in Sand, fo daß in 
älterer Zeit aus der Zahl und der Größe der Sefinde (Ganze 
Häfner, Yu Däfner 20) mit einiger Sicherheit aud) auf den 
Umfang md Werth des Vofes-Kulturlandes geichloffen erden 
fonnte und cs ganz üblich war, bie Größe eines Gutes Furz 
dadurd) zu bezeichnen, dafı man fügte: „Ein Gut won x Gefinden“. 
— Diejes wechfelfeitige Vedingtjein zwilden Dofes nnd Gefindes- 
Yand, wie die Frohuwirthichaft es begründet hatte, hörte mit 
diejer legteren nad) und nad und völlig feit den arregeln 
von 1863 auf, welche die Frohnwirthiehaft, die Ihatfächlid) vielfad) 
icon jev der Geldpacht gewichen war, nun aud) de jure 
bejeitigte. et wurde, joweit «6 nicht schon vorher geichehen 
war, die für die Dofesfelder nothwendige Arbeitstraft von den 
GSefinden Losgelöft und von den Gutsherren direft in Lohn und 
Brot genommen; zu folder Föhnung aber mußte von dem 
Gefindeslande ein Theil zum Vofesterritorimm  hinzugezogen 
werden, wenn anders Umfang und Nubungswerth 
der Dofes: Felder, -Wiejen 2, welde nunmehr die 
gefammmte Arbeitstraft jelbjt zu unterhalten hatten, annähernd 


























sı6 Zur furl. Aorarentwidelung. 


bie gleichen wie ehedem bleiben jollten. Cs ging nun Diefer 
Prozeß nicht in der Weile vor fid, daß allen Gefinden ein 
aliquoter Theil (Knehtstand) abreaulirt und zum Dofesarenl 
geichlagen wurde, — eine Vahnahme, die fich wegen der zeritreuten 
Lage der Gefinde wirthihaftlih von felbit ausichloh — enden 
vielmehr fo, daß dem Vedinfniffe nad) einzelne, für den Dof 
bequem gelegene Gefinde entweder zu Yandfnechts + Gefinden 
umgeformt, oder alo MWirtbichaftseinheiten aufgelöft und ben 
Hofesfeldern einverleibt wurden. — Ein nur geringer Brudhtheil 
der Gefinde, der feinem Totalumfange nad) bedeutend hinter 
demjenigen der „Qute” oder des „Sedhstelo" in Liv: und Ejtland 
zurücjichen dürfte, wurde auf diefe Weile zu „Dofestand“, zumal 
da vereinzeltem Mihbraucd die Ritterihaft alsbald dadurd) jteuerte, 
dafs fie mod vor Erfdeinen der Agrarregelin vom 6. September 
1863 einen Erlaß der Kommilfion in Sachen der Furländifchen 
Vauerverordmung von Auguft 1863 erportixte, der die 
Gefindes Einziehung von der Genehmigung einer befonderen 
Kommiffon abhängig machte, die das wirthicaftlice Bebürfnif 
in jedem Gingelfalle zuvor zu prüfen hatte. Der überwiegend 
arößte Theil der Sefinde verblieb mit allen Yändereien in der 
Nuyung der Gefindeswirthe, welche nun, von jeder Arbeits: 
verpflichtung nad) außen und von jeder Yöhnung fremder 
Arbeitstraft befreit, für das ihnen weit Über das Bedürfnifi des 
eigenen Yebensunterhaltes zugefallene Yand eine Pacht zu entrichten 
hatten. 

Das Jahr 1863 fand aljo folgenden Zuftand vor: 

Die Privatgüter beftanden: 

1) Aus dem Daupthof und event. Nebenhöfen (Beihöfen), mit 
deren Feldern, Miefen und Weiden; die Arbeitstraft 
derjelben war entweder auf diejen Döfen jelbjt placirt 
und mit Held, Norn, Viehfutter gelohnt (Deputat: 
Nnechte) oder im Stnechtsgefinden dj. oben) auf Yan: 
mugung angewiefen; zu geringem Theile endlich befand 
fie fi noch in den Rachtgefinden vertheitt; 

2) Aus obgedachten Anechtsgefinden; 

3) Aus Krugs Mühlen und anderen, meilt aud mit Land 
dotirten Etabliffements; 























Zur furl. Anrarentwidelung. 617 


4 Aus dem Walde, deiien Forftwache, die Bufchwächter, ihre 
Jahreslöhnung in der Nusung der meilt Heinen, im 
Walde belegenen Wirthidaftseinpeiten (Buicwächtereien) 
fand; 

Aus den „Gefinden“, die als ganz gefonderte Wirthicafts- 
einheiten von jeher einem Wirthen in Pachtnusung 
(Frohn:, Natural: oder Geldpacht) vergeben waren. 

Als nun am 6. September 1863 jene Negeln erihienen, 
„auf Grundlage welcher den Bauern in Kurland freigeftellt ift, 
Gefinde der Privatgüter zu Eigenthum zu erwerben und Arrende- 
Fontrafte abzujchließen“ war Niemand im weifel, dah der 
Gefeggeber ausshliehlic die sub 5 aufgeführte Nategorie 
ländlicher Grundftüce im Auge gehabt habe, und cs erichien fait 
wie ein ZSuperfiunm, wenn der $ der Negeln noch ausdrücklich 
bejagte: „Die obigen Negeln beziehen fi fpeziell auf Pacht- 
Gefinde und finden Feine Anwendung auf die Fleinen Gefinde, 
welche Feld und Bufdmwächtern, jowie den Sofesarbeitern als 
Theil des ihnen zufommenden Yohnes zur Benugung übergeben 
find (Arbeiter-Etablifements). 

Wie follten aud Negeln über langjährige (mindeftens 
zwölfjährige) Verpachtung auf Srundjtücde bezogen werden fönnen, 
die als Yöhnung an Kerfonen überniefen waren, deren 
Dienftverhältnii von Aahr zu Nabe fief, und deren Lüngerer 
ober fürzerer Werbleib wefentlich von ihrer Vienfttauglichfeit 
abhängig war! 

Von den eigentlichen Pa ch t-Gefinden aber fonnten, wenn 
auch nicht mehr willfürlich, Fo doch zu wirthichaftlicher Arrondirung 
mit fommilforialer Genehmigung immer noch einzelne zu Anechto: 
gefinden umgewandelt oder mit dem Hofestande verichmolzen und 
fo den Wirfungen der Agrarregeln entzogen werden — eine 
beichränfte Freiheit der Gutsherren, die fen 1867 ihre Enpichaft 
erreichte, in welchem Jahre die Nitterichaft zur Erfüllung eines 
ausgeiprachenen N chen Wunfches fh and dieies Nechtes 
begab. Auf ihre Veranlaffung verordnete die Kommiffon in 
©. d. Kurl. B. ®. unter dem Bi} IS: „In gleicher 
Beichränfung des autsherrlichen Diopofitionsrechtes, wie foldes 
durch Vorfhrift vom 13. Auguit 1863 gefcheben, joll von mun 





























618 Zur furl. Agrarentwidelung. 


ab die Einziefung von Pacht: und Frohn-Geiinden, welde als 
folhe den Agrarregeln vom 6. September 1863 unterligen, weiter 
wicht ftattfinden“. Nur mod ein Austaufh von Baht: 
GSefinden gegen gleihwerthige md bebaute Grumditüce 
aus dem Dofeslande wird unter Fommilforialer Mitwirkung, 
und Genehmigung aud fürderhin gejtattet. 

Zu den aus dem Pacht: im Genenfas zum Dienit 
Verhältnih fib ergebenden Wiertmalen des Aarar: Gefindes 
tritt aber noc) ein weiteres, ausichlaggebendes Moment: 
entiprehend der Agrarentwidelung und während des älteren 
Wirthichaftsiftems befand fi, wie wir jahen, die Arbeitstraft des 
ganzen Gutes in den Gefinden. Es Fonmte daher nicht anders 
fein, als dab die dem Gute obliegenden Leiftungen zum Beften 
der öffentlichen, jtaatlichen, Eirdhlichen und fommunalen Wohlfahrt 
fidh derart vertheilten, dah der Grundherr, als Cigentbiimer des 
Voreno mit allem was diejer trug, die erforderlichen Materialien 
zum Bau von Gebäuden, Wegen, Brücen 2., wie aud) wo nötbig 
den technifch geichulten Sandwerfer bergab, während die eigentliche 
Arbeitoleitung, Anfuhr und Stellung der Dandlanger Riticht der 
GSefindesmwirthe war. Nehnlich verbanden fh auch noch andere 
Reallaften, wie Einguartirung, Beförderung von Beamten, gewiie 
Abgaben und Yeiltungen für die Kirde 2. fpegiell mit dem 
GSefindesfande und ein chedem unbeanfiandetes, unvordenflides 
Herfommen ward die gefeglic anerkannte, rechtliche Yafis di 
Verpflichtungen. An dieier von der Yauerverordmung von 1817 
wie von dem Provinziafredht janftionivten Nehts und Zadılage 
änderten auch die Tpäteren agraren Negelungen nichts, nur dat 
bei Gelegenheit des Verkaufs der Gefinde die eallaft umd ihre 
Vertheilung auf die einzelnen verpflichteten Orundjtüce meijt 
fontraftlich noch beionders feitgeleat und beitimmt wurde. 

Es gab und giebt demnad fein Bactaejinde in 
Aurland, das nicht feinen Antheil an den Neallajten 
au tragen hätte, und das Vorbandeniein jolher Belajtung 
ift ein weiteres nothwendiges Merkmal, um ein Grund 
fü alo den Agrarregelm unterliegend anzufehn. Tu 
aber bei Einziehung einzelner Sefinde zum Dofeslande, fo lange 
eine foldhe nod) ftatthaft war, die Yalten diefer Gefinde mit über 




















Zur furl, Agrarentwidelung. 619 


nommen und zuweilen bei Nenverpachtung oder Xerfauf ber 
übrigen Gefinde nicht auf dieje abgewälzt worden find, jo fommt 
« vor, bafı Gefindes-Neallajten auf dem Hofe, reip. einzelnen 
Theilen deielben, ruhen geblieben find. — Es ift daher das 
Vorhandenjein folder Laten für ein Grundftüd als 
einziges Merfmal nod nicht ausreichend, um es unter 
die Agrarregeln zu fubfumiren, fondern nur wenn diejes 
Merkmal mit den übrigen aus dem dargelegten Ent: 
widelungsgange und den gejeplihen Bejtimmungen 
refultivenden zufammentrift, ift es mitentideidend. 

Allem Vorftchenden nad) werden wir die geiudhte Antwort 
auf die Eingangs geitellte Frage: Was it in Kurland „Gefinde” 
im agrarrechtlichen Sinne? dahin präjifiren dürfen: 

Auf den Privatgütern in Hurland find Gefinde 
(Agrars) diejenigen vom Hofesterritorium geionderten, 
mit ftaatlien, firdliden und fommunalen Leiftungen 
(Reallaften) beihwerten Wirthicaftseinheiten, welche 
dem Gutsherrn chemals Arohne leifteten, dann auf 
Pacht übergingen, wobei die Pachtfontrafte gemäß der 
VBauerverordnung von 1817 obligaterifh und aus- 
nabmslos in das vom Gemeindegericht zu führende 
Rontraftenbud einzutragen waren, und melde fich 
ansmweislic diefes Kontraftenbudes nod bei Emanirung 
der Agrarregeln in Radt befanden und welde nicht vor 
1867 in Grundlage des Erlajjes der Kommilli S 











in ©. 
der 8. ®. vom 13. Auguft 1863 mit fommillorialer 
Genehmigung eingezogen worden find. Ferner gehören 
zu „Sefinden“ diejenigen Grunditüde, welche auf Brund 
des Erlaffes der Kommiflion in Zaden der furländifcen 
Bauerverordnung vom 29. März 1867 im Wege des 
Austauices gegen eingejogene Ngrargefinde vom Dofe 
als Aequivalente diefer hergeneben worden find und 
endlic noch diejenigen, welche der Gutsherr nad 1863 
aus freiem, unzweideutig verlautbartem Willen als mit 
Neallaften zu belegende „Sejinde” nen Freirt hat. 

Me übrigen und namentlich auch die am Yöhmmgsitatt 
an Feld und Bufcwächter und Nuechte zur Nußung übergebenen 








620 Zur furl. Agrarentwidelung. 


ländlichen Grumdftüce find und bleiben von der Wirfjanfeit der 
Agrarregeln ausgeihloifen, schon weit ihrer Ausung ein Dienit 
verhäftwiß zu Grunde liegt, das dem Begriffe und Exfordernifie 
des Bachtvertrages (zumal dem der Agrarregeln von 1863) 
widerfpricht, und es ändert daran nichts, daß etwa bei ihrer 
früheren rechtmäßigen Umwandlung aus wprünglichen Frohn: 
oder Pacht:Gefinden die Nenllaften mit übernommen worden find. 
Das ift auch unzweifelhaft Sinn und Meinung des S 19 der 
Agrarregeln und es erfheint vollfommen ungeretf 
verfucht worden ift, ein befonderes Gewicht daranf zu legen, 
daf; diefer $ mur die Meinen Sefinde ausichlöfie, die alo Theil 
des Fohnes an Feld-Bufchwächter u. f. m. überwielen feien. Ganz 
offenbar wollte der Sefegeber durch diefe Beiworte nichts anderes 
als den thatfächlih in der überwiegenden Mehrzahl der Aülle 
vorhandenen Zuftand Tennzeichnen, nicht aber bedingende 
Momente damit ausiprechen, fonft hätte er fid) niemals eines fo 
unbejtimmbaren und relativen Begriffes wie „fein“ bedienen 
dürfen und eine Erklärung dafür geben mühlen, welchen  jonft 
nicht ertennbaren Unterfchied es für den Charakter, fomahl des 
Dienftverhältmifies nie auch des Grundjtüces bedingt, vb letteres 
einen Theil des Lohnes oder den ganzen Yohn ausmacht. 


























mit wäre unfer Thema eigentlich zu Ende geführt; es 
fällt jedoch jchwer, dafjelbe zu verlaften ohne fich der charakteriftiichen 
Züge des Bildes bewußt zu werden, das uns in der Furländifchen 
Agrarentwicelung dargeboten wird. 

An prägnanteiten treten diefelben in der Kormulirung 
hervor, die der Yandtag von 867 zur Kennzeichnung der 
Tragweite feiner Vejchlühle wählte und die unverändert auch in 
dem oberwähnten Erlaffe der Nommillten in <. d. furl. BU. 
vom 29. März 1867 enthalten it. Cs beißt dafelbit: „Dieje 
von der Nitterfhaft im ntereife der Entwidelung des Heinen 
Befiges beantragte Yeihränfung des qutsherrlichen Dispofitions 
rechtes (se. Verbot der Gefindeseinzichung) erreicht mit der Aus 
icheivung der Sefinde aus dem qutoberrlichen Eigentbum und der 
Eigenthumserwerbung durch die Kächter ihre Endichaft, indem in 



























Zur furl. Agrarentiwielung. 621 


Nurfand ein „Bauerland“ weder aefeglih befteht, nod durd die 
bier beantragte Mahregel geihaffen wird. Diefe Lorfchrift der 
Nommillion tritt Tonach mit feinem der Prinzipien des Gejebes 
in Wideripruch, fondern foll nur deiien Anwendung dem AWunfche 
Seiner Naiferlihen Majefiät gemäß bis dahin regeln, wo der 
Hauptzwed Deo Agrargejeges erreicht fein wird, nämlid) die 
herung des feinen Orundbefiges in Nurlaud durd den Gefinde: 
Vertauft. 

Kay Hierin num nicht ein innerer MWideripruch: die fait 
ängjttich zu nennende Vermeidung der Areivung eines Banerlandes 
einerjeits — und der in Wort und That befundete Wille der 
Kitterichaft „den Heinen Grundbefig durd) den Gefindeverfauf zu 
fichern” andererfeits? Dem Anicheine nad vielleicht, — ber, 
Abficht und dem Erfolge nad) feineswegs! Nurland war «8 von 
jeher gewohnt, dai fid) das Yeben auf all den verihiedenen 
Gebieten feine Geftaltungen und Kormen von innen heraus fchuf 
und dai; eine geiehgeberiiche Negelung meift exit nadyfam, die 
dann das Lorhandene ordnend und regelnd zugleid) weiterem 
Fortichritt die Wege babnte, 

So war es bisher and) anf dem agrarpolitiichem (Gebiete 
gegangen. Wenn and nicht de jure, de facto hatte ein 
Yauerland dach chen in den fernjten Zeiten der Yeibeigenichaft 
in Seftalt der die Frohne leitenden Sejinde bejtanden, und aud 
nad Areilaflung der Banern und nad) Xeränderung des 
Wirthihaftsipftems war in den Händen der bäuerlichen Aupnicher, 
als munmehrigen Räctern, das Yand in reichlicerem Mafie 
verblieben, alo es die Väter chedem zu eigenem Beflen (d. D. 
abgejehen von der für den Hof zu unterhaltenden Arbeitstraft) 
genupt hatten. Was hinderte mun wohl die kurt. Nitterichaft, 
bie jcheinbar einfachite Kölung der Agrarfrage durch Ziehung des 
„voten Stricheo" zwifchen Hofes: und Bauerland zu wählen? 
Gewiß nicht in letter Neihe die Schen vor einem fo tiefgchenden 
und in feinen Folgen unabänderlicen Eingriff der gefebgebenden 
Gewalt im ein bisher matürlid und reid) fi entjaltendes 
irthiehnftsteben. Die geograpbiiche Abgrenzung allein fonnte 
ja in feinem fulle genügen, fondern muhte fi ftets mit all 
jenen befonderen Normen md Beltimmungen verbinden, welche 


























622 Zur furl, Agrarentwidelung. 


dem „VBauerlande“ erft den Charakter verleihen. Und das vom 
„grünen Tiih“ aus, ein für alle Mal, und in einem Zeitpunkte, 
da die neuen Grunbfäge rationeller Wirthidaft doch noch nicht 
ausnahmslos durchgeführt waren, fondern es noch mancdherlei 
Kefte aus älterer Zeit (Frohne, Naturalpaht 2.) gab — dazu 
Tonnte fih fon der eminent wirthfchaftliche und praftiihe Sinn 
der Kurländer nimmermehr verftehn! aufrichtig die von 
überwiegender Majorität gefahten Befchlüfle bez. Cinfehränfung 
vefp. Verbot der Gefindes-Einziehung aud waren, jo ernftlich 
gewollt und als nothwendig erfannt „die Sicherung des Heinen 
Grundbefiges durd) den Gefindeverfauf“, jo unverbrüchlich bielt 
man dennod) an dem Grundfage „der freien Vereinbarung” feit. 

Auch jet follte das Gejeh, bei Nonfolidirung uud Negelung 
des Veftchenden, nur die Bahn weiter abftedfen und freilegen, 
auf welder dann das felditgelenfte Gefährt feinem nächiten 
und mwichtigften Zielpunfte zufteuern würde: einem freien Klein 
grundbefige in der Hand des freien Bauern! 

Von diefem Grundgedanken ausgehend, mit bemunderungs- 
werthem ftaatsmänniichem Blick für das Nothwendige und Durch) 
führbare, alle inneren wie äußeren Rippen gleich gefchiett ver 
meidend, fonftruirte der damalige Landesbevollmächtigte, Sammer: 
berr Baron €. v. d. Nede, fein Projekt zu den Agrarregeln, das 
nicht weniger genial zu nennen ift in dem, was e8 zu reglemenfiren 
unterläßt, als in dem mas c8 vegelt und bejtimmt. Das zeigte 
fi auch gleich auf der zu feiner Durchberatbung zufammen 
berufenen „brüdertichen Konferenz“ des Jahres 1863, Steines 
ber zahlreichen Amendements und Gegenprojefte vermochte Angefichts 
der natürlichen Logit des Nedeichen Entwurfes vor der Hritit 
des gefunden Sinnes und des aufrichtigen Wohlwallens der 
viriliter verfammelten Nitterichaft zu beitehen. Mit ganz gering. 
fügigen, unbedeutenden Gmendationen wurde es mit einer 
Viajorität von über zwei Drittel der Stimmen angenommen und 
einige Monate darauf durd) den Dftfcefomit& zu Allerhöchiter 
Vertätigung gebracht. 

Kein Bauerland, Feine Negierungsmahnahmen und 
feine Beamten zur Abgrenzung deilelben; fein über: 
hafteter Zwangsverfauf, und feine Neglementirung der 


















Zur furl. Agrarentwicelung. 623 


Verfaufs- Bedingungen und Ablöfungs-Zahlungen in 
unrealifirdaren Papieren! Dafür gung und 
Negehung des ichon beftchenden Badtverhältnifies, als 
nothwendiger Vorftufe, Schuß des derzeitigen Bädhters 
dur Vorpacht- und Borfaufs-Kecht und eventuellen 
Entjhädigungs-Anipruc, falls ev dem Angebot einer dritten 
Berfon weichen muß oder fein Pacht: veip. Kauf Objekt durch, 
Kegulivung über das geleplich vorgeichene Maf verändert worden; 
und endlich billiger, von Seiten des Darleihers (furländ. 
Kredit:erein) unfündbarer Kredit im übrigen aber: 
Freie Bahn! Annerhalb diefer wenigen Wiarffteine hat die 
furländifche Agrarentwiehung auf dem ihr gewohnten Boden 
der freien Wereinbarung das 33 ep. 26 Jahren 
(Fideifommiffe) fo gut wie wolljländig erreiht: Der Feine 
Grundbejig iit begründet. 
Fit er aber num and für alle Zukunft geficher 
Die Vejhränfungen des guisherrlihen Dispofitionsred)tes, 
die Verbote der „Einziehung“, erreichen gemäh dem Erfafie von 
1867 „mit ber Ausfcheidung der Gefinde aus dem gutsherrlicen 
Eigenthume und der Eigentdunserwerbung durd) die Pächter ihre 
Endfihaft“. In der Hand des bänerlichen Erwerbers ift das 
Land ein freies und, was nicht zu überfehen ift, ein um fo 
werthoolleres, je weniger Befhränfungen es feinem 
Befiser auferlegt. Liegt aber dabei nicht bie Gefahr vor, 
daß dereinft eine größere, ihre Veranlagung in Grund md Boden 
fuchende Kapitaltraft zum Auffauf und zur Zufammentegung diefer 
Heinen Wirthichaftseinheiten fehreitet und jo der Feine Grundbefig 
zu fein wieder aufhört? X der Theorie ift diefe Möglichkeit nicht 
zu beftweiten und cs it feineswegs der utsherr allein, der dieje 
Gefahr ausmacht. In der Praris aber zeigt fid) bislang in 
Ntınland nicht die neringite Neigung zur Latifundienbildung, int 
Gegentpeil ift die Tendenz zu weiterer Zerlegung, zur Gründung 
von Heinen Anfiedelungen auf Hofeoland weit cher bemerkbar, 
und die vorgefommenen Nückäufe von Gefinden find nur 
vorübergehende Mafnahmen zur möglihiten Sicherung des 
Kauflchillingsreftes geweien in Fällen, mo die Ungunft der gegen- 
wärtigen Wirthichaftsverhättnifie oder die Umwirthicaftlichfeit des 






























624 Zur Aucl. Agrarentwidelung. 


Gefindeswirthen diefen zum Vanferott gebracht haben. — Der 
gröheren Kauffraft des Kapitales fteht das zühe Feftbalten und 
Hängen an der Scholle von Seiten des Bauern gegenüber, und 
die Reallaften, welche auf dem Gefinde ruhen, und die einmal 
volfzogene hypothefariiche Abtrennung des Gefindes vom Hauptgute, 
woburd) der Vauergemeinde das Objeft der Veftenerung für ihre 
fommumalen Bebürfniffe dauernd beftimmt ift, bieten, neben dem 
unverhältnißmähigen Gebäubewerth der feinen Wirkbfehaftseinheiten, 
einen weiteren, jlarfen Schup vor etwaigen Einziehungsgelüften 
des Gutsherrn. Dennod bleibt die Frage in thesi eine offene, 
und wir zweifeln nicht, da der Grofigrundbefiger-Stand, der 
feinen Willen „einen Heinen bäuerlichen Grundbefis neben fid zu 
Haben“, durch Wort und That befundet Hat, den Zeitpunkt nicht 
überfehen wird, wo etwa Maßnahmen geboten ericeinen Fönnten, 
welche die Erhaltung des feinen Grundbefises (möglichjt ohne 
Werthminderung deilelben) noch weiter fiherten. — Hat doch die 
furländiiche Nitter- und Yandichaft eine Gefahr, die weit näher 
liegt als die vorberegte, aud nicht überjeben, die 
Gefahr, die für den Fortbejtand der Sefinde durd die 
Erbihaftstheilungen mit Naturnotbwendigfeit herauf: 
beihworen wird. Ein die Erhaltung des Heinen Grundbefiges 
in einer Hand anftrebendes Bauer-Erbredjt it daher im I. 1590 
der hohen Staatsregierung von der Nitterichaft zur Betätigung 
vorgeftellt worden. Ein fol geregeltes Erbrecht thut allerdings 
dringend noth, denn jo glänzend fi auch der leitende Gedanfe 
der Agrarregeln bewährt Hat: „Man hebe den bäuerlichen Klein 
grunbbefigerjtand nur auf's Pferd, reiten würde er dann jchon 
Tonnen“, fo bleibt derjelbe do nur wahr, fo lange je auf 
einem Pferde nur ein Neiter fißt. 























der X. ardüologiihe Kongreh zu ige 


im Anguft 1896, 


Von Dr. X. Bielenitein. 


Auf den ausdrüclichen Wunfd Cr. Majeftät des Kaifers 
Aleranders IL, war vor drei Jahren in Wilna in der legten 
Sigung des IX. archäologiichen Kongrefies der Veichluß gefaßt 
worden, die nächte Verfammlung nach Niga einzuberufen. Die 
Kunde von diefem Bejchluf; erregte die Geifter und Gemüther im 
baltiichen Lande nicht wenig. Die bisherigen Arbeiten und 
Veftrebungen der ruflichen Archäologen, die feit 24 Jahren durd) 
die verfchiedenen Zentren des Neiches wandernd, mm don neun 
Val getagt hatten, waren bei uns ziemlich unbefannt geblieben. 
ir wußten nicht, was wir zu erwarten hätten, was man uns 
bringen und mas man von uns fordern würde. Die unleugbar 
arößte Schwierigkeit, mit der wir zu vedhnen hatten, war die 
Verhandlungsiprade. Sobald die rujjiihe allein in den Verhand: 
fangen jtatthaft blieb, wie auf den bisherigen Kongrefien, höchitens 
mit der Ausnahme, dal ausländifhe Gelehrte etwa der deutichen 
fichen Sprache fach bedienen dürften, jo war jo ziemlich 
die ganze baltifche deutiche Intelligenz von der aftiven Vetheiligung 
am Nongrei zu Niga ausgeichlofien; denn nun die jüngere und 
jüngjte Generation, welche auf dem Nongrei; eine Nolle zu fpielen 
it, hat Gelegenheit gehabt, einigermaßen mit 
der ruffiichen Spradie in der Schule fid) befannt oder vertraut 
zu maden. Uns Balten aber mußte daran liegen, da, wenn der 














626 Der X. ardäologiiche Nongreh. 


Nongreß nad) Niga fäme, er in mafgebender Weile über die 
Vorzeit, die Archäologie und Gedichte unferer Provinzen 
wiifenfehaftlid) orientirt würde. Die Ungewißheit, wie weit das 
würde geichehen Fönnen, lähmte die Gemüther und die Hände, 

Dieje Thatfachen veranlaften den Verfaifer diefer Heilen im 
Früherbft 1803 in einem offenherzigen Briefe an die Gräfin 
Umarow, die das Präfidium der arhävlogiichen Gefelfichaft zu 
Moskau führt, die umfeugbaren Schwierigkeiten zu fennzeichnen, 
unfere Veforgniffe auszuiprehen neben der Freude darüber, dal; 
die ruiftiche Wiffenihaft mit den baltif—hen Provinzen fih näher 
bekannt machen wolle, was unferen Provinzen nur nüben fnne. 
Zugleich fprach Verfaffer in den eriten Zitungen, fowohl der 
Sefellichaft für Geichichte und Alterthumskunde zu Riga, als au 
der für Litteratur und Munft zu Mitan fich energ dabin aus, 
wenn ms der Gebrauch der deutihen Sprade in den 
Verhandlungen des Kongreifes bewilligt werden jollte, wir mit 
voller Straft auf den Kongreh uns vorbereiten und das Gediegenfte 
won Arbeit dazu liefern mühten, am zu zeigen, welche geiftige 
Frucht unjere 700-jährige Gefchichte gezeitigt bat, und was für 
eine geiflige Kraft wir in den Dienft des ganzen Neiches nod zu 
ftellen im Stande wären. 

Die Hräfin Umaromw antwortete mit großer Yiebensmirdigfeit 
genan in dem Sinne, wie fie nachher bei den Vorbereitungen des 
Kongrejies und auf ibm jelbjt geredet und gehandelt umd den 
glänzenden Erfolg defjelben bewirkt hat. Unfere Diftoriter fahten 
damals allmählich Muth; in unferen gelehrten Gejellichaiten 
wurden Lebhafte Verhandlungen geführt, Ihemata fir den Nonareh 
äufanmengeftellt, Delegirte zur Vorberathung nad) Mosfau im 
Januar 1894 gefendet, welche dort bei den mafigebenden 
Autoritäten das fremdlichite Entgegenfommen fanden. Bon der 
allergeöften Bedeutung war der in Moskau Fundgegebene, über: 
vajchende Beichluß der Gejellichaft für Seichichte und Alterthums: 
kunde zu Riga, fie jei bereit für den Kongreh eine archüologüche 
Ausjtellung auf eigene Koften, aber dann anch ganz unabhängig, 
unter eigener Direftion zu veranftalten. Der Mann, welder 
den Diuth amd die Energie gehabt hat, die gewaltige Aufgabe 
wejentlih auf feine Schultern zu nehmen, und die Straf und die 
















































Der X. arhälogifche Kongreh. 627 


Gewandtheit fie auszuführen, war neben Profefior Hausmann, 
Anton Buchholg, welder hauptfählich damit zum Erfolge des 
Kongrefies beigetragen bat. Im Jahre 18 furz vor Oftern, 
befuchte die Gräfin Umarom Niga, berieth die vorläufigen Fragen 
mit den Vertretern der Provinzialregierung, der Stadt und ber 
leitenden wijlenichaftlichen Sreife in umfichtigfter und licbens: 
mwürdigiter Weije und brachte die von dem Minifterium der’Volfs- 
aufflärung bejtätigten Negeln des X. Kongreifes mit, deren 29. 
Punkt der guten Suche damit diente, dab er dem gelehrien 
Komite des Kongreiies das Necht ertheilte, „wenn er es für 
nothwendig findet, Sigungen in franzöfiiher und deuticher Sprache 
abzuhalten“. Ein lokales vorbereitendes Komite, unter dem 
Präfidium des Nigafchen Stadthauptaehilfen E. von Vötticher, 
ward in. eben jenen Tagen eingejeßt. 

Den günitig verlanfenen Vorverbandtungen zu Moskau (und 
zu Niga) folgten viele Monate ftiller eifriger Arbeit der baltiichen 
gelehrten Sefellicpaften und vieler einzelner Foricher, die von dem 
einen Gedanfen bejeeit waren, den Kongreß, da er mn einmal 
bevorftand, fo wi und jo chrenvoll für unfere Provinzen zu 
geitalten, als irgend möglic. 

Es ift nicht die Aufgabe diefer Blätter, die Gejdichte 
diefer jtillen Vorarbeit zu bieten. Ebenfo wenig fünnen oder 
follen wir eine genaue Geichichte des Kongreiies felbjt oder gar 
feiner einzelnen Sigungen protofollariid ihreiben. Den geehrien 
Yefern, denen die Ereigniffe der eriten Auguftwocen diefes Jahres 
durchaus nicht unbekannt geblieben find, wird es an diejer Stelle 
genügen, eine zujammenfaiende Neberfidht des Ganzen, eine Stizje 
der perfönlich empfangenen Eindrüde, eine allgemeine Charatterifirung 
des Stongrefverlaufes und -erfolges umd ein furzes Wort über die 
Beheutung dejielben für die Gegenwart und Zukunft unferes 
Yeimatblandes zu vernehmen. 

Nachdem in den leglen Tagen des Juli-Monats die leitenden 
erjonen in Niga fid veriammelt hatten, wurde das gelehrte 
Nomite unter dem Präfidium des PBrofefiors Uspensfi, Direktor 
des ruffichen archäologiihen Snftituts zu Konftantinopel gebildet, 
und wurden die Präfidenten der Seftionen nebft ihren Sefretäven 
gewählt. Diefe Funktionäre alle hier zu nennen, würde zu weit 





























s Der X. archäotogche Kongrefi 


führen, fachlich aber ijt es intereflant, die Namen der Ceftionen 
aufzuführen. Es waren: 1. Vorbiftoriiche Aterthüner. 2. Hiitoriiche, 
geographiiche und ethnographice Alterthümer. 3. Denkmäler der 
Kunft. 4 Hänsliches und gefellichaftlihes eben, Nechtokunde 
und triegawefen. 5. Nirhliche Alterthüner. 6. Denkmäler des 
Schreib: und Spradiweiens. 7. Naffiihe, buzantiniiche und weit 
europiiiche Alterthümer. 8. Baltiiche Alterthümer. Alterthünmer 
des Orients. 10. Plünzen- amd Siegelfunde. 11. Archäographifce 
Tenfmäler. 

Es ift natürlich, da in den meiten diefer Seftionen vuffüiche 
Gelehrte präfidirten, doc blieben die baltischen durdjaus nicht 
unberücfichtigt. Dr. E. von Nottbed, Neval, leitete Sektion 
3. 6. Engelmann, Profeifor zu Dorpat, Sektion 8; Baron N. 
Bruiningf Sektion 10. So waren in den drei genannten Kerfonen 
die hervorragenden Städte des baltiichen Yandes vertreten. Das 
Prifidium des ganzen Songreiles blieb wie immer in den bewährten 
Händen dev Gräfin Uwvarow, melde ja das unbedingte Vertrauen 
der ganzen Verfammlung befaßt und verdiente. Areilic war cs 
uns etwas Ungemohntes, eine Frau an der Spite einer fo grafien 
Verfammfung hervorragender Männer des großen Neidheo und 
des Auslandes zu fehen, zählte doch der Kongrei im Ganzen 
7 Mütglieder ) (122 mehr als der zu Wilma). Aber die 
Erjcheinung und das ganze Auftreten, Neden und Dandeln der 
Sräfin verwandelte bald bei Allen die Verwunderung in 
Vewmmderung der ungewöhnlichen Frau. Alles an ihr war eruit, 
mahvoll, würdig und edel, feinfinnig und taftvoll. Sie war den 
wifienfchaftlicen Anfgaben gewacdyen, wenn and nicht fetbjt alle 
zu enticheiden, jo dad) diejelben einer geeigneten Entjcheidung 
entgegemzuführen. Es fehlte übrigens nicht an Debatten, wo fie 
perjönlich eingriff, und wenn fie cs that, fo beunbte fie die Viacht 
des Weibes zwiichen freitenden Karteien zu vermitteln. An allen 
Fragen und Verhandlungen bewies fie das lebhafteite Intereife 
Dit einer wunderbaren Ansdaner wohnte fie den zwei oft drei 






































*) Darımer 185 ans den rufühhen Sonne 
feisteren 24 Wrofefioren, emtanten andcrer 
aus Preufien AMönigsberg. Tanziq, Yerlin, Brestan 
teils Tirefioren von Mu . . bedeutenden Namens. 

















Der X. ardäologiice Kongref. 520 
tägihen Zigungen (6-7 Stunden lang) bei, woneben jie täglid), 
schon des Morgens früh und bis zum Abend fpät zahllofe Vifiten 
einpfing, geichäfttiche Nebenverhandlungen pflog und Vefuche machte. 
Das it ungewöhnliche Kraft, aber das herigewinnendfte war an 
der Gräfin ihre humane Gefinnung, ihre unparteiliche Xicbens: 
würdigfeit gegen Jeden, jelbjt gegen den fie etwa verfennenden 
Gegner, wie viel mehr noch) gegen diejenigen, welde ihr mit 
Vertrauen entgegenfamen. Sie verftand «5 unter den obwaltenden 
Ihwierigen Lerhäftniffen zu verhüten, daß ein politiiher oder ein 
fonfeifioneller Anftoh der einen oder der anderen Seite gegeben 
würde, und ihr Zinn und Geifl verbreitete fi unmerflich und 
jelbjtverftändlih auf die ganze Verfammlung. Cs darf wohl 
behauptet werden, dal fich jchwerlich irgend eine Perfünlichfeit, 
dai; irgend ein Mann fi hätte finden laffen fünnen, der im 
ande gewefen wäre, die imleugbaren Schwierigleiten eine 
vuffiihen Nongrefies im baltiichen Gebiet jo tadellos und, wie es 
den Eindrud machte, jo leicht zu überwinden, als wie es der 
m Umarow thatlächlic gelungen 
In Herzen ige’, im Gewirre der engen mb leife 
gefrümmten Gajfen, fait verftedt vor den Augen der Mafle, 
weldre dich die Hauptverfehrsadern der Stadt hin und her 
ftrömt, ftehen in ftolzer Stille die beiden Hildenhäufer gejchwifterlich 
neben einander, das Heim der großen Nanflente, die ihre Waaren 
über die Meere enden, unter dem Emblem des Schiffes mit 
geichwellten Segeln und der gefreuzten Schlüffel der Stadt Niga, 
feit dem 13. Jahrhundert der Obhut der heiligen Marin als 
Patronin befohlen, und das Heim der ehrfamen Zünfte, der 
36 Handwerfsäuter, welche aud unter der neuen Städteorduung 
ihre Schragen und Ordnungen aus dem 14. Jahrhundert fi zu 
erpalten verftanden haben und jo bis heute in ihrem Areife den 
zunchmenden Verfall des Bandiverfs wehren und Tüchtigfeit im 
Gewerbe, Zucht und Sitte und Fürforge für ihre Htieder bewahren 
und. pilegen. Prachträume beider in ihrer gegen 
Geftalt aus der Mitte diefes Jahrhunderts ftammenden Gebäude 
waren mit Yiberalität dem Kongreß und feinen Bedir] 
worden. Die Brautfammer im unteren Gejchoi der großen Gilde 
enthielt das Bureau des Kongrefies, wo die Eintrittsfarten und 


















































630 Der X. archäologische Kongreh. 


die Abzeichen (mit bfauem Bande für die Nongreßglieder, mit 
rothem für die Delegivten), die Kataloge u. |. m. vertheilt, und 
alle Auskünfte gegeben wurden. Der daneben liegende zweiichiffig 
Saal mit den fchönen Areuggewölben auf jede Säulen diente 
einzelnen größeren Romitö-Sigungen. Beide diefe Näume find 














bei dem Umbau aus dem älteften ufprünglicen Ban fonfervitt. 
Der große Saal im oberen tod enthielt die ardhäoleg 


iiche Aus: 
ftellung. Die Kongreß Sigungen fanden im oberen aal der 
feinen Gilde ftatt. An der Fenfterwand fah an langer Tafel 
das ium mit feinen Aunktionären auf erhöhtem lab, 
daneben das doppelte Katheder, von welchem herab die Nedner 
mit ehvas mangelhafter Aujtit zu fümpfen hatten, was hätte 
vermieden werden fünnen, wenn das Natheder an der Schmaljeite 
aufgeftellt gewefen wäre. In diefem Falle Hätte die Verfammlung 
and) nicht wöthig gehabt in das Aenfterlicht zu fchanen. 

An 1. Aguft füllte fh der Sanl um die Mittagsimde 
zuw Eröffnungsfeier, an welder fänmtfiche höchte Würdenträger 
der drei Oftfeeprovinzen, die Vertreter des Staates, der Adels 
Korporationen und Städte theilnahmen. Nad dem Sefang einer 
Home, ausgeführt vom erzbiiböffichen Zängerdor folgten einander 
wungs: und Vegrüßungsreden des Nurators, der das 
Pinifterinm der Volfoaufflärung vertrat, des Gonverneus von 
Livland, des Nigafhen Stadihaupts (ruflüich und deutich), der 
Gräfin Umarow und des Prüfidenten des fettiihen Vereins 
Sroßwald u. |. m. Vejonders jompathiich berührten die funzen 
und chlagenden Worte des Gomverneurs, Generalmajor Suromgen 
und die den biftoriichen Mittheilungen angefünte warme An- 
erfenmung, welche die Gräfin den um die baktiiche Archäologie 
verdienten, bereits  entichlafenen Männern Stufe, Baehr und 
Srewingf, wie den großen Verdieniten des Profeiors Hausmann 
m den gegenwärtigen Nongreh und die Ausftelhing nebft feinen 
Mitarbeitern zollte. Bei einem Gange durch den oberen Saal 
der großen Gilde wurde die arcäologifche Austellung und darnad) 
die lettifche ethnographiiche unter Neden, dort des Baron Bruiningt, 
hier des Präfidenten Großwald, eröfinet. Auf diefe Ausjtellungen 
fonmen wir unten nod zurüc. 

Wir mühen vor Allem unjeren Bid auf die Kongrehs 



































Der X. archäologiihe Kongreh. 631 


verhandlungen jelbft richten. Die Sipungen fanden meift drei 
Dal täglich ftatt. Jede dauerte reichlid zwei Etunden und 
darüber; num furze Paufen wurden der leiblichen Erquidung 
gewährt. Eine eigentliche Exholung gab cs fan; denn jede 
Stunde wurde ausgefauft, um den anregenden Wngang mit den 
von nah und fern zufammengefommenen geiftig bedeutenden 
Vännern zu geniejen und hunderterlei zu beipredjen, wozu in 
den offiziellen Sigungen fein Naum war. Jede Sigung war 
einer beftinmten Sektion gewidmet. Der Bräfident diefer Seftion 
mit feinem befonderen Sefretär hatte zuvor alles zu ordnen, mit 
den Neferenten des Tages fid zu verftändigen u. |. m. Neben 
ihm leitete aber formell die Verhandlung ein für jede Sißung 
beftimmter Chrenpräfident, welcher aus der Zahl der hervor: 
tagenderen Kongrehglieder, um ihn eben zu chren, gewählt war. 
Der Apparat war ein Fompligivter und deshalb vielleicht etwas 
ihwerfälliger; das zeigte fid) aber in den Sigungen felbjt nicht. 
Weberfhauen wir die geiflige Arbeit des Kongreiies, verfuchen 
wir die Stofie, über welde verhandelt wurde, zu gruppiren, unter: 
icheiden wir dabei, was in unferem all von ntereffe it, was 
und wieviel von den Nongreßgliedern ans dem Innern des Neiches 
amd andererfeits von denen aus den Oflfeeprovinzen geleiftel 
wurde. (Un die Vorträge der Legteren Fönnen wir die wenigen 
aus Finnland und Preußen anfügen). Die Sprade des Vortrages 
lajien wie zunächft unberüctfichtigt; darauf fonmmen wir nod) Ipäte 
Bei diefem Ueberblit müren wir über die Diajie und Vielartig 
des Stoffes flaunen, jedoch nicht allein über die Ertenfität, fondern 
auch über die meift gründfiche Forfbung und meilt gewandte 
Darjtellung. 



















genoffen ruffticher Nationalität machten Wittheitungen 
Gebiet der Archäologie und Gejchiehte im weiten 
Wortes betreffs Wefleuropas, Ungarns, Vulgariens, des osmanifchen 
Keiches und dann Nuhlands von der Krim bis zum Norden, von 
der Wolga bis Yitthauen. Sie gingen aud) nicht vorüber an der 
inegiellen Gefdhiehte und Arcologie des baltiichen Yandes, aber 
«5 fann nicht verichwiegen werden, da die Männer ruffiicher 
Nationalität, die vielleicht feit Jahren bei uns gewohnt und gelebt, 


Der X. archäologifche Kongrefi. 





am alterwenigjten Jeit gefunden haben, einen Beitrag zu ber 
Yöfung der Kongrehaufgaben zu liefern. 
Weftenropa lag dem Mongreh fern. Tas 
Vortrag über Mofaiten Navennajcher Hürden. 
Iunjews Hektor VBudilowitich iprach über die Aufgaben der 
ftaviich rufiichen Archäologie mit Beziebung auf Yand und Lolf 
deo heutigen Ungarn. Co ift ja natürlich, dab die zahlreichen 
laven Ungarns mit ihrer Gegenwart und Vergangenheit das 
tebbafteite Anterefe der rufichen Wiilenihaft auf fi ziehen. 
Von hervorragender Bedeutung it die vor wenigen Nahren 
erfolgte Gründung des rufftien archäologiichen Jnftitnts zu 
Nonftantinopel. Die Uriprünge der griechiich Fatholifchen Kirche 
aus Nonjlantinopel, die damit zujammenhängenden Kultureinflülie 
Konftantinopels und Griechenlands auf Kiew und das game 
ruifische Schrifttbum, das Jahrhunderte alte politiiche Streben 
Nuflands nad) dem Schwarzen Meere und der Donau, ja in 
aewiien Sinne nach dem Bosporus und Jerujalem hätte einentfid 
icon viel früher einen Mittelpunkt ilaviicher bilterifder Foricung 
in Konftantinopel erfordert. ent ut Di ittelpunft da, und 
dort fönnen interefiante Nefultate zu Tage gefordert werden. Die 
Berentung des genannten Anitituto Fam auf dem Kongrek dadurdı 
zur Geltung, dal dem Direftor dejielben, Profejior Uopensfi das 
Präfidium des gelehrten Nomitds übertragen wurde, und dal; 
gerade er die Neibe der Vorträge mit einem über das genannte 





ige war ein 




























Snititnt und einen allereviten Bericht, theils ber die 
Gründung deijelben, theils über die nadı Aulgarien, nad) dem 


Verge Abos und nad) denhwirdigen Ztävten Nleinafiens gemachten 
Ausflüge geben fonnte. Später hielt derielbe einen beionderen 
Vortrag über die Arquifition des jüngt in Atteinaften aufgefundenen 
eodex purpureus der vier Conngelien (auf violett gefärbten 
Pergament mit filbernen Vuchitaben geichrieben). Nachher folgten 
Spezialberichte anderer Gelehrten über ardäologiie Aunde in 
Nonftantinopel (Sarophage, ältere Stulpturen), über Aterthümer 
Yulgariens, Nifins, Nitopemiens, über die Wicdererrichtung der 
Apoftelfirdhe zu Nonjtantinopel. Cs it offenbar, da; die nächiten 
Kongrefie über diefes Arbeitsgebiet ned viel mehr bringen werden. 

Ein ardüologiich bejonders mertwürdiger Theil Aulands 











Der X. archäologische Kongreh. 633 


üt der von uraltgriechiicher Nultu durdhzogene Süden des Neiches 
an den Gejtaden des Schwarzen Meeres. Abgejehen von einem 
Vortrag über eine Oefinung frimjcher Gräber 1896, behandelte 
Profeffor Malmberg von unjerer Univerfitit die Arage nach Zeit 
und Ort der Entjtchung qriehiicher und ariebife barbariicher 
Erzeugniffe in Eid Nufland. Profefior Stern, Ovejla, berichtete 
über die maiienhafte Aälfhung Haflischer Alterthümer in demfelben 
Gebiete und bewirkte damit, dab der Nongreh Wege zu Tuchen 
beichloß, wie die wiiienichaftlihe Welt vor jenen Rälfcungen 
könnte geibügt werden. An diefer Stelle fann ad nod ein 
Vortrag über die Nachrichten Herodots betreiis nicht ffylbiicher 
Voller erwähnt werden. 

Sieben Vorträge behandelten Gräberunterfudungen und 
Gräberfunde (Stein, Bronze, Cijen) in jehr verihiedenen Theilen 
des Neichsinnern.  Hervorragendes \ntereffe ermedte Afademiter 
Anurfhin, als er über das Vortommen chriftlicher Kreuze und 
Vilder in Heidengräbern berichtete. Diefelben Ächeinen durch eine 
hrifiliche Viffionsthätigfeit zu den Heiden qefommen, und von 
diejen, wenn nicht im Gtauben, fo im Aberglauben gebraucht und 
getragen zu fein. 

Die Erforfchung der alt-heidnijchen YBurgberge muß in 
Zufammenhang mit der Tombologie gejegt werden; denn auf 
jenen Vurgbergen haben diefelben Yente gewohnt, deren Nejte 
wir in den heidniichen Gräbern finden. Schon die früheren 
archäoloniichen Mongrefie haben fi mit der verwandten Arage 
mehrfach beihäftigt; in Niga war es nu ein Koricer, welcher 
die Topen von Yurgbergen im Innern des Neiches und zwar 
am Dujepr beichrieb. 

Zabfreicher waren die Behandlungen Firchlicher und Finchen- 
bütoriicher Fragen. Yebhaftes Antereite erregte die Nejtanration 
der Sophienficche in Nowgorod. Sierber gehört ad) das apofrnpbe 
Leben des Apojels Petrus, drei Vorträge jur (efchichte der 
ifigenbild-Dialerei und Vorträge über die Frchlic, archäologiicen 
Denkmäler der Stadt Pinst, über die Spuren des Ghriftenthums 
am Don ih der vorinongaliichen Periode, über die „stofterlinder“ 
im Moskauer Zarthım im 16. und 17. Jahrhundert, endlich eine 
Unterfuchung über die Yegende, day; ein Bild des heiligen Nitolaus 




















634 Der X. archüologiiche Rongrehi. 


etwa um’s Jahr 1224 aus der Nrim (wabrheintich aus Kiew) 
auf dem Waljerwege des Tnjepr und der Düna nad Niga und 
von da über Kies (Wenden) nad Nowgorod u. f. 1. gebracht Tei. 





Zur eigentlichen Gedichte Nuftands mülen folgende Neferate 
gezählt werden: über die Acheutung des Namens Pyen mo die 
tufiiiche Wilenfchaft fi) mod immer nicht einigen fann und zu 
einem Theil noch immer die normanniche Herlunft der Gründer 
des rufliichen Reiches zu beftreiten nicht müde wird, während dad) 
diefelbe, abgeiehen von den Yeugniifen der Ehronifen, dur 
ipradwiilenichaftliche Gründe als genügend erhärtet fheint. Ein 
Vortrag vermißte mit Nedht die genaue Wiedergabe der Urts 
namen auf den Narten, welche dad viel dazu beitragen Fönnte, 
die Grenzen früherer Site einzelner Wölferihaften nadzmveiien. 
Hiermit wide die hohe Bedeutung toponomafliicher Koridungen 
für die Landesgeihichte bezeugt. Ein Vortrag behandelte die 
Territorien des präbiftoriichen Yittauens, welche im öftlichen Theil 
des Gonvernements MWilna und weiter nad) Tften und Süden die 
eigenen den Littanern durch Afimilation der Yepteren im Yauf 
der Jahrhunderte abgenommen hätten. De is jtüßte jid) 
auf den littauiichen Charakter der ufnamen Nemen (Namans) 
und der Düna (Daugama und Tina), welchen die Nebenflüite 
der Dina und des Nemen und die Nebenflüfle des gangen 
Verefina Spitems ebenfalls zeigen. 
































Abgejehen von einigen 4vier) Vorträgen, deren Inhalt in 
das Gebiet ruiftfcher Biographien füllt, wurde die Frage in Vortrag 
und Debatte behandelt, ob im 16. Jahrhundert die Mostaufchen 
Zaren eine größere und werthvollere Vibliotpef in ihrer Hauptitadt 
befejjen. Gefunden hat man diejelbe noch nicht, obihen gewilie 
bifteriiche zengniffe für das damalige Vorhandenjein ipredhen. 








Intereffant war eine Darlegung von Spuren des unmittelbaren 
Einjtujfes der deutichen Yitteratur auf die alt rufiiche in der 
vorpetriniichen Periode. Der Weg diefer Nultureinjlüfie von Weit 
nad Oft it gerade and über Riga gegangen. Vor dem Ya 
Petersburgs mar Kiga das einzige oder doch das bedentendite 
Thor für den Verkehr der rulfiichen und der germaniichen Xölker. 
Hier gingen heraus md herein die materiellen und die geiftigen 





Der X. archäologische Kongreh. 635 


Hüter. Die Produkte wurden ausgetanfcht und ebenfo die Kenntniffe 
und ad Injtitutionen des praftifchen bürgerlichen Yıbens. 

Ein Vortrag berichtete über die Verbreitung des Magdeburgichen 
Nechts bis in die Fleinruififchen Städte amı linfen Ufer des Tnjepr 
Tichernigow) und die Unanwendbarfeit der Selbitverwaltung in 
Aufland nad jenem (dafielbe Recht hat bis heute feine Geltung 
in den Fleinen Städten Yittauens). 

Eine Nednerin Iprady über die älteften Formen des Yand: 
befiges bei Germanen md Slaven und verfuchte gegen den 
Berliner Profefior Meigen nachyuweifen, da in der alten Zeit 
norbruffüche Dörfer nach ähnlichen Nechtsformen organifirt gemwejen 
feien, als wie attgermanifhe. Danfenswerth war die Hinweilung 
mehrerer Vorträge auf reiches Quellen Material zur Erforfchung 
lioländifcher Sefchichte. Der eine berichtete über das Tagebuch) 
Polubensty'o aus der Yeit der Nriege um Yivland in der 2. 
Hälfte des 16. Jahrhunderts: der zweite über die Yentralarchive 
unferes Reiches, 3 zu Worfchau, wo baltiihen Bilterifern zu 
Etudien die Thür nicht verfchlofien fein würde; der dritte über 
drei Aftenbände aus dem Livländifchen Hofgericht, die fi jegt im 
Nigafchen Bezirksgericht befinden; ein vierter über die inflantifche 
Revijion von und die Inventarien der livländifchen Schlöfer 
im 16. Jahrhundert. 

Gin Lortrag beiprach ein befonderes Greignift baltifcher 
Gefchichte, die Belagerung Niga’s durch den Yaren Aleret 
Micdaitowitih 11656) im ihrer politifchen und  militärifchen 
Bedeutung. 

Von einem Neferenten wurden die fleihigen und tüchtigen 
Arbeiten der Seltion für Genealogie, Heraldit und Ephraaiftit 
der furländiichen GSefellihaft für Yitteratur und Nunjt aus dem 
Gebiete der Kamiliengeicichte in hohem Grade gelobt, während 
diefes im Innern des Neiches kaum oder garnicht bebaut werde. 

Ein NHedner prady (franzöfiidı) über die Sejchichte Mitan’s 
und des Dirnufchen Herzogsichloifes, um die Kongrehgliever auf 
den Ausflug nad Mita 

Nur ein einziger 
über die vorgeichichtlichen Heiden, 
biefer verfuchte ein zufanıı 























yer Nationalität berichtete 
über des baltifchen Yandes und 
jendes Bild von der baltifchen 








636 Der X. archäofogiiche Kongrei. 


Tombologie zw geben, natürlid mehr auf Grund gedrudter 
Quellen, als auf Grund periönlicher Yofal-Anterfudungen. An 
diefer Stelle fünnen wir nun von den Vorträgen unferer vujfüchen 
Keichsgenofien auf die der baltichen übergeben, welche felbit 
verjtändlich in der eigenen Deimath orientirter fein muften und 
orientirter waren, als diejenigen, welche unferen Provinzen fremd, 
die hiefigen Forfhungsobjefte nr von Weiten fannten. leid 
zum Beginn des Nongreiies wurde die große Verjammlung von 
den inbaltreichen, muftergiltigen Reden zweier mahgebender Männer 
bingeriffen. Unfere ardäologiiche Autorität, der Wann, welcher 
25 Jahre lang unermüdlich auf dem (Sebiete Kivländiicher Gefchichte 
und Alterthumsfunde gearbeitet und, was nicht jeden Univerfitäts: 
lehrer gelingt, eine ganze füchtige Schule von & 
gebildet und um fich aelammelt hat, indem er gleiche 
ihren Seift und ihr Wien, anf ihr ben und ihren Charakter 
fräftiglih eingewirft hat, id meine Profeilor Dansmann, gab 
„Nücblite auf die Entwidelung der archäologiihen Unterfuchungen 
im Tftfeegebiet während der legten 50 Nahre”. Mit areh 
arbeit hilderte er den geführlichen aber auch nüstichen Cinituh 
des Vilettantiomus auf die Archäologie, arakterifirte anerfennend 
die Yeiftungen unferer durchweg für die Yandesgeichichte fc) 
interefirenden bekannten Gejellichaften zu Mita jeit 1816 (Int. 
Döring, Sefretär feit 18651, zu Riga fjeit 1834 (Dr. Bornbaupt), 
zu Dorpat feit 1838, zu Neval feit 18 auf Tefel jeit 181 
(Sbert. Holzmayer) und zu Fellin (w. Ditmar), hob näher eingehend 
und fritifcd beleuchtend in den drei Perioden biefiger archäelogiicher 
Forfhungen die Jrrwege und die Berdienjte Krule'o (Nefrolivonifar 
und Bachrs, Grewingt's und des Grafen Sievers hervor, ohne 
in der dritten Periode der fepten 10 Jahre feinen einenen Namen 
Auch nur zu nennen, obfchen cr «5 um gerade weientlic und 
hauptjächlich war, welcher dem Kongreh ein Bild von der Vorzeit 
des Oftieegebiets neben Fonnte, wie der Kongreß zuvor wohl von 
feinem einzigen Gebiete des ruffifhen Neiches eines hat befommen 
fönnen. 

Das chenfo gediegene Referat des Präfidenten der Sefellichaft 
für GSefchichte uud Altertbumsfunde der Titieeprovinzen, Yaron 
Yruiningt, gab ein theils beichränfteres, theils annfalienderes Bild 


















































Der X. archäologifche Kongreß. 637 


von ber Thätigfeit färnmtlicher wiljenichaftlicher, zum Theil aud) 
praftifche Gebiete berührender battijcher Gefellichaften; Hinfichtlich 
der Archäologie war es beichränfter, umfafiender war es, fofern 
es von der fAhon im vorigen Jahrhundert gegründeten Fioländifchen 
gemeinnügigen und öfonomifchen ozietät und von der litteräriiche 
praftiichen Bürgerverbindung zu Niga anhob und aud) die Fettifch- 
litterärifche berührte. Die erfte Stelle unter all diejen Vereinen 
nimmt die Gefellihaft für Gedichte und Altertfumsfunde in 
Niga ein. Der willenfdaftlihe Geiit, der arbeitsfrendige Fleik 
und der ideale Schwung eines Napiersfy und G. Berfholj Tebt 
noch in den Nachgeborenen aud) unter jehwierigeren Verhältniffen 
und die werthvollen Hiftorifchen Veröffentlichungen diefer Gefellfchaft 
bieten eine ftattlidye Neihe von Bänden. Vor das Auge des 
Landes trat im Jahre 1583 die wohlgelungene Fulturhiftorifche 
Ausftellung und als zweite Arbeit derart gegemwärtig die grofe 
archäofogiiche Ausftellung, welche fümmtliche hervorragenderen 
prähiftoriichen Funde aus dem ganzen Oftieegebiet wiflenfhaftlid) 
geordnet in ziweemähigen und gefchmacvollen Vitrinen dem 
Beidauer und Foridher darbot, wie es nod) nie zuvor geichehen 
war und fdiwerlich bald wieder in folcher Art wird geichehen 
fönnen. Bu den Verbienften berfelben Gefellf—aft (und and 
gerade ihres jeßigen Präfidenten) gehören die erfolgreichen 
Vemrühungen um die Neitauration der Nigaichen Domtirdhe, deren 
Anbauten über dem Nreuzgange zum feönen Vufeum  hergeftellt 
Find, und um die Erforichung, wie Erhaltung anderer hifteriicher 
Bauwerke, feien cs Sirhen und Kapellen oder mittelalterliche 
Burgen und Schlöffer. Die verwandten preußiiden und liv: 
ländifchen Bemühungen reichten fid die Hand und die Namen 
Dr. Steinbredt, Marienburg, Dr. W. Neumann, Niga, Gulele, 
Dorpat und E. von Köwis of Menar fönnen hier nicht unerwähnt 
vden. Ebenfowenig das großartige Werk, die Heraus: 
difcher Urkunden, begonnen von Yunge und nun \con 
bis zum X. Bande fortgefegt. Pruininge’s Neferat gab ein 
lebendiges Zengnifi von dem Hiftoriichen Sinn unferer Provinzen, 
der noc) fange bei ums febendig bfeiben möge. Das Etudium 
der Gefchichte behütet den Menjchen vor der elenden Genügiameit, 
die mit einer ephemeren Eriftenz zufrieden Öt; die Bekanntichaft 


3 














638 Der X. arhüologifhe Nonareh. 


mit der Vergangenheit giebt einen weiteren Horizont und ein 
edleres Streben für die Zukunft und feftigt den einzelnen in dem 
fegensreichen Zufammenhbang mit feinem Vaterlande. 

Die übrigen Neferate der baltiihen Gelehrten fann id) 
wegen des mir map zugemeffenen Naumes nur ganz furz 
gruppiren und erwähnen. 

An die erfie Stelle gehören auf dem Kongreh für Archäologie 
die Vorträge über die aft-heidnifdhen Gräber unferes Landes und 
die da gemachten Funde. 

Profeffor Hausmann darakterifirte die verihiebenen 
Typen livijher Gräber, Oberlehrer Boy verfdiedene Gräber 
typen Nurlands, namentlich die Fladhgräber des Cemgaller- 
Gebietes. Jnipektor Mettig, ein guter Stenner der Gefchichte 
bes Nigajchen Handwerks feit dem Vejtehen der Stadt, wies Hin 
auf die Hiftorifd) nacdhweisbare Fabrikation zahlreicher für die 
Archäologie fo wichtiger Bronzegegenftände feitens der in Riga 
von jeher blühenden Girtler-Junft. Gin liebenswürdiger Gaft 
aus Finnland Dr. Hamann berichtete über das Bronze-geitalter 
Finnlands, wo man jchon zum Ende der Völferwanderung Bronze: 
Gegenftände zu gießen verftanden Habe, wie aus aufgefunbenen 
Gußformen erhellt. Dr. Grempler, Direftor des Provinzial- 
Mufeums zu Breslau, fdilderte die Methode, wie er felbjt bisher 
feider erfolglos Herkunft und Zwed einer bejonders in den Dftfee- 
ländern, aber auch bis an den Nein, die Oder und den Dujepr 
vielfach) verbreiteten Art von Bronzefchafen gefucht habe. Geheimrath 
Vrofeffor Virchow, Berlin, fprad) über die Urbevölferung unferes 
Gebietes im Anihluß an die alten Fundftätten beim Yurtneek 
und beim Arrafd:See, die er vor 30 Jahren mit Graf Sievers 
umterfuchht hatte. Die Bewohner des Ninnefalns mit ihren 
Feuerjteinwaffen und ihrer Mujcheltpiernahrung reihen bis in die 
Nähe der Eiszeit und ähnliche Funde amı Ladoga-Ser dürften 
auf uralte finnifche Bevölkerung deuten. 

Neben den Gräberforichungen fteht die Wurgberaforihung 
wie eine Schwejler, fofern auf ben Vurgbergen diefelben Menfchen 
lebend Hauften, deren Gebeine und Geräthe wir in der Erde 
beftattet finden. Gin Gefammtbild der alt-fettifhen Burgberge 
gab Dr. X. Bielenftein, fehilderte die Beziehung derfelben zur 








Der X. ardäofogiiche Kongreh. 639 


Archäologie, die veridiedenen Arten ihrer BVefejtigungen durch) 
Abjteilung, Wälle, Gräben und Palifjaden, ihre jozialpolitiiche 
Bedeutung, jofern e8 die Sipe der „Rönige”, Häuptlinge, Xeltejten 
in den Sandidaften waren, und berührte die aus fachlichen 
Gründen nicht zu erfedigende Frage, ob aus dem Charakter der 
Burgberge ich Schlüffe machen lichen auf die Nationalität ihrer 
Bewohner, wie aud) die Trage nad) der dichteren oder undichteren 
DVertheilung der Burgberge im Lande, welde nur durd) die 
Bodenbefchaffenheit bedingt fheint. Umriffe und Profile von den 
Haupttopen der VBirgberge erlänterten den Vortrag. Der 
Konfervator des ejtländiichen Provinzial-Mufeums, X. dv. Howen 
befchrieb einen einzelnen Burgberg Punnamäggi in Wierland. 
Ein drittes, vielfach bei uns angebautes Gebiet ift das der 
fettifhen und eftmifchen Volts-Traditionen. Pajtor Hurt, Petersburg, 
referivte, nad) Darlegung des hohen Werthes, welchen Volkslieder, 
Märchen und Sagen, Vollsfitten und Aberglauben für die Archäologie 
haben, wefentlich Formelles über feine mit Silfe von ca. 800 
Mitarbeitern yufammengebrachte riefige Sammlung von eitnifhen 
Volfsüberlieferungen, welde er in 136, theils Folio, theils 
Quart;, theil® Dftavbänden in einem befonderen Schranf den 
Anterefienten vor die Augen geitellt Hatte. Die Xerarbeitung 
und Verwerthung des ungeheueren Etoffes wird viele Jahre md 
mehr als eines Mannes Kraft erfordern. — Paftor E. Bielenftein, 
Sapten, behandelte die fehr intereffante Frage, inwiefern das 
lettifche Volkslied als eine Quelle für die Archäologie gelten Fönne 
und wies dabei hin auf prähiftorifche im Liebe erhaltene Sprad)- 
formen, ferner auf die im Liede erwähnten Schmudaegenftände 
und Waffen, die den in den Heidengräbern gefundenen entjprechen, 
ferner auf die vielfachen walten im Volkslied angedeuteten Sitten, 
3. 3. bei Striegführung, bei Veerdigungen, Eheidjlichungen und 
Stellung des Weides, ferner auf die Art der poetiichen 
fung und der äfthetiichen und ethiichen Stimmmgs: 
äuferwgen und endlid) auf die im Licde dofumentirte Mythologie, 
auf den „Sfauben der Alten“, der nicht jo ohme weiteres mit 
dem zu verwechjeln ift, was man Aberglauben nennt. Cand. theol. 
VBehrfing gab eine Ueberficht über die bisher veröffentlichten 
Sammlungen Tettifcher Voltofieder. Anderfon verfuchte 












gr 


610 Der X. archäologische Kongreh. 


die Namen des nationalen Zaiteninftruments Lettifcdh Kofle und 
eitnifch Stantele, ethymologiih aus derjelben Wurzel zu erflären. 

Zu intändiihen Top-Onomaitif gab Dr. Hermann, Jurjew, 
die Erffärung einer Anzahl von dronifaliihen Namen aus der 
Geographie des Ejtenlandes. 

Aus feinen Studien über die HolzZeit der Yetten machte 
Dr. 4. Vielenftein Mittheilungen über die Entwidelung des 
fettifchen Haufes aus der Jurtenform der älteften Zeit bis zu 
dem gegliederten Wohnhaus der Gegenwart und bis zur Befriedigung 
der jüngeren Vedürfniife dur die verichiedenen wirthfchaftlicen 
Gebäude des heutigen Bauerhofes. — Dr. Conweng, Direktor des 
Provinzial: Mufeums zu Danzig berichtete über lebende Zeugen 
der Vergangenheit aus dem Pilanzenreich, über die von ihm bei 
Nurmbufen (Rurland) neichenen uralten Vienenbäume, deren viele 
fich auch bei Danzig noch finden, und über die Tarus: (oder 
Eiben:) Bäume im baltiihen Lande, die dem Ausiterben entgegen: 
zugehen jcheinen. 

Oberlehrer Hrüger frac über den Einflu der wuifiichen 
Eprade auf die lettiiche; Oberfehrer Stern über die Handelswege 
der Hanfenten nad) Groß-Nowgored auf den Waflerwegen der 
Newa, Narowa und Düna, je nachdem die politischen Lerhäftnifie 
auf den einen oder den anderen Weg drängten. Dr. Sachiendobl, 
Jurjew, gab voll tiefer Gelehriamfeit ein Bild des Gewichts: 
foftems, welches während des 11. Jahrhunderts in Fivland 
berrichte, und legte in einem anderen Vortrag die Bedeutung der 
Siegel in der hiftorifchen Wiffeniaft dar. 

Dr. €. von Nottbet plaidirte mit Nachdrud für Mafregeln 
zum Schuge von Arditeftuedentmälern und wies dabei hin auf 
die Gefepgebungen der eiropäiichen Nulturftaaten, erinnerte an 
die Verordnungen unferer Regierung, die aber, zum Theil vergejien, 
nicht beobachtet werden, und berichtete über die danfenswerthen 
thatfräftigen Beitrebungen der Stadt Neval und der eftländifchen 
litteräriicen Gefellihaft zu Neval, denen zufolge fon mandıes 
auf diefem Gebiete in Eitland gethan ift. Die Gräfin Umarom 
fprad) für den anregenden Vortrag ihren Danf aus und die 
Hoffnung, daf entiprehende gefeplidhe Mafregeln für das Neid) 
würben getroffen werden. 




















Der X. ardäologiiche Kongreß. 64 


Zur Gefchichte des baltischen Landes gehören die Vorträge 
von Profeffor Dr. U. Bergenberger, Königsberg, über die Gubden, 
welches Wort der Neferent in gar feinen Zufammenhang mit den 
Gothen zu jegen vermodfte, fondern nur als eine Bezeichnung ber 
Weißruffen im Munde der Littaner und Letten anjah und von 
einer ruffichen Wurzel herzufeiten verfuchte; von Oberlehrer 
Diederihs über die wechfelvollen Schiejale des Herzogli—en 
Ardhivs zu Mitau und von G. von Löwis über die von ihm 
veröffentlichte Karte Livlands in der Zeit der Ordensherrichaft. 

Nad) diefer Ueberficht des geiftigen Stoffes, welder der 
Aufmerkjamteit des Kongrefies dargeboten wurde, liegt es nahe 
zu fragen, ob und wie die Vorträge der Yalten und die ber 
Stollegen aus dem Innern des Neiches fi unterihieben. Ein 
Unterfchied meine ich, fiel ins Auge, lag übrigens aud) wohl in 
der Natur der Verhältniffe. Was aus dem nnern des Neices 
geboten wurde, waren, möchte id) jagen, meift Einzelheiten, d. h. 
aus großen Gebieten Brucitüce. Das Neid) felbit it ja ein 
großes Gebiet, Aus den baltiihen Provinzen trugen die Nebner 
meift mehr ein Ganzes vor und Fonnten das aud), teils, weil 
das Oftfeeland an fid) ein Heines, Fulturgeichichtlic gleichartiges 
Ganzes if, wenn wir von der jprachlichen Unteridiedlichteit des 
füdfichen lettifchen und des nördlichen ejtnifden Theiles abfehen, 
theils, weil das baltiiche Land in ganz anderer Weife als die 
übrigen Theile des Neiches feit Jahrhunderten hiftoriich durdhforicht 
und bearbeitet if. Yon dort wurden mehr einzelne VBaujteine 
gebrad)t, während von hier gewifiermafen icon Kleine Vauwerke, 
als je ein abgerundetes Ganzes präfentirt wurden. 

Ein anderer Unterichied, Kinfichtlid) der Form der Vorträge, 
fie; ji) aud) bemerken, welder wohl mit dem Nationaldarafter 
in Zufammenhang ftehen mag. Die vufiichen Nedner trugen ihre 
Sade in leichterer Art vor, wie etwa die Franzoien es tum, 
wie 68 aber im deutjchen Charakter weniger fiegt. 

Es war uns etwas Fremdes und Ungewohntes, wenn Die 
Verfammfung die Nedner nad) Beendigung des Vortrages mit 
Beifallsgetlatich belohnte, was wohl ohne Ausnahme Jedem zu 
theil wurde, nur dem Einen in braujenderer Art als dem Andern. 
&s war etwas uns Ungewohntes, jeugte aber von dem febendigen 








612 Der X. archäologiiche Kongreh. 


Intereffe der Zuhörer und wird den Nednern gewii nicht 
unangenehm geweien fein; 5 fheint mir das Aatfchen auch eine 
äfthetiichere Beifallsäuferung zu jein, als das Scharren, wie es 
die Dorpater Studenten bisher vor beliebten Profefloren aus 
zuüben pilegten und vielleicht eher an folder Stelle zu dulden, 
als im Theater: und Nonzertinal, wo diefe Art der Veifalls 
äuferung in unerlaubter Weile den Vortrag des Nünftlers 
zuweilen unterbricht und den Genuß des Publifums jtört. Ic 
will es dahin geftelft fein laffen, ob es beifer am lage wäre, 
dem Nedner den Beifall mit Bravo-Zuruf zu ipenden. 

Kommen wir auf die Spradyen, deren Gebraud freigeftellt 
war. Die Kongrehglieder aus dem Neiche bebienten fid) felbit 
verftändlich der Neichsfpradhe. Ein Nuffe bielt feinen Vortrag 
franyöfüch. Die battiihen Deutiden, die ja die Gewandtheit im 
ichen Vortrage nicht befigen Tonnten, bedienten fi ihrer 
Viutterfprade, welche den ruifüchen Gäften gewiß; verjtändlicher 
war, als die rufe den meiften der anwefenden Balten. Die 
drei nationalen Letten, welche fi) das Wort erbaten, wählten die 
ruffiihe Sprache, vielleicht, weil fie ganz befonders die utention 
baten, ihre Dittheilungen Hauptlächlid den ruifichen Zuhörern 
zugänglich zu machen, während die beiden aus dem Ejtenvolfe 
dner die deutiche Sprache verzogen. 
enheit der Sprachen blieb auch in den Debatten, 
welche fid) an die Vorträge nicht immer, aber öfter Fnüpften. Cs 
ift mir aufgefallen, daf; die ruijiichen Vorträge cher einen Anlaf; 
zur Debatte boten, alo die deutichen, woraus ich nicht folgern 
will, dal die Behauptungen jener bejonders anfechtbar geweien 
wären. Vielleicht lag der Grund dafür in der Veranntfchaft und 
Vertrantheit mit dem Ztofi, oder aber in der relativen Fremd 
artigfeit und Neuheit defjelben, jo dal die fonit vedegewandten 
Säfte aus dem Neich öfter gegen einander zu Felde zogen, den 
Deutfchen gegenüber relativ fih fhweigfamı verhielten. 

Ein integrirender Theil der Nongrehaufgaben jind immer 
aewiife Ausflüge geweien, welche den aus nah und fern Zufammen 
gefommenen Gelegenheit bieten follten, das Neichogebiet, wo der 
Nongrei; gerade tagte, auch außerhalb des Verfammiungsortes in 
diitoriicher und ardäologiicher Hinficht ein wenig fennen zu lernen. 



































Der X. archäologische Kongref. 643 


Von Niga aus waren Vlitau und Treiden in’s Auge gefaßt. 
Veide Orte per Bahn leicht erreichbar; Mitau über 200 Jahre 
lang Nefidenz der Furländifchen Herzöge mit feinem jdjönen Schloh 
und dem jeit bald 100 Jahren gepflegten Provinzial-Vlujeum, 
dem Sammelpunft derer, die in dem fleinen Kurland für Kunft 
und Sitteratur fid) interejfiren; Treiden, der prähiftorifche Hauptort 
der Liven, die Livland den Namen gegeben, die Hauptburg der 
Vefigungen Kaupos, des Erjten, welcher von den Landeseingeborenen 
dem Ghriftentdume mit unverbrüdhlicher Treue fi) zuwandte. 

Der Ausflug nad der livländiicen Schweiz war forgam 
vorbereitet, bot großes Interefje und brachte der ardhäologiicen 
Wifienjhaft veiche Frucht. Einen Tag lang arbeiteten baltijche 
Forfcher allein unter Profeflor Yausmann’s Leitung auf einem 
umfangreichen Gräberfelde, öffneten einige Brand: und Sfelett- 
gräber und fürderten unter anderem als einen eltenen Fund das 
Ende einer Schwerticpeide mit Funftreihem Silberbeichlag zu Tage. 
Am folgenden Morgen, vom fcönften Sonnenjehein begünftigt, 
fuhr ein großer Theil des Songrefies per Ertrazug nad) Segewold 
hinaus. Nacı Vefihtigung der Nuine des dortigen Ordensichloffes 
gings durchs An-Thal auf die gegenüber liegenden KHöhen, mo 
die eigentlichen Archäologen den weiteren Gräberunterfuchungen 
bis zum Abend beiwohnten. Cin anderer, mehr für die Landes 
geichichte und für den poetijchen Neiz der wmunderichönen Gegend 
geitimmter Theil der Gejellichaft, Herren und Damen, juchten 
bald fahrend, bald wandernd das magnum castrum Cauponis, 
neben Schloi Treiden, auf (es ijt der heute jogenannte Karlsberg) 
und das alte Cuhbesele, die fleine Burg Saupos im Kremonichen 
Schlofparfe (es ift der heute jogenannte Sumoromberg). Vorher 
hatte ein Tähhhen Naffee einem fleinen Imbih folgend das 
Mittagsmahl erjegen müfen. Auf dem Starlsberg unter den 
herrlichen Virfen, durch deren Laub die Sonnenftrahfen gligerten, 
lagerte ji die Gejellichaft und laufchte dem Bericht des Chronüjten 
Heinrich, welcher anfchaufich die Tragödie jhildert, die im Anfang 
des 13. Jahrhunderts auf diefen Höhen fich abgeipielt hat. War 
es dod) hier, wo die Ordensbrüder und Nigenfer ihren Bundes: 
genoffen, den hriftlichen Liven vafche und erfolgreiche Hilfe brachten, 
als diefe gleichzeitig von einem ejmifchen Landheer und einer 














6 Der X. ardäologüiche Hongreh. 


zahlreichen Deinlanerflotte, die die Aa heraufgefommen war, 
belagert und fchwer bedrängt wurden und war es dad, auf diejen 
Höhen, wo wenige Jahre fpäter der freme Naupo fi genötbigt 
jah, gegen feine eigenen Angehörigen, Familienglieder, Yandleute 
und Unterthanen, die zum Abfall vom Chriftenthum und zum 
Aufftand gegen die munmehrige Yandesobrigfeit, troß feiner 
Warnungen und Mahnungen fic hatten verführen lafen, zu 
Felde zu ziehen und feine eigenen Burgen mit Waffengewalt ju 
jeritören. Die tiefen, bei Dieler Gejcichte zu Tage tretenden 
ethifdhen Nonflifte würden es verbienen, von einem Dichter auf 
Grund genauer hifteriicher Forihung poctid geitaltet zu werden. 
Leider brach der Abend herein, und die dritte Yivenburg auf dem 
Sxgewolbichen Ufer, das alte Sattejele, mit der jhönen Ausficht 
in's An-Thal und mit den mertwürdigen Spiwen bald 700 Jahre 
alter Grabung am hrgwall, wo die belagernden Oxdensritter 
die Paliffaden der aufftändifchen Feite zum Umfturg bringen 
wollten, fonnte nicht mehr erreicht werden. Nad) einem erquidenden 
gemeinfamen Abendefen im Scgewolder Schweizerhaus  Fehrie 
man Höchit befriedigt per Ertragug wieder nad) Niga zurüd, und 
unfere Säfte ans dem Innern des Neids werden, abgejehen von 
den ardjhologiichen Exgebniffen, ein freundliches Wild unferes 
Kandes und feiner Stultur mitgenommen haben. 








Den an den Kongreh fich anfchliehenden gröheren Ausflug 
einer Heineren Zahl von Kongrefgliedern nach dem Fulturgeichichtlich 
mit Lioland verwanbtem Preußen, nad) Königsberg, Marienburg 
und Danzig fann id) hier eben nur erwähnen. 


ehren wir nach Niga zurüd. Diele alte, an biftorifchen 
Erinnerungen, an Innftreicen Bauten und beachtenswerthen Alter 


thümern fo reiche Stadt hatte Alles, was fie befitt mit größter 
Yiberalität den Gäften geöffnet, und fachfumdige Männer dienten 
als Führer und Erkläver in freien Stunden denen, die das eine 
oder andere, oder Altes fennen lernen wollten. Selbit die Ein: 
heimischen befamen bei diefer Gelegenheit manches zu fehen, mas 
ihnen dis dahin fremd geblieben war, wie es ja oft geldieht, 
dai man das Fremde und Ferne cher fucht und ihät, als das 


Nahe und Yeimiiche. 


















Der X. archüologiiche Kongreh. 645 


Das Echenswerthejte waren aber in ben Kongreßtagen 
unzweifelhaft die befonberen für den Kongreß veranftalteten Aus 
ftellungen. Nur eine ganz furze Sfigge derfelben vermag id) hier 
zu geben an der Hand des treffliden Führers, des Statalogs, den 
die große Sachfenntniß und der außerordentliche Fleiß der Herren 
Profefjor Hausmann und U. Buchholg den Intereffenten dargeboten 
bat. Diefer Katalog zeigt die Ordmung der Gegenftände nad) 
ihrer Art (I. Archäologie, I. Urkunden und Handicriften, Il. 
Siegel, IV. Münzen und Medaillen, V. Goldidmicbearbeiten), 
die ardäologüichen Objefte nad) den Ländergebieten, wo fie her 
ftammmen (A. Liv:, Ejt: und Kurland, B. Yittauen, C. D. E. 
Sendungen aus Moskau, Petersburg, Plesfau, F. Sendungen 
aus Danzig) und nad) den fulturgeichichtlichen Zeitperioden 
(1. Mettefte Zeit, 2. Bronzezeit [3. Depötfunde], 4. Gräberfunde 
aus dem 1. VII. Jahrhundert und 5. vom VII. Jahrhundert ab, 
6. Funde vom XV. Jahrhundert ab). Cs üjt nidt blos ein 
Negifter von Gegenftänden gegeben, es find aud) die Fundorte 
und bei ihmen gerade bie Summe der Funde angegeben nebjt 
einer gewiffen Beichreibung der Objekte unter Angabe der Finder 
und unter Zitirung aller Schriften, wo gerade davon die Nede. 
So it ein ungeheueres wijjenichaftliches Diaterial dem Foricher 
zu weiteren Studien geboten. Die ganze baltische Archäologie it 
bier zuiammengefaßt in einer Weile, wie es bisher nod) nie 
geihehen war und auch nicht geichehen fonnte. Ganz bejonders 
find die zahlreichen, auf 34 Tafeln beigegebenen muftergiltigen 
Abbildungen zu rühmen und die vorangejdidte von Profeflor 
Hausmann abgefahte Einleitung (LXNXV pp.), welde dem 
Verftändniß dev zahllofen Einzelheiten des Katalogs dient, durch) 
die eingehende Charakterijtif der ardäologiihen Funde nad) Fund 
orten und Perioden. Diefe einleitende Abhandlung giebt mit 
Gründlichleit und Klarheit ein Fundament prähiftoriicher balticher 
Kulturgeichichte, eine Menge von hodintereffanten Winfen, wenn 
id) nicht jagen follte Schilderungen der einjt bei den baltiiden 
Völkern üblichen Waffen, Geräthe, Schmudgegenjtände, Örabtypen, 
Vejtattungs- und anderer Sitten. Und alle Angaben und 
Behauplungen find um fo zuverläffiger, als ber Verfajfer mit 
größter Vorfiht cs vermeidet nod) unerledigte, von der Wienichaft 





646 Der X. arcjäologiiche Kongreb. 


mod) nicht entichiedene Fragen mit hereinzuziehen; fie bleiben 
weiteren Forfhungen vorbehalten. 

Wir müffen zu der anderen, der lettijcen ethnographüicen 
Ausjtellung eilen. Der lettiiche Verein zu Riga, genauer gejagt, 
die wiljenfchaftlihe Kommiffon deijelben hatte den Gedanfen 
da; gefaßt, einige Nahre fleißig benugt, um ihr Meines 
elhnographiiches Dlufeum zu erweitern. Sendboten hatten das 
Kand durchzogen nnd vieles heimgebradht; anderes ward von nal) 
und fern freiwillig hergefendet. Unfer lettifdhes Yandvolt hat ein 
biftoriiches Intereife gewonnen und ein gewihies Verjtändniß für 
den Werth folder Sammlungen, wie fi) das aud dur den 
jehr zahlreichen Vejuc der Ausftellung jechs Wochen hindurd Far 
gezeigt hat. 

Anf einem geeignetem Pla zwilden dem Stahtfanal und 
der Jakobsftrahe waren ca. adt Gebäude neu erbaut. Das 
Hauptgebäude enthielt Karten, Abbildungen md Litteratur zur 
Veihreibung des Landes, zur Gefchichte, zur Anthropologie, 
Statiftit und Ethnographie der Yetten. Hier erregten bejonderes 
Intereffe die zahlreichen lebensgroßen nationalfoftümirten menichlichen 
Figuren, welde Vänner und Weider bei den veridjiedenjten 
bäuerlichen Arbeiten, 5. B. beim Getreidefchneiden und binden, 
bei der Fladjsernte u. f. m. darftellten. Viele andere dergleichen 
Figuren ftanden in dem Haupt: oder in den Nebengebäuden, um 
die fettiihen Trachten verfdiedener Gegenden oder, wie fie bei 
gewijien Feitlichleiten üblid) find, darzuftellen, oder waren in den 
nad dem Mufter der alten Zeit aufgebauten Wohnhäufern oder 
Wirthihaftsräumen placirt und zeigten die veridhiedeniten nationalen 
Arbeitsverrichtungen, als wie z.B. Spinnen und Weben, Striden, 
Strideflehten, Flahshedeln, Graupenftoßen im hölzernen Mörfer, 
Drefcjen und Getreidewindigen, Fladobreden und -idingen u. |. w. 

Die Yitteratur-Abtheilung, die von dem Beidhauer dem 
Inhalte nad) natürlich am wenigiten genoffen werden fonnte, bot 
nod) vieles andere, 5. B. über die lettiiche Sprache, ältere Drude, 
Grammatiten und Wörterbucer, Werte einzelner Spracyforicher, 
Dioleftproben, Sammlungen von Volfsliedern und anderen 
Traditionen, fettiichen hriften nichtzlettiiher und  lettiücher 
Autoren, Proben aus der umfangreichen lettiihen Preife, allerlei 








Der X. ardjäofogifche Kongrefi. 617 


Gedrudtes zur Darfiellung des mannigfahen lettiihen Vereins: 
lebens, der Thätigkeit der Letten auf dem Gebiet der Mufit. 
Hübfh war hier eine Cammlung alter Lettijher Vlufifinftrumente. 
Auch eine Anzahl Gemälde lettiiher Maler aus jüngiter Zeit 
waren ausgeftellt, aus denen man erjah, wie das ftrebjame Volt 
in alle Verufszweige gebildeter Völker fi hineinarbeitet. 

Mehr als von all diefem wurde ber Beichauer angezogen 
von den jehr zahlreichen Kteidungsftüden, die theils in ganzen 
Koftümen, theils einzeln zu fehen waren. WVefdhreiben läßt ich 
das alles hier nicht. 

Ehenfo wenig fünnen hier die jehr guten Darftellungen 
älterer lettijcher Gebäude gefchildert werden, aus denen man 
namentlid auch erjah, wie das Volt einft ohne Eifen und ohne 
Bretter bei feinen Bauten hat auskommen fönnen. Jh will nur 
eine aus fein geipaltenem, mit Weidenruthen an einen Stangen- 
rahmen gebundenen Holz verfertigte Thür erwähnen, oder eine 
andere, die ohne Hängen in einem Falz lo: umd zugefhoben 
werden fonnte. Das „moderne“ lettifhe Wohnhaus war nicht 
geeignet, die neueren Wohnungen ber Leiten wirklich) darzuftellen, 
weil die Gefindes-Eigenthümer der Gegenwart vielfad) aud) jchon 
elegantere fteinerne Häufer bauen. Die Hauptjache it aber, daf 
mit dem modernen Haufe das eigenthümlid) Nationale im Bau 
verforen geht. 

In dem Innern des „modernen“ Wohnhaujes mar aber 
viel Bemerfenswerthes, namentlich alte hölzerne Eh- und Trint- 
aeidirre, 3. B. aud) aus einem Ktloß gearbeitete, wie fie allgemein 
üblich waren, ehe der Xette vom Deutjcen die Böttcherarbeit 
gelernt hatte, fogar Proben nationaler Speifen, ferner Geräthe 
aller Art für Häusliche Frauenarbeit u. |. w. 

In einer langen offenen Halle fanden Geräthe des Bienen- 
züchters (nebit Vienenftöden), des Aderbauers, des Filhers und 
diverje Modelle, weldhe die oft jehr einfache und dad; zwedmähige 
Methode lettiiher Schiiisbauer, 5. 9. beim Stapellauf ihrer Fahr: 
zeuge dem Auge vorführten. Mich perfönlich und jeden Archäologen 
und Ethnographen feilelte beionders das Alte und Nationale, 
3 ®. der dfeinis, die Trige, womit der Vienenzüchter feit 1000 





648 Der X. archäologische Kongrei. 





Jahren id) an den Waldbienenbäumen emporgezogen hat, ober 
die merkwürdigen Höfzernen Anfer, die zum Theil ned) jest von 
den Nieder Bartaufcen Fiidern gebraucht werden. 

Vieles fand fic) hier, was nicht jo jehr in eine ethnographiide, 
als in eine Fultwhiitoriiche Auoftellung hineingehörte, 5. B. die 
meuejten Vienenftocfformen ober modernjten landvirthichaftlichen 
Vlafchinen und Geräthe. Aber diefes Fultuchiftoriiche war ja mit 
Vewuhtjein in den Plan hereingezogen. 

Leider habe ich den nationalen Nonzerten und den mit 
Volfsliedergefang vereinten zum erften Wal öffentlich gebotenen 
dramatiichen Daritellungen nationaler Feftfitten 4. DB. einer 
Hochzeitsfeier) nicht beinvohnen Fünnen. Yian jagt, fie feien in 
hohem Grade gelungen. 

6 ift fehr wünfchenswerth, dab das einmal zujammen 
gebrachte reidhliche ethnographiiche Material beifummen bleibe und 
Aufftellung in einem bejonderen Mufeums- Gebäude finde. Der, 
wie wir hören, erzielte Ueberfchuß der Ausftellungseinnahmen über 
die Ausgaben wird hoffentlich den Anfang eines Yan Kapitals 
bilden, und der ausdauernden Thätigfeit des fettiichen Vereins 
wird es gelingen, das mit fo gutem Erfolg begonnene Werk zu 
Ende zu führen. 

Neben den wiilenihaftlihen Anregungen war in den Kongref; 
tagen von böchjter Bedeutung die perfönliche Annäherung der 
Verufsgenoffen und jo vieler Hervorragende Männer, die in 
einem verwandten Interefjenfreije lebten, aneinander. ie Nongrefi 
figungen jelbjt boten dazu natürlich wenig Gelegenheit, mehr die 
danfenswerthen Feitivitäten, melde die Stadt Niga im Schügen 
garten und die livländische Nitterihaft im Nitterhaufe mit viel 
Geihmad und nobler Pımificen; den Nongrehgliedern gaben. 
Dazu famen Einladungen fleinerer Nreife in liebenswiirdige 
Nigajche Patrizierfamilien und die täglichen Zufammenfünfte, wo 
die leiblidye Erguidung geiucht wurde. Da wurden überall 
Gedanfen und Anfihten zwiüchen den Kreunden ausgetaufcht und 
aud den Fremderen lernte man chägen, und fonnte fich fein 
Vertrauen erwerben. &s blieb zu bedauern, dafs für den perjönlichen 
näheren Verkehr der beiden nationalen Hanptgruppen der Mangel 




















Der X. ardäologiiche Kongreh. 6 


an Gewandtheit in beiden Spraden ein großes Hindernih war, 
ein Sindernif, welches die Geneigtheit des guten Willens nicht 
bejeitigen fonnte. 

Ueberichauen wir das Nefultet, die Gefammtfrucht des 
Kongreiles, To üt die leßtere teils eine allgemeine, dem ganzen 
Keiche zufommende, theils eine bejondere für die baltiichen 
Wrovinzen. n der eriten Beziehung erwähnen wir die allgemeine 
Erfahrung, die die Gäfte aus dem nnern des Reichs machen 
mußten, nämlich, dat im baltischen Lande geiftig nichaftliche 
Kräfte vorhanden find, die fi bei all ihrer Eigenartigfeit dem 
Dienfte des Neiches nicht entziehen. Dazu Fam die Verjtändigung 
über mandyerlei Fragen, ja in gewiijem Zinne zu Nefolutionen, 
deren Anerfennung und Bermirtlichung überall nüglich fein wird. 
So erfannte der Kongreß zum Veiipiel an, mie nothwendig es 
dei, biftoriich Dentwürdiges aus einer Provinz derjelben nicht zu 
Gunften der Haupttädte zu entziehen, fondern in den Mufeen 
und Archiven eben derfelben zu belafien, und zwar unter Bewahrung 
und Leitung, nicht etwa von Stantsbeamten, fondern von willen: 
Äpaftlic) gebildeten Fadhmännern, und fahte Mahregeln in’s Auge 
zur Erhaltung oder Keftaurirung von bifterifchen Baumwerfen und 
Kunftdenfmälern, wie joldhe auf privatem Wege gerade in unteren 
Provinzen jchen jeit Jahren angebahnt werden und zu manchen 
ichönen Wert geführt haben u. dergl. 

Unfere Provinzen hat die Ansficht auf den Nongreh in den 
legten zwei Jahren zu doppelt eifriger 9 für die heimifche 
Archäologie und Gefcichte angerent, damit wir auf dem Ntongref; 
mit Ehren beftehen Fönnten. Ti Arbeit brauchte nicht jegt erit 
zu beginnen. Das beweifen die faft 12,000 Yummern in ber 
Bibliotheea Livonie historien Ed. Winfelmann’s ed. 1878), 
zu welchen nun in 18 Jahren viele 100 Nummern hinzugelommen 
find. Yeiber ijt bier nicht der Naum, alle die itteräriichen 9 
aufzuzählen, die von den gelehrten Geiellichaften im baltischen 
Lande in Anlap des Nongreffes in ihren Tepten Jahres 
veröffentlichungen, oder aud von einzelnen Perfonen auferhale 
jolcher Jahreshefte in bejonderen Schriften veröffentlicht worden 
find. Es ift eine jtattliche Neihe, die cine große Summe von 
wiffenfehaftliher Arbeit und Förderung der Wahrheit enthält, 



































650 Der X. archäologiiche Rongreh. 


womit aber ber Fleih unferer Provinzen durchaus noch nicht zum 
Abfchluß oder Feierabend gefommen ift, fonbern vielmehr taufend 
neue Keime zu weiteren Forfhungen gelegt hat, wie aud ber 
Kongreh jelöft zur Cöfung vieler anderer Fragen Anregung gegeben. 
&o jehen wir mit Befriedigung auf die Kongrektage zurüd und 
hegen mur ben einen lebhaften Wunfdh, daß cs unferen Cöhnen 
und Enfeln vergönnt wäre, auf dem Nivenı der Bildung und 
Leiftungsfähigfeit der Täter zu bleiben, oder, wenn es möglich) 
wäre, über daflelbe hinauszumacjien und ben guten Namen, der 
ihr Erbe if, zu bewahren. 


u 2 

















Beiträge zur Bejhihte der Unterwerfung Aurlands, 


vornehmlich nach den Aften des preufiiichen Stantsardivs. 





1793. 


1.8, 3. Jan. Es ift fein Zweifel mehr, dah Rußland 
den Adel auch in den ungerechtejten und ungefeplichiten Forderungen 
ftüge. Nücmann verbreitet überall, fein Hof werde den Herzog 
zwingen, die einfeitige Cimitation der Yandtage anzuerfennen und 
ben Adel zufrieden zu ftellen. Er werde dem nädjten Landtage 
eine zerichmetternde Deklaration übergeben, welche dem Herzog 
die Ereigniffe, denen er entgegengehe, enthüllen werde — falls 
der Herzog nicht freiwillig in jenen beiden Punkten nachgebe. 
Er redet von Seqneftralion des Herzogthums bis zur Miündigfeit 
des Prinzen Guftan -— was die Oppofition im Lande aud) wünsche, 
um die Arvenden in die Hand zu bekommen. -— Die Herzogin 
feheine fhwanger zu fein, was ihr die jegige Yage doppelt erfchwere. 

2.8, 6. Jan. Kufland beginnt feine wahren Abfichten 
auf Surland zu verrathen. An 4. früh hat Nücdmann dem Herzog 
eine Depejche vorgelefen, darin die Kaiferin erklärt, fie fönne als 
Garantin der furiichen Verfaffung nicht ohne großes Mihfallen 
die Unordmungen anfehen, wie fie in dem NAufitande der Wüller 
fic) gezeigt hätten, der eine Folge der Zwietradht fei, die feit 
vier Jahren zwiihen dem Herzog und den Adel Herriche. Cie 
willige darein, dal; der Progefi in den ftrittigen Sachen in Warfchau 
wieder aufgenommen werde, verlange jedoch zuvor, dal; die 














652 Zur Gefcjichte der Unterwerfung Kurlands. 


Konftitution vom legten 26. Mai, Faffirt werde und der Herzog 
für immer die Legalität des einfeitig limitirten Landtages 
anerfenne. Sie höre mit Verdruß, daf; der Herzog einigen Edel- 
Teuten, welche fie ihres Vertrauens würdige, ihre Arrenden nehmen 
wolle, und fordere, dal; das nicht geichehe, vielmehr der Herzog 
im Allgemeinen bei Vergebung der Lehngüter ihre Empfehlungen 
beachte. — Eeit einiger Zeit werden alle Drohungen von Nücdmann 
nur mündlich verfautbart, damit in den Aften fein Beweis des 
VBrucjes der eigenen Garantie vorhanden fi. — Der Herzog hat 
verfprodpen, fi) fo weit als möglic) zu fügen. Die Konjtitution 
vom 26. Mai habe er bereits wiederholt in Briefen an Oftermann 
für ungiltig erflärt, was durch die Berufung eines Pazififations- 
Landtages befräftigt werde. Da die Kaiferin es forbere, jo werde 
er den einfeitig limitirten Yandtag anerkennen; er jei zu allen 
Opfern bereit, um zu einem Frieden mit dem Adel zu gelangen; 
aber da vorauszufchen fei, da der Adel feine erorbitanten 
Forderungen erneuern werde, jo bitte er um Aufrechthaltung der 
Garantieen von 1768 und 1775, wie es Oftermann wiederholt 
dem Baron Brinden zugeficert habe. Alle Lehngüter, die noch 
nicht verfprochen feien, würben zur Verfügung der Naiferin bleiben; 
aber da er geglaubt habe, dah er über die Arrenden frei zu 
verfügen habe, jo jeien fchon mehrere Nontrafte für nächten 
Johanni abgefhhlofen. In der Sache der Müller berufe er fih 
auf die Nathichläge Aücmann’s felbit. Leterer erwiderte, er 
wiffe nicht, wer fo ungünflige Berichte (in der Depefche war dem 
Herzog Härte gegenüber den Aufftändifhen zur Laft gelegt) nad) 
Petersburg önne gefandt haben. Xepteres fei, meint 9. fehr 
bekannt, da Herr von Mirbad) am Abend des Aufitandes cine 
Staffette an Herim von Howen abgejchiet habe. Der Herzog 
hat 9. willen faffen, daß er feine Sache in Warjchau dem General 
Kofjatowsfi anvertraut habe, welder geantwortet habe, er und 
feine ganze Familie feien von dem guten Necht des Herzogs 
überzeugt, aber er fage ihm voraus, daf; die Entjcheidung des 
Songeräns zu Ungunften des Herzogs ausfallen werde, weil die 
Kaiferin es fo wolle und weil der Fünftige Neichstag zu abhängig 
von ihr fein werde, um gegen ihren Wunjch zu entiheiden. In 
diefer verzweifelten Lage beichwöre der Herzog den König, ihn 











‚Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 653 


und feine Rinder nicht zu verlafien. Er habe ©. gebeten, die 
unziemliche Weile hervorzuheben, mit der Nufland fein Spiel 
treibe, mit feinem dem Grafen Golp gegebenen Wort, weber die 
Gejege Aurlands noch die eigenen Garantien verlegen zu wollen. 
Der Herzog betone die Gefahr, Rurland mehr als jemals unter 
bas fremde Joch gebeugt zu iehen und thatjächlich ruifiiche Provinz 
Au werben. „Tout cela, Sire, paraitra trös simple a V. M. 
de la part de 8. A. 8.“ — €s geht das Gerücht, dafi ein 
ruififches Rorps unter Nepnin fich in Marich geiept habe. 

3. 3. 10. Jan. Der Herzog banft für die Güte, welche 
der König ihm in dem Nejfript vom 31. Dez. fundgebe. -— Der 
Bericht Nüdmann’s über den Aufitand der Müller nad) Petersburg 
foll für den Hergog völlig nadıtheilig gelantet haben. &. will an 
eine folhe Doppelzüngiafeit noch nicht vecht glauben, da ja 
Rüchmann jelbft die getroffenen Anordnungen angerathen habe. 
Am Sonntag nach dem Aufftande jei er zu. nefommen und 
babe ihm geiagt, daf er Icon am Donnerstag Morgen dem 
Fürften gerathen habe, die Aufeührer durch Ranonenjchüffe zu 
zerftreuen. Der faliche Bericht an die Raiferin jei wahricheinlich, 
meint 9., von der hiefigen Nabale ausgegangen, die ja and) jet 
mod droße, fie werde auf dem näcften Yandtage wegen des 
Stilletehens der Mühlen im Lande während 14 Tagen, von 
Herzog einen Scadenerfag von 50,000 Thl. Alb. fordern. Cie 
babe auch die Müller aufgeftadhelt zur Einreichung einer Forderung 
von 15,000 Thl. Ab. an Schadenerfag, und cs fei immer ein 
Ariftokrat, der ihre Sache führe. Die beiden Haupfurheber des 
Aufitandes, Preuß und Michaelis, beide Preußen, haben 9. 
gebeten, in Verliner Zeitungen ein Neferat über den Aufjland 
einrüden zu laifen, das fie angefertigt hätten; dafjelbe fei ein 
volltommenes Kügengewebe. 9. bittet um Anordnung, dafi die 
Verliner Blätter diefes Macwerk nicht aufnehmen. -— Das 
Minifterium hat trop allen Venrübens von Nüdmann nichts 
Schriftliches über feine dem Herzog neulid) vorgeleiene Depeiche 
erlangen Eönnen. Er habe Offenberg erklärt, er dürfe nichts 
Schriftliches geben, wolle aber die Depeide nodmals vorlejen, 
was er and) gethan habe. Außerdem, wars H. bereits berichtet, 
jtehe darin, der Herzog folle fid) nicht unterfangen (saviser) für 

4 








654 Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 


den nächften Candtag andere Deputirte wählen zu laffen als die 
des einjeitig Limitirten Landtages. Nücmann hat Herm von 
Dffenderg im Vertrauen eine Lifte von 58 Lehngütern gezeigt, 
die ber Herzog den von der Naijerin zu bezeichnenden Perfonen 
verleihen folle; darunter jeien 30, die nach dem von der Negentichaft 
feitgefebten Pachtiage vergeben jeien. idmann bat auf die 
redhtlichen Einwände ffenberg'’s erwidert, es handele fich nicht 
um Hecht oder Gerechtigkeit, fondern um Politik, und wenn der 
Herzog nicht genau erfülle was von ihm verlangt werde, jo werde 
man Gewalt anwenden. In der That laufe das Gerücht, mehrere 
ruffiihe Negimenter hätten Befehl erhalten, fi der furiihen 
Grenze zu nähern. So nehme der ruffifche Hof dem Kerzog das 
einzige wirffame Mittel des Einftuiies, die Pachtgüter, und der 
Adel jei ftets zu haben für den, welder fie ihm geben Fönne. 
Im Angenblid machen diefe ruffiichen Mahregeln bedeutenden 
Gindrud auf die vernünftigen und patriotiihen Yeute; aber bieje 
werden ohne cine jtarfe Stübe nicht wagen ihre 
erheben. &. wagt daher Feine energüüche Sprache zu führen, 
das ernfte Folgen haben Könnte md er nicht wijle, ob der 
den Herzog weiter unterftügen wolle. Nalls der König biefes 
wolle und es in jeinem Jnterejje liege, Kurland vor der ruffiichen 
Unterjohung zu bewahren, erlaube er fi folgende Vorihläge: 
den Wiener Hof aufsufordern, in Betersburg vorzuftellen, daß die 
Herrichiucht Nuplands dem Yunde der drei Mächte gegen die 
Franzojen empfindlich jchaden mühte. Der Serzog üt franf, 
hat mehrere Anfälle von Opnmacht gehabt. 

N, 22. Jan. Der Nönig habe einige Berichte nicht 
beantwortet, weil die Thätigkeit der Mitauer Miffion allmählic 
verfangjamt werden folle. Das ruffiie Vorgehen gegen den 
Herzog fei jehr willfüntidh und bedrohe die Verfaiung deo Landes. 
Der Augenbli jei zu Fiplic (delieat), um der Naiferin erneute 
und bringliche Vorftellungen zu machen. Sobald günftigere Zeit 
eintrete, werde der König Alles thun, um den Derzog zu jtügen; 
9. joll aber jest im Verkehr mit dem Derzog fich zurüchalten. 
Den Wiener Hof hineinzuzieben jei ganz unmöglich, da die Raiferin 
dadurch tief verfegt werden würde; auch liege es nicht im preufitfchen 
Intereife, Wien in die Furländiiden Dinge zu verwideln, wodurd) 














































Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 655 


diefer Dof vielleicht dazu gebracht werden fönnte, an den polniichen 
Gejchäften unmittelbarer theilzunchmen, als er es bisher vermocht 
habe. 

4.8, 13. Jan. Nücdmann hat die Lifte der 58 Pacht: 
güter dem Herzog nach MWürzau gefchidt. Darauf it Mirbad) in 
Mürzau gewejen und erzählt, der Derzog habe ihn verfichert, er 
wolle Alles zuw Befriedigung des Adels tun. Man erzählt fich, 
daß die Oberräthe, welde die Konjtitution vom 27. Mai 1792 
für geieglid, halten, jollten juspendirt werden, was dafür jpredhe, 
dab man die jünmtlich ruffiich gefinnten Ober-Hauptleute an ihre 
Stelle bringen will. „Par ce moyen l’Imperatrice achevera 
de gawoter ce prince‘. Man ehe, daß der Herjog auf's 
Aeuferfte verfolgt werden folle, aud) daraus, daf; von einem 
erneuten Cinbringen des umjtürzenden Neformprojekteo von 
legten Jahre in Warfchau die Nede fei. In Polen jollen die 
Aufien Provijionen für 5—6 Jahre angehäuft haben. Man rede 
davon, dab Yittauen abgetrennt und als eigenes Großfüritentgum 
dem Groffürften Konftantin jolle gegeben werden. 





5.8., 17. Jan. Der fommende Landtag werde ganz vuffiich 
gefinnt und von Nüdmann beherricht fein. Der Herzog, nod 
leidend, hat 9. mittheilen lafjen, daß Mirbacd) ihn verfichert habe, 
er jei nicht fein Gegner, fondern wünfche eine Stompofition. 
Der dem Herzog übergebene Entwurf zu einer folden jei mahvoll 
und fönne angenommen werden nad den vom Herzog bereits 
gemachten Zugejtänbniffen (einfeitige Ximitation und Werpadhtungen); 
es fomme darauf an, ob der Adel jeine Stellung nicht mißbraudhen 
und weiter gehen werde, 

6. 3, 20. Jan. Mirbach ipricht jid) unzufrieden mit 
Homwen aus, im Dinficht auf die von Nücdmann dem Herzog 
vorgelefene Depejdie. Kowen jei in feinem Xab genen den 
er5og zu weit gegangen. Mirbach hat dem Herzog veriprocen, 
die Kompofition zu wirken und die Allodien nicht anzugreifen. 
Th PVirbad) aufrichtig jei, werde jich zeigen. — Der Herzog ijt 
noch) zu Vette. Die Derzogin it wahricheinlich Ichwanger. 

R, 1. Febr. 9. foll feine Thätigfeit weiter cinfchränfen 
(ralentir). 








fü 


ar 


656 Zur Geichihte ber Unterwerfung Kurlands. 





7.8, 24. Jan. Am 22. it 9. bei dem franfen Herzog 
gewejen und hat ihm die preußtiche Deklaration über den Einmarid) 
in Polen mitgetheilt. Van glaubt an eine neue Theilung Polens. 
Dan glaubt aud, daß die Kaiferin bie Abberufung 9.'8 gefordert 
habe. 

88, 31. Jan. In einem Schreiben an ben König hat 
der Herjog um Fortbauer ber Miffion 9.8 gebeten. Beim 
Verfaffen diefes Landes werde 9. nur bedauern, von einem 
Intriganten wie Howen vertrieben worden zu fein. — Am 22. 
Januar ijt General Sievers auf dem Wege nad Grobno in 
Mitau geweien, hat den Serzog geiprochen, defien Muth dadurch 
etwas gehoben worden ift. Sievers hat dem Herzog gelagt, bie 
KRaiferin wünjche gewiß nicht, daß er in Betreff der Arrenden 
fein gegebenes Xeripreden wiberrufe. Sievers fei einer der 
fopalften Männer, die er, 9., in Nuhland habe fennen gelernt. — 
Der Landtag beginnt heute. 


9.8., 3. Febr. Die Eröffnung des Sandtages ift Rücdmann 
nicht, wie üblich, durch eine Anrede, fondern durd eine Note 
angezeigt worden, die er auch fchriftfich beantwortet hat. In 
diefer Antwort hat er dem Sandtage gerathen, die Forderungen 
am ben Herzog nicht zu übertreiben. &. bat man wie bisher die 
Anzeige zu machen unterfaffen. Der Herzog ift in Milan geweien 
und hat mit Mirbach über die Rompofition unterhandelt. Da es 
nicht üblich fei, ihm, wenn er in Mitan it, einen Befuch zu 
machen, fo ift ©. nieht hingegangen. 


Immediatberiht vom 9. Januar an den König: Der 
Herzog hat fid) in feiner verzweifelten Lage entichlofien, den König 
um Hilfe anzuflehen; er hat 9. gebeten, einen Weberblid über die 
Greigniffe ber legten jedhs Monate abzufaiien, was 9. nicht Habe 
verweigern fönnen.*) Am Schluß des Memoirs jagt D., er 
önne bie Bitte des Herzogs nicht unterftügen, denn wenn der 
König nur unfiher für den Herzog eintrete, jo werde ich Rußland 
in feinen Plänen nicht ftören lajfen und der König fi nur 
blofftellen. &. ficht feiner Abberufung entgegen. Der Aufenthalt 








*) Dos beigefügte Memoir faht den Zugalt der Depsfchen fur) zufammen. 


Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurfands. 657 


in Mitau fei von einer jchredlihen Theuerfeit und er werde fi 
in diefer Yegiehung überall anderswo beifer befinden. *) 

N. Febr. Da der furiiche Landtag die „Grobheit” 
begangen habe, 9. nicht wie Nüdmann die üblide Deputation zu 
\iden, jo ergreift der König diefen Vorwand, um 9.6 Ab: 
berufung zu beichließen; 9. werde die Abberufungsichreiben mit 
einer der näcjften Poften erhalten. Er fole fid) an den Furifden 
Angelegenheiten nicht weiter betheifigen. 

Immediatvorlage (ohne Datum und Nummer) des 
Minifteriums an den König: Das Minifterium bat Se. 
Mojeftät die Sagen zur Nenntniß gebradht, welche Herr von 
Mopäus auf Befehl feiner Souveränin jomohl perfönlid gegen 
den Heren von Hüttel, als gegen das Veltehen felbft einer 
preußifhen Miffion in Mlitau vorgebradht hat. Der König jei 
peinlich berührt worden, zu jehen, daß die Uebelgefinnten in Rurland 
über die Haltung wie die Prinzipien 9.’ die Kaiferin hinter: 
gangen haben. 9. babe ftets dem Herzog zur Vläßigung gerathen, 
ihn mehrmals für die ruffiichen Wünfche zu ftimmen und bie 
Verföhnung mit dem del zu fördern gejucht. Aber es fcheine, 
daß aud) die guten Dienjte einer Partei mißfallen hätten, welde 
auf Mehrung der Wirren ausgehe und fi) eines intelligenten 
Beobachter und eines Gegners ihrer Intriguen zu entlebigen 
wünjde. Zu diefem Ziwed fei der Herr von Homwen nad) Petersburg 
gereilt. Das Minifterium habe, um die aftuellen Gefinnungen 
des Herzogs nicht zu jchwäcen, diefem jowohl wie dem Herrn 
von 9. die Henntnif des geheimen Artifels vorenthalten, welcher 
in Betreff der furijchen Angelegenheiten dem neuerdings zwilden 
Breußen und Rußland geihjloffenen Allianzvertrage beigefügt fei. 
9. habe jtets das Bejte im Auge gehabt. Wenn aud) „par une 
suite de la condescendance dont le Roi se plait a donner 
constamment des preuves ä Son Auguste Alice, Sa Majeste 
füt disposde ü faire cesser une mission, qui n’a jamais du 
etre que temporaire. Je moment present nous semblerait 
pourtant pas eonvenable“. Die plöpfihe Abberufung wäre für 





*) Diefem Urtheil Hüttel’s darf man eiwas miftrauen, da er fchon in 
Petersburg fortwährend mit Scyulden zu lämpfen hatte, Die der Nönig wiederholt 
bezaplie. 


658 Zur Gefchichte ber Unterwerfung Kurlands. 


9. eine unverdiente Verlegung und für die furiihen Ariftofraten 
ein Preufen verlegender Triumph. KRurland jei überdies nicht 
frei von dem gegenwärtig fih) verbreitenden revolutionären Geit, 
und bei der augenblielichen Krifis in Polen fönnte fid in einem 
Nachbarlande ein neuer Herd ber Nebellion bilden, da die 
arijtofratiihe Partei dort zuerit das Beiipiel des Aufitandes 
gegeben habe. Man müfle fo nahe als möglid) darüber wachen, 
und 9. würde mr die wuffiihen Intereflen fördern, wenn bem 
Herrn v. Nücmann der Befehl zuginge, in vollem Einverftändnik 
mit ihm zu handeln. i die Hube wieder hergeftellt, fo werde 
der König feine Schwierigfeiten gegen die Abberufung feines 
Minifters erheben. 

10. B., 10. Febr. Der feit 3 Wochen zwiihen dem Herzog 
und dem Yandesbevollmächtigten verhandelte Entwurf einer 
Kompofition Üt endlich fertig geworden und dem Landtage 
überfandt worden, welder mit ihm sehr zufrieden ift. Die 
Einzelfeiten fennt bisher nicht einmal das MVtinifterium bes 
Herzogs. Aber es it zweifellos, daß der Fürjt den Frieden jehr 
theuer erfaufen wird, jowohl durch Verluft an Nechten, als an 
Geld. Er hat 9. 3. B. anvertraut, dah er für die Progeifoften 
eine Entichädigung von 40,000 Dufaten verjprodien habe. Howen 
habe eine Arrende von 6000 Thl. Ab. auf Lebenszeit erhalten, 
fowie ein Darlehen von 75,000 Dukaten zu 3 Prozent jur 
Bezahlung der Güter, die er im vorigen Jahre erworben Habe. 
Die Häupter der Oppofition haben vortheilhafte Verwaltungen 
und Rüdmann vier Pachtgüter in der Nähe Vitau’o gefordert, 
wo das Gejtüt des Derzogs ftehe, welches er für den ruffifchen 
Groffüriten eingerichtet habe. Die Arrenden follen fünftig jede 
Jahre laufen. Da die Ausgaben des Yehns künftig die Ein- 
nahınen ftark überfteigen würden, jo hat die Oppofition eingewilligt, 
daß mehrere Güter, die verpadjtet werben follten, num in 
Adminiftration verbleiben. Für den Herzog jei jeßt die q 
Sorge, wie er den Empfehlungen Nuflands gerecht werben jolle; 
denm es feien mehr Empfohlene da als vafante Pachtgüter. Er 
bat fd) deswegen durch Nücmann nad) Petersburg gewandt. 
Der Herzog denkt wieder an eine Ausreife; die Neife der Herzogin 
jei gewifi; fie werde ihre Niederfunft im Anslande abhalten. Es 














Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 659 


läuft wieder das Gerücht, Kurland jolle in Polen einverleibt 
werden. 

11. 3, 17. Jebr. Die Kompofition verzögert fi, weil 
viele Edelleute noch unzufrieden find mit der Vertheilung der 
Arrenden, die natürlich nicht völlig gleihergiebig find. Andere 
fordern Erhöhung der Pachtjummen, weil die Ausgaben (die 
ftaatlichen) font nicht gedectt jeien. Der Herzog thut Alles, um 
den Frieden herzuftellen. „Unter diefen Umftänden ijt es doppelt 
ärgerlid für ©. $. D., an feinem Hof einen ruffiihen Minijter 
wie den Herrn von Nücmanı zu haben, beifen fittlicher Charakter 
fih immer ungünftiger entfaltet hat. Obne die enormen 
Forderungen an den Herzog zu rechnen, wird er von Rubfitum 
befchufdigt, die Proteftion jeiner Sonveränin zu verkaufen und jo 
zu Tagen die Pachtgüter verfteigert zu Haben“. Alles das greife 
den Herzog jehr an, er wolle aus dem Yuslande nicht mehr 
heimfehren. Manche Anzeichen, z.B. die Umgeftaltung feiner 
Jagd, geben diefer Vermuthung Gewicht. 

N, 28. Ian. Das Abberufungsichreiten wird an D. 
überfandt, vorgeblid wegen der ausgebliebenen Deputation des 
Landtages, thatlädylich weil der Grund der Errichtung diejer 
Mifion fortgefallen fei. 9. Sekretär D’Arrejt wird nad) Warfchau 
in die Gefandtichaft zu Buchbolg beordert. H. wird anheimgeitellt, 
feine Gefhäfte zu ordnen und heimzufehren. 

12.9, 24. Febr. Die Kompofition it endlich abgeichlofien. 
Der Herzog verliert dabei mehr alo er gewinnt. Ta er mit 
Virbab allein, ohne Zuziebung eines Minifters, an der Sade 
gearbeitet hat, jo hat er jogar Dinge unterjchrieben, zu deren 
Genehmigung er nicht das Necht hat; z.B. die Veftinmung über 
die Wacht der Negentibaft, das Yand zu regieren ohne der 
Zuftimmung des Herzogs zu bedürfen, felbjt im Finangiachen. 
Nachher hat der Herjog von lee Arritel nichts gewußt und fich 
beffagt, daß er Ninten Die Sache habe der 
Verzog jehr jchlecht a: Hätte er bie geichleppt, jo 
hätte Verbach wahrjcheinlich in Vielem nachgegeben, da er aus 
Petersburg mühe Nachricht befommen baben, daß die ii vi 
anfange, fid) zu Ounjten des Herzogs zu erweilen. Was der 
Adel aud) gewinne, e6 ei dod im Wihverhältnii zu den Ktojten 





















860 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlands. 


biejes Streites. Außer dem don gratuit, zu dem der Hof fich 
verpflichte, fei jeder Hafen Landes für eine SKontribution von 
415 Th. Alb. foeben abgeihägt worden, um jene Stoften zu 
deden, was auf 300 adlige Hafen mehr als 125,000 Th. Alb. 
made. Die Klagen und Unzufriedenheit dev Maije des Adels 
mit den Deputirten und dem Vevollmäctigten treten um jo 
lauter hervor, als bieje Herren die Lufrativften Pacıtgüter fich 
haben geben Laiien, ein „objet infiniment plus interessant 
pour chaque indi 
pour la totalit& de NOrdre-. Die Herzogin reife am 8. März 
über Verlin nad) Rarlobad; der Derzog heine jeine Neie auf 
gegeben zu haben. &. wünfeht nad) Empfang feines Abberufungs: 
ichreibens bei jeinen Verwandten in Kurland auf dem Lande bie 
zum Mai bleiben zu dürfen. (Wird am $. März genehmigt). 
13.8, 3. Warz. Obwohl 9. fid) nicht weiter in die 
furifchen Dinge mifcht, glaubt er doc über die unerwartete und 
wirtlic, drücende Lage berichten zu müflen, in bie der Herzog 
fi) verjept fieht. Rad Allem was geichehen, glaubte man, daß 
bie. Raiferin befriedigt jei. Die Kandboten gaben fogar zur Feier 
der Ausjöhnung dem Herzog am leiten Sonntag ein idönes Feit. 
Arm Dienstag darauf las Nücdmann dem Derzog eine mit Stafette 
ihm zugegangene Depejche vor, in der der Vergleid) im Allgemeinen 
mißbilfigt und dem Herzog heftige Vorwürfe gemacht wurden, 
weil er nicht alle in der Lifte bezeichneten Perjonen mit Pacht: 
gütern verforgt habe. Die vom Herzog vorher eventuell an 
andere Perjonen verliehenen Kontrafte wmühten aufgehoben werden, 
widrigenfalls Truppen einrücen und die herzoglichen Allodien 
fequeitriren würden. Jugleid) legte Rüdmann eine zweite, nod 
zahfreidhere und von der eriten abweichende Lifte vor, in der bas 
Hut, welches Ieder erhalten jollte, ausdrüdlih genannt war. 
€s jei num dem Herzog nicht möglich, die Jumuthung der Kaijerin 
zu erfüllen, da die im Vefig befindlichen Pächter ihre Güter nicht 
freiwillig väumen würben und der Herzog über feine Zwangemittel 
verfüge. Wenn mun der Herzog, die nad) der Nompofition in 
Adminiftration verbliebenen Güter verpadhten wollte, um der 
Forderung zu genügen, jo würden die Staatsausgaben die Ei 
nahmen vom Xehn überjteigen und der Herzog fönnte genöthigt 

















Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 661 


werden, feine Allodien mit der Penjion des Prinzen Guftav zu 
befajten. Das fei um jo mehr zu fürdten, als die rufiichen, 
mit Arrenden bedachten Beamten, wie cs jdeine, jelbit die Pacht- 
fummen feitiegen wollten, welde fie zu zahlen hätten; jo babe 
General PBahlen erklärt, er wolle nur 500 Dufaten für ein Gut 
zahlen, weldes mindejtens 2500 Dufaten jährlih trage. Der 
Herzog babe jih an Subow um Verwendung gewandt. lan 
wolle in Petersburg offenbar den Herzog und jeine Sinder 
ruiniren. In Petersburg verbittere Vowen immer mehr bie 
Stimmung der Naiferin gegenüber dem Herzog, denn er glaube, 
da; jegt die Gegner des Herzogs durch die augenbfidliche Dispofition 
Nuplands Alles erlangen Fünnten, was fie wollen. 
14.8, 10. Därz 9. hat das Abberufungsihreiben vom 
28. Febr. erhalten. Cr überfende die ihm vom Herzog zugeihidte 
Kompofitionsafte, zu der er mir wenige Bemerkungen machen wolle. 
- Der Herzog habe, um fein llod zu fchüßen. fid) und jeine 
Nachfolger unter eine Art von Tutel der Regierung und des 
Adels gejtellt. Indem der Adel dns Necht erlange, fi einjeitig 
zu prorogiren und diejelben Yandboten nach zwei Jahren wieder 
zu wählen, werde e6 den Intriganten leicht gemadht „de propager 
une funeste oligarchie“. Vielleicht fei der rufjiihe Wlinifter 
deshalb mit dem Vergleich unzufrieden, vielleicht wolle er nicht, 
da bie fünftigen Herzoge an Rechten einbüfen ader dal die 
Allodien unanfechtbare Erbgüter der Kinder des Herzogs werden. 
9. meint, die Haijerin wolle „ecraser ce Prince et ses enfants* 
und jude nad) einem Vorwand, um die Allodien zu fequeftriren. 
Die Verfiherung des Königs, den Herzog aud) ferner zu ftüben, 
werde deiien Sorge vermindern, fid) in der Hand eines Dofes zu 
befinden, der feinen Ruin wolle. Der Herzog Habe einen Kanzlei: 
fefretär nad) Petersburg geichiett, Rrentur und Vertrauten des 
Herrn von Dowen, m diefen zu gewinnen, wozu wenig Ausficht 
a fei. Nüdmann arbeite weiter gegen den Verzog. 
5.8, 17. Mär, Am legten Donnerstag it der Graf 
von Afie unter dem Namen eines Perzogs de Meillevane in 
Dlitan angefommen. Der Herzog hat ihm einen Edelmann des 
Hofes entgegengeichidt und ihm Mohnung im Schloh angeboten, 
bis die Aa wieder pafirbar wäre. Der Graf Hat aber nicht 








662 Zur Geidhichte der Unterwerfung Rurlands. 


angenommen, fondern ift in einem Gafthofe abgeftiegen und am 
16. früh nach Niga weiter gereift. Der Herzog wäre wohl zur 
Stadt gefommen, wenn ihn die ausgetretenen Flüjfe nicht 
abgehalten hätten. Die Verzogin ift am lepten Montag abgereift. 
Die jcweren Verfehrobedingungen, fowie nod) immer {chmanfe 
Gefundheit verhinderten $. bisher, dem Herzog fein Abberufungs- 
fchreiben zu überreichen. 

16. 8, 28. März. Die Lage in Petersburg jei nod 
biefelbe. Die Kaiferin werde ftets von Neuem gegen den Herzog 
geitadhelt. Xegterer jege feine einzige Hoffnung auf ben Botichafter 
anı polniicen Sofe von Sievers, der ihm wohlgefinnt und von dem 
dem Herzog zugefügten Unrecht überjeugt zu fein Icheine. Rüdmann 
verbreitet, dab in Folge der in Polen fid) vorbereitenden Ereignifle 
die Souzeränität über Hurland zum Theil an Rußland fallen 
werde. Diejes Gerücht bedrüde vollends den Herzog, und das 
ganze Yand fehe in feiner Verwirklichung das allergrößte Unglüd, 
weil es dann einem ähnlichen Schijal wie die Strim entgegeniche. 
Repnin joll die Nachricht an Nücmann geihidt haben. 

17. 8., 7. April. Am 5. April hat 9. fein Abberufungs- 
i—hreiben überreicht. Der Herzog dankte gerührt für die Verheikung 
fortgejegten Antereifes des Königs für ihn, verficherte Se. Majejtät 
fei feine einzige Voffnung, und flehe ihn an, ihn nicht zu verlajien. 
Niemals jei der Verzog jo niedergeihlagen geweien. Der Stanzlei 
jefretär hat aus Petersburg fchlimme Votjchaft gebradt: die 
Naijerin Icheine auf der Erfülhung ihrer Forderungen nad ber 
festen Lifte beitehen zu wollen; allerlei private Forderungen 
tauchen jept auf, die die Naiferin im Schup nehme; aud die 
Penfion für den Prinzen Karl werde er erhöhen mühen. — 
d. werde num aufs Yand gehen, um dort bis zu feiner Abreife 
von Rurland zu bleiben. 

Einer Perfonalakte Hüttel’s entnehme ich, dah es wegen 
wiederholter dringender Bitten 9.6 um Geld zur Bezahlung 
feiner Schulden zu böfen Auseinanderfepungen mit dem Pin 
fommt. ©. geht zu feinen Verwandten nad) Berjebet, wo er 
längere Zeit Franf darnieberliegt, und erjt Ende Juni reift er 
über Nautenberg nad) Berlin ab. 























Randerungen durd unfere Provinzialhauptitadt.*) 


Greignifreihe Jahre find feit unjerer legten Wanderung 
über unfere Stadt dahingegangen. Miederum haben die Dom- 
gebäude ein Stück ihrer yentrafen Bedeutung für unfere provinzielfe 
Rulter einbüfen mühjen: die Stadtbibliothef mit ihren Schägen 
am Büchern, Manuffripten und Bildern hat im Nathhaufe eine 
nene Heimjtitte gefunden. Es ijt Zeit, dal; aud wir das alte 
Gemäner, das Gotteshaus und den Kreuzgang, verlaflen; denn, 
wollten wir alle die Perfonen und een, welde im Laufe unferer 
GSefchichte von dort aus gewirkt haben, im Geifte wieder aufleben 
fajien, jo brädten wir uns um die Wanderung in die übrigen 
dttheile. 

Mir wenden uns der Kaufftrafe zu. Es it nicht möglich, 
ohne Anfenthalt durch die furze Nrameritraße zu fommen. ins 
von uns, zwilden der Neuftrafie und der Noiengaife, erinnert 
der Häuferfompfer mit feiner nüchternen, faft Heinfichen Phnfiognomie 
an den rafchen Wechfel der Zeiten; an die Nücjichtslofigkeit, mit 
der die jüngeren Generationen gegen die Heiligthümer der älteren 
verführen. 

An der bezeichneten Stelle hatte das 13. Jahrhundert eine 
Kirche erbaut und fie dem heiligen Paulus geweiht, mit Altaren 
und Bildern geihmüct. Rundum (ag ein Kirchhof, der über ein 
Säfulum Geiftlihen und Bürgern als Grabjtätte diente. Gegen 
Ausgang des 14. Jahrhunderts erhob fid) ein Streit zwijchen 




















=) Bergt. „Balt. Monatsiheift" 1880, 


® 


fi. und ©. 531 fi. 





664 Wanderungen durd) Riga. 


dem Erzbiichof und den Yürgern der Stadt über ben geheiligten 
Play, is derielbe von den Bürgern gewaltfam beiept wurde; 
endlich muhte er aber doc anf einen Machtipruch des Papftes 
dem Grzbiichof herausgegeben werden. Yald nad) diefer Entfheidung, 
am Anfang des 15. Jahrhunderts, verihwindet Ct. Paul aus 
der Ueberlieferung, um nie wieder aufzutauden. In ber Zeit 
der Neformation war die Kirche nicht mehr vorhanden. Nein 
Kreuz, fein Leichenftein, fein baulicher Ueberreit läßt erfennen, an 
welcher Stelle über zwei Jahrhunderte hindurch die Mefje gelefen, 
das Evangelium verfündigt und das heilige Saframent vertheilt 
worden. 

Andy die Nofengaffe hatte einft ein gänglic) anderes Nusfehen. 
Um die Hälfte breiter als heute, bot fie einer Neihe von Schmiede: 
werfjtätten Raum, die hier an der Grenzmauer der Alt: und 
Neuftadt ihr lürmendes und fenergefährliches Wejen trieben. Die 
Straße trug bis mindejtens gegen Ende des 16. Jahrhunderts 
den Namen: „Schmiedeftraße”. 
vfer werden wir von einer feinen Thür in der Nramer- 
ftraße, an der Ede der Nojengajie, angezogen. Sie bildet den 
Eingang zu dem ehemaligen Nathsfeller, über dem jebt der Laden 
von Hugo Frey liegt. Das Straßenterrain ift hier im Laufe der 
Beit um 5 bio 6 Fuh erhöht werden, und man hat jept etwa 
5 Fuh hinabzufteigen, um in das alte Trinflotal zu gelangen. 
Nod heute wölben fich diejelben Steine über den jtattlidhen 
Pfeilern, wie vor 500 Jahren. Wo jegt einige Kaden Brennyolz 
unfchön aufgeihichtet liegen, verfammelten fid) einft die Väter der 
Stadt, die fremden Kaufleute, wohl aud mandes Fahlhäuptige 
Möndlein zum Abendtrunf. Der anjehnlihe Naum mit feinen 
fräftigen Pfeilern und jeinen weiten Dedenbögen mag in alter 
Zeit jo mandjes tranliche Pläghen zur Erholung und Exfrifchung 
geboten haben. Da mag mand' geldbringendes Geichäft, aber 
auch mand)' diplomatiiche Atte eingeleitet worden fein. 

Nah furzer Najt fteigen wir wieder zur Strafe empor. 
Vor uns liegt das Nathhaus, über 500 Jahre lang der Vittelpuntt 
ftädtiihen Xebens. Denn feit dem Anfang des 14. Jahrhunderts 
waren hier in dem einen Gebäude die wichtigiten jtäbtiihen 
Behörden vereinigt. Die würdigen Nerren des Hathes mögen 











Wanderungen durch Niga. 665 


wohl früher in einem anderen Haufe in der Kaufitraße (vielleicht 
über dem Nathofeller ober in der Nähe deifelben) ihre, weit über 
das Gebiet der Stadt hinansreichende Thätigeit entfaltet haben. 
Rechtgeiprodhen aber hat man wohl von Anbeginn der Stadt hier 
am Darf. 

Denn das ältefte Gericht duldete Feine Einhegung in gemanerte 
Wände, und fein altes deutiches Nathhaus entbehrte der Gerichts 
Lande, einer offenen, meijt überwölbten Halle, in ber die 
„openbaren“, d. h. öffentlihen Handlungen des Nathes vor: 
genommen wurden. Das älteite Nigafche Nathhaus mar an der 
Vorder: und Hinterfront mit Vogengängen geziert, hinter denen 
in einzelnen Buden Krämer und Höfer ihre MWanren feilboten. 
In einer diefer „Lauben“ empfing der Bürger jowohl feinen 
Urtheilsiprud, als auch die Beurfundung von Nechtsgeichäften; 
bier übertrug 3. B. vor dem Vertreter des Nathes und den 
Kämmerern der Stadt der Eigenthümer fein IJmmobil an feinen 
Mitbürger. Ein Advofat, in älterer Zeit wohl der Stadtjchreiber, 
verlas den Antrag des Verfäufers zum Werfaufsgeihäft; der 
vorfigende Nathsherr, gewöhnlid, der Bürgermeifter, erklärte die 
betreffenden Dokumente für richtig; Käufer und Verkäufer reichten 
einander die Hände, worauf der Käufer den feierlichen Eid leitete, 
bas erworbene Immobil niemals in fremde (auferftädtiide) oder 
geiftliche Hände fommen zu lajien. Indem fid) dann die Nämmerer 
von ihren Eigen erhoben, war das Rechtsgeichäft abgeichlofien, 
und der Stabtichreiber fonnte deiien Verzeihnung in die Stadt: 
Erbebücher vornehmen. 

Ie bedeutender und mannigfaltiger Handel und Verfehr 
in der Stadt fi geitalteten, deito problematiicher wurde die 
Deffentlicfeit bei den Gerichtsverhandlungen und Nechtsgeichäften 
„vor dem Kath“. 

In die Nathsftube jelbit aber drang in der älteren Zeit 
faum eine unberufene PBerion; über Wohl und Wehe der Stadt, 
über Pflafterung der Strafen, über die Anlegung von Brunnen 
und öffentlichen Gebäuden, über alle Zweige der ftädtijhen 
Verwaltung, aber aud) über Krieg und Frieden, über VBejendung 
der Hanfatage und fremder Füritenhöfe berieth der Nath allein, 
wenn aud die Bejchtuhfafiung meilt wicht ohne Mitwirkung der 

















606 Wanderungen durch Riga. 


Bürgerfhaft geichehen Fonnte. Die große aemauerte Treppe, 
welche vom erjten Stod im Mittelalter auf den Markt 
hinabführte, war durd) Schranken den gewöhnlichen Sterblicen 
veridjlofien. 

Ueber dem Dadhe erhob id ein fchlanfer Them, deiien 
Spige die Neitergeitalt des b. Georg trug.*) An den beiden 
Ichmalen Zeiten des Haujes wurde das Dad) von zwei hohen 
gothiihen Gicbeln fanfirt. Ungefähr um die Hälfte Fleiner, als 
das heutige, fand das alte Nathbans wohl fhon zu Anfang des 
14. Jahrhunderts in dem befchriebenen Aeuferen da. Bis gegen 
Ende des 16. Jahrhunderts hat cs Feine erheblichen Umbauten 
erfahren, aufer daf einige der am und unten in dem Gebäude 
befindlichen Buden zur Unterbringung ftädtiicher Behörden geräumt 
werden muften. Das Haus entitand in einer Zeit, wo die Gothit 
auf profanem Gebiet ihre Yerrlichiten Werte ihuf und in vielen 
Städten Nord-Deutjchlands ftattliche Nathhäufer neuerrichtet wunden. 

Der Bau, der dem Nathe von Niga eine wiürdige 
Stätte bereitete, hat vielleicht zur Gründung einer Verbindung 
der Maurer in Niga Anlahi gegeben, die danı mit den Maurer: 
Verbänden deo Neiches Fühlung juchte. Jedenfalls diente der 
Neuban als Mufter für den Yauftil der Privathäufer in der 
Stadt. Das Merfwürdigfte am Haufe mag wohl die damals 
mene, bamı wieder fange außer Mode gefonmene Zentralheizung 
geweien fein, die in fait moderner Weije von einem ungeheuren 
Kteller- Ofen aus durd Nöhrenleitungen („Bipen“) die oberen 
Gemächer erwärmte. Dagegen ift von maleriidher oder plaltifcher 
Ausihmücung vor dem 15. Jahrhundert Faum die Nede, ganz 
entipredhend der Entwidelung der verichiehenen Aunftweige in 
Nord-Deutfchland. Während im 13. md 14. Jahrhundert feine 
Kunjt mit fo allgemeinem Interejie gepflegt und bewundert wurde 
wie die Architeftur, beichränfte fih die Plaftit und Malerei auf 
die Kleintunjt in Geräth und Wandichmud.  Erit, als unter der 
Einwirkung der itafieriihen Nenaiifance der Geihmad und das 














Mottyufche Aupferitich von 1612 (remobuziet u. A. in Mettig's 
Gefchicpte Riga’s) zeigt, wenn auch undeutlich, den d. Georg, die Fahne deutet 
auf den Dradjentödier, 


Wanderungen durch Riga. 667 


Terjtändniß für die gothiiche Yaufunjt der Deutichen zu jchmwinden 
begann, wurde das Auge für lebhafte Farben umd wechielvolle 
Kinien wieder jo empfänglid, wie in der alten Zeit des 
romanifhen Stils. 

Namentlich hob fih die Malerei aus dem Handwersmähigen 
in's ariftofratiiche Gebiet wahrer Nünftlerihaft. Im 15. Iahr: 
hundert fanden in Kiga Vater vielfach Beihäftigung, hauptjäclich 
an den Kirchen, deren Innen- zum Theil auch Aufenwände mit 
Gemälden bededt wurden. Auch find in diefem Jahrhundert jo 
viel Gemälde, „Tafeln“ genannt, hierher eingeführt worden, wie 
tauım in einer fpäteren Periode. Die Qitarienbücher, die Verzeichnifie 
von Altarftiftungen lafien das erfennen. Die Obrigkeit der Stadt 
blieb in diefen Veftrebungen nicht zurüd. Wir erfahren, dab 
bereits im Nechnungsjahr 1407,8 ein Nrenz auf dem Nathhaufe 
„gemalt wurde”; freilich fann der Merth des Runftwerts nicht 
hoch angefchlagen werden; denn der Künftler, der Glajer Bernd, 
erhielt für diefe Feijlung einen Ferding, den Preis für eine Tonne 
Vier. Werthvoller war „das Pafen“, das 1411.12 von Johann 
Wantfcheyde, der im jelben Fahre fein Amt als VBürgermeifter 
antrat, geliefert wurde. Der Preis betrug 26 Marl, wofür man 
icon 26 tüchtige Mrbeitspferde fanfen Fonnte. Mahrfdeinfid) war 
„das Yafen“ ein Wandteppic) mit einem eingewebten Bilde. Ju 
Jahre 1466/67 melte ein ungenannter Maler „die Bilder im 
Nathhaufe* und verdiente in dem einen Nahr die bedeutende 
Zumme von 10 Mark, wobei ji) von jelbit verjteht, da; er Hojt 
und Wohnung vom Kath erhielt. Vorher hatte man den „Nemter“, 
das Zipungsjimmer, für 381. Marf mit einer geidhnisten Holz 
dee ihmücen failen. Zur Zeit des genannten Bürgermeifters 
Johann Wanticende fich der Nath aud) die Nolandsiäule vor 
dem Ratyhanfe ausbeffern, vielleicht neu bemalen. Die bedentenderen 
Städte hatten auf dem Diarkte ein Tolches Vildnih ftehen, das 
als Eymbol jtäbtiher Marktfreipeit und unabhängiger Gerichts 
pflege galt. Im 15. Jahıhundert jah man das Bild vieljad) als 
Zeichen der Neichsfreiheit an, fo dal 5. 9. die Stadt Magdeburg 
fi) auf ihre Nolandsjäule berief, um ihre Unabhängigkeit gegen 
über den Erybiichöfen zu beweiien. In Bremen winde folgende 
auf die Neihsunmittelbarfeit ziefende Neimfchrift am Natphanic 
angebracht: 























668 Wanderungen durch Riga. 


Wente der stadt is gegeven des Rolandes bilde 

Tho enem teken der friheit under des rikes schilde. 

Diefe Anfhauung theilten aber die Serren ber Städte 
Feineswegs, auch in Niga hat der Noland gewiß) dieje Bedeutung 
nicht gehabt. Der Rigafche Rath wurde vom Vifchof, Ipäter vom 
Erzbifchof mit der Gerichtsgewalt befehnt. Leider mifien wir von 
dem Ausfchen des Nigafchen Rolands nichts Näheres. Zmeifellos 
hielt er aber das aroße, gerade Schwert in der Sand, welches 
als Nichtichwert in der Form von dem Schladhtichmwert abwic. 

Im Laufe der Zeiten wuchs das Haus in einzelnen Theilen; 
endlich wurde zu Ende des 16. Jahrhunderts eine neue Kanzlei 
auf der Seite nad) der Düna hin angebaut. Erit im 18. Jahr: 
bunbert zu Herbers Zeit, it, wie befannt, das jept noch beitehende 
Nathhaus von Grund aus neu aufgeführi worden. 

Die Gefchichte des Rathhaufes ift übrigens neuerdings To 
eingehend erzählt worden,*) dal wir den Nüdblid auf das Neußere 
und Innere defjelben hier abbrechen fönnen, indem wir uns an 
dem Dinweis genügen laffen, dab wie in den Firdlichen Bauten 
aud) im Haupthaufe der Stadt die Zeitgefchichte fid) wicderipiegelte 
und bis in die nenejte Zeit der Nath es als Ehrenpflicht betrachtete, 
das Gebäude dem Geichmad und den praftiichen Anforderungen 
der aufeinander folgenden geichichtlihen Zeitabichnitte gemäh 
auszugeitalten. 

Noch) toender erichiene das innere Leben dieies Haufes von 
den eriten Anfängen bis zum Aufbören feiner Bedeutung zufammen 
bängend bdarzuitelfen. Wir lajien uns aber um fo cher von diefer 
Aufgabe abbringen, als diefelbe von berufener Feder in die Hand 
genommen ift.*") 

Welh lange Neihe von tüchtigen, zum Theil weit über die 
Mittelmähigkeit hinausragenden Seftalten ift über die breite Treppe 
des alten und durch die weiten Sallen des neuen Rathhaufes 
geihritten! Die Namen von gegen 900 Glicdern des Nathes find 
c Zahl nur Namen für uns, and) wenn fie 
zu ihrer Zeit von den teoftonfien Perjönlichleiten getragen wurden. 














Bon Anton Wuchholt; in den Ritheitungen NV, 1. 
;adt Kiga, 





Wanderungen durd) Niga. 669 


In der „Nigifhen Hathslinie” des Vürgermeifters 9. I. 
Börhführ jtehen fie alle aufgeführt, neben den Namen ein Tnappes 
Verzeihnih ihrer Thaten. Bei den erften 41 den Namen nad) 
befannten Gliedern der Stadtobrigfeit fehlt aud) diefe Angabe. 
Nur von dem allerälteften Vogt oder Syndilus der Stadt, Albertus 
genannt, willen wir, daß er die Anterefien feiner Mitbürger 
wirfjam vertrat. Diefem Albert verdankt die Stadt ihre Mark, 
einen Fläcenraum, der fhon im 13. Jahrhundert die Größe von 
56 Quadrat-:Werft (746 Quadrat-Silometer) erreichte, und bis in 
die meueite Zeit hinein nicht nur von wirthihaftlider, fondern 
aud von politiiher Bedeutung war. Albert vertritt die Stadt 
im Jahre 1225, als unter Biihof Wilhelms von Wtodena 
Vermittelung der Inhalt des von Biichof Albert verliehenen 
gothländiihen Nects näher firirt wird; Albert erwirft vom 
Bifchor Wilhelm von Modena den Sprud), nad) welhem ein von 
Viihor Lambert von Semgallen in der Nigaihen Stabtmarf am 
Babitiee erbautes Schloh den Bürgern ausgeliefert wird. Leider 
ift das aber aud alles, was von dem älteften Nathmann mit 
Zicherheit übe t wid, und der Wunjch mehr von Dielen 
würdigen Nigenfer zu erfahren, wird wohl ewig unerfüllt bleiben. 

Dis gegen Ende des 15. Jahrhunderts it das Verzeihni; 
der Taten nicht reich; erft mit der Reformation, befonders aber 
mit den legten Zeiten Nigafcher Selbftändigfeit fällt mehr Licht 
auf die Perfonen, welche einft ihre Stimme in den Nathe: 
verfaminlungen erhoben; bie im Samıpfe der inneren Parteien 
ihren Scharffinn zeigten; die aber aud) ihr Leben einjeßten, wo 
65 galt zum Velten der ihnen anvertrauten Stadt ihre eberzeugung 
zu vertreten. 

Dah au in den etwa 400 vor der Neformation lebenden, 
nur troden mit Nummern bezeichneten Nathsherren Liebe zur 
Vaterftabt und opferfreudiger Zinn herrichte, davon it uns ein 
merhvirbiges Zeugnih aufbewahrt in dem Brief des Erzbiichofs 
Johann von Vehten vom 5. Februar 1286 (?) an den lübifchen 
Nath, der im Auszuge hier folgt: Er, der Erzbifchof, ehe fid) 
veranlaft, ihnen (den Lübedern) eine Angelegenheit vorzutragen, 
die ihm auf das Genauefte befannt fei, da er felbit Augen- und 
hrenzeuge und überhaupt mit dabei geweien fei, als er nad) 




















5 


670 Wanderungen durc) Riga. 


rigiicher Propit war. Cs fei nämlich von feinem Vorgänger 
Johann I., dem damaligen Ordensmeifter Ernft (von Nafburg) 
und der Stadt Niga mit dem Könige Troydene von Litauen ein 
Friedensbündniß geichloffen worden. Der König habe fodann den 
Erzbiihof, den Meijter und die Stadt Niga durd) einen Gelanbten 
erfucht, ihm einen zuverfäffigen und ehrbaren Voten zuzujenden, 
mit welchen er mandherlei beiprehen wolle, und der unter feinem, 
des Königs, Geleite hin- und zuridreifen folle. Demzufolge fei 
ein ehrbarer und weijer Mann, Nathsherr der Stadt Niga, 
Namens Arnold mit der eifernen Hand, an den König 
abgefandt worben, welcher aber unterwegs verhaftet wurde, viele 
Leiden erdulden mufte und endlich in der Gefangenschaft ftarb, 
nachdem wiederholt an den König gerichtete Bitten wegen feiner 
Freilaffung, das Verfpredien von Geihenfen, und viele darauf 
gewandte Koften fruchtlos geglieben waren. 


Someit der furge Bericht, nicht werthlos für uns Nadjfommen, 
die wir das Anbenfen des Arnold mit der eifernen Hand in Ehren 
halten follten, obwohl er zu den Statiften und dem Chor gehört, 
welche ihre Erwähnung in der Gefchihte nur dem Zufall veranten. 


Noch eines anderen Diannes fei hier gedadt, der fih um 
bie Stadt in ganz hervorragender Weiie verdient gemacht hat, 
und deifen Name im Gebächtnif der Lebenden aufzufriichen, Pilicht 
des Gefhihtsfchreibers ift. Der einzige nämlich, der im mittel: 
alterlichen Niga die Feder ergriffen, um eine Chronik der Zeit: 
ereigniffe zu verfafien, war der Stadtjefretär oder wie man 
damals auf gut beutfch fagte, der Stadtichreiber Dermann Helewed). 
Die Orbensbrüber, die Priefter und Mönche haben fo manche, 
zum Theil werthvolle Aufzeichnung hinterlafien; außer den poetiich 
gereimten zwei Chroniken des 13. und des 14. Jahrhunderts, 
beichrieb der Kanzler des Meifters in Livland Hermann von 
Wartberge die Thaten der Ordensritter, während der Pfarrer von 
Papendorf, der Lettenpriefter Heinrih und die Dünamünder und 
Nonneburger Annalen mehr die Geidichte der Kirche im Auge 
hatten. Die alten Nigenjer fcheinen es mit dem Grundfage der 
alten Römer gehalten zu haben, daß cs größer fei, Thaten zu 
thun, als fie zu beichreiben. Denn es ift im Gegenfag zu der 


Wanderungen durch Riga. 671 


Zeit des 16. Jahrhunderts, wo Niga außerordentlich fruchtbar 
an Chronifen war, im Vlittelalter fein anderer Gelhichtsichreiber 
der Stadt nadhzuweifen, alo eben jener Hermann Helewedh. 


Helewech war ein geborener Nigenfer; fein Water, wahr: 
fheintich auch fon fein Großvater, befaßen ein Baus in der 
Schemmenftraße, an der Ede ber Stegftraße. Hier alfo it er 
geboren. Die Familie jtammte, wie fo viele Liofändiihen, aus 
Weftphalen. Nachdem er fid) bie Würde eines Magifters 
erworben, wurde er 1454 als Stadtjefretär angeftellt, in welchem 
Amt er über 20 Jahre thätig war. Zu Michaelis 1479 erfolgte 
feine Wahl zum Nathsherrn. Er jtarb am St. Thomastage 1490 
und wurde Dienstag vor Jubifn begraben. Berheirathet war er 
mit einer Tochter des Bürgermeifterd Gerwin Geudena. 


As Stadtjefretär und fpäter als Nathsherr nahm er wohl 
eine einflußreihe, wenn nicht die leitende Stellung in den 
politiichen Händeln der Stadt ein. Daher ift fein Bericht über 
die fogen. Kirhholmjcen Händel und die fi am biefelben 
fnüpfenden Creignifje von ca. 1450 bis 1489 von hohem Werth 
für die Ueberlieferung, leider ift das Original biefer „Chronit” 
verloren gegangen, vielleicht verbrannt im Jahre 1674 mit anderen 
Schägen des Nathsarchivs. Glüdlicherweife ift uns ein umfang: 
reicher Auszug diejes interejjanten MWerfes erhalten, den der 
Nathsherr Joh. Witte um die Mitte des 17. Nahrhunderts 
gemadt hat. 

Mit Märme und Anfhaulicfeit fdildert Helewech, wie 
Sfthof von Vengden, Verend von der Bord, Freytag von 
Loringhofen als Vleifter des Ordens darnad) jtrebten, bem Erz 
biichof die Herridhaft über die Stadt Niga zu entreißen, um 
alle Stände des Landes unter ihrem friegeriichen Negiment zu 
einigen. Cs ift ein Stüc der Geichichte jener Zeit, wo fi hier 
im fernjten Winkel der Ttjee die Jdeen Geltung zu verihaffen 
fuchten, die in der großen europäiichen Welt zur Herrichaft 
gelangten. 

Es wäre num wieder eine verlodende Aufgabe, jene in der 
mittelalterlichen Stadthronit berichteten Cinheitsbeftrebungen und 
deren Widerfader mit Hilfe der anderen Quellen, namentlic, der 


dr 


672 Wanderungen dur) Riga. 


zahlreichen noch vorhandenen Briefe der Ordensmeifter, zu einem 
Bilde zu geftalten, aber die Arbeit ift bis zu einem gewiljen 
Grabe überflüffig geworben durd) die Darftellung der livfändifchen 
Gejchichte von Seraphim, die ja in aller Lejer Hände ift oder 
fein follte. Aus demfelben Grunde bredie id auch meine 
Wanderungen ab, da das, was fie, wenn aud unvolllommen, 
erfegen follten, unterdeijen geichaffen worden ijt, eine in gutem, 
patriotifchem Geifte geichriebene Gedichte Nigas und Livlands. 


9. Girgenfohn. 





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Notiz 





TH. Schiemann: Heinrich von Treitfgle's Schr und MWanderjahte 
1834-1808. Münden und Leipzig, Oldenbourg. 1896. 

Im den wenig Monaten feit dem Tode Treitichfe's hat 8 an Rachrufen 

in der Preffe, auch an eingehenderen, teitiichen Würdigungen feiner Bedeutung 
als Hitorifer und Politifer nicht gefeflt. In Iepterm Sinne hat Schmoller 
feine Nede über Treitfchfe und Sybel gehalten, hat Paillen in der „Deutfchen 
Rundichau” feinen Auflag gejchricben. eyt kommt Schiemann hinzu mit einer 
Viograpfie, die bis 1806 reicht. Am fo furzer Zeit lieh füh eine nach allen 
Seiten vollftändige und eingehende Lebenöbefchreibung nicht erwarten, meshalb 
Scjiemann fih denn aud auf die Periode des Werdens und Wadjfens dieles 
Wannes His zu dem Moment bef—hräntt at, wo er als Menich und als Gelehrter 
gefeitet auf ficerem Voden innerer Meinung und äuferer Ycbensjtellung angelangt 
mar. Und in geriffem Sinne it dies der intereffantefte Teil von dem Yebei 
Treitichte's, meil fich in ihm das Werden und Gähren einer ganzen Oeneration 
fpiegelt, einer Generation, die uns noch fo nahe ftcht und Die doch gänzlich der 
Vergangenheit bereits amgehört in Wollen, Tenten, Fühlen -- foweit das 
politiicie Leben in Frage fommt. Und ich glaube, dab Schiemann «6 verftanden 
hat, Ddiefe Widerfpiegelung treu und Mar darzuftellen. war man empfindet 
alsbald die Wärme der Verehrung des Züngers und Freundes, die aus dielen 

















Notiz. 673 


Zeiten ftrömt; man empfindet, wie der Perfaffer noch ganz unter dem Ginbrudt 
dirfer fcnwungvoll poeiifgpen und poltiigen Seste ftegt, die id ganz und heftig 
wie fie fühlte, aucy zu Auhern pflegte. Aber wenn der Aritifer in diefem Buche 
dem Freunde den Woririt läht, fo war es auch micht die geftelfte Auigabe, 
Treitfcpte als Hitoriter und Profeffor zu beurteilen, weldhe hier vorlag, fondern 
der Wunfch das Bild eines Mannes feitguhatien und befonders unferem jungen 
Gefchlecht nahe zu bringen, der an Reinheit, Kraft des Wollens, an Glauben 
an das Hödhjte und Yefte cin ungewöhnlich reicher Cuell der Yabung war für 
Ale, die ihm im Leben begegneten. ‚dem ganzen Bud) feflelt bejonders das 
von Haufe aus gegenfäplide Berhälnißs Treiiäes zu feinem Later. Ein 
Gegenfag der politifcien Mrt deS Denfens, die mit innigiter Gcmeinfamfeit auf 
dem Boden des periönlichen Cmpfindens zulanmenging. und cin in beiden 
Hinficsten Löftlices Bild jener Zeil des ampfes zwiichen der Liebe zum grofien 
Vaterlaude und der Pietät für die alten Ultäre der Aleinjtaaterei. Die ganze 
Zartheit und der ganze Ernit der fidh gegenüber ftchenden beiden Männer treten 
uns daraus entgegen und Taf chen, dahı mehr von Diefer Korreipondeng 
wörtlich in bieies Buch, Mufnahme gefunden Hätte, Meberhaupt fcheint mir der 
Verfaffer allzu fparfam gewejen zu fin mit bem Aborud aus den Sorreipendenzen, 
Die ihm reicplich zu Gebote ftanden. Im der Biographie eines Bilicher wird 
man weniger nach feinen Briefen judhen, fondern fid) an der Schilderung 
äuerer Tpatfacen genügen laffen; in der Lebensfdilberung eines Treitffe 
wird man vor Allem feiner Briefe bedürfen, um den Menfchen, und der feiiifchen 
Veleuchtung feiner Bücher und Schrifien, um den Gelehrten und Poliifer zu 
beurtheifen. Nadeffen üt, was uns in diefer Niirze geboten wird, eine Erzähfung, 
die in ihrer einfachruhigen Form vorteefjlich gelungen, in Abficht auf den Anhalt 
geeignet it, im dem Sinne auf unfere Jugend fortjmpirfen, melder in der 
Perfönlichteit diefes edlen Patrioten felbit begründet 









































vd. 








—— Yhonnenentö-Linladung. 


Mit dem nädjten Heft beginnt ein neuer, der neunmdbreißigite, 
Jahrgang der „Valtiihen Monatsihrift”. Um Störungen in der regel: 
mäßigen Zujendung zu vermeiden, bitten wir um 


baldige Erneuerung des Abonnements, 


Die Publifationen der „Balt. Monatsfceift” werden wie bisher dem 
Programm entipredend zum Gegenftande haben: allgemeine und baltifche 
Beitfragen, die politifche Geicichte unjerer Tage, Kirchen: und Echulmefen, 
Eihnographiices und Statiftiiches, das Nechtsleben, agrariihe Verhältnie, 
Induftrie, Gewerbeweien u. ä. m. Erhöhte Beachtung wird im neuen 
Jahrgang insbeiondere der Gefchichte unferer Tage durd Einführung einer 
Aubrit „Baltiihe Ehronif“ gewidmet werden. 

Das erite Deft des neuen Jahrganges wird voransfichtlich nacjtehenden 
Inbalt Haben: 1. Die Kivländiigen Privilegien. Ein Memorial. 2. Das 
Armenweien der Stadt Niga auf Grund der hiftoriich-ftatiftiicen Studie 
von ler. Tobien. 3. Ucber die Paftorenmahl. 4. Priefwehjel ymülcen 
Victor Hehn und Georg Berkholz. 5. Ueber die finctiihe Naturlchre 
des Freiheren R. v. Dellingshauien. 6. Berliner Kunftbriefe 7. 
gitterärifhe Streiflihter. 8. Baltifce Chronit. 

Der Abonnementspreis für den Jahrgang beträgt 8 MdL, bei 
Verfendung mit der Pot 9 Nbl. Abonnements nehmen alle beutihen 
VBuchhandlungen und die unterzeichnete Verlagshandfung entgegen. 


Keval. Franz Aluge. 






































der Ehrbegeif auf der Bühne. 


Zu Beginn der 90:er Jahre veröffentlichte der Hamburger 
Nehtsanwalt Dr. Anton Heh eine Schrift über die Ehre. Er 
verfuchte darin den Nachweis zu liefern, dah die Ehre jelbjt ein 
objektiv zu denfendes Gut, alto Objekt der Beleidigung nicht fein 
ann, weil das Wejen der Beleidigung gerade in ihrer ausichließlic) 
fubjeftiven Wirkung, d. b. im ihrer dur nichts Anderes zu 
ertlärenden Wirkung auf das Chrgefühl beitände. Beleidigen 
heiße jomit „seeliich wehthun”. Das jeeliide Weh aber entbehre, 
weil rein auf Allufion beruhend, eines vernünftigen, objektiven 
Grundes und „Verlegung der Ehre”, die man als diefen Grund 
des beleibigten Gefühle begeichne, mühte fid) jomit bei tonfequentem 
Weiterdenfen entpuppen als ein Nichts und eine inhaltloje Phraje. 
Auf diefe vechtsphilojophiiche Vlaterie von Ehre und Beleidigung 
fam Dr. Heh fpäter einmal in einem geiftreichen Feuilleton in 
der „Frankfurter Zeitung“ zurüd, um nunmehr vor einem Laien: 
pubfifum auszuführen, daß nicht bloß die römifche, fondern aud) 
die moderne, insbefondere deutiche Nechtsanihauung die Beleidigung 
nicht als eine Verlegung der Chre, jondern nur des Ehrgefühls 
auffafe: 

Dur foldes Hineintragen des jubjektiven Empfindens in 
den Begriff der Ehre aber üt der Veltimmung dieies Begriffs 
ber weitete Spielraum gewährt. Was dem Einen als Beleidigung 
erfcheint, nimmt der Andere gleihgiltig hin, mas diefem ein 
Ehrenpunft, it Jenem ein bloer Schall. Weld’ eine lange Neihe 
von Chrauffaifungen zwiichen jener, die die fubtilite Standesehre 
zur eigenjten macht und jener anderen, die der verlumpte Falitaff 
in die Worte Heidet: „Ehre? Was jtedt in dem Wort Ehre? 
Luft... Ehre ift nichts, als ein gemalter Scjild beim Leiden 
zugel” Welch” eine Kluft zwiichen jenem Offfier, der einem 
Hiviliften den Degen durd) den Yeib rennt, weil er fid) von ihm 


























40 Der Ehrbegriff auf der Bühne. 


für beleidigt Hält, und — Cofrates, der mit philotophiicher Nuhe 
einen Tritt Hinnahm und lächelnd bemerlie: „Aber wie? werde 
ib) denn hingehen und einen Cjel verflagen, wenn er mid) 
getreten hat?“ 

Ehre! Melde Vlenge von Definitionen befchäftigen fi mit 
ihr und hat irgend eine das Nichtine getroffen? „Ehre it der 
gute Rufl” — jagen Die Einen. „Ehre iit der Werth, den der 
Einzelne für die menichliche Gefellichaft hat“ die Anderen. 
Die Dritten fommen und meinen: „Sie ift der Aniprud) auf 
Adtung”. in Necdtsphilofoph, wie Köitlin, bezeichnet fie als 
„iente Quintejlenz der Perlönlichteit” und wieder ein anderer 
‘EHilofoph, der grofe pi je Verfechter des gelunden Dienjchen: 
verftandes Schopenhauer fchreibt, icharfiinnig die Zweibeit des 
Ehrbegriffes Fenngeichnend: „Ehre it das Äußere Sewilfen und 
Sewijen. ift die innere Ehre“... Was ift Tolhen Wandlungen 
unterworfen bei Völkern, Ständen, in Zeitepochen, wie der Chr: 
degrifft Wieviel Menfchenleben find ihm geopfert worden, wieviel 
Elend ward um etwillen ertragen, wieviel Wahnmwig beruft 
fh auf ihn, wieviel Größe und wieviel Niedertraht hat er 
gezeitigt . 
























+ 





Und fo hat fid jederzeit auch die Dichtkunt mit ihm 
beichäftigt und Noman und Drama Haben oft die Ehre als einen 
Ronflilt gaftor in den Dittelpunft üprer Handlung geftelt. Bei 
verichiebenen Völlern und zu verichiedenen Yeiten in verjchiedenem 
Grade. SJezueilen Tommi aber eine Neriode, wo ber Stoff 
befonders in der Yaft zu liegen icheint. Zo war's, was Deutichland 
betrifft, vor ein paar Jahren und Zudermann's nad dem Stoff 
jelbjt benanntes Schanfpiel_,Ebre” und des jüngit verjtorbenen 
Baron Alerander Noberts Dichtung „Satisfattion“ waren damals 
zwei der hervorranendften VBühnentraktate dieier Gattung. 

In einer folchen Seit befinden wir uns offenbar aud) jet 
wieder Seit Jahresfrilt find die Kragen von der Standesehre 
und vom Duell in der Sefellihaft, in der Preife, im Parlament 
an der Tagesordnung. Yeitartifel und Vroicüren, Aneiptiichredner 
und Politifer, Männer des commun sens und Vertreter des 
Zittengeiege> befchäftigen fidh mit ihnen, freitich, ohne da; man 
auch nur um Schrittes Breite vorwärts lüme, Erlebnijje und 
Vorfommnille des Tageolebens Dald hier und bald dort, monarchtiche 
Willensfundgebungen und parlamentariihe Anterpellationen geben 
dem Pleinungstreit immer wieder nene Nahrung. Aber ichliehlich 
handelt es fich bei diefem fruchtloien Streit garnicht um die Ehre 
jelbjt, fondern nur am den Chrentoder, um das ftachelige 




























Der Ehrbegriff auf der Bühne. 4 


Etwas, das in beitimmter, aljo bier umferer Zeitepoce, das 
Ehrgefühl des Einzelnen lenken und leiten zu dürfen beanjprucht. 


Dan follte num denken, daf der Dichter das Necht und die 
Möglichkeit hätte, fi ungejtraft über den Ehrenkoder zu ftellen 
und die Begriffe Veleidigung und Genugthuung im Sinne etwa 
der Hehihen Ausführungen zu behandeln, die mir jüngjt wieder 
ganz zufällig in die Yände fielen, gerade wo Berliner Publifum 
und Kritit fi beionders eifrig mit den Begriffen von der Ehre 
beihäftigten, Ausführungen, auf die id) deshalb erft hinwies. 

Indeffen, dem ift nicht jo und wie gleid) gezeigt werden 
joll, gehen die Dramen, die zu dem Gerede hauptjächlic, Anlad 
geben, durchaus von dem von Schopenhauer jo perhorressirten 
mittelalterlichen Chrentoder aus, um in ihm fchlichlich fteden zu 
bleiben: theils ganz bewuht, weil eo nur gilt, einen. ergreifenden 
Abihnitt aus dem Leben der Wirklichteit auf die Bühne zu 
bringen, theils, weil man nad, gutem fatirischem Anlauf plöglid) 
Kehrt und vor dem Gögen Citte feine Neverenz madıt, obichen 
in der großen Majle eine immung zu berrfchen jcheint, die cs 
am Ende als eine befreiende That begrüfen wide, wenn diefe 
Neverenz unterbliebe. 

Doc) zur Sache. Ich will nur nod) bemerken, dah es fid) 
Hier im Uebrigen um nichts weniger handelt, als um einen 
weiteren Traltat über den Chrbegriff und um eine Unterfuhung 
der moralifcien und foialen Verehtigung oder Werwerflichfeit 
des Duells. Cs liegt in der Natur der Sadıe, daf; diefe Fragen 
noch gar fange offene und vielumjtrittene bleiben werden und daf; 
65 immer mehr Leute geben wird, die, wenn fie fi 5. B. gegen 
das jedhste und achte Gebot vergangen Haben, zitternd Hinter dem 
fünften fich zu veridangen juchen, jobald es an die perjönfiche 
Verantwortung gebt, wie andererfeits die Zahl Derjenigen immer 
geringer fein wird, die für Eingriffe in ihr Leben auf dem Voben 
jener Intereffenfreife fih Genugthuung zu fcaifen fuchen felbit 
trog des fünften Gebotes. 

* * 
Pr 

&s ift gewiß fchr interefiant, dab zur Zeit auf drei ganz 
ichiedenen Verliner Vühnen Toldye Ehrenfrage : Dramen zur 
Aufführung gelangen und es ericheint durchaus begreiffich, da 
der große Erfolg, der einigen von ihnen zu Theil wurde, fein 
bio; fünjtteriicher ift, fondern fich and gerade durch) die in Folge 
m. X. der entieglichen Afaire von Brüjewig wieder einmal afut 
gewordene Ventilirung der Standeschre, namentlich der Offisierschre, 
und des Duellzwanges erflärt. 





























42 Der Ehrbegriff auf der Bühne. 


Diefe Bühnen find die hodhtonfervative des „Röniglicen 
Schaufpielhauies”, die gut bürgerliche des „Schillertheaters* und 
die oppofitionelle der Jungdeuticyen, die des „Deuticen Theaters“. 

Im Hoftheater is freilich Fein deuticher Dichter, der zu 
Worte gekommen it, jondern ein Ipaniicer und zubem einer bes 

17. Jahrhunderts, der fruchtbare, vermuthlich jung verftorbene 
omddien und Tragödiendichter Don Francesco de Nojas 
Zorilfa. Sein einjt berühmteites Traueripiel „Del Rey abajo 
hinguno“ hat einer der bedeutenditen Künitler der Hofihaufpiel: 
Truppe, Adalbert Matfowsti, nad) der Dohrnichen Neberjegung 
in Hangvollen Verfen neu bearbeitet und unter dem Titel „Der 
Graf von Gaftanar” zur Aufführung gebradt. Der Titel 
des Originals lautet: „Außer meinem König —— feiner”. Und 
jo deden fi) Inhalt und Titel wirklich. Cin Ehemann — id) 
kann natürlich nur die Grundidee der gerade in allem Webrigen 
mehr, als in diefer, reizvollen Dichtung wiedergeben — ein Ipanifcyer 
Eyemann und Edelmann aljo Hält fi für vom Könige in feiner 
Guttenchre gefränft. Das Hit — nur fo verjuchsweile. Den, 
der fid) in der Nacht gemaltfom bei jeinem treuen MWeibe 
Gingang verfhaffen wollte, befommt er nod) glüdlid) zu paden 
und glaubt zu feinem Entjegen in ihm den jungen König zu 
erfennen. Ein heftiger Konflift zwiihen Wlannesehre und 
Viannentreue entbrennt in ihm. Und wie will der Didalgo ihm 
(öfen? Er will zuert das unfhulige Weib und dann aud) fid) 
tödten! Aber die Donna entfommt und zwar in den Königspalaft. 
Hier flärt fh Ales auf. Der Böfewicht war ein Hofmann. Yon 
erjticht der Näder feiner Ehre mit den Worten: „Außer meinem 
sönig feiner!”... Cine etwas harte Jumuthung an bie 
Empfindung und die Logik unferer Zeit — dieje Sophiiterei ber 
Hidalgoehre, die in der Yera des jüs primze nocüis und zudem 
in Spanien, wo mandes Ipaniic war und üft, die Zufchauer wohl 

haben mag. Les extrömes se touchent -— bie 
zugeipigtefte Ch Sp zur. Ichofeliten 
Lafaienunterwürfigfeit. Der Nonjens der Thefe beeinträchtigie jo 
die fünftlerifchen Vorzüge der Dichtung. Ja, wenn mod) ber 
Hidalgo, als er in feinem Jerthum befangen war, fich fetbit allein 
hätte tödten wollen. Aber aud) das treue, unfduldige, nicht 
einmal vom Ehrenräuber bejudelte Weib —- darüber fam man 
nicht himveg. 

Mit minder wüjten Chren-Wahnfinn haben wir es im 
Schiller Theater zu thun. Ciner von den „Jungen“ hat dort 
einmal ausnahmsweile Zutritt gefunden, und einer der begabteften 
und eigenartigiten: Otto Erich Hartleben, der Verfaffer u. U. 
der „Angele” und der „Danna Jagert“. „Ein Ehrenwort” 

















Der Ehrbegriff auf der Bühne. 443 


heit das vieraftige Schauipiel, das feine Vühnenprobe fon im 
vorigen Jahre in Bresiau erfolgreid) beitanden hat, in Verlin 
aber erft jegt zur Aufführung fan, ebenfalls mit ftarfem Erfolg. 

Hier muß ich fon etwas ausführlicher werden. 

Der Maler Hans Burkhardt, Regierungsafieffor von Gollen- 
berg, Dr. med. Heydel und Redakteur Dr. Gotter haben einjt 
derielben atademifchen Verbindung angehört. Gotter erwies fid) 
als Lump. Er unterihlug wiederholt Gelder der Vereinsfafle, 
fogar Mohlthätigfeitsfonds. Die anderen drei dedten die Fehl 
beträge und gaben fih das Ehrenwort, über die Sache zu 
ichweigen... Jahre vergehen... Burkhardt verliebt fih in 
Elfe Thomann, holt fih aber vom unvernünftigen Mädchen, das 
wohl an mancder der Außenfeiten des trefflichen Menfchen Anjtoß 
genommen, einen Korb. Der Maler fucht in Italien Vergeiien, 
aber vergeblich. Ungeheilt Tehrt er zurück und findet Elie als 
Braut des glänzenden Journaliften und Nedafteurs Gotter. Ihrem 
Bruder gegenüber entfährt ihm das zutreffende aber bedenflidhe 
DIN „Der Pump“, Der Konflikt ift fertig: motiviren oder 
ven und fomit Eljen’s Unglüd befiegeln. er Dlotiviren 
dann mühte er fein Ehrenwort breden! uf den vor- 
trefflichen erften At mit einer berüdenden Milieu- Schilderung, 
folgte ein ebenfo vorzüglicher zweiter und ein äuferft wirfiamer 
dritter AfL, obichon in biefen beiden unaufhörlic die Frage ventilirt 

irde Toll und Bann Burkhardt das Chrenwort breden. Das 
flingt fchr undramatiih, ift aber fein theatraliich im guten Einn 
des Wortes behandelt.  Hartleben läßt alle Anjchauungen zur 
Geltung fommen. Den bes forreften Chrenfodermannes nimmt 
u. A. der Aifefor ein, der fogar weint, äußerlich fei doch Gotter 
jegt durchaus rehabilitirt und er fönne fogar für fatisfaktionsfähig 
gelten. Und Gotter? Gotter pocdht auf das Ehrenwort und als 
ihm Burkhardt in einer Nufwallung gar den fdimpflichen Nevers 
zurücigiebt, den Gotter damals unterzeichnen muhte — da 
erflärt biejer Furgweg: entweder demüthige Entjculdigung oder 
Denfur. Der Maler, der es nicht über fich bringen kann, vom 
ftarren Buchjtaben des Ehrenfoder abzumeichen, entichlieht fih zum 
Duell mit Demjenigen, den er jegt erit recht für einen notoriichen 
Lumpen hält... No) fonnte man glauben, Yartleben wolle 
eine modern erbarmungslofe Satire bieten. Aber es fommt 
anders und aus dem bis dahin fo echten Hartleben wird pföplic) 
ein imechter, ein in der Farbe philifterhafter Vürgermoral gefärbter. 
Fım Duell wird Burkhardt leicht verwundet, aber Gotter triumphirt 
doch nicht. Dr. Heydel, minder jfruputös, evfärt Gotter, er werde 
beifen Vergangenheit aufdeden, wenn er nicht freiwillig zurüdtrete. 
Das geichieht nun. Elie erfennt erit jest ihr Herz, pflegt den 
































44 Der Ehrbegriff auf der Bühne. 


zuguterlept fehr tomantiich phantafirenden Nugendfreund wohl 
gelund und heirathet ihm natürlich aud. Was fi als eine herbe 
Satire anlieh auf die in eigenen Ehrbegriffen verfangene Ans 
jtändigfeit, die jo der Niedertracht gegenüber unterliegt, das löit 
ich aljo in Wohlgefallen auf. Um fo idmerzlicer, als fonit 
Alles naturatitiich vzächtig wahr und fünitleriic) fein ausgearbeitet 
ift, Towohl was die Charaktere betrifft, als auc in Bezug auf 
Szenenführung und Eituationen in den erften drei Aiten. Die 
große Maile war's wohl jo zufricbener. 


+ 








Doc) da ift der geiftvolle Wiener Arthur Schnipler, der 
im vorigen Winter im „Deutihen Theater” mit „Xiebelei” ein 
ergreifendes Stüct Venfchenleben zur Aufführung brachte, wie ic) 
feinergeit eingehender berichtet Habe. Das, was damals im 
bende Epifode war, das ijl in feinem 
neuen git im jelben Theater zur überhaupt erfimaligen 
Aufführung Fam, zum Mittelpunkt bes Ganzen geworden — ein, 
ober richtiger das Duell. „Nreiwild“, io Heißt der neue Drei: 
after, zeiat viele der Vorzüge des älteren Schaufpiels: Idhöne 
Dienjchenfchilderung, gut beobachtete ‚Zebenserfcheinungen, ins 
beiondere eine Fülle von Iebendigften Zügen aus einem Badeorte 
in der Umgebung Wiens mit feinem Offisierstreiben und feinen 
Sommertheatertopen, viel warme Stimmung u. |. w. Aber fünftleriich 
bedeutet e3 einen Nüdjchritt, denn der Tendenzitreit drängt fi 
immer wieder vor und mit dem Helden fann man jchlichlicdh nicht 
mehr fompathifiven, weil er zum ftarrfinnigen Querfopf wird 
und feine Dandlungsweile zudem von unrichtigen VBorausjegungen 
ausgeh 


















iefer Querfopf ift der reiche Dialer — als 06 immer nur 
Stüntfer fi ihren aparten Jdeenkreis bilden Tönnten — Paul 
Nnning. Bon fchwerer Krankheit genefen, will er erfi redt fin 
eben geniehen in behaglicher Funfigeichmüchter Nuhe. In einem 
Badeort lernt er eine tugendhafte junge Schaufpielerin Tennen — 
«5 joll aud) jolche geben — die allein ihre eigenen filtfamen Wege 
gebt und eben darum fc inmitten ber ulilenfreundihaften und 
Reftaurantliebichaften ihrer Kolleginnen fich ebenfo vereinfamt und 
unglücklich fühlt, als fie empört ift über die Zubringlichfeit der 
Lobemänner in Uniform und bürgerlicher Kleidung und über bie 
Gemeinheit des Theaterdivektors, dem cs weniger auf das 
fünftleriiche Können der weiblichen Mitglieder feiner Truppe 
ankommt, als auf ihre Fähigkeit, ihre Meise dem Publifum 
gegenüber in den Dienft von Jweden zu ftellen, die mit der 
Nunjt nichts zu thun haben. Paul und Anna Riedel aljo lernen 

















Der Ehrbegriff auf der Bühne. 445 





fich fennen. Hier und da eine Begegnung auf der Promenade, 
gemeinfame längere Spaziergänge nüpfen ein Band zwiiden den 
beiden. Es ift nicht Freundichaft, es it nicht Yicbe; es üt ein 
icverftehen der Eeelen, 05 ijt ein Zueinanderflühten aus den 
Mattheiten und Gemeinheiten der fie umgebenden Wirklichkeit. 
Auf der anderen Seite fteht eine Gruppe Lebemänner, in Zivil 
md vornehmlich in Uniform; ganz prächtige öfterreichiiche Kientenants- 
tpen, darunter ein übrigens dicht vor dem „ichlichten Abichich“ 
fiehender Schudenmacher und Mädchenjäger von ungeftümem, 
heißem Blut, Xertreter einer hlingsrace, wie man fie in 
Tejterreich häufig trifft, Marinjfi mit Namen. Diefen reizt icon 
lange die Eprödigfeit der Anna. Gerade deshalb joll jie fein 
Opfer werden. Und umfomehr, als er im verhaßten Dialer den 
begünftigten Liebhaber wähnt. In deiien Gegenwart wettet er 
mit Kameraden, das diefes „Mienfd vom Theater“ nicht beijer 
fei, als die übrigen Alle und daß; er ned) am jelben Tage mit 
ihr foupiven werde. Natürlich wird feine erit jchriftlich, dann 
perfönlich vorgebrachte Einladung zurücgewielen. Cr wird von 
Mnna überhaupt garnicht in’s Haus gelaffen. Nönning kat dazu 
böhniih. Darauf Hat Karinjfi nur gewartet. Der Streit üt 
fertig und er endet, für ihm Möglich: che er fc deilen verficht, 
wird cr vom Jivili tfeigt . Ein Tuell auf Tod und 
Leben it unvermeidlich. Aber Nönning denkt gar nicht davanı 
„ich habe den Buben als einen Buben behandelt, wie er es 
verdient und im Uebrigen fällt cs mir garnicht ein, mein Leben 
Diejes Lumpen wegen auf's Zpiel zu fegen; ich möchte es geniehen, 
jegt erit vet”. Prinzip gegen Prinzip afjo; jtarrföpfiger commun 
sens gegen unerbittfiche Chrenfover Forderungen. Aber fan man 
mit Nönning Inmpathifiren? Mit welchem echt greift er als 
Eittenrichter und Eittenmodler ein? üfte ihm derjelbe gelunde 
Dienichenverftand nicht eine andere Handlungsweiie gegenüber dem 
„gumpen“ diftiren? Ein weltmännifcher Freund und der bejonnene 
KRartellträger des Yientenants verfuchen vergebens, ihn anderen 
Einnes zu machen. Er bleibt dabei: was acht mich das weitere 
Scicjal Kariniti's an. Er hat es feiner eigenen, Verhmptheit 
zu danken, wenn ihm nichts übrig bleibt, als ich eine ugel vor 
den Kopf zu idiehen!... Auf gegneriicher Seite wird Nönning 
des Mangels an Muth verdächtigt und man fcdhlägt daher, nur 
um Narinjfi zu retten, abgeichmadter Weile ein „Schein: Duell“ 
vor, das der Maler natürlicd) erft vecht ablehnt. Witten in diefe 
afademiichen Debatten hinein, die den zweiten At in jpannender 
NWeife füllen, fällt eine ebenjo natürfich herbeigeführte, als poetüc) 
reizvolle Verlobung: zwiichen Nönning und na, die ihn 
auch beichwört, mit ihr abzureifen. Paul willigt ein. Da exicheint 







































446 Der Ehrbegriif auf der Bühne. 


der Kartellträger noch einmal und warnt ihn: Karinifi Tei Alles 
zugutrauen. „So? Dann aljo darf_ich natürlid nicht abreifen, 
das fähe wirklich wie Klucht und Feigbeit aus“... Er bleibt 
und cs geidieht, was wirklich im Leben neidhehen wäre. Auf 
derjelben Stelle der Promenade, wo Narinifi beleidigt worden, 
ichießt er Nönning wie einen Hund nieder. Weber ihm bricht 
Anna zufammen: „was wird aus mir‘ 

„Rreiwitd“ find alio nicht blof die Damen vom Theater, 
jondern auch die Ziwiliften gegenüber dem Offizier? Was aber hat 
Schnigler bewiefen? Nichts, abfolut nichts. Er hat nur einen 
„enfationellen Fall“ dramatilirt. Ein Neporterbericht anf der 
Bühne. Ein Ausicnitt aus dem Leben, aber feine Fünitleriich 
befreiende That.  reilich — im Vergleid) zu Hartleben's Schaufpiel 
eine „Sative*, Aber ihre ige it abgebrochen. Die Quer 
föpfigfeit Nönning's verdirbt fie. Es wären andere bdramatifche 
Auswege möglich neweien; fie liegen zu fehr auf der Hand, um 
bei ihnen zu verweilen. 

Aber bedenkt man, dah zwei Wochen fang vorher, die 
Karlsruher Movrdaffaire von Vrüjewit Ziepmann alle Gemüther 
in größter Aufregung erhalten hat, fo läht fd eine Vorftellung 
davon gewinnen, wie an jenem Premidren Abend im Foyer und 
Neftaurant des „Deutichen Theaters" Ddebattirt wurde. Yan 
Haute fi in den Mandelgängen eines Gerichtsnebäudes oder 
Parlaments, nicht — in einem Nunftinftitut. 

Wohl aber bot uns in demielben Theater auf demielben 
Boden der Ehren: und Duclffrage Hermann Sudermann ein 
abgerumdetes unjtwerk, das, To Hein es ift, eines feiner größten 
bleiben wird. Jm engften Nahmen giebt ex im zweiten Stüc 
der „Morituri“, im „Srigchen“ das erihütternde Spiegelbild 
einer ganzen Dafeinswelt. Der Vater, der vornehme alternde 
Lebemann, der den Sohn heißt, fih austoben, che er heirathet 
und fih dann in die fürchterlichen Folgen Teines Nathes gefaßt 
fügt; die Putter, die Fränfelnde, ihren „Einzigen“ vergätternde, 
von des Nönigs Gunjt für ihm tränmende, in ein Pbantafieleben 
eingeiponnene Dame von Welt; die Nichte, die den Sohn licht, 
und auf Gchei des Vaters warten muß, bis Arit ausgetobt; 
diefer felbit, der eigentlich nur widerwillig den Nath des Vaters 
befolgt, von einer älteren Kofetten umgarnt und, als der Gatte ihn 
bei ihr trifft, auf den Hof binausgepeitfeht wird; dev cs dann 
als Hunft empfindet, dah man ihm den Zweifampf noch geitattet, 
nichts von einem neuen Yeben jenjeits des Ozeans willen will 
umd getroft in den ficheren Tod geht, der ihm eine Erlöfung 
bünft wie find die Typen alle lebenswahr und wie natürlich 
die Eitwation, in der fie uns vorgeführt werden, ausgehend 

































































Der Chrbegriff auf der Vühne. 47 





allerdings von ber nicht gany wahrfcheinlichen Prämiii 
Frigchen vor dem Duell noch einmal heim fommt, die Si 
zu fehen, von denen aber nur der Water eingeweiht wird in die 
tragiiche Lage... Welch’ ein Sprung von den dozirenden 
Räfonnements des Grafen Trajt in der „Ehre“ zu diefem 
Lebensbild von um fo ergreifenderer Wirfung, als bier garnicht 
tälonnirt und dozirt, fondern mit der autofratifchen Herrichergewalt 
des Chrenfoder als etwas Selbjtveritändlihen gerechnet wird. 
Frigchen’s innere Ehre, das Gewiifen, befindet fich in volljtem 
Ginflang mit dem äuferen Demilen feiner Standesehre. 
Verhängnif, nimm deinen Lauf. 

Aber Sudermann vermag auf demfelben Gebiete and als 
Schalt fich zu zeig Die Handlung in der „Morituri” legten 
Stud „Das Ewig-Männliche” gipfelt in einem  fujtigen 
Scheinduell, zu dem fih der Günftling der Königin, der vornehme 
Hofmann, mit dem Iebenslujtigen Maler verjteht — der ein Feind 
des Duells, wie Paul Nönning — um jo die wahre Gefinnung 
der mächtigen Gebieterin feines Herzens zu erfunden. Ein Kujtiges 
Voifenfpiel in anmuthigen Werfen und ganz und gar Moliere'ichem 
Sinn, das eigentlich, nicht hierher gehört. 











* 


Wohl aber gehört hierher ein anderer Ginafter, der ganz 
fürzlich im Seffing- Theater zur Aufführung fam: des hodmodernen 
Italieners Alberto Bracco ergreifende Tragödie „Masten“. 

Pier paart fih der commun sens mit chrenwerthejten 
Herzensregungen. Wielmehr, mas fid) wie gelunder Menfchen 
verjtand ausnimmt, it, ein Opfer der Liebe, der Vaterlicbe. 
Kaufmann Palmieri_ift über ein halbes Jahr auf weiten Geichäfts- 
reifen gewefen. Seinem Nompagnon und Hausfreund hat er 
inzoifchen die Führung der Geichäfte ımd die Veihügung von 
Frau und Tochter überlaffen. Der aber ift ein Schuft, wie Fran 
Palmieri ein heißblüthiges, leichtfinniges W Sie hält dem 
Berführer nicht Stand. Us der Hatte heimkehrt, geht fie jhuld 
bewußt in den Tod. Gerade im Augenblid, wo die Polizei im 
Haufe der Selbjtmörderin ihres Amtes waltet, tritt Palmieri ein 
und erfährt aus dem Protofoll, daß mit der Selbitmörderin aud) 
der viermonatlide Keim eines neuen Lebens zu Grabe getragen 
wird. Den Schuldigen hat er in einer änßerjt |pannenden Szene 
fehr bald Gerede. Was nun? Ihm an den Hals ipringen 
und erwürgen oder gar cin formelles, Forreftes Duell? Aber jotl 
der Selbjtmord nun nod Mord zeugen? Wenn auch das Sericht 
ihn iprechen würde welcher Art wire wahl der jungen 
Tochter Zukunft, der er fowiefo in der eriten Verzweiflung verboten 





































448 Der Ehrbegriff auf der Bühne. 


bat, fi der Leiche der Mutter zu nähern? Nein ihr hat 
er eben exft veriproden, fortan ganz allein ihr zu leben, der 
mutterlofen. Und nun foll er ihr den Glauben an die Vutter 
vauben und jelbit zum Mörder werden? Nein, day fann er nicht. 
Darum — Masten vor! Bor der Weit jolle gemacht werden, als 
fei nichts geicheben, das Geheimnig der Schuld foll mit der 
Schuldigen begraben werden und zu Protofoll giebt er auf 
Befragen des Polizeibeamten die Antwort: „Wann ich verreifte? 
Kım etwa vor vier Monaten! 

Alles Äft ungeheuer gedrängt und Tnapp, zu gehängt und 
zu Fuapp vielleicht in jeiner bitteren Dragit, als daß das Yublitum 
fie ebenfo raid) verwinden fönnte. Der Erfolg war daher weit 
geringer, als nad) der padtenden Grundidee und ihrer meifterhaft 
realiftchen Behandlung angenommen werden durfte. 

Der war's nur der Ausdrud des natürlichen und gefunden 
Nechtsgefühls der Mafie, das nicht mit diefem  ehelmüthigen 
Opfer jompathifiren fonnte? 

Wie dem aud) jei - hier haben wir einmal einen Dichter, 
der die Ehrenfrage auf jeine Meile föfen wollte und — er fiel ab. 


Soll das etwa von Tymptomatifcher Bedeutung jein? That 
fache ift, daß von all’ diefen modernen Ehredramen das Bracco'iche 
den geringiten Erfolg hatte. Man bewunderte vielleicht Palmieri, 
aber man verftand ihn nicht... Ich glaube, das richtige Ehre 
drama muß noch geichrieben werden, wenn anders c6 überhaupt 
je gedichtet werden fann. 








I Norden. 


ar 














Kitteräriühe Streilihter. 


Zu den dumfelften und tranvigiten Kapiteln in der Geicichte 
der abendländiichen Menjchheit gehören neben den Kegerverfolgungen 
die Herenprogeiie. Während aber jenen doch eine Idee, wenn and) 
verzerrt und verunftaltet, zu Grunde liegt: die Aufrechterhaltung 
des wahren und reinen Glaubens, die Beihüsung der Kirche 
gegen das Eindringen falicher gefährlicher Lehren, fo ericheint der 
Herenglaube und die Herenverbrennung als ein Probuft wahn- 
finniger Verblendung und unbegreiflicher Geiftesverfinjterung. Und 
baf diefer furchtbare Wahn gerade mit dem Beginn der neueren 
Zeit die größte Ausbreitung gewann und im 16. und 17. 
Jahrhundert die Herenprozeiie in höchiter Vlüthe ftanden, macht 
die Sadye noch räthjelhafter. Es ift daher in neuerer Zeit vielfach, 
verjucht worden eine Erflärung für Diele geiftige Epidemie zu 
finden. Die Dleinung, da mır Aberglauben, Bosheit, Nadhjjucht 
und Habgier die Urfahe der Herenverfolgungen geweien jeien, 
reicht zur Erklärung der ganzen furchtbaren Ericeinung nicht aus. 
Unzweifelfaft Haben die angeführten Motive in vielen Fällen 
ftarf mitgewirkt, ja die Verfolgung hervorgerufen, aber die Quelle 
der Herenprozeije überhaupt jind fie nicht. Weiter ift es eine 
viel erörterte Frage, ob der Herenglaube, zunäcit in Deutichland, 
in altgermaniichen religiöfen Vorjtellungen jeine Wurzel habe, 
ober ob er erjt unter dem Einflufe der mittelalterlichen Kirche 
entjtanden und verbreitet worden ift. Die Yitteratur der Deren 
progefie ift fait unüberfehbar, da fih die Verfolgungen der des 











6 


450 Eitteräriiche Streiflichter. 


Bundes mit dem Teufel Verdächtigen bis in die entlegenften 
Gegenden erftredten; aud) bei uns hat e6 nicht an joldhen Progefien 
gefehft und wie tief eingemurzelt der Herenglaube auc) in unferem 
Sande war, Ichren allein icon die Herenpredigten des waderen, 
hodjverdienten Hermann Camjon, Cberpajtors zu Et. Peter in 
Riga und fpäteren Superintendenten von Livland. Die Gedichte 
der Herenprozeffe von Soldau-deppe ift ein treffliches Werk, in 
dem nicht nur ein reiches Material zufammengeftellt it, Tondern 
das aud) bie ganz ungehewerliche Ericheinung zu erflären und 
begreiflich zu machen jucht. Indeflen befriedigt cs gerade in dieler 
Beziehung weniger. Durch feine Zuverfäffigfeit und Genauigkeit 
wird Soldau’s Buch immer feinen Werth behalten, aber daß «6 
den unermehlichen Stoff nicht erichöpft und nicht erihöpfen Fonnte, 
Haben viele jpätere aftenmähige Veröffentlichungen gezeigt. Jeder 
neue Beitrag zur Aufhellung diejes traurigen und dod) fo wichtigen 
Kapitels der Kultur: und Sittengefchichte kann daher auf allgemeines 
Intereife rechnen, zumal wenn er fidh nicht auf die Mittheilung 
des rein Thatjächlihen beihräntt, jondern den Gegenftand unter 
weiteren Gefichtspunften behandelt. Das geidieht auf fchr 
beachtenswerthe Weife von Sigmund Niezler in jetner 
Gejchichte der Herenprogefie in Bayern, im Lichte der 
allgemeinen Entwidelung dargeitellt.*) Der Verfafier, ein 
Schüler Wilhelm Giefebreht's, wohlbefannt durch feine Geichichte 
Baierns im Mittelalter, legt in diefem Buche die Nefultate feiner 
gründliden ardivaliicen Forihungen nieder. Von befonderem 
Intereffe ift der erite, allgemeinere Theil, der fait die Hälfte des 
Buches einnimmt. Niezler unternimmt cs darin nadjjuweilen, 
daß der eigentliche Herenglaube exit jeit dem 13. Jahrhundert 
durd) die Stirche felbft begründet und verbreitet worden it, indem 
bejonders die Dominikaner als Kegerinquifitoren den Herenwahn 
inftematifch ausbildeten umd die des Vumdes mit dem Teufel 
Verdächtigen verfolgten. Der von nnocenz VII. 1848 beftätigte 
‚Serenhammer (malleus maleficarum) brachte dann den Firhlicen 
Herenglauben in ein förmliches Cuftem und gab zugleich die 
eingehendfte und genaueite Unterweiiung zur Aufipitrung, Ver 











” 





ttgatt, Verlag der 3. ©. Eotta’icen Buchhandlung Rachfolger. GM, 


Litteräriice Streiflichter. 451 


folgung und Weberführung der Heren und Zauberer. Von biejem 
furchtbaren Buche aus, das, wie Niezler nadweilt, den gröhten 
Einfluß auf die Vorftellungen und Gedanfen der Meniden des 
16. Jahrhunderts, auf die damalige Kitteratur und Kumjt ausgeübt 
hat, haben fi) dann die Yerenverfolgungen wie cin breiter, 
fhwarzer Strom über Europa, insbejondere über Deutichland, 
ergojien. Zwifchen fatholiichen und protejtantiihen Territorien 
war in Bezug auf die Herenprojefie fein Unterihied, im Gegentheil 
wetteiferten, wie Niepler bemerkt, die drei Kirchen miteinander in 
der rüdjichtelojen Ausrottung der Heren und Zauberer. Wenn 
aber Niezler Luther für die Greuel der PHerenprogeife bei den 
Protejtanten veranhwortfid machen will, weil der Neformator 
jelbjt im Herenwahn befangen geweien, fo tut er ihm unrecht. 
Allerdings hat Yuther an die Bündnifie mit dem Teufel und an 
die jchäbfihen Wirkungen, die von den Heren ausgingen, als 
Kind feiner Zeit und chter Bauernjohn geglaubt, aber daß er 
die Verfolgung der Neren gepredigt und ihre Verbrennung 
gefordert hat, davon findet fid) feine Spur; «6 lag das aud) 
garnicht in feiner Art. Die Herenprogeife breiten fic) auch erit 
lange nad) Luthers Tode in den protejtantiichen Gegenden 
Deutfchlands weiter aus. Mit Schaudern lieft man Niezler’s 
Ausführungen über das Verfahren bei den Derenprogeiien, bie 
Anwendung der Folter, die verftridenden Fragen der Nidhter, bie 
fummariiche Urtheilsiprehung und die granenvolle Art der Din- 
richtung. So verdienjtvoll des Verfaiiers Forihungen find und 
fo beflagenswerth die von ihm nadhdrüclich betonte Betheiligung 
der SKirden an bdiefen Greueln it, feiner Auffafjung und 
Benrtheilung des Herenglaubens fönnen wir dod) nicht zujtimmen. 
Sie ijt ftart rationaliftiih und will alles mur durd) Bosheit, 
Wahnmig, Dummheit, Aberglauben, Selbjttäufhung ımd Ein 
ichüchterung erklären. Das trifft gewiß, wie wir hen oben 
bemerften, bei einem großen Theile diefer Anklagen und Prozefie 
zu, aber cs bleibt ein Net, der auf dieje Weije nicht erklärt 
werden fann. Ciniges läht fich »iycholagiich als frankhafter 
Seelenzuftand und innere geiftige Störung auffajfen, nicht weniges 
weift auf Zuftände der Betreffenden bin, wie fie in unferen 
Tagen der Hppnotismus, die Suggeftion hervorrufen, die fid) 


0. 








452 Litteräriiche Streiflichter. 


nicht felten geradezu unheimfich darftellen. Auf dietem bunfeln 
Gebiete des Geiftes: und Seelenfebens find noch mande Näthiel 
zu Löfen und es it nicht richtig alle Crfeheinungen jener Zeit als 
Jrrwahn zu bezeichnen und auf thörichte Cinbildung und bornirte 
Nohheit zurücuführen. Wenn man die geiltige Epidemie der 
SHerenprogefie im 16. und 17. Jahrhundert mit Necht verurtheilt, jo 
follte man nicht vergefien, das; auch zu anderen Zeiten jofdhe Epidemien 
nicht gefehlt haben. I nicht der Anariomus und Nihilismus 
unferer Tage mit feiner brutalen Zeritörungsmwutb, feiner gegen 
alles Veitchende gerichteten Vernichtungstenden; auch eine jolce? 
Und mitten in der atheiftiiben dritten franzöfiichen Nepublit 
erhebt der Zauber und Herenglanbe in der Gegenwart wieder 
feed fein Haupt. Das fol uns dazu mahnen, aud bei der 
Beurtgeitung der furdhtbaren Verierungen vergangener Zeiten der 
Geretigfeit nicht zu vergeflen und deifen eingedenf zu bleiben, 
dah der Wahn in wechlenden Formen die Dienfchen mr zu 
feicht beftridt und beherricht. Ein Yichtpunft in dem fchredlichen 
Drama der Serenprojefie it die Thatiache, da «9 niemals an 
einer Oppofition gegen die Herenverfolgungen gefehlt hat, die 
aud, da der Herenwahn den böchjten Gipfel erreichte, nicht 
verjtummte, dann allmählich immer lauter und allgemeiner wurbe, 
bis fie zulegt den Sieg errang. Niczler madıt darüber ehr 
anziehende und Ichrreihhe Meittbeilungen; bie Namen diefer 
treftlichen, edfen Männer, eines Weier, eines Sodelmann, eines 
Friedrid von Spee Tollte die Nachwelt in trewem Gebächtniß 
bewahren. Wie Nieyler ausführt, haben bie Herenverfolgungen 
im Herzonthum Baiern niemals den furctbaren Umfang, wie 
in anderen deutichen Ländern erreicht. Der unter dem Namen 
des bairiichen Herenfrieges befannte litteräriche Streit von 1766, 
über den unfer Autor eingehend berichtet, gab dem Derenglauben 
in Baiern den Todesitoh. slev’s Buch, das cine Fülle von 
befehrendem Detail enthält und auf reihem urfundlichem Material 
beruht, ift ein wichtiger Beitrag zur deutichen Kulturgeichichte. 


























Wie uns €. Nentich's unlängit an diefer Stelle beiprodhenes 
Yuch „Wandtungen“, die Lebensverhäftnifje und Zuftände Schlefiens 
im zweiten Drittel diejeo Jahrhunderts anichanlich vorführt, io 
verjegt Aug. Anötel’s Schrift: Aus der Franzoienzeit, 


Litterärische Streiflichter. 453 


Was der Großvater und die Großmutter erzählten *) den 
Lofer nad Schlefien während des erften Jahrzehnts unferes Jahr: 
hunderts. Der Herausgeber, ein Sohn des Verfaifers, hat bem 
Buche einen Lebensabrig des von Glüd und Erfolg wenig, 
begünitigten, vor "einem Jahre verjtorbenen Autors vorgejegt. 
Ang. Anoetel’s idengerichtetes Streben, nicht geringe Begabung 
und geündfiches Willen haben ihn doc) feine rechte Anerfennung 
in der Gefehrienwelt veribaft, weil es ihm an ftrenger Schulung 
und wijlenichaftlicher Metpode fehlte und weil er eine Neigung 
zum Seltjamen und Abionderlichen hatte und zuleht fi völlig 
iolirte. Nervorgehoben zu erden verdient, dah diefer freng 
tirchliche Katholit ein großer Bewunderer Biomard’s war. Das 
vorliegende Bud) giebt teils die Erzählungen und Aufjeihnungen 
des Vaters von Auguit, Jancız Sinvetel’s, der 1807 bis 1805 
preußiicher Soldat war, wieder, theils die Erinnerungen und 
Studien des Verfaflers fetbft über jene Zeit. Das Leben und die 
Anichanungen des Volkes am Anfange dieies Jahrhunderts werden 
geihildert, die Mihwirthiaft des 1 19 Grafen Hoym wird 
vorgeführt und die Nüchwirfung der Niederlage Preußens bei 
Jena auf Schlefion dargejtellt; von der Kopflofigkeit und Schwäche 
der höheren Beamten jener Zeit, von der Unfähigkeit der Feitungs- 
fommandanten erhalten wir ein jehr anjchauliches, Lebenswahres 
Bild. Als Netter in der Noth ericheint der Graf Ar. Wild. 
Goeyen, der die Kandesvertheidigung leitete, um den fi alle 
Gutgefinnten jchanren und der auch nad) dem Frieden von Tilfit 
eine umfaliende Wirffamfeit ausübte. And die Ecjilderung von 
Yanaz Sinvetel’s Kriegs: md Soldatenleben bietet nicht wenige 
intereffante Züge. Noch anziehender find im Ganzen die 
Erzählungen der Mutter des VBerfaflers, die uns auf's Lebendigite 
in das bäuerfihe und Heindürgerliche Yeben damaliger Zeit ein- 
führen und die jchweren Einwirkungen der Striegswirren auf alle 
Verhältnifie vor Augen ftellen. Das alles wird fchliht, einfad) 
und mit einer gewiffen anmuthigen Naivetat erzählt. Während 
die großen Geichichtewerke über jene Zeitepohe fait nur die 
friegeriichen Begebenheiten, jowie die diplomatiicen Verhandlungen 





























Fr. Wil). Grunem. IM. 


454 Litteräriiche Streiflichter. 


behandeln und den Gang ber politiichen Ereigniffe von der Höhe 
der Staatsregierung aus betrachten, führen uns Bücher wie das 
vorliegende in die Niederungen des Lebens, fie zeigen uns, wie 
die großen Vorgänge auf das Volt, den Einzelnen, Bürger und 
Bauern, wirkten, was er empfand, dachte und litt. Solde 
Schriften Iehren uns den Untergrund des Stantslebens Tonnen 
und Gilden eine wefentliche Ergänzung zu den Daritellungen der 
politischen und Ariegsgeidjichte. 

Mit den inneren Zufländen Deutichlands in der Gegenwart 
beichäftigt fih die Schrift von Sidney Whitman. Aus 
dentihem Leben (Teuton Studies). Autorifirte Ucber- 
fegung von Dr. W. Henfel.*) Sidnen Witman hat fih als 
fo guter Kenner und wohlwollender Veurtheiler der deutichen 
Verhältniffe ihen in früheren Schriften bewährt, daf man jein 
neues Bud) mit den beften Erwartungen in die Hand nimmt. 
Und fie werden nicht getäuicht. Die hier vereinigten Anfläbe 
find von verjchiedenem Umfange und Werthe, aber fie zeigen alle 
die feine Veobadhtungsgabe, die genaue Kenntniß, die freundliche 
Gefinnung und die geiftreiche Auffaffung, die wir aus den früheren 
Schriften des Verfafiers Tennen, dazu fommt dann ned) bie Leichte 
und Mare Darftellung, die ohne oberflächlid zu fein bed nie 
abjtrakt und jchwerfällig wird. Es it ein wahres Vergnügen ein 
folches Buch zu lefen; worüber Mitman aud) in anmutbigen 
Plauberton fprechen mag, über den deutichen Wald, das deutiche 
Lied oder das deutiche Badeleben, man hört ihm gern zu. Der 
Aufiag: Deutichland einft und jet zeugt von der hilteriidhen 
Einfiht und guten Beobachtung Whitman’s und der befehrende 
Artifel über den Arbeiterjtand weift an der Vergleihung ber 
deutfchen mit den engliichen Arbeiterverhäftniffen die unvergleichlic) 
viel beifere Lage der erteren und die Unmwahrheit der fozial- 
demofratiichen Behauptungen: von dem Elend der beutfchen Arbeiter 
für jeden Unbefangenen überzeugend nad. Ganz vortrefflic, ift 
der Abjchnitt über den Antijemitismus; hier werden die tieferen 
Urfachen der Entjtehung und immer weitere Ausbreitung der 
antifemitifchen Bewegung in Deutjchland mit Unbefangenbeit, 














=) Hamburg, Haendte u. Fchmuhl. 2 M. 


Litteräriche Streiflichter. 455 


Safenntnih und Klarheit in Höchft lehrreicher Weife dargelegt. 
Ausgegeichnet ift weiter die Charaktericilderung, die Whitman 
von Moltke entwirft; fie ift im der Schärfe und Tiefe der Auf- 
fafung, in der Verwerthung der einzenen Detaifzüge und in der 
Srfafjung bes Wejensfernes der Perfönlicjfeit des großen Strategen 
vielleic)t das Beite, was über ihn geihrieben worden it. Den 
Beichluh des Vuces macht die Veihreibung zweier Vejuce bei 
Bismard in Friedridsruge, die dem Verfafjer Veranlaffung geben 
Vismark als Menjchen und im Kreije feiner Familie zu childern. 
Was Whitman bier bietet, ijt ein wahres Meifterjtüd Idharfer 
Beobadhtung und feinen piychologiihen Lerjtändniiies, in jo 
Iebendiger Zorn, daf man, was er berichtet, zu hören und zu 
fehen glaubt. Dieje wenigen Blätter geben von Bismard’s 
Perjönlichteit ein befleres Bild als viele Bände, die über ihn 
geichrieben find. Nimmt man zu dem, was Whitman erzählt, 
das anziehende, vor zwei Jahren in deutjcher Ucberjegung erihhienene 
Bud) „Crispi bei Bismard“, jo hat man einen vollen Einblid 
in Vismard’s Familienleben, tägliche Veidhäftigungen und Lebens- 
weije. Indem wir unjeren Lejern MWitman’s Bud) auf's 
angelegentlidjite empfehlen, maden wir diejenigen, welche fie nod) 
nicht fennen, auf die zwei früheren Schriften deiielden Verfailers 
aufmerfjam: Das faijerliche Deutfhland und das Neid) der 
Habsburger; fie find nicht weniger anziehend und Lehrreid. Die 
Ueberjegung des vorliegenden Vuches ift vorzüglich, fie lieft fd) 
wie ein Original. 

Eine bedeutende Leiltung auf dem Gebiete der Litteraturs 
geichichte ift die jegt abgeichloiien vorliegende Geihihte der 
Weltlitteratur und des Theaters aller Zeiten 
und Völfer von Julius Hart.*) Es gehört eine nicht 
gewöhnliche Arbeitsfraft dazu, ein Wert von dem Umfange des 
eben genannten, das fait 2000 Seiten großen Formats umfaht, 
zu unternehmen und zu Ende zu führen und jchen der Ban, 
eine Gejchichte der Weltlitteratur zu fcreiben, zeugt von fühnem 
Entihluite. Ein folches Wert muß nothwendig den Charatter 





*) Neudamm, 3. Naumann. > Bände mit jahlreichen Abbildungen und 
Slhuftrationen. Geh. 12 M., geb. 15 M. 





456 Sitteririfche Streiflichter. 


einer Kompilation haben, d. h. es muß fi auf die Forfhungen 
und Darjtellungen anderer ftügen, denn aud) nur die Hauptwerte 
jeder itteratur felbit zu (eien, geichweige denn zu ftudiren, ijt 
für den Ginzenen unmöglich. Wird mm eine foldhe Arbeit mit 
Sorgfalt und Kritif unternommen, Fennt der fi) an fie Machende 
eine und bie andere Fitteratur aus eigener Anfhauung genauer, 
verjteht er es ben gewaltigen Stoff Far und überfichtlih zu 
gruppiren, befigt er endlid) die Gabe anziehender Darjtellung, jo 
wird ein Buch entftchen, dejien Verdienftlichfeit unbejtreitbar und 
das zur Belehrung, zur Orientivung und zum Nacichlagen 
brauchbar und nüfic ift. Wlan wird I. Dart das Zeugnif; nicht 
verfagen fönnen, daß er bei ber Lölung der großen Aufgabe, die 
er fid) geitellt, nicht geringen Fleiz und Eifer bewiejen hat. Dah 
nicht alle Partien eines foldien Werkes gleichm. behandelt, 
daß einige eine fürzere, andere eine ausführlidere Daritellung 
erfahren haben, dab mancher bedeutende Schriftfteller in wenigen 
Zeiten abgethan it, mandes hervorragende Wert faum genannt 
wird, das ift bei der großen Veihränkung, die id der Autor 
einer foldren Zufammenftellung nothwendia vielfah auferlegen 
muß, unvermeidlich und natürlich. Hart hat bei der Darjtellung 
der älteren und der neueren Litteraturen den richtigen Unterfchied 
gemacht, dab er bei jenen regelmäßig Ueberjegungsproben ein 
geffochten, bei dieien dagegen fid) auf die Charafteriftit der 
Autoren und ihrer Werte beicpränft hat. Cs it ein umermehlidh 
reicher Stoff, der hier im zwei Bände zufammengedrängt, dem 
Lejer bequem und handlich zur Venugung dargeboten wird und 
der Verleger hat durch Dinzufügung von zahllojen Abbildungen, 
Handichriftenproben und Rorträts, jowie durch die vortrefiliche Aus- 
ftattung jeinerfeits alles dafür gethan, den Werth des Buches zu 
erhöhen. Doc) Hart giebt wicht blos eine geihichtliche Ueberficht 
der Litteraturen aller Völfer und Zeiten, ev darakterifirt und 
benctheilt auch die einzelnen Dichter und ihre Werfe von einem 
iehr beitimmten Standpunkte aus mit großer Entichiedenheit. 
Juius Hart und jein Bruder Heinvid find die Begründer und 
eriten Borfämpfer des modernen Naturaliomus in Deutjchland 
und dieje feine Anjchauungen verlengnet der Autor auch in der 
Gedichte der Weltliteratur nit. Daraus ergiebt fid, da 








Eitteräriiche Streiflichter. 457 


diejenigen, welche die Aufgabe der Pace nicht in der Darftellung 
der gemeinen Wirklichkeit fehen, fondern von ihr die Erhebung 
des Sediichen in die Sphäre des Jdeals erwarten, mit Hart's 
Anffafung und Urtheil oft nicht werden übereinjtimmen fönnen. 
Die Geringihägung der Lyrif entipricht ganz den Anfichten diejer 
modernen Richtung, ebenfo das mangelnde Verjtändniß für den 
eigenartigen Geilt des Mlittelalters, feine Vpftif und Nomantif. 
Aber auch das helleniich-Elaffiihe Jdenl Goethes und Schillers 
erregt Hart’s Widerfpruch, wobei er allerdings mande richtige 
Vemerfung macht. Vollends die romantifhe Dichtung am Ende 
des vorigen und Anfang Ddiejes Jahrhunderts findet jehr wenig 
Gnade vor feinen Angen, nur dem unwideritehlicen Zauber von 
Novalis Perjönlichfeit und Pocfie hat fi) aud) diefer entjchlofene 
Nealift nicht entziehen fönnen. Die Einfeitigfeit diejes moderniten 
Standpunftes mad)t fidh befonders bei der Daritellung der Litteratur 
unferes Jahrhunderts bemerkbar. Wie ungeredit und verkehrt 
ipricht Hart z.B. über Geibel, wie Fury ud ungenügend über 
Nücert! Seine Gefinnungsgenoiien dagegen werden am Schluiie 
des Wertes als die Träger der Zukunft, als die Verfünder einer 
neuen era der Porfie beiproden und gefeiert. Man darf demnad) 
bei der Benupung des Werkes, namentlich für die neuere Zeit, 
nie vergeffen, dah «6 ein Parteimann ift, deiien Urtheife wir 
vernehmen. Für die deutiche Kitteratur lafjen fid) diefe Einfeitigfeiten 
feicht durd) die Perangiehung und Vergleiung der Litteratur- 
geihichten von Lilmar, Noquette und W. Scherer reftifiziven. 
Außerdem fann man nidt leugnen, daß die Daritellung der 
Meltlitteratur von einem flar ausgeiprodenen, entichiedenen 
Standpuntt aus, wenn wir ihn and wicht theilen, ein 
nicht geringes Iutereffe gewährt, zumal da Hart ein Wann von 
Geift und Scharffinn ift. Unfere Benserfungen haben daher nur 
den Zwed den Yejer darauf Dinzumeilen, dab er das ihm hier 
Gebotene mit Kritif und jetbftändiger Prüfung aufnehmen mufi. 
Im den Augen jehr Vieler wird übrigens gerade das, mas wir 
an dem Buche ausjegen, als ein Xorzug dejielben erideinen. 
Zedenfalls verdient Yart’s Gefdichte der Weltliteratur nad) 
Inhalt und Umfang bei weitem den Vorzug vor dem befannten 
und viel verbreiteten Buche von I. Scherr, ganz abgefehen von 





458 Litteräriiche Streiflichter. 


dem Neichtjum der bifdlichen Beigaben. Durch den auferordentlich 
mähigen Preis wird das vorliegende Werk fiherlid) große 
Verbreitung finden und auf vielen Weihnachtstüchen und fpäter 
in den Haus: und Familienbibliothefen nicht fehlen. 

Aus der fortwährend anichwellenden Mae der Goethe 
litteratun heben wir drei an Inhalt und Umfang ehr verfdiedene 
Werke, die uns gerade vorliegen, heraus. Von Ridard 
Weißenfels, Goethe im Sturm und Drang, ült bisher 
nur der erjte Band*) eridhienen. Was uns Weißenfels bietet, 
ift feine Biographie, jondern die dichteriiche Entwicelungsgeicichte 
Goethe's von feiner Kindheit an bis zu ber Zeit, da er ber 
poetifche Führer der Stürmer und Dränger wurde. Der Verfaifer 
will eingehend darlegen, wie Goethe zum Stürmer und Dränger 
geworben ift. Mit feiner pycologiicher Analyfe zeigt Weihenfels, 
welche Eigenidaften Goethe vom Vater, welche er von der Mutter 
geerbt, welchen Einfluß die Leipziger Lehrer und Freunde, Herder's 
und die Strafburger Erlebnifie auf bie Entwicelung feines inneren 
Weiens gehabt; aud die Cimvirfung der veridhiebenen Zeit: 
richtungen und zZeitftrömumgen auf (Goethes Bildung werden 
gewürdigt. Als feine Hauptaufgabe betradjtet «8 ber Verfailer, 
die ununterbrochene Kontinuität in Gocthe’s geiltiger und dichteriücher 
Entwidelung nadhzuwveiien und darzuthun, daj; in ihr feine plöglichen 
Wandlungen, fein Sprung, wie man oft angenommen hat, ein 
getreten feien. Goethe ift nie plöglich ein anderer, 8 treten nur 
gewiiie Züge und Seiten feines geiltigen und dichtertichen Charakters 
bald mehr, bald weniger hervor unter dem Cinfluife äufierer 
und innerer Erlebniffe, aber vorhanden find fie fiets und der 
Bufammenhang feines inneren Yebens wird nie unterbrochen. 
Mit eindringendem Scharffinn analifit Weihenfels weiter bie 
Stimmungen, aus denen die einzelnen Dichtungen Goethes in 
Zeit Hervorgegangen find. Ws die charafteritifchen 
Eigenichaften und Eribeinungsformen des Sturm: und Drang: 
geiftes bezeichnet er einerfeits die troßige Kampfluft, andererfeits 
die Empfindiamfeit. Während aber in den übrigen Stürmern 
und Drängern die eine oder die andere diefer Cigenjchaften zu 














*) Halle, Mar Riemayer 10 M. 


Litteräriiche Streiflichter. 450 


Tage tritt, find beide in Goethe vereinigt und finden, 
jene im Goe von Berlichingen, dieje im Werther ihren voll 
endeten poetijchen Ausdrud. Und nun giebt der Verfajler eine 
höchit eingehende Analyie des Goch, wobei er die Stimmung, 
aus der das Drama hervorgegangen, feinen Inhalt und Charakter, 
die einzelnen Tendenzen des Sturmes und Dranges, die darin 
zur Griceinung fommen, Goethe's darin niedergelegt eigene 
Erfebniffe, fowie die darin bemerfbaren litteräriichen Einflüfie 
nachweiit, endlid) die Umarbeitung und Wirfung des Dramas auf 
die Zeitgenoffen erörtert. MWeihenfelo unterwirft das Drama 
einer, wir möchten fagen, mifroffopiichen Betrachtung, er ficht 
daher nicht weniges genauer, als es bisher der Fall gemeien, 
aber mandmal ift fein Wid doh wohl aud Fritifher als 
mothiwendig wäre. Bei diefer Vehandlungsart gewinnt man ja 
vielfach im Cinzelnen genauere Einficht, aber nicht jelten hat der 
Zejer doch den Eindrud, als ob der Farbenihmelz der Pocfie 
durd) eine jolhe Behandlung von einem dichteriichen Werte 
abgeftreift würde. Jedenfalls it Weißenfels Bud) eine der hervor: 
ragendjten Erieheinungen der Goethephilologie, wenn es aud) von 
mandıen Schwächen diefer Nichtung, des Zuvieljchens und Alles: 
ergründenwollens, id) nicht frei hält. Auch die in diefen Streifen 
hevrichende Ueberihägung Goethe’s theilt MWeihenfels, er fieht in 
Goethe den Univerfalmenfchen, der alle Bejtrebungen der Menfchheit 
im fid) vereinigt, was doc) von feinem Gterblicen je ausgefagt 
werben fan. Dieje modernen Goetheforicher verfennen insgefammt 
die Schranfen, welde auch die größte menfchliche Individualität 
begrenzen, und jteigern umwillfürlich Goethe zu einem Halbgott. 
Weihenfels behandelt im Nebrigen feinen Gegenftand mit Geift, 
die Darftellung ift lebendig und anziehend, nur Fönnte fie wohl 
etwas gebrängter fein. Dos Bud) it, wenn auch auf ftreng 
wirienfhaftlicher Grundfage beruhend, dod) für jeden gebildeten 
Zefer veritändlid. Mit nicht geringer Erwartung fehen wir dem 
zweiten Vande des Werkes entgegen, in dem das analytiiche 
Talent des Verfajlers bei der Behandlung des Werther einen 
nocd) günftigeren Boden zu feiner Entfaltung finden wird. 

An äfthetifchen und litterärijchen Kommentaren zu Gocthe's 
poetiichen Werfen mangelt c6 nicht, für einzelne, wie z.B. den 





460 Eitterärifche Streiflichter. 


Fauft, find fie fogar im Ueberfluh vorhanden. Dagegen vermiht 
man für viele jeiner Profaihriften vollftändige, in’s Einzelne 
nebende Erläuterungen; das Velte darin bietet noch) immer die 
Hempeliche Ausgabe, jhade nur, da ihre Venugung durd das 
ihhlechte Bapier und den engen Heinen Trud jo jehr erichwert 
wird. Einen fachlichen Kommentar nun zu Goethes italieniicher 
Reife hat Julius R. Haarhaus in feinem Buche: Auf 
Goethe’s Spuren in Italien zu liefern begonnen. 
Zunächjt liegt der erite Theil, Ober-Italien umfajiend, vor, der 
den erfien Band des Sammelwerkes: Kennjt Du das Land? eine 
Bücerfammlung fir die Freunde Italiens bildet”) Der Verfailer 
kennt die Stätten, welche Goethe in Ober-Italien bejucht hat, 
aus eigener Anfchauung und giebt eine zufammenhängende 
Erläuterung zu Goethe's Schilderungen der Gegenden, Bauwerke, 
Kunjtdenfmäler und Lebensericheinungen, er benugt dazu andere 
Neifebefepreibungen und Handbücher jener Zeit. Er begnügt fi 
aber nicht damit, jondern berichtet auch über die mannigfaden 
Veränderungen, welche feit den mehr als hundert Jahren, die 
jeit Goethe's Aufenthalt im Jtalisn verftrihen, in den von ihm 
bejuchten Orten eingetreten find. Dadurch erhält Hnarhaus Bud) 
auch ein kulturgefchichtliches Interefie. Den Haupttheil deijelben 
nimmt wie in Goethe's Schilderung Venedig ein. Wir haben 
das Vüchlein, das anmuthig und mit fichtlicer Piebe für den 
Gegenjtand geichrieben ift, mit Vergnügen gelejen und freuen uns 
auf die Fortfegung. Auch für folde, die Stalien befuchen wollen, 
aber nicht in gewöhnlicher Touriftenmanier von Stadt zu Stadt 
eifen, um möglichit viel Merfwürdigfeiten und Nunjtwerte anzujehen, 
jondern mit Ruhe und Vuhe fi in das dortige Leben, die 
Vergangenheit des Landes und feine Kunftwerfe zu vertiefen 
Neigung haben, wird Haarhaus Bud eine erwünfchte Ergänzung 
zu den gewöhnlicheren Neiiehandbücpern jein. 

















Drud amd Verlag von E. ©, Naumann. Jeder Yand 2 M 
OP. Der zweite, uns ac schon zugegangene Band enthält die „Lornarinn“, 
Tranerfpiel in 5 Aften von Paul Diyfe Es üft cin Sünjtferdrama, das 
affacls zur Fornarina bepamdelt md einen tragiichen Ausgang hat. 
Tie nd: der Sammlung veripraen mod; viel Jntere 











weiteren 
beingen. 





Kitteräriiche Streiflichter. 461 


Einen Beitrag zur Goethelitteratur bietet and) die Schrift 
von Nihard Eocbell: Der Anti-Neder J. 9. Merds 
NR. von Moier. Ein Beitrag zu 
Benrtheilung I. Merds.”) Es it befannt, welden Einfluß 
I. 9. Merd zeitweilig auf Goethe ausgeübt Hat und ebenio Tennt 
wohl jeder unferer Lofer die meilterhafte Schilderung, weiche der 
Dichter von dem Freunde ımd feinem mephiitopgeliichen Charakter 
entworfen hat. Es ift manches Nätbjelyafte in dem Welen dieies 
geiftreichen und Eugen, aber verbitterten, mit dem Yeben zerfallenen 
Mannes, das aud die Viogtaphieen von A. Stahr ımd ©. 
Zimmermann nicht völlig aufgeheilt haben. Locbell, der ein grofier 
VBermnderer von Merd ift, fucht in feiner Schrift alle gegen 
defien Charakter erhobenen Anklagen und Vorwi zu entfräften 
und bezeichnet als Grundzüge von Merd’s Weien Größe der 
Denkungsart und Meichheit des Herzens. Den Hauptinhalt des 
Vüchleins bilden Auszüge und Jnbaltsüberfichten einer ungedrudten, 
bisher faum gefannten Schrift Merd’s. betitelt Anti= Neder, 
welche gegen ein von dem berühmten Publiziften, früheren heifen- 
darmftädtiichen Minifter 7 v. Miofer 1 heransgegebenes 
Buch „Neder” ih vichtet. Moier hatte unter dem Bilde des 
frangöfiichen Stantsmannes Neder und deilen Schijal jeine 
eigenen Verdienite um das Fand und den ihm dafür vom heilen 
barmjtädtii—hen Hofe widerfahrenen Undant geicildert. Pier 
fchrieb nun im NWuftrage der Regierung feinen Anti’Neder, um 
Diofer nicht nur zu widerlegen, fondern aud) in den Augen des 
Pubfifums herabzufesen und lächerlich zu machen und verihmähte 
zu diefem Zwecke fein Vittel der Gehäifigfeit und der Bosheit. 
Die Schrift blieb ungedruft, aber Dierk’s jeindielige Sefinnung 
gegen Moier wirkte beftimmend auf die Anjchauungen in Weimar 
ein. Wir mühen nad) den von Locbell gemachten Vittheilungen 
erklären, dab fie die ungünftige Beurtheilung von Merk's 
Charakter nur bejtätigt. Alles, was Yocbell jonjt beibringt, um 
Merk's Perfönlichfeit in günjtigerem Licht ericheinen zu faffen, 
ift sehe wenig überzeugend und der Verjucd eine Verwandtichaft 
der Grundanichanmgen bei Merd und bei Mofer in refigiöfen 





und der Minifter fr. 
































*) Tarınftadı, Hofbucpgandlung von A. Kingaihöfer. ID. 20 Bi. 





462 Litteräriiche Streiflichter. 


md politiihen Dingen nachzmveifen, it mehr fünftlih als ein- 
feuchtend. Wenn aud) Yoedel’o gute Abficht anzuerkennen it, jo 
bleibt es doch auc) nad jeiner Schrift bei der bisherigen Aufiallung 
von Merd’s Charakter. 

Gewifiermafen gehört and) zur Goethelitteratur das eigenartige 
Buch von Albert Freybe: Fauft und Barcival. Eine 
Nacht: und eine Yichtgeftalt von volfögeichichtlicher Bedeutung, *) 
doch Hat es fid) eine weitere Anfanbe geitellt. U. Freybe ift einer der 
eifrigiten und trenejten Schüler A. Yilmar’s, der fid) bie 
Erforichpung und Hervorhebung der ccht volfsthümlichen Elemente 
im Leben und in der Pitteratur zur Hauptaufgabe gemacht hat; 
wir verbanfen ihm fon eine ganze Meihe von, ein feines 
Verftändnih für alle Aeuferungen des deutichen Volfsgeiftes 
befundenden anregenden und befehrenden Arbeiten, in denen aud) 
die Firchlichen und politiihen Anihasungen feines Meifters vielfach 
zu Tage treten. In feinem neueften, uns hier beichäftigenden 
Bude behandelt er das Karfreitagsepos Rarcivnl und das Ofter: 
drama Fanft, biefe Markfteine der beiden großen Fitteratrepochen 
in ihrem Gegenfage zu einander. In Goethes Fauft erblit er 
eine Biologie des deutichen Geiftes der neueren Zeit. Schon die 
Fauftiage, Fügrt der Verfaifer aus, hat ein antifutheriiches 
Gepräge; die Tragödie Goethes zeigt nicht nur bieies, jondern 
it and) antibibliich, ihr Thema ift die Schranfenfofigfeit des 
Menichengeiites. Die Fauftiage bringt die Konfequenz des Abfalls 
von Gott zu vollem Ausdruck; in Gacthe's Dichtung nelangt der 
moderne, vom Glauben der Reformation und dent Evangelium 
abgefallene negative Protejtantismus zu unübertr her poetiicher 
Daritellung. Diefe jeine Muffaiung jucht num Freybe mit fefter 
Konjequenz an den einzelnen Szenen des Gocthe’ichen Dramas 
in eingehender, oft ehwas verjhlungener, aber origineller und 
angiehender Ausführung naczuweiien. Cs ift gewifjermaßen ein 
bibfüch-hriftlicher, mitunter theologiicher Kommentar zu Goethe's 
Fauft, den der Verfaffer in feinem Buche uns bietet. O. Yilmar 
bat in feinem Buche über den Fauft jhon früher etwas Aehnlices 
unternommen, aber frenbe geht in der folgerihtigen Durchführung 














*) Gütersloh, Trud und erlag von C. Verrelsmam. +2. 80 Pi. 





Litteräriiche Streiflichter. 463 


feiner Auffaifung weit über ihn hinaus. ud) den zweiten Theil 
der Dichtung zieht er in den Kreis feiner Betrachtung hinein. 
Er ficht in Fanft die Naft: und Nubelofigleit der modernen Welt 
verkörpert und findet im zweiten Theil des Dramas die hodmrüthige 
Kultur des gottentfremdeten jehuldbeladenen deutichen Geijtes nad) 
allen ihren Richtungen dargeftellt. Diejer entarteten modernen 
ftellt Freybe die Grallultur der Demuth und Selbftverleugnung, 
wie fie in Wolframs Pareival geichildert wird, gegenüber umd 
entwidelt unter Tariegung des Inhalts die tiefe religiöfe Bedentung 
diefer großen Dihtung, in der er einen Vorboten der Neformation 
fieht. Daran fchlichen fi mehrfache Larallelen im Einzelnen 
jwiicen dem im Fauft und im Rarcival zur Erfcheinung fommenden 
Seifte. Das Buch endigt mit einer ernjten Mahn: und Buhrede 
an das deutiche Volk, wieder umzufehren zu Gott und feinen 
Evangelium, wie 8 die Neformation an’s Licht gezogen. Mag 
man ihm mn zuftimmen oder zu vielem den Stopf Ichütteln, ein 
ernftes gedanfenvolles Buch it cs jedenfalls, das uns bier vorliegt 
und die Originalität der darin geltend gemachten Gefihtspunfte 
sicht unwillfürlich an. Die Gedanfenkreife, in denen ih) Freybe 
bewegt, liegen weit ab von der Heeritrahe der gegenwärtig 
berrihenden Litteraturbehandlung und Goctheforihung und fie 
wird ihm jchiwerlich Beachtung jchenfen. Aber Leier wird er 
fiherlid) finden, die fih au durd) die etwas fchwerfällige Dar: 
ftellung und den oft jehr verihfungenen Caybau nicht werden 
abjehreden laifen, denn auch da, wo cs entichieden Widerjpruc) 
berausfordert, ift das Buch anregend und zum Nachdenken auffordernd. 

Zum Schluß wollen wir noch zwei Gedichtiammlungen einige 
Worte widmen. In der fatholiihen Weit Tentichlands it Sehr 
gefeiert, insbefondere wird von der ultramontanen Wrejfe Teit 
längerer Zeit häufig rühmend und preifend genannt der weitfäliiche 
Dichter FW. Weber. Das veranlaßte mich feine feßten Gedichte 
und fein Epos „Dreisehnlinden“ fennen zu lernen. Die Gedicht 
fammlung führt den Titel „Heritblätter”. Nacgelafjene 
Gedichte von FW. Weber.‘) Naddem wir fie geleien, freuen 
wir uns jagen zu fönnen: Hier ft ein edhter Dichter und das 














=) Paderborn, Trud und Verlag von Ferdinand Schöningh. IM. SU Pi. 


464 Eitteräriiche Streiflichter. 


find wirkliche Gedichte! Weber, der 1894 in hohem Alter geitorben 
ift und daher eigentlich einer früheren Zeit angehört, ragt weit 
hinaus über die Mafje der jogenannten Poeten unferer Tage und 
üft ein wahrhaft bedeutendes Talent. In feinen Gedichten fpricht 
fic) wirkliche Herzensempfindung, idealer Sinn und tiefe Lebens: 
auffaflung aus, dazu it die Korm jo Mar und vollendet, daß es 
ein wahrer Genuf it fid) in dieje Dichtungen zu vertiefen. Die 
„Herbtblätter” enthalten einestheifs die poetiichen Hervorbringungen 
aus den legten Jahren des Verfailers, andererfeits eine große 
Anzahl von Iugendgedichten, man wird zwifhen ihnen wohl einen 
Unterichied in der Yuffaijung des Lebens, aber feinen in ber 
Form bemerken. Liebes: und Lebenslujt, Frühlingsfreude und 
Schnfucht, der ernite Kampf des Lebens wie die Wehmuth bes 
vorgerüdten Altero fommen in ihnen wechjelnd zum Ansdrud, 
überall aber ipricht fi) ein febendiger friiher Naturfinn aus. 
Außer rein Lyriichem bejonders Ihön ilt „das Frauenherz‘ 
und „das Woltenichlof” — findet fid aud) nicht wenig Dibaktijdhes, 
darunter gehaltvolle Sprüche, endlic) eine Anzahl epiicher Dichtungen, 
von denen wir als befonders gelungen Wodan auf den Karpathen, 
Triftans Tod und den Gladiator hervorheben wollen. Die 
Sammlung enthält jehr viele vortrefflihe Ueberjegungen aus dem 
Dänifcen, Englihen und vorzüglid aus dem Schwebiihen, 
namentlich Gedichte Tegners und Nunebergs; cs it merkwürdig 
und dharakteriitiich, daß diefer Weitfale fi jo ehr zu der 
oefie des Nordens hingezogen gefühlt hat. Spesifüch Katholiihes 
findet fi) in Webers Gedichten nur weniges und für einen 
Proteitanten durchaus nichts Abjtoßendes, U tramontanes haben 
wir garnichts bemerft. Auf die Dichtung „Dreischnlinden” werden 
wir ein anderes Mal näher eingehen und fie zu würdigen verjuchen. 
Möge der edle Dichter allmählich auch bei uns Eingang finden! 

Ganz anderer Art ift die Gedihtfammfung: Lieder aus 
der Heinjten bütte.*) Cs it ein zufammenhängender Zyklus, 
in dem das jelige Glüc eines jungen Chepaares und dann ber 
verzweifelte Schmerz und trojtlole Nummer des Gatten über den 
Verfuft feiner jungen Frau, die bei der Geburt ihres eriten 











*) Dresden, Drud und Verlag der Truderei Glöh. IM. 


Litterävifche Streiflichter. 465 


Kindes, welches nicht zum Leben erwacht, durd) den Tod ihm 
entriffen wird. Es jind weder befondere Erlebnifie noch tieffinnige 
Gedanten, die bier zum Ausdruc gelangen, der Verfafier fpricht 
mır allgemein menichliche Empfindungen aus. Die Form biefer 
Lieder und Gedichte it oft recht mangelhaft, und neben wahr 
und tief Empfundenem findet fich nicht wenig Umklares und nicht 
jelten rein Brofaiiches. Aber weil die Grunditimmung diefer 
poetifchen Herzens. und Ceelenergüfie wahr und echt üt, und fie 
allgemeinmenfchliche Stimmungen in Äreud und Leid widerneben, 
jo macht das Hanze troß alter Mängel im Einzelnen doch auf 
den eier einen wehmüthig ergreifenden Gindruc, zumal der 
Zuflus verföhnend flieht, indem der Dichter Troft bei dem 
findet, der in die Welt gekommen it, allen befüimmerten und 
geqwälten Herzen Frieden und Nuhe zu bringen. 








H. D. 


Aranendilder aus der neuen deutichen Yitteratur: 
geihihte. Lon Tito Berdrow. Mir 10 Poriräis in Yihtdrud. 
Stuttgart, Deut und Verlag von Greiner und Pieiffer. 

Ein Yun. das wie geihaifen erichein, edlen umd feingebitdeten Franc 
in die Danp gegeben zu werden! Es enthält Die Yebeusbilder von Eva König, 
Yertina von Krim, Karoline von Ginderode, Minden Verslich 
Atteite von Aleift, Emma UWhland, Mathi Fröhlich, Charlotte Zrieglig. Yenaw's 
Mutter, Sophie vorwenchal und Marie Behrends. Was dieies Wert vor ande 
ähnticen populären Effay's ausjeidmer, üt die Vereinigung feifelnder, geiftvoller 
Tarfietung wit Ütterarbiftoriicer Grümdlichleit. Der Lerfaffer berichtigt manchen 
verbreiteten Jeribmm mit den beiten Orhmden, ohne doch jemals trocen und 
Mamgweitig zu werden; das üit aber ur möglich, wo der Tarjteller feinen Stoft 
völlig in der Gewalt bat. Ari, elegant und jeinfinnig geicrieben, verftehen 
85 diefe Auffäpe, den Yeler in den piucologiichen Reis zu verftriden, den man 
von der Vehanblung der zarten uud do To imnigeftarfen Wechfelbegiehungen 
zwifchen unferen grofien Dichtergeftienen und ihren weiblichen laneten mit 
Hecht erwarten darf. ch glaube, das Buch als cin Geichenfwerf bezeichnen zu 
dürfen, das gerade der baftifpen Araucnwelt beionders willfommen fein wird. 
Ernte, gediegene Yehie, bei weichen das Neinmenichliche ebenio feine Nedhuung 
finder, wie das geicichtliche Vildungsbenärfnih, it vielleicht nirgends fo belicht, 
mie im baltifchen Dale. Das rubige Leln, das fi iu gedanfenvollem Sinuen 
fortioiun, verftein man in unierer Heimarh vielleicht immer noch beffer, 
als — anderswo. 














cu 
























Kitten 





tifche Streiflichter. 


Guy de Maupaffant: Die Erbihaft, Roman. 
Teutfch von Narl Rosner. Berlin, Schufter und Yoeffter. 1 








Man it heutzutage fehr licht bereit, ein Dichterifches Wert für „unfittlich“ 
zu erflären, wenn 5 cin Problem der Unfittichleit bejandelt. NG zu 
garnicht daran, Dah auch das vorliegende Ya) bei Vielen diejen Uetheil anfeim: 
fallen wird. Die Fabel des Nomans it derart, dahı ich mich fcön hüten 
werde, fie bier nadhzuerzühlen; fie it gen; amd garnicht Talonfähig. und —: 
‚„aman darf 05 nic vor fenichen Chren nennen, 1as feufche Derzen nicht entbefren 
tönen“. Jusbefondere, die „Löfung des Aonflifts“ au nur anzudenten, ift 
ganz unmöglich. Und doc) glaube ic, dab dem Dichter nichts gelegen 
Hat, als die Abiicht, ein unfitrliches Wurcd zu Ähreiben. Sch faife den Noman 
als eine äyende Satire auf die tiefe moralifche Lerfommenpeit einer gewiffen 
„anständigen“ Geieicait auf. ie die „Anftindigfeit” diefer len Vonrgeoifie 
mr eine erbärmliche Maste Üt, hinter der fich die niedrigite Charafter« und 
Gefinnungslofigfeit verbirgt, das wollte Maupaffant veranfdaulichen. Nicit 
mit dem flammenpen Pathos des moraliiden Wuhpredigers, fondern mit der 
iqmeidenden Jronie des lächelnden Weltmannes, deffen Yüdpeln eben dem 
Nundigen zu verftehen giebt: „Sabt Euch mur immer fo moralildh, wie Ahr 
wollt, — mir föhnt hr ja Doch nichts vormadhen, ich Femme Euch nur zu gut“. 
Tb ihn eine bewufste moralifche Abficht dabei leitet, oder nur menfchenveradptende, 
Högmilche Schadenfreude, das wage ich nicht zu emiheiden. Wenn am Schluh 
diefelbe Geielficpait, die fid) focben nod) vor unferen Augen im tefften Schmuge 
der Gemeingeit gewälzt Hat, den Trmph der Voruegmfeit ud Moralität 
feiert, dabei von ihren Areifen auf das Vereiilligite unterftägt ud anerkannt 
wird, fo liege in diefer Schilderung Maupa| Bohn, wie id) ihn grimmer 
mir garnicht denfen fan. Mertvürdig, dah diefer fo falt, jcharf und überlegen 
Beobachtende Dichter im Wahnfiun zu Grumde gegangen it. Da der Noman 
in feiner Art cin Meifterfiüd Üt, wird ar Der leugnen wollen, der das 
offliche nicht vom Sünftlerüichen, das Moraliiche nicht vom Aetpeifchen zu 
trennen weil. Die Charaftere erinnern etwas am das Milieu in Alaubert’s 
„Madame Vonary“. Hier, wie dort, gziftig che Snferiorität, Strcbertgum, 
Nohbeit und heuchlerüige Werlogenheit - cin nettes anftändiges Gefindel..... 
Bro. Grotthui. 

































































Herausgeber und Kedafteur: Arnold o. Tideböhl. 





Aesimoaeno nei 





ypom. Para, 23. Hoi 1806 1. 





Truderei der „Bahifigen Monarsigrift”, Niga, 


Beilage 


Baltifchben Monatsschrift. 


1896. 





Altes Blut. Skizze von Sploa Teiln 2 2 2200. 
Holde Augendeielei, chen des Siattufow . 
Der alte Stark. Erzählung von Aerander Yaron Dengden 105 
Dr. Bertram. Biographiice Sfige von E. v. Sculy 167. 
Um ein Stüdchen Samt. Erzählung von Gabriele Baronin 
hlippenbadh‘- z 12. 4, “russian eh 

Aus MW. v. Dittmar’s Neifebriefen (18 Isis). Mit: 
getheilt von &. v. Eiröder. . 2... 205. 7. 
Gedichte.  eue Gedihte von Del 
Ion Sylva Tejta. Glüd. 
Mengden. Stummungsbile. 2 
Yon % 
X. dv. Schröder (103 5.) Geimarbgrun. 
Mittagszauber. Bon Y. v. Schröder uk 
Berliner Kunftbriefe. Von J. Norden 32. 76. 107. 235. 2 
317. 361. 385. 419. 439 
an H. D. Mafton, Napoleon I. und 
die Srauen, Napoleon I. zu Di Yang. Graf Reinhard; Fürit 
Vismart’s 50. Geburistag, Ein Gedentduc; Horit Hohl, Tie pofii 
Aeden Vismard’s; Nogge, Womas Carlyle; Kern, Zu deutihen 
Tigtern (W F.); Ingram, Geidichte der Sklaverei; Sommerfeldt, 
Franesco Spiera; Neincde, um don VBonen; Mus dem Yeben 
Theodor d. Vernhardi’s; Bertelpeim, Biograpbüide Blätter; Kömmel, 
Stalieniiche Eindrüde; Haabe, Erzählungen 83 #1; Münd, Ammerfungen 
zum Tert des Yebens; Das Tentiche Heid ISTL- ISO, Fur bäuerlichen 
Glaubens: und Sittenlehre von einem thüringiichen Yandpfarrer; Aroter, 
Gefdichte der griedhiichen Yitteramr; Dubatic, Sopyofles; Als dir 
Großvater die Grohmutter nahm, cin Yisderbuch; harlimg. \ung: 
Seven; Weitbrect, Myaläna (10 f.1; Nititenfo, Jugenderinnerunge 
Ehitipp Rathufus Nugendichte; omas Carlyle, Sozielpolitiihe 
Schrifien; DO. Bachr, Gelammeli läge; Nice, Yict und Schatten; 
Fontane, Bor dem Stamm (208 fi); Rod, Beiträge zur Ohihie ver 
politiichen een und der Hegierungspraris; Sorel über Montesgwict, 


























erde dd ie) 
om M. Der Lergiec. Lo 
nv. Andrejanofl. F 
Nempe (fir Tas Mid des Lords von King) 
on Su. 
#3 Heröftfäden (OD. 


nen. Enge 



































in 






































y 


Litteräriiche Notizen von N. €. Arbrn. vo. 






Banıngarı, Göhes „Gcheimeiffe” und „dien zogeuden“; Fildern, 
Görhes Sonneitenfran; Müller, Tas Wem d.6 Gumers; Berbed, 
Erzügfumgen (213 #1); Turgwan, Tie Ceneralin Wonaparie; Dans 
jafob, Ans meiner Jugendztz Nentfch, Grundbegriffe der Wolfe: 
wirtbichaft; Mudolf 9 100 Jahre foniervatiner Rotisit und 
Lineratur; Viktor Hebn, Nalion; olde Kurz, Nalienifche Erzät 
lungen; Nenatus, Nds von Bargula Ju der 
Fünfmillionenftadt;  YBurba Nudalf Zaharias Peter; Münd, 
Ungerrichtsjiele ud Unterricistunit; Aüidher, Arie Streifzüge gigen 
die Unfeitil 28 15 Yampredt, Ale ud neue Nichtungen im der 
Geidicrsmifienihaft; Miühtdamer, Dentihe Geicicte unier deu 
Narolingen; Schybirgiun, Turauan, Die 
Nuiferin Jofphine; Hildebrand, Tagebuhblätter eins Sonntags: 
phitojophen; Gerade, Meine Ertebuifie als Dorfpaitor; Nice, Geichichten 
Hefftein; Wilbrandt, Baer und Sohn und andere Geichi 
1 Mitten, Deuslhe Geihirhre im Jeitalter Der Gegenreformation 
jährigen Nriegss; OGundlac, Heldentisder dir deurichen 
Saifergeit; Treitiopfe, Neden im Neihsage; Nentich, Wandlung, 
Berrelpeim, Geiftesgetden (Tante, wepkr ad Galilei, Mörcesı ( 
W. von Cettingen, Tanicl Eyodewisdi A271; Kiszler, Derrupranii, 
in Baer; Amötel, Has der Aranyiengeis; Wättman. Aus dahin 
geb; Hari, Meiwihte der Woltlinerenie: Weihenfels, Guctbe im 
Stun ud Tran; Gaarhans. Auf Gürh u Nation; 
Nöbell, Der AntisRedsr Wirds; rende, Aauft md Parsival; 
A W. Weber, Herbbliter; Yider aus der Meinften Düite 110 Ti.) 






























iichte Fümlands 

















































Berorom, 





Sranenbilder, Guy de Waupalfant, Div Er 


Beilage 


zur 


Baltifchen Monatsfchrift. 


Danuar 1896. 


Inbalt: Neue Gedichte von Kelene v. Engelhardt. 
Altes Blut. Stkige von Sylva Tejta (Sreifrau Stael 
von Holftein-Tejtama). 
Kunftbriefe. IV. Don J. Norden. 
he Umfchan. Don D. D. 





£itterärif 


Nacdrucd verboten. 





Digtized by Google 
ei, 

















Neue Gedihte 


von 
Helene von Engelhardt. 


Nacdeud verboten, 


Unfre Welt. 
W fragen nicht nad) Weltgetrieb', 

el Kad) bunter Luft und lautem Glüd, 
Denn unfre Welt ift unfre Lieb’, 
Wir ziehn uns fill darein zurüd. 





Die Waage draufen fteigt md fällt, 
Und morgen finft was heute gilt, — 
m unfrer Bruft Äft unfre Welt, 

Wo from der Born der Treue quillt. 


Vom heitgen Strahl der ic’ erhellt, 

Schaut uns dies Heim fo traulich an — 
Es wohnt ein Fried in unfter Welt, 
Den uns die Welt nicht rauben fann! 








eo Welt für uns in Nichts zerfällt 
it ihrem wirren Wechfellauf, 

Und aus dem Nichts fteigt eine Welt 
Loll Sicbesfeligfeit uns auf! 











Gedichte. 


Dleanderblüthe. 
Tage voll Jubelraufh — 
Nächte voll Sternenjchein — 
Serge Erinnerung 
Wieget mic, ein. 


Sonnig Sröperien, 
Duftendes Zauberreich 
Durch) den DOrangenhain 
Säufeln die Lüfte weich! 





Sprühender Wogenfchaum, 
Tiejblaue Waferbabn, 
Hoc auf dem Gardafee 
Schwantt unfer Kahn. 





Drunten am Uferfaum 
Schimmern die Grotten all, 
Droben vom Relfenhang 
Vrauft der Ponale-Fall. 





Tiefer gen Weiten fchon 
Neigt fi der Sonne Bahn, 
Träumend am Ujerrand 


Hielt unfer Hahn. 





Tiefer der Abend jant, 
Cüftchen entichliefen all, 
Seife vornehmlich taum 
Naujchte der Wogenjchwalt, 


Ueber uns loderte 

Südliche Sternenpraht — 
Hand in Hand Inufchten wir 
Stumm in die Nacht. 


Durch unf're Seelen hin 

3og es wie SHimmelsttaum 
Stumm bradft die Wlüthe du 
Yon Üleanderbaum. 





Gerichte. 5 


Immortellen. 
Nebeltalter Serbitesahend — 
Um die Giebel fauft der Wind! 
An dem Arm cin Vlumenförbehen 
Tritt zu uns ein ärmlic ind. 





ntend für geringe Gabe 
Neicht fie ihre Blumen dir, 
Und ein Anmmortellenfträufichen 
Vieteft du mit Lächeln mir. 





Tb ich, Lichter, dich verftanden? 
Wir, für die der Liebe Licht 
DBüthen jehuf, die nimmer welten, 
Scheu’ der Zeiten Wechfel nicht. 





Nebeltalter Serbftesabend, 
Schncogeftöber niederrinnt —— — 
Selig wer Novenbertagen 
Maienwonne abgewinnt! 





Einer mu der Yente fein. 


Nie die Sonne golden fintet! 
Sicht und Duft im Netherblau! 
Altes blintet! alles trintet 
Abendfried' und Himmelsthau! 

Dft in old" geweihter Stunde 
Streifen wir durch Wald und ich, 
Gottes Stille in der Nunde, 

An der Bruft ein neues Lied. 


Abende in Licht verfläret -- 
Gtodentlang und Spätrothihein — 
Nie viel uns au Gott gewähret, 
Einer muf der Sopte fein. 


Gedichte. 


Sinnend fhneift mein Geift zuüde, 
Sagen muß ich's ftaunend mir: 
Tiefer als im erften Glüde 

Hängt mein Lieben heut’ an dir! 
Heilige Sieber Mind aus Even! 
Wie uns Jahr um Jahr verftrich, 
Tefter ftets mit taufend Fäden 
Mammert’ ih mein Herz an dich! 





Durd) der Erde grüne Matten 
Süß, ad, pilgert fih’s zu Iwein... 
Siehft du fern den näht'gen Schatten? 
Einer muß der Sopte fein! 


Der alte Park. 


Im den Lüften fang die Lerche, 

Da mein Schiff verlief, den Port, 
Und im Blau die Schaar der Störche 
Schwebte heim zum fernen Nord. 


Sinnend folgt mein Wil dem Fluge 
Durch das blaue Aetherner: 

Op dort einer mit im Zuge, 

Der mir Areund von altershert 


Fern im Nord in ftillen Areife 
Sagt ein fhattig.alter Park 
Dorthin geht des Wogels Neife, 
Zieht ihn Schnfucht, tief und fiat. 


Schlüffelblumen blühn im Orafe, 
Veilehenduft entführt der Weit; 
Wie dem Pilger die Cafe 

Winkt ihm dort jein heinijch N 








Gerichte. 


Niefenftämm’ im Sturme fhauennd, 
Sitberpappeln, dicht belaubt, 
Mond” Jahrhundert überdauernd, 
Wiegen dort ihr greifes Haupt. 


Bienenfchwärme ziehn in Schaaren 
Zu dem wilben Rofenbaum ... . 
O5 aud) fern feit langen Jahren, 
Wohl nod) Fenn’ ic jenen Raum! 


Störche, die die Luft durhfchifften, 
Mahnten mir im tiefften Mark 
Meiner Heimath grüne Triften, 
Meiner Heimath jhatt'gen Part. 


Wo ich jeven Vogel Tanne, 
Jeder Baum mir Freund fo gut, 
Wo mit Namen ic, benannte 
Setbft der Störhe junge Brut. 


Wo als Mind id) über jeden 

ein gehüpft mit frohem Schwung, 
Wo mir taufend goldne Fäden 
Anüpfte die Erinnerung! 






Wo ich folgte insgeheime 
Kndifch-unbewuftem Drang, 
Stammelnd meine erften Reime, 
Sallend meinen erften Sang. 


Wo des Liedes Hinmelsfunken 
Ahnend Taum mein Herz bewegt, 
Wo mein Genius, [hlummerteunfen, 
Seil” die Flügel crft great! 


Wohl num reiften mandie Keime 
Und mand' Nahe bin id, entfernt; 
Dafı wir überall daheime, 

Hab’ id) unterdefi gelernt. 





Gerichte. 


Aber dach mit taufend Theilchen 
Halten fie die Seele feft, 
Eitberpappeln dort und Reildhen, 
Hofenbaum und Stor—henneft. 


Gleid) den Störhen, den entflon'nen, 
Hängt das Herz auch tief und ftart 
A dem Rain, dem grün umgog’'nen, 
An dem fernen, alten Part. 





Martha und Maria, 


Herr, an jedem neuen Morgen 
Höre mich von Neuem flehn: 
Cap in mir an Marthaforgen 
Nicht Maria untergehn. 


Drüngt der Tag mic Stand um Stunde 
Mit gar manderlei Gebot, 

Ton’ in meiner Scele Grunde 

Doc) die Mahnung „Eins it noth". 


Steilft du mich in Tautes Treiben, 
Das von bunter Luft exhelt, 

Sa miv's im Gevächtnif; bleiben: 
„hr feid nicht von biefer Weit.“ 


Soll des HYaufes jhlichtem reife 
Schaltend id) die Nräfte weihn 

Mahne doch dein Geijt mid I 
„hr Tebt nicht von Vrod allein“. 








&o, in deines Geiftes Leiten, 
Gaubensftart und dienjtbereit, 
Ungefährret af; mich fehreiten 
Durd die Martha: Thätigkeit. 





Gerichte. 


Auf dafı Martha willig Teifte 
Was ihr aufgetragen il, 
Doch Maria, ftark im Geifte 
Ahres Zieles nicht. vergi 








Bis der Werktag adgeihloffen, 
Martha ftil zur Nofte geht, 

np Marin Kchtumflofien 

Zu des Sabbatl)s Wonn’ erficht. 




















Altes Blut. 


Size von Splva Tefta (Kreifran Staöl v. Holitein-Teftama). 


PS} 


Natbrud verboten. 
sn 23. December, 65 find num fehon etliche Jahre her, ah 


ein junger Chevalier Garde- Offizier in einem Goups eriter 
Nlafje der Baltifchen Bahn. Er Fam von Petersburg und 
jollte an der Station Laisholm ausfteigen, um die MWeihnachtstage 
bei feinem Oheim auf Sarbad) zuzubringen. Das Neifeziel fchien 
nicht befonders lodend, Kurt Namsloh’s jdhönes Geficht, das gewiß 
recht heiter ausfehen Fonnte, hatte einen mifmütigen Austrud. 
hrgalt eriter late durfte er fich's jo bequem 
machen, wie er wollte und das that er: legte die weiße Müte, 
Handfhuhe und Säbel auf den Sit gegenüber, entnahm feinem 
Neifefact einen gelben franzöfiichen Noman und begann, die Wange 
in den weichen Biberfragen feines grauen Mantels gejehmiegt, zu 
lefen. Die Lektüre konnte feine Aufmerkiamfeit jedoch nicht feileln, 
er warf das Buch wieder in den Sad, zündete fh eine Cigarette 
an und blickte, blaue Ningehwöltchen blajend, melancoliih in die 
Kandfcaft. Da gab es aber abjolut nichts zu fehen, als wirbelnden 
Schnee über weißen Flächen unter bleigrauem Himmel, Der Be 
ichauer empfand bald die einjchläfernde Airfung des monotonen 
Bildes, ftredte fih in feiner ftattlichen Länge aus und ward für 
Stunden aller Langenweile entrüct. 
































Altes Blut. 11 


In den umbewachten Zügen eines Schläfers jpienelt fi der 
Charakter oft bejonders deutlich, — hier cine männliche Energie, 
von der man das Vejte erwarten durfte, falls etwas füme, des 
Wollens werth. Vorausgefegt auch, dal dieies Etwas fi in nicht 
zu ferner Zeit einfände, che die Großitadtluft ihren enfnervenden 
Einfluß allzu ftarf geftend machte. Ihr verdanfte das jugendliche 
Antlip bereits den abgefpannten Zug und die nervöfe Bläffe. 

Der übernädhtige, tanzmüde Liebling einer vuhelofen, genufs 
franten Welt, jchlief fich grünblid) aus. Als er erwachte, war fein 
Ziel nicht mehr fern. Ausgerudt, jdienen feine Gedanfen eine voft- 
gere Färbung angenommen zu haben: fie trugen ihn um zwei Abende 
zurüd in den Balljaal, und pfölich war iym, als funfelten ihm die 
Gluthaugen der Gräfin Helenfa Grablinfta an, verwirrender benn 
je. und er vermeinte ihre einfchmeichelnde Stimme zu hören, 
wie fie fid mit den weichen und dach marfigen Nängen der Mazurta 
mifchte, die fie Beide fo meifterfaft tanzten. Und nie Hatten fie 
getanzt, wie an jenem Abende, — gleichfam getragen von wogender 
Schnfucht und zagender Hoffnung, und dann wieder hingeriffen im 
tollen Wirbel teiumphirender Leidenjchaft! 

Lichte fie ihn? 

Neulich, auf der Eisbahn, Hand in Hand dahinfliegend, war 
fie fo traumverforen, fo Hingebend weich gewefen, da er meinte bis 
Ende der Welt werde fie ihm folgen — und er hatte den 
en Augenblick verpaßt! 

Am nächiten Abend hatte fie ihm den Gotillon verfagt, ein 
Fpöttiches Lächeln auf den Lippen, das ftolze Nöpfchen Faum zum 
zum Gruß geneigt. 

Sie war unberedenbar in ihren fchillernden Stimmungen: als 
er fich auf dem Bahnhof von ihr werabfchiebete, nahm fie feinen 
Ordrideenftrauf gnädig auf. Na, er glaubte jogar eine Thräne in 
ihren Sphinraugen fhimmern zu fehen, als fie feine echte mit 
ihren Elfenfingern feithielt und fajt gebietend fagte: Auf Wiederjehn 
in vierzehn Tagen, in Paris. 

Er trug Rah; und Urlaub in der Tajche. 

Acht Tage beim Ihm mußten genügen, was follte er wohl 
fänger bei dem alten Manne beginnen, der ihm ganz fremb war. 
Als einer Anabe war er zufegt in Sarbad) geweien und hatte mr 

















12 Altes Blut, 


eine dunkle Erinnerung an einen Autfchfchlitten, zwei graue Wind- 
hunde und eine Speifefanmer, in der es nad) Aepfeln und Pfeffer 
fuchen vo. Auch des alten ftrammen Herrn Fonnte er fich ents 
finnen, der ihm feinen erften Cäbel fchenfte. Heute hätte ihn die 
ichönfte Klinge von Toledo nicht jo erfreuen Fönnen, wie damals 
jene hölzerne Waffe. Freundliche Grinnerungen. — Und bennod), 
was jollten der Chm und er mit einander anfangen? Sie lebten 
in ganz verfchiedenen Welten und würden fid) gewil; nicht verftehen. 

Ueber folden Betrachtungen erreichte er die Halteftelle. 
üttlerweile war cs mondhell geworden: Die beiden Ein 
fpänner, die ihn erwarteten, hoben fich fcharf, als jchwarze Silhouette 
vom weißen Grunde ab. Er jegte fich in den eriten; der graubäi 
tige Kuficher ftopfte die Bärendede jorgfältig ein, das Gepäd wurde 
dem Nachfahrer übergeben, und fort ging 8, unter Schellengeklingel; 
eine zweiftündige Fahrt. 

Mic lautlos und jeierlidh war co in den tief verfchneiten 
Tannenwäldern. In Monaten, nein in Jahren, hatte ihm jo gran: 
diofe Naturftille nicht umfangen. Weltfern entrüct waren ihm auf 
einmal der Yallfaal und Gräfin Helenka; in diefen Nahen pahte 
fie nicht. 














* 


Unterdeffen brannten in Sarbad) einige Lampen mehr als 
gewöhnlich. Der alte Yaron ging, die Hände auf dem Niücen, 
zoifchen Speife, Nanin: und Vorzimmer auf und nieder. Gr ber 
fand fi in Wartejtimmung, obgleich die ehrwürdige englifche Uhr 
im Speifegimmer ihm verficherte, dafs nach eine gute Stunde 
dauern Fönne. Im Vorhaufe betrachtete er aufmerfjamer, denn jeit 
lanag, die Elchichaufeln, Nehgehörne und Auerhahntöhe, welche die 
weiigetündhte Wand zierten. 

Sb der Junge wohl Näger it? An Peteroburg aufgcwachien 

wer wei — na, das fommt fchon -- altes Blut, Nägerblut 
vertängnet fi nicht. 

Er lieh fich in einen grünledernen Schjel am Kamin finfen, 
itectte fidh die lange Pfeife an und dachte darüber nach, wie Alles 
fo anders gefommen war, als cr fih's geträumt hatte. 

















Altes Blut. 13 


Als er das Stammgut Sarbad) antrat und feine Alda heim- 
, hatte er gehofft ein Haus. zu genden, dauerhaft wie die 
junge Ciche am Thor. Aber fie waren alfein geblieben, er und 
jeine teaute Gefährtin, und nun beruhte die ganze Zukunft auf zwei 
Augen: den Iebenshuftigen, des einzigen Sohnes feines, im Lauf der 
Jahre ferngerücten Bruders. Diefer, ein ausgezeichneter General, 
ganz erfüllt von den Intereffen feines Berufs, Hatte zwar ein warmes 
Herz für die Heimath behalten, aber wie felten befuchte er fiel 
Seine Fran, aus baltiichem Gefchlechte, jedoch in Moskau aufge: 
wachjen, war eine Fremde, eine Städterin. Sie begleitete ihm 
ungern, und mochte auch den Mnaben nicht mijfen in den ihr jtets 
zu furz dünfenden (ferien, fonberfich feit fie Witte war. Leit 
feinem eriten Befuce in Sarbacdh war der Fleine Kurt zu einem 
Äcönen, jchlanfen Menfchen aufgeichoifen. Seine große Photographie, 
die ihn in GalaUniform, den Helm auf dem Kopfe, darftellte, jtand 
auf dem Staminfims, Der Ohm betrachtete fie gern, er hatte Wohl: 
gefallen an dem Jungen. Tante Alda hatte ihm jo lieb gehabt, 
als er noch ein Meines drolliges Kerlhen war; fpäter jah fie ihn 
micht wieder. Cs waren mun bald zehn Jahre hev, dafi fie in der 
Famitiengruft bei denen ruhte, die vormals jorglid, und Fröhlid) 
bier gewaltet haiten; wie einfam fühlte ex fi, jeitden. 

Hord), Schellen, wahrhaftig, das mußte der Junge fein, 

Ieni und Ani, die zwei Tedel, die auf dem Wolfsjell 
Schlummergarn fpannen, fuhren jählings auf und jtürpten mit gel: 
fendemn Getläff in's Vordaus. Man hörte Jemand vor der Thür 
den Schnee energifch abitampfen, und dann ericien eine Hohe Geftalt 
im grauen Militeirmantel. 

Der Ohm ben nen Neffen herzlich, begleitete ihn fogar 
die Treppe hinauf in jein Zimmer, obgleich er fid) vorgenommen 
hatte ihm nicht zu verwöhnen. 

Kurt gefielen die laufe, der jilberne Toilettenjpiegel, die 
dazu gehörigen maffiven Leuchter, die grünfeidene Vettdecde - - nein, 
das war garnicht To primitiv, wie er fih die Ginrichtung eines 
weltentrüdten Landhaufes gedacht hatte. 

Einige Vürftenftriche und fie begaben fih hinunter. Der 
Ihm fa wieder in feinem grünen Sorgenituhle am Kamin, Murt 
ihm gegenüber, den braunen mi auf dem einen, den jchnargen 


























14 Altes Blut. 


Arni auf dem andern Knie, ihre frummen gelben Pfötchen ftreichelnd, 
hörte er Jagbabenteuer md Gefhichten aus der Vergangenheit, von 
Menfchen, die Fängit unterm Nafen jchliefen. 

Der Ohm lebte in einer frijhen Grinnerungswelt und, wie 
alte Leute meift, ließ er fid) nicht leicht aus dem gewohnten Ger 
danfenkreife herausloden. Cs war ihm offenbar weniger brum zu 
tun fi mit den Anfhauungen und Erlebnifien des Neffen vertraut 
zu machen, das würde fehon mit der Zeit fommen, als ihn in die 
eigenen einzwweihen. Ein treffficher Erzähler, feffelte er auch jehnell 
das Interefie des jungen Mannes für das alte Sarbad) und die 
Schiejale der Bewohner hier und auf den Nachbargütern. Urwüchfige 
GSeftalten, Wefen mit kräftigen Lichtern und Schatten — es lohnte 
fich jchon fie Tennen zu lernen. 

Kurt bejaf; die Nunft des licbenswürdigen Zuhören, fragte 
geicheit, lachte gefcheit umd machte treffende Vemerfungen. Beim 
Mbendeijen wurde das Gefpräch lebhaft fortgeieht, an ber feinen 
runden Tafel, der jchönes Familienfilber, altes Kryftall und Porcellan 
ein gebiegenes Gepräge gaben. Der junge Truthahn und allerlei 
Eingemachtes waren au) nicht übel. Hernad; wurden einige Friedens: 
pfeifen geraucht und wm zehn Uhr ging man zu Welt. Der Neife 
müde war mit diefer Findlichen Stunde ganz einverftanden. Als er 
fid) die grünfeidene, Tante Alda’s Ihönfter Stantsrobe entjtammende 
Dede, über's Ohr zog, fühlte er id) jehr heimich in feinem Nejte. 

Um fieben Uhr ward an die Thür geflopft — der Morgen 
graute noch) nicht einmal! Peter, der Kammerbiener erjdjien, zündete 
zwei Kerzen an und meldete, der alte Baron erwarte den Jung, 
beren am Kaffeetifh). 

Kurt recite und ftrecfte fi und drehte fid) wieder zur Wand. 

Peter wiederholte feinen Auftrag unerbittlic). 

Kurt warf fid) herum, fprang entjehloifen aus dem Bett und 
fleidete fh mit fummer Nefignation und gewohnter Sorgfalt: 
Hafirzeng, Mandelerime, Pomade hongroise mußte hervorgefucht 
werden; wm dreiviertel Acht erft war er unten. Der Ohm hatte 
jein Frühftüct beendet und tauchte: Das jhönfte Kreifewetter, fagte 
er. Der Tag ift Fury, du mußt dic) fertig halten, um feine Zeit 
zu verfieren, wenn die Meldung fommt, dah die Elche Stand ge 












Altes Blut. 15 


halten haben. Nach einem Stünwetter, wie da6 der leten Tage, 
werden fie leicht wanderliftig. 

Zur Genugthuung des alten Waidmanns gerieth Nurt beine 
bloßen Gedanfen an Elche in freudigfie Erregung. Einen Eid) 
hatte er noch nicht geichoilen. Seine ftattlichite Weute war bisher 
ein Wolf gewejen. Den Kaffee trinfend, fchilderte ex lebhaft die 
Wechjelfälle diefer gelungenen Jagd in einem Moor, fo nah von 
Petersbung, daher an Negrimms Leiche die Gloden der Nianfs- 
Nirche hatte läuten hören; dann fuchte er mit Peter Leibpelz. Mübe 
und Pelsftiefel zufammen, die ihm pahten wie beitellt, denn der 
Ohm und er hatten die gleiche Hohe jchlanfe Figur. 

Eine leichte Yüchie, wie er fie zu führen gewohnt war, gab 
&8 leider nicht, nur ein Vefauceur, NKaliber 16, num, das muhte 
auch gut fein, wohl zwei Dugend Eldje hatte der alte Herr damit 
erlegt. Diefer fah den Vorbereitungen, Nath extheilend, mit höchftem 
Intereffe zu. Dah ihm gerade jet die Gicht jo plagen mußte! 

Um zehn Uhr jagte ein Schlitten in den Hof und auf der 
Schwelle des Speifegimmers erfchien Förfter Albrecht, eine Hünen 
geftalt mit von Eisgapfen ftarrendem Nothbart. Fünf Eiche jeien 
gekreift, berichtete er. Eine jehr große Fährte Iaffe auf einen ftarfen 
id) fchlichen. 

Im Nu war Kurt angepelst und umgürlet. Der alte Herr 
opfte ihm mit Waidmannsheil auf die Schulter umd fort ging cs, 
meben Albrecht auf dem Strohjad, jo jahmell der Heine zottige Gau 
Laufen fonnte, dem großen Walde zu. 

Kurt Hätte fid) einen jener prächtigen Träber vor den Schlitten 
gewünjcht, wie fie auf dem Nenffi in faufender Gefdwindigkeit 
dapinftürmen; bald aber geriethen fie in Schmectriften, in denen 
fol ein Stolof; bis an den Hals verfunten wäre und alles Fury 
und Fein gefchlagen hätte, während das Grave Landpferdhen feine 
Lajt mit züher Geduld. durchichleppte. 

Am Waldesfaume Harte ein Treibertrupp.  Yautlos 
gingen fie ab, geführt von zwei Bufchwächtern. Albrecht fuhr nach 
eine Stvede weiter, hielt dann, band das Pferd an eine Birke, warf 
igm eine Derte über, jehritt mod eine Weile auf demfelben Wege 
fort und darauf rechts auf einer Linie in den Fort Dinein; Nurt 
folgte, immer in die tiefen Zufipuren feines Vordermannes tretend. 


























16 Altes Blut. 


An einem breiten Graben, hinter einem Schirm von Tannen- 
grün, wies Albrecht dem Jungherrn feinen Stand an, flüfterte ifm 
einige Muthmahungen zu, von wo die Thiere wohl fommen würden, 
und verfchwand. 

Vor fid) hatte Kurt weißbefrorene Kieferftänme ohme Unter: 
holz, eine weite Säulenhalle, in die er tief Bineinfehen Tonnte, 
Würden fie hier durchftreifen? Das Herz fehlug ihm bei der Nor 
ftelfung. Dort, Finke, dem Graben entlang war es ganz licht; hohes 
goldbraunes Schilfgras wiegte fich) im leifen Windhaud). 

Albrecht hatte gejagt, der grofie Hirich dürfte wohl jchon ab 
geworfen haben — das wäre ein Jammer! Aber wer weiß, Kurt 
von Namsloh hielt fi für einen ausgemachten Glüdsvogel, vielleicht 
befam er doc) noch ein paar Schaufeln zu fehen. 

Er hob das Gewehr, nahm einen dunklen let an einem 
Stamme jenfeit des Grabens prüfend auf's Korn, etua auf ficbzig 
Sıhrätt, und ließ die Flinte wieder finfen. 

Jost trat die bisher verfchleierte Sonne hervor. An einer 
Tanne zu feiner Nechten gligerten an den tiefhangenden Zweigen 
bafelnußgroße Eisfryitalle. 

Von diefer Größe müfen die Brillanten im Diadem fein, 
das ich meiner Helena fehenfen werde, fagte er fidh. Welhe Pracht 
in ihrem jchwarzen Haar! Ob fi wohl mit dieienm Walde ein 
folcher Schmud faufen Lehe? 

Er exichraf über den Gedanken. Sollten dieje ernften telzen 
Niefen einjt fallen, um einen Tand — für eine Frau, bie mohl 
nody feinen ihrer Holden Wide an eine hochragende Tanne ver: 
jchwendet hatte? Nein, der Schmud muhte andersiwo herfommen! 

Jet erfönte auf der rechten Alanfe ein Ianggezogener Horn: 
ruf und auf der linfen antwortete ein gleider; banm begann das 
waidgerechte Treiben: ohne Gefchrei, nur hier und da an’s Holz 
fehlagend, rücte die Treiberlinie in guier Ordnung vor. 

Kurt vernahm noch nichts; der verichneite Wald dämpfte den 
Schall. Da, leije in weichen Schnee, kamen in gemächlichem Trabe 
ein Thier und ein Kalb, in fehräner Nichtung, an ihm vorbei. Am 
Graben jiusten fie und nahmen dann das Hinderniß mit jchwer: 
fülligem Sprunge. Lange fah er ihnen nah: im Echilfinoor drüben 
btieben fie mehrmals fichen, ricdwärts äugend, als erwarteten fie 

















Altes Blut. 17 


noch ihresgleichen. Naum waren fie verfchwunden, als ein wahres 
Indianergeheul von der Treiberfette her ericholl. Offenbar war 
man man dort des Kirfcdhes anfichtig geworden, und hatte diefer 
Diiene gemacht, fid zuwrüczuwerfen. 

Dem jungen Waidmanne jehlug das Herz abermals und zwar 
gewaltig, denn jegt vernahm er ein Vreden und Nrachen: auf der 
Führte der erjten Elche kamen, in geitretem Galopp ein Schmal 
thier und ein Spieher heran. Eben wollte er auf legteren anlegen, 
als ein mächtiger Schauffer die Zwei in rajender Flucht überholte. 

Jept, im entjcheidenden Augenbfic, war Kurt ganz faltblütig, 
ex fief den Hirich bis an den Graben fommen, den er mit hohem 
Sprunge nahm, und ert als er ihn auf freier Fläche hatte, gab er 
Feuer: einmal, zweimal —- noch einen Zap und der Waldesrieje 
ftürgte dröhmend zufammen. Nod einmal hob er das jtolze Haupt, 
dann janf er jchwer zu Boden, die Glieder ftredten fid; er 
verendete. 

Kurt Hätte fiumphivend aufjauchzen mögen. Schneller als 
der Gedanke war er jenjeit des Grabens, ev wuhte nicht wie. Als 
er aber neben dem großen Todten jland, wurde ihn ganz feierlich 
zu Muth; 08 fehlte nicht viel und er hätte die Mübe abgenommen. 
&r Hatte jedod) feine Zeit fih feinen Empfindungen hinzugeben, denn 
ichon eilte der Förfter herbei und mit Freudengebrülf nahten die 
Treiber. Ehe der glückliche Schüge wuite wie ihm gejchab, hatten 
zwölf Hände in Faujthandfcuhen ihn gepact und dreimal mit 
Hurvah gewippt. 

Nun wurde der Eld) aus 























Sümpeln und Stubben heraus 
gejchleift und in die nächite Anfiedlung nad) einem Schlitten geidhictt, 
Kurt und der Förfter begaben jid) zu dem il 

Es war far und alt geworden mittlerweile. Als fie ein 
halbes Stündehen gefahren waren, hielt Albrecht bei einem Wald 
fnechthäuschen und bat um Erlaubnif, drinnen feine Pfeife anfteden 
zu dürfen. Nurt jtieg mit ihm aus, weil er das Jnmere einer 
folden Wohnjtätte jehen wollte. Ja jeben! Er jtolperte über die 
bohe Schwelle und vanıte fi beinab den Schädel am niehrigen 
Thürbalten ein. chen fonmte man nichts; «5 war jtodfinfter in 
der Stube, und ein beihender Nauch trieb Thränen in die Augen. 
Albrecht warf ein paar Scheite auf die Feuerftelle, einige Klammern 














Veiloge zur Yaltıigen Monatöfgrift. NLA, Heft 2 


18 Altes Blut. 


fladerten auf und beleuchteten die jchwarz verräucerte Stube, in 
der auch das nothwendigite Geräth zu fehlen dien. In der Ede 
ftand ein Vett, auf dem ein Häuflein zerlumpter fhmusiger Kinder 
Tauerte. 

Albrecht zündete jeine Pfeife an und fie gingen hinaus. Aus 
dem verfallenen Viehitall fam ein Weib. Cs entfchuldigte fich wegen 
der unjauberen Kinder; 6 jei Feine Zeit gewejen, fie zu waschen. 

Albrecht jagte, heute wäre Heiliger Abend, da follte fie den 
Kleinen doch ein reines Demd anziehen. 

Heiliger Abend! Kurt war das ganz entfallen. Die armen 
Mürmfein bier follten doch) auch eine Freude haben; er veriprad) 
ihnen etwas zu jchien. Warum lebten die Leute jo elend? Cal) 
8 unter den andern bemoojten Dädern am Waldrande nicht 
bejjer aus? 

Albrecht erwiderte, die Anfiedler wären alle glei jehlimm 
daran, weil Tophus, Faltes Fieber und Diphteritio ihre Arbeits: 
fräfte aufzehrten. Das Fönnte erjt anders werden, wenn ein großer 
Kanal die umliegenden Sümpfe trocten lege, ud, in der Furcht, 
den Jungheren möchte es befrembden, dafı diefes nicht jhen längit 
aeicheben jei, nannte er die Summe, die eine jolde Anlage toten 
würde: ca. taujend Rubel, und fügte hinzu, der alte Baron gebe 
alljährlich für wohlihätige und gemeinnügige Zwede mehr aus, als 
die Gutsfaffe zu tragen wermöge. ie Nanalarbeit jei immer 
binausgejchoben worden, weil es bisher an noch dringenderen Mih- 
ftänden nicht gefehlt hatte. 

Dann berichtete er in jeiner fachlichen, verftändigen Weile 
über die Bachtwerhältniife: in der Waldgenend waren die Höfe Hein 
und die Summen gering, aber der Boden fo jchlecht und verfumpft, 
da; die Yeute uch die wenigen Nubel mr mit äufßerfter Anftren 
gung aufbringen fomnten. 

Kurt hörte und fragte mit einem intenfiven Intereffe an Etwas, 
das geitern noch nicht für ihn eriftirte: die heimathlide Scholle. 
Faft hatte er den Glch darüber vergeffen. Als er aber zu Haufe 
aus dem Schlitten Äprang, jitterte ihm jeder Nerv in ftolzer Areude. 
Wie jung er ausfah, wie frifeb und energifch Feine Mienen nud 
Worte waren, alo er dem Tbm fein Folojlales Gtüd berichtete. 
war fichtlich erfreut und fuhr ihm faft zärtlich Durd’o raus 


























Altes Blut. 19 


haar, den Scheitel in der Mitte verwirrend, der ihn für einen 
Maidmann zu Fünjtlich deuchte: So redht mein Junge! Seht waren 
fie ganz vertraut mit einander. 

Im Speifezimmer ftand ein Weihnachtsbaum. Der alte Herr 
hatte ihn mit Peter eigenhändig gefhmüct und Nurt mußte aud) 
nod) vergoldete Pefferfuchenhergen anhängen. Dann wurde jchnell 
ein fleines Diahl eingenommen; die Leute hatten heute Wichtigeres 
zu thun, als für die Herrfchaft zu Eochen. 

Während des Gfiens chen, es war mittlerweite dunfel ge 
worden, hörte man auf dem Flur ein Geraune und Geftanpfe. 

Sobald der Tijch abgeräumt war, wurde er in’ Unendliche 
verlängert, mit Sinnen bedect und mit guten Gaben: Tücern, 
Shawls, Käfthen, Dieffern, bunten Bildchen und Najchwert belegt. 
Peter entzündele die Lichte am Baum und unter Führung bes 
Schulmeifters drängte fih eine Schaar Buben und Mädchen in die 
Stube, qualmend wie eine vegenfeuchte Schafheerde. Der Lehrer 
trennte die Lämmlein von den Vöcklein, ftimmte feine Geige und 
intonirte ein Weihnachtsfied, das die Kinder aus voller Kehle auf 
falfend richtig, wenn aud) theils Heifer wie die jungen Hähne, mit- 
fangen — Ins das jchöne Weihnachts-Evangelium und dann gab 
der Herr das Zeichen an den Tifh zu rücen. Mit Hilfe mütter- 
licher Puffe und Anuffe ordnete fi das Völtchen. Als jeder an 
jeinem Plab, ging der alte Yaron die Neihe entlang, ermuthigte 
die Schüchternen, ihre Herrlichfeiten einzuheimfen, feherzte mit ben 
Aufgeweckten, unterhielt fi mit den Müttern und Flopfte die Aleinen 
auf den Kopf. Na, er war recht rührend, ber fonjt fo geitrenge 
alte Herr. Die Haushäkterin flüfterte Nurt zu, ex gebe fid) jo viel 
Müge jeit dem Tode der gnädigen Frau. Alles," alles mühe jo 
jein wie zu ihrer Zeit und wie hatte die geforgt für Alte und 
Junge, Kranke und Gejunde. 

Hurt entdete zu feiner Genugthuung einige volle Worraths- 
förbe für überzählige Gäfte, an denen eben fein Mangel war, aber 
& reichte dodh nad), um einen großen Zuderfad mit MWeifbrot, 
Aepfeln amd Piefferfuhen zu füllen, den er fid vom Ohm als Ge- 
fchent ausbat und Albrecht für die Kinder im Walde einhändigte. 

Yald nachdem die frohe Feier mit einem Xiede geichloffen 
hatte, erfcholl draußen Hörnerflang. Der Ohm warf feinen Pelz 








20 Altes Vut. 


um und ging mit Kurt hinaus. Da (ng der mächtige Sirih von 
Fadeljchein beleuchtet. 

Wahrhaftig ein Pradtitüd, Junge, du haft ein unmenfchliches 
Gü gehabt, vief der alte Waidmann, dem Jungen die Hand 
ichüttelnd. Cin Zwölfender um Weihnachten! Ich habe allerdings 
am 2. Januar einen geweihten Hiric) erlegt, das mar aber ‚blos 
ein Gabler. 

Heute fonnte Kurt nicht wie geftern um zehn Uhr fehlafen 
gehn. Die Elhjagd allein hätte ihn bis über Mitternacht in ver: 
gnüglichen Gedanken wachhalten fönnen. ber fo viel anderes nod) 
wirbelte ihm im Kopf herum: der Kanal, der nicht den zanzigft 
Theil von dem Toten follte, wie da6 Diadem, welches er für Gräfin 
‚Helenfa räumte, und der für wohl hundert Menjchen Lebensfrage 
war. Die Pachten —- was Einer im Jahr mit Angit und Pühfal 
dem fargen Boden abrang. betrug oft weniger, als was er fi mit 
Kameraden zu Verfrühftüen nicht felten geitattete. Ja, wäre «6 
denn anjtändiger Weife möglich, die Erträge des Gutes, wenn es 
einmal ihm gehören follte, auswärts zu vergeuden, während baheim 
ichreiende Nothftände fortdauerten. Nein, das wäre geradezu chrlos. 

Sein Kopf fdhmerzte — er war an jo ernites Sinnen gar 
nicht gewöhnt. Das mußte alles in Nuhe überlegt werden. Er 
Fonnte ja auch die Neife nach Paris aufgeben und um jo länger 
bier bleiben ; vielleicht wäre es dem einfamen Chm eine Freude. 





* + 


Mufte ypan denn in Zarbad immer um fieben Uhr aus den 
Federn, fogar am erften Feiertag? Ja, da erit recht. Der Ohm 
wollte zur Nice, bis zu der man fünfzehn Werft zu fahren hatte, 
und der Gottesdienjt begann um zehn. Sturt werftand zwar fein 
ehftnifch, aber 8 war bad) Telbitverftändlich, daf er mittam. 

Um halb neun ftiegen fie in einen breiten Schlitten, vor dem 
eine jchmuce Troifa, von jelbjterzogenen Golbfücyien, ungeduldig 
ftampfte und die Schellen jchüttelte. Cs wurde eine Injtige Fahrt, 
wenn's auch bisweilen bedenklich fchief ging. Der alte Herr hatte 
feine Freude an den Thieren. Der rechts, mit den weißen Binter 
fühen, ging zum eriten Wal im Dreigefpann und tadellos. 


Altes Blut. 21 


Michel war ein ganz famojer Einfahrer. Selbftbewußt jaß er denn 
aud da, mit regungslos vorgeitredten Armen, den umfangreichen 
Leib im blauen Pelze, von roter Schärpe ummwunden, die Vären- 
müge auf die Augenbrauen gedrüdt. 

Die Kirche war bereits dicht gefüllt und mander Hals wurde 
Länger, als der Sarbadher Herr mit dem ftattlichen Begleiter zu 
jeinem Gejtühl fchritt. 

Nachdem das erte Lied gefungen, nahmen zwei Damen in 
der Bank gegenüber Plap: Die eine alt, die andere jung, Veide 
von Hohem Wuchs mit ernjt:mildem Musdruf im fchönen ovalen 
Antlig; der einen dichte Haarwellen jchneeweiß, der anderen 
goldbraun. 

Kurt Fonnte die Predigt nicht verftehen, aber die Andacht, 
welche fich in den edfen Zügen der beiden Frauen jpiegelte, theilte 
fich ihm mit, 

Nac) dem Goltesdienite warteten fie das Herausfrömen der 
Gemeinde ab. Der Ohm that dasjelde, dann ging er mit Nurt 
auf die Damen zu und jtellte ihnen den Neffen vor. Cs wurden 
ein paar Worte gewechjelt und die Herren aufgefordert, Morgen in 
Erxlenhof zu jpeifen. Worauf fie hinaus gingen, die Mutter am 
Arm der forgiamen Tochter. 

Wie viel Würde in der Haltung der Einen, wie viel Anmuth 
im Gange der Andern. — Edelfrauen jeder Zoll, dachte der nach: 
folgende Kurt und half ihmen in ben Schlitten. 

Auf dem Heimmege erzählte der Chm Mancherfei von Frau 
von VBrandau, feiner jehr verehrten Nachbarin und der fchönen 
Gerda, die er Fiebte wie fein eigen Kind. 

Ia, die Erlenhoffche Frau, das ift jo Eine vom bejten alten 
Schlage — wie führt fie Haus und Hof, feit fie Witwe ift und 
wie ergieht fie die Jungen, fie fann Ehre einlegen mit ihren Pri- 
manern. Der Erlenhofer war aber au) ein Pradhtmenfch, wie jollte 
das junge Volk da nicht gerathen. Altes Blut ift eben eine ficere 
Garantie für Gut wie Böfe, ein Faktor, mit dem ftets geredinet 
werden muß. 

Die Zeit fhien Nurt endlos bis zur Abfahrt nach Grlenhof, 
die er mit unbegreifficher Ungeduld erwartete und doch erzählte der 
hm höchft intereffant aus der Xergangenheit von Sarbad) und 


232 Altes Blut. 


derer von Ramsloh, die eng mit einander verfnüpft war, denn Jahr: 
hunderte lang Hatte hier 


Ein ftolz Geichlecht gejeffen 

An feinem feftgebauten Serd, 

Am Waidwerf feine Zeit gemefjen 
Mit Armbruft, Habicht, Yund und fd. 


Der Empfang im jtattlichen Erlenhef war äuferit herzlich. 
Kurt fühlte ih im heitern Nreife fofort eingefebt und gefiel Allen, 
was fein Gönner mit Genugthuung bemerfte. 

Ton nun an gab cs ein tägliches Herüber und Hinüber 
zwifchen Erlenhof und Sarbach. Die zwei flotten Schüler hatten jeden 
Morgen einen neuen Schladhtplan erfonnen: Fuchsjagden, Schlitten 
fahrten und Gerda war immer dabei. Sie hätte feine Stunde die 
Aameradicaft der Brüder, jest feltener Gäfte, miffen mögen. 

Auf der Sarbacher Stauung wurde eine fpiegelblanfe Cisbahn, 
mit Tannenbäumdhen eingefaft, hergerichtet. Gerda war eine vor: 
‚zügliche Yäuferin, ichfug fie auch feine funitvollen Bogen nach vüd: 
wärts, wie Helenfa. Diefe Beiden hätte Kurt gern einmal beifanmen 
gefehen, fie fehienen ihm entgegengefeht wie Feuer und Mafier und 
Beide jo entzüdend! 

In Helenka’s Augen fprühte eine Flamme: unheimlich, däme: 
nifch, als önnte fie ihr Liebftes in Afche verwandeln und dann 
wieder wurde ihr Schein fo fanft, Foienb und fehmeichelnd, daf er 
fi den Menfchen in’s innerfte Herz ftahl. 

In Gerba's Biden jhimmerte ein Licht wie aus Froftallenem 
Grunde: vein, ruhig, märcentief. hm war fo wohl in ihrer jelbit- 
vergeffenen fonnigen Nähe. Ahre gedanfenreichen freundlich heiteren 
Worte hätte ev nicht taufchen mögen gegen die herausfordernden 
itachelnden Geiftesblige Delenfa’s, die auf ihn wirkten wie ein 
pricelnder Nervenreiz, In all ihrem Thun lag eine jo beruhigende 
Sanfte Sicherheit. Und wie jchön fie war von einer Schönheit, 
die Feine Nünfte Fenmt und boch nicht altert, fi) nur verwandelt, 
wie ex 09 an der Mutter ja. Einfach und edel in jeder Linie, 
in jedem wechjelwollem Ausdrud. 

Ehe er fid"s felbit bewußt geworden, war er verliebt in 
Gerda. Verliebt — nein. Das war er j—hon oft geweien, diesmal 











Altes Blut. 23 


aber Hatte eine ernfte ftarfe Neigung fein innerftes Wejen ergriffen 
und ihn verlangte mehr darnad) ihrer Kiebe werth zu fein, als dieje 
Liebe um jeden Preis zu gewinnen. Sonit jelbjtbewuht und fieg- 
gewohnt, war er jest zagdaft geworden und dad) fühlte er es mit 
itillem (Süd, daß eine innere Webereinftimmung ihre Seelen ver: 
band. Am Flügel namentlich, wenn er fang und fie ihn begfeitete, 
war 66 immer, als flutheten die Töne aus einer inneren, tief 
gemeinfamen Empfindung zujammen. 

Es kamen aber aud) Tage, da fie ihm ferner gerüdt fhien. 
Der Verkehr auf Exfenhof wurde ümmer lebhafter; die prächtige 
Schlittenbahn benugend, fanden ih Gäfte ein von nah ımd fern 
und er jah Gerda plöglich von Verehrern umfcwirrt, denen Ber 
wandtjchaft oder alte Betanntjdaft einen recht vertraulichen Ton 
anzufchlagen erlaubte. Da war namentlid) ein Vetter, Heinz d. Nons- 
berg, Majoratsherr auf hden, ber ihm Himmelangit machte; ein 
blonder Rede, den Alle lebten und vermwöhnten, Gerda nicht aus- 
genommen. Sie jchien ihn zu ihrem Nitter auserforen zu haben. 

Aber was wollte Hurt eigentlich? Cr fragte fich'o felbit. 
Was hatte er ihr zu bieten? Ein Leben in der Haupfitadt? Da 
hätte fic jo wenig hingewolft wie Helenfa in den Sarbader Wald. 
Sie, die allen Schein hafte, die jo viel Nüglihes und Inhaltvolles 
in jeden Tag hineinlegte und Vergnügungen nur als erfrifchendes 
Nebenbei betrieb. Harmlos wie ein Rind, gewöhnt an Sonnen 
ichein, freie Luft und goldne Morgenftunden. Und dennod) betrachtete 
er fi prüfend im Spiegel, ob er wohl ftattlicher jei als Vetter 
Heinz, aber er Fonnte es nicht ergründen — Gejchmadsiache. Iener 
war mindeftens zwei Zoll länger und hatte noch) breitere Schultern 
— und die Augen — ja, wenn er nur gewußt hätte, ob fie blaue 
oder braume vorzog! Dann fann er wieder über Eigenihaften nach 
— Heinz war gewih; ein Fieber treuherjiger Menfch — er hätte ihn 
ja jelbit gern gehabt, wäre er ihm eben nic)t jo verdammt unbe: 
em gewejen. 

Ad was, Nonsberg und Genofien, er felbit war der echte, 
dem fie fh anvertranen durfte er wollte fie glüdlid) machen, 
die ganze Kraft feiner Scele daran fegen, ihrer würdig zu fein! 

Eines Morgens forderte der Chm ihn auf, mit ihn die Wirth: 
ihaft zu befichtigen und fie gingen durch allertei wohlgefüllte Alceten 














24 Altes Blut, 


und Neller, fahen fi verichiedene Betriebe, den Majtochjen- und 
Kuhftall an, in welchem achtzig blanfgeftriegefte Friefen das Ange 
des Nenmers erfreute. Gin folder war Surt zwar nicht, um jo 
mehr verftand er von den Füllen und da waren Pracıt-Eremplare 
unter den Anglo:Chften, von denen er fich nicht trennen fonnte. 

Wie viel Verftändniß, wie viel Arbeit und Mühe ftedte in 
dem Allen, was er auf diefem Nundgange fa — und für wen 
plagte fi der alte Dann, der gewiß; oft lieber der Nuhe gepflegt 
hätte, als fid mit Mirthichaftsbüchern, perfönlicher Aufficht und 
erlei Schwierigkeit abzugeben. — Hatte er auch Freude am 
en, fo war co doc eine Freude im Hinblidd auf die Zukunft, 
die ihm nicht mehr gehörte. ir wen war hier Alles jo jorgiam 
gefammelt und gepflegt worden? Für ihm, der fid) bisher um den 
lieben alten Ohm, dem er ein großes Maaf Dank ichuldete, fauım 
mit einem Gedanken befümmert hatte. Während di in ber 
Dämmerftunde ein Schläfchen hielt, überdachte Kurt das Alles auf 
einem einfamen Spaziergange und 5 war nicht mur Lictät und 
Dankbarfeit was der junge Mann für den alten empfand, fondern 
ein Gefühl naher Verwandticaft, jeit er Wurzeln zu jchlagen begann 
in dem heimathlichen Boden. 

Co fam 6, da er Abends am Namin, Jrni und Arni auf 
den Nnieen, rücbaltlos Alles, was ihn bewegte, ausiprehen 
fonnte. Derweilen jahen ihn aus blauer Naudwolfe ein paar alte, 
aber falfenhelle Augen wohlwollend an. Augen, die mancherlei 
wahrgenommen, die tiefe Blide in zwei junge Herzen geihan hatten. 

Was Kurt dann zu hören befam, jtellte ihn, mit feinem 
Ainfchen und Hoffen, auf ficheren Yaden und mehr noch: gab ihm 
einen Vater, zu dem er in Ehrfurcht und Liebe aufblidte. 

‚Helenfa hatte prophezeibt, er werde fich nad adıt Tagen in 
Sarbach vor Langermeile an feinen Sporen aufhängen, wenn er 
nicht vorzog fie auf dem Parquet rue de Wetoile Nr. 44 Hivren 
zu Laien. Nun waren drei Wochen nur allzu jdnell verflogen 
und Kurt fuhr nad Erlenbof, jein tapfereo Herz grofer Entich! 
und nicht geringer Bangigfeit voll. 

Als er fh durd die Schwarzerlen-Allee dem Haufe näherte, 
z0g er die Yeinen an und lich den Fucho im Schritt gehen. 














Altes Blut. 25 





itte er Gerda's Neigung gewonnen? Warum war das jo 
ichwer zu ergründen, bei ihr, die fein Nänfefpiel fannte, ihm fo 
ruhig, mit offener Theilnahme, in die Augen jah, feinen warmen 
Händedrud ebenfo feit erwiberte? Und doch war fie unnahbar in 
ihrer angeborenen Hoheit und er mußte micht, was fie für ihn 
empfand. Frau v. Brandau war ihm wohlgefinnt, das wuhte er, 
fie zeigte ihm mehr, als nur das Antercjie für den Neffen ihres 
lieben alten Nachbarn. Wie ev biefe Arau verehrte, — er wollte, 
er hätte bie eigene Vhutter, die er zärtlich) liebte, jo hoch. itellen 
tönnen. Aber diefe Art jugendlicher Zuneigung gewinnen nur 
Frauen, die ganz felbitlos Find und bei unwandelbar firengen Grunl 
fügen der Jugend ein grafies Herz voll Wärme entgegenbringeı 
die ihr Lebelang den Weg der Pflicht gegangen find, beiter als fei 
« ein Nofenpfad. 

Er fand fie allein: (Gerda mit den Brüdern und Heinz war 
in's Paiterat gefahren. Sie jah im großen Geialon am Feniter 
an ihrem Stietrahmen, auf den eine Altardeke von rothem Plüic) 
geipannt war. Sie grüfte ihn freundlich wie immer. Er nahm 
ihr gegenüber Pag auf einem iteiflehnigen Stuhl und fchwieg. 

Sie fief die fleihige Hand mit dem goldenen Fingerhut ruhen 
und fah ihn fragend an. 

Nun muhte er jprehen ud als er erit begann, da drängten 
fich ihm Gedanfen und Gefühle in folcher Fülle auf die Lippen, 
daf; er ihrer faum Meifter wurde. Seine beredten Icbenswarmen 
Worte bewegten die Höhrerin tief, aber das verriet ihr ruhiges 
Antlit nicht. Sie hatte noch nie den Wunjch gehabt ihre Tochter 
zu verheirathen -— im Gegentheil; Kurt war ihr jompathifc), aber 
fie war darum noch nicht überzeugt, daf er für Gerda der Nedhte 
jei. Gteichmähig ihren goldnen Faden ziehend, lieh fie ihn reden, 
ohne ihm einmal zu unterbrechen, das war graufam und plöplid) 
hielt er inne. Nun war eo an ihr fich zu Äufern und mit athemz 
lojer Spannung erwartete er ihren Vefcheid. 

Yieber Namsloh, fagte fie noch furzem Befinnen, Name, Ver- 
mögen, einnehmende Berfönlichteit machen Sie in hervorragenden 
Maahe zu dem, mas man gemieiniglicd eine wünfchenswerthe Partie 
nennt. Verargen Sie 09 einer alten Frau, mit vielleicht veralteten 
Ideen, nicht, wenn fie noch mehr verlangt: nämlich einen Mann 


























26 Altes Blut. 


von unerjchütterlich feitem Charafter. Zie haben noch feine Gele 
genheit gehabt fich als folder zu erweiien. Sind Sie um's Jahr 
desfelben Sinnes, fo fommen Sie wieder. 

Und Gerda, fragte er beffommen —- wird fie warten? Darf 
ich ihr von meiner Liebe fagen? 

Nein, erwiderte Frau u. Yrandau entjdhieden. Gerda joll 
frei fein, wie Sie es find. Jit ein wahres und tiefes Gefühl für 
Sie in ihrem Herzen erwacht, jo wird cs wohl ein Jahr überdauern. 
Das wäre feine echte Liebe, die nicht auszuharren vermöchte. Den 
Sharakter, den id) meine, fette ich in Ihnen voraus. Er wird fid) 
nicht nur in Ahrer Liebe bewähren, in Ihrem geduldigen Werben um 
ein Kleinod wie Gerda, fondern in Ihrer Treue, in Allem wozi 
Sie einft in der theuren Heimat berufen fein werden. 

Das Wort „Heimath“ hatte Heute einen neuen jchönen Klang 
für ib Er fühte Frau v. Brandau's Hand wenn möglich mit 
noch innigerer Verehrung als jonit, und ging. bgleich es herrlich 
gewefen wäre Gerda im Sturm zu erringen, ihr in der nächten 
Stunde fein ganzes übervolles Herz auszuidütten, nicht ablaffend 
bio fie fein, empfand er bod) Lebhaft, wie berechtigt die Forderung 
ihrer Mutter, und beugte fid) ohne Murren. 

Der Ohm unterdefien wanderte rauchend rajtlos auf und ab. 
Einmal haderte er mit fih nicht auch gefahren zu Gerda’s 
Zärtfichfeit für ihren alten Freund hätte wohl ein Körndyen zu 
Kurt's Gunten in die Wagichale gelegt. Dann lachte er in fd 
hinein: dem Jungen fekundiven, das fehlte nod. Habe mir meine 
Alda auch allein erobert. te mir da jede Einmifchung ichönftens 
verbeten. Wird ihm nicht fÄwver fallen, dem Schlingel, ich feinen 
ha zu holen. Wenn der nicht gefällt, po Vombenelement, dann 
müßten die Frauenzimmer rein närrifc) geworden fein. Sterne vom 
Himmel verlangen, he! Aber Gift auf feinen Erfolg nehme ich dach 
nicht. Die Erlenhofihe — Sut ab, alle Bochachtung und nod) 
einiges — aber fÄmrrig iit fie doch bisweilen mit ihren romanti- 
ichen Einfüllen. 

Also Hurt endlich anlangte, muhte ev fofort Nede ftehen, wie 
viel lieber au, er allen Fragen aus dem Wege gelaufen wäre. 

Der alte Herr dien erwartet zu haben, dah er die Braut 
gleich mitbringen werde und Hub grimmig zu poltern an, al er 












































Altes Blut. 27 


nicht einmal das Nawort aus der Tajche zog. Bald jedoch calmirte 
er fich und lobte, wie gewöhnlich, die Weisheit feiner Nachbarin. 

= X, ja, man muß der Jugend nicht zu viel Aufwafler geben. 
Ibm war's fchon recht, dafz der Junge fi) erit tüdhtig und arbeittam 
auf der eigenen Scholle zeigen follte, die er ihm um Georgi anver- 
trauen wollte. Er zweifelte nicht an feinen foliden Cigenfchaften, 
die lagen den Namslohern im Blut. 

Der legte Abend in Erfenhof und nichts jagen zu dürfen von 
dem, was ihm die Bruft Iprengte, welche Folter! Sie jahen 
Alfe gemüthlich plaudernd am runden Tijch, im Schein der Lampe. 
Nein, das hielt er nicht aus, erhob fid) rajch und öffnete den Flügel: 

Wolfen Sie ein Abjhiedstied fingen? fragte Gerda in etwas 
wehmüthigem Ton. IL ich Sie begleiten? 

Er nictte nur mit einem etwas zagen Biel auf die Hausfrau. 
Zu fpredhen hatte fie ihm verboten, aber nicht zu fingen. für 
Liedesworte war er nicht verantwortlich. 

Bitte ein Inftiges — nicht von Scheiden und Mieiden, rief 
Heinz. 

Andre Städtchen, andre Mädchen, jchlug ein ungezogener 
Bruder vor. 

Gerda wurde roth und noc) röther als Kurt das Heft öffnete 
und anftimmte: „Die Liebe, ja die Liebe ift eine Himmelsmadt“. 

Es war ein Gfüc, da fie nicht rücwärte jah, wie Mama’s 
Antlig über der Arbeit gejenkt blieb, wie der alte Nachbar vergnügt 
fchmungelte, wie die Brüder, die Frehlinge einander anjtießen und 
Vetter S in nervöfer Ungeduld an feinem blonden Schnurrbart 
Salt juchte. 

Kurt hätte das Alles nicht angefochten; feine ganze Seele war 
jo erfüllt von einer Himmelsmacht. Pit dem legten Uccorde jprang 
Gerda auf, froh daf biefer Sang, der ihr in allen Nerven nad: 
üterte, ein Ende hatte, aber num jtand fie ihm dicht gegenüber und 
ihr et mit leuchtenden Blicken in die Augen jdauend, ehmetterte 
er es noch) einmal jubelnd hinaus: Die Liebe, ja, die Liebe ift eine 
Kimmelsmacht ! 

Sie war jept nicht mehr voth, jondern jehr bleich geworden, 


als fie an ihm vorüberging, neigte fie das Tchöne Haupt ein wenig 
— war es Zultimmung? 











28 Altes Blut. 


Famofes Lied, riefen die Brüder wie aus einem Munde. 

Hat es dir gefallen, Gerda? fragte Heinz leicht ironifch. Ich 
fann cs auch fingen, wenn du cs nod) einmal hören willit. = 

Er erhielt feine Antwort. 

Der alte Herr mahnte zum Aufbruh. Der Schlitten jtand 
schen ft vor der Thür und die Pferbe wurden unruhig bei ber 
Kälte. Der Abjchied Fam Allen vecht, denn die Gemüther waren 
zu erregt, um den harmlofen Gonverfationsfaben von vorhin weiter 
zu jpinnen. Nur die Brüder, die Nedkobolde, hätten aufheulen 
mögen, daß ihnen ihre Veute fo fehnell entwifchte. Die Schweiter 
allein auf's Horn zu nehmen, wenn Er jort war, hatte ja feinen Zinn. 

Verzeihung, flüfterte url, als er Frau von Brandau die 
Hand Füfte. 

So hatten wir nicht gewettet, entgegnete fie leife, aber ihre 
Lippen berührten feine Stirn — das war Abfolution. 

Gerda fagte ihm ein herzliches Lebemopl und auf Wieberjehen; 
ganz umbefangen, obgleid) ein böfer Yube fie in den Arın Eniff. 
Die Jungen, die für ihn jehwärmten, fielen ihm um den Hals. 
Nur Vetter Heinz reichte ihm etwas würdevoll und fteif die Rechte, 
die er ganz befonders Fräftig fehüttelte, To daf; dem Andern ein 
heiteres Lächeln über das gutmüthige Antlip flog; es ihien nicht fo 
ernjt gemeint mit der Gegnerfchaft. 

Als Frau von Brandau fihh zur Nuhe gelegt hatte, wurde 
ihre Thür leife geöffnet, Gerda im weißen Gewande jchlüpfte hinein, 
fniete am Bette nieder, barg den Kopf in's Kiffen und fchluchzte. 
Bum erften Mal im Leben verlor fie ihr [dhönes Gleichgewicht und 
benahm fich jo thöricht. Frau von Yrandau wuhte wohl, was das 
zu bedeuten habe, jtweichelte ihr fanft das Haar und lich fie fih 
ausweinen. Dann kam aus vollem Herzen die Frage: Warum it 
er gegangen ohne mir von feiner Liebe zu jagen, anders als in 
Liederworten, fo öffentlich, vor Heinz und den Nnaben? 

Die Mutter z0g fie zärtlich an fi und vertraute ihr Rurt's 
Antrag und ihre Erwidereng an, mit den Worten [cließend: Einem 
Rlattergeifte, einem Wandervogel gebe ich did nicht, du mein 
theures Kind. 

Gerda umichlang fie liebevoll und fagte mit ftrahlendem 
Lächeln, während ned) Thränen in ihren Wimpern hingen: Ich 








Altes But. 





werde die feine, denn er it freu wie Gold, — fein Namsloh war 
ein Flattergeift! 

Das junge Evelfräulein glaubte nicht minder feit an die Straft 
d08 alten Blutes wie der Ohm auf Carbad. 

Und Heinz? fragte die Mutter. 

Gerda machte große Augen. Heinz? — den habe ich immer 
als älteften Bruder betradhtet, das will id) ihm morgen jagen, wenn 
er cs nicht weiß. Wie viel Vettern haben für did geihmwärmt, du 
meine jchöne Mutter, und find hernadh Waters bejte Freunde ge 
worden. Gute Nacht. Kurt ift ein ganzer Mann, dem du dein 
Kind vertrauen fannit. — Vete für ihn! 

Gute Nacht, mein Liebling. Gott jegne did) und ihn — und 
fie mmarınten einander lange und innig, froh, da; nichts Unaus- 
geiprochenes mehr zwifchen ihnen ftand. 

Kurt war als träume er, wie er wieder im Wagon jaß und 
feinen Dienjte zueilte, den er nun bald quittiren follte, und doc) 
war diefe ganze neue Welt wahr und wirklich: fein jühes ftolzes 
ich, fein Meurer alter Gönner, fein Heim, fein großes weites 
Arbeitsfeld und die taufend Augen, die ihm hoffnungsvoll ent 
gegenfahen. 

Hatte er noch einen Gedanken für Helenfa? 

Ia, wie hätte er fie icon ganz vergeffen fönnen? Er fragte 
fich fogar, ob er einer Untreue jenuldig jei, aber er durfte fid) frei 
iprechen. Hatte fie denn etwas anderes verlangt als Weihraud) in 
ichimmernden duftenden Wolfen? In lichterloher Echwärmerei hatte 
er ihm ihr gefpendet, wie mancher andere auch. Gräfin Helenfa und 
Ahresgleichen fragen nicht nad jener Himmmelsmacht, die das Herz 
auf weißen Schwingen aus dem Weltgefümmel trägt. 





* * 


Wieder hielt funfelnder Zroft die merdifche Erde umfangen, 
Weihnachtsferzen hatten gebrannt umd mit hellem Schellengeflingel 
fouften die Schlitten duch tiefverjchneite Wälder: unter 
weicher weifier Derfe, hatte das mämliche Anjehen wie jeit Jahren. 
an fonnte nicht ahnen, was feit dem lebten Frühjahr alles Neues 
geichaffen war; aud) der breite Manal, der unerjchöpfliche Slutben 









30 Altes Blut. 


in die Mühlenfianung zum Vortheil des emfigen Näderwerts und 
zum Heil der Sumpfgegendbewohner ergoffen Hatte, verbarg Fich 
im Schnee. 

Am Kamin jah der alte Herr und raudıte. Auf dem Wolfe 
fell zu feinen Fühen träumten Jeni und Ani fo lebhaft von ihren 
Heldenthaten im Fucs- und Dacsbau, baf die gelben Pfötchen mit 
unter heftig zu graben jdhienen, und bisweilen ein leifes ausbruds- 
volles Knurren den tapfern Gefellen entjchlüpfte. 

Sieh‘, Kind, jo habe ich auch die Iepten Dahre Winterichlaf 
gehalten und vom Fett der Erinnerung geyehet, fagte der alte Mann 
mit dem Pfeifenftiele auf die Heinen Schlafjäde deutend, zu Gerda, 
die eben ein Tüfchehen an feine Seite rückte und ihm mit Tiebevoller 
Sorgfalt feinen Thee bereitete. Yeht, wo Ihr bier feid, babe ich 
wieder eine Gegenwart. Er nahm ihre Hand in die feine. In den 
alten ägeraugen, die fajt jugendlich heil aus dem verwitterten 
Antlig fehanten, Fonnte fie Iefen, wie licht diefe Gegenwart feinen 
Lebensabend verflärte. 

Und in Dir Lebt uns die Liebe chrmürdige Vergangenheit, 
erwiderte fie zärtlich. 

Der wir das Bolte verdanfen: die Liebe zur Heimath, fagte 
eine fiefe Stimme hinter ihr: Die unferer vollen arbeitefrohen 
Mannesfraft bedarf und Schäpe birgt wie diefen! Numt zog glüc‘ 
ftrahlend diejenige an fi, die feit einer feligen Woche fein Cigen 
war und wollte ihr eben noch viel Liebes und Zärtliches fagen, 
mußte es aber auf fpäter verfparen, denn Peter erjchien mit der Pot. 

Von unfern Studenten, rief Gerda vergnügt, einen Brief 
öffnend, der mur wenige Zeilen enthielt. Sie tommen morgen nad) 
Haufe, wie wird Mamaden fi freuen, und dann, mit Letter 
Heinz, zu uns. Du haft ihnen eine Värenjagd verfprachen, behaupten 
fie umd die haben fie auch verdient, mit ihren brillanten Examen. 

So mögen fie den Braunen mit „vivat academia“ aus dem 
Lager jehredten, lachte Kurt, und läuft er Heinz vor die Flinte, jo 
jei er ihm gegönnt: Glück macht grofmüthig! Aber da iit ja nad) 
etwas für mich — und er zog eine goldgerandete Karte aus dem 
Gowert: Helenka heirathet den erften Secretaiven an der rulliichen 
Votjehaft in Paris. Das freut mich — das wahre Milieu für fie. 
Eine entzüdende Diplomatenfran wird fie werden und es wie feine 

















Altes Blut, al 


zweite verjtehen, die Elite des Eiprits und der Eleganz in ihren 
Salons zu vereinigen. 

Was meinft du zu einer Kochyeitsreife nach Paris? fragte 
Gerda lächelnd: Glüc macht großmütbig! 

Reifen! nein, mein Lieb, dies traute Heim it unjere Welt — 
und jegt ein Lied! 

Sie jepte fh an den Flügel. 

Was willit du dem fingen, Licbiterz 

Die Widmung natürlid. 
ie Fannte die fehöne Venleitung auswendig und er fang aus 
tieffter Seele: 











Du bift die Ruh‘, Du bift der ricden, 
Du bift vom Himmel mir befchieden. 

Daf Dur mich liebft, macht mid mir wertb, 
Tein Bid hat mic vor mir verklärt. 

Du hebft mic, licbend über mich, 

Mein guter Geift, mein befres Ich. 





Der alte Herr bliete zu dem AJugendbilde feiner Aldn auf 
und nite der Tieben Gefährtin zu: Sieh‘, mein Engel, unfer 
Hoffen, Streben und Lieben Icbt fort. —- Wie die Alten jungen, 
jo zwitfchern die Jungen — md Gott wolle fie fegnen. 


























Aunftbriefe. 


IV. 

$ Menfchen fein fih an, Weihnachten zu feiern. Ein 
"23° beifpiellojes Gedränge berricht namentlich in der Friedrichs 

” ftadt, im Stralauer Viertel, in der Leipziger Strafe und 
zwifchen Potsdamer Vrüce und Potsdamer Thor (alter P lab). 
Denn in diefen Stadttheilen liegen die meiften, größten und jchönften 
Läden, vor denen einigen man fürmlich uceue bilden muß. um, 
wenn man enblid) hineingelangt, nad) eine halbe Stunde zu warten 
in „drangvoll fürdhterlicher Enge”, bis die Stimme einer der er- 
matteten Verfäuferinnen an das Ohr der ermatteten Näuferin jhlägt: 
„Schon bedient, Gmädige Frau?" Und die gnädige Frau — nein, 
ich bin im beiten Zuge, Ihnen Scenen zu jhildern, und wenn's 
auch für Manden zur Zeit auf der Strafie und im Laden viel 
hutiger und intereffanter hergedt, als im Theater, jo führt mid 
meine Berichterftatterpflicht doch zu diefem zurück, 

Es hat Vieles gegeben, jeitdem ich Ihnen das legte Mal 
vom Berliner Theaterleben erzählte. So Vieles, daf; id natürlich 
darauf verzichten muß, Alles zu berühren. 

Hreife ich zum Nächjtliegenden, fo heift's nicht von deutjcher, 
fondern von franzöfticher Bühnenfunft und Wühnendichtung plaudern. 
Go üft lange ber, daf; dem Berliner franzöfifcheo Theater etwas 
Altägliches war. Fünfundzwanzia Nahre mindeitens. Vor dem 
großen Ntriege fam fait alfwinterlid) eine Nomödiantentruppe von 



























Kunftbriee. 33 


jenjeits der Vogefen herüber und weihte die Berliner ftudirende 
Jugend im Koncertfaale des 8. Schaufpielfaufes in die Geheimnifle 
und Reize frangöfifcher Bühnenfunft ein. Dann aber war's plöglich 
infolge naheliegender Gründe aus damit. Exit in den allerlegten 
Jahren veriret fi dann und wann eine Truppe hierher. Bor ein 
paar Mintern jpielte fo eine provinzielle Operetientruppe in Berlin; 
im vorigen Fam Herr Antoine, der Begründer des „Thöätre libre“, 
herüber und wurde von ben Ktreifen der „Freien Bühne“ ebenjo 
willfonmen geheifien, wie jene von den Rreifen, in denen man fich 
nicht langweilt. Das war chen aud Alles. Und die Sarah Vern- 
Hardt, obfehen ihre Mutter, wie indiserete Foriher ergründet haben 
wollen, eine Verlinerin gewejen jein foll, die beiden Goquelin’s, 
Feore, Momnet-Sully, die Neichemberg und die anderen Wander“ 
apoftel parifer Theaterruhms — fie wiefen haerfüllt das Anfinnen 
zurüd, das „pays des prussiens“ jemals mit einem Vefude zu 
beglüden, während befanntlich ihre bichtenden und fchriftjtellernden 
Landsleute, Dumas und Sardou an der Spige, fi nicht das ge 
tingfte Gewiffen daraus machten, die hübjdhen Tantiömen einzu: 
ftreichen, die ihnen die deutfchen Ueberfegungen und Aufführungen 
ihrer zahllofen Werke alljährlid) abwerfen. Und männiglich ift ber 
fannt, daß franzöfiiche Vühnenlitteratur in Deutjchland, und zumal 
in Berlin, einen nur zu guten Abfag fand. Und nicht bloß die jo zu jagen 
ernftere, fondern erit recht bie leichtere und Leichtfertigere. Macht 
hier dod) ein Theater, das „Nefidenztheater”, gar ausichliejlid) in 
frangöfiichen Komödien und Pollen und mit großem Erfolge. Wohl 
zum Theil deshalb, weil den meiften ganz unbefannt, wie dieje 
Bühnendichtungen fid) im Frangöfiicen, von Franzofen gemimt, aus- 
nehmen. Mer fie fo gejehen, ber fann an ben beutfchen Ueber: 
jegungen und an ihrer Interpretation durch beutjche Künftler ges 
wöhnlich nicht Gefallen finden. 


* * 
* 


Das beftritten num wohl viele und meinten überlegen: „Dich- 
fung it Dichtung und Schaufpielfunit Schaufpielfunft.“ Sie fonnten 
fidh aber jet eines Befferen belehren Inffen. Denn es fand fid 
eine muthige Frampöfin von Auf, bie mitten in des Lünen Racen 

Beilage zur Baltifgen Nonatöfgrift. XLILL, Geft 1. 3 


3 Rumftbriefe. 


hineinfprang, lachend und trillernd. Anne Judic, die Schöpferin 
eines eigenen Genres, das nicht groß ift, in dem fie aber Großes 
feiftet — nod) immer! — und das die Mitte hält zwijchen Vaude 
ville und Operette und wo fi um eine meift recht blödjinnige 
Handlung allerlei Geiftesolüthen und wigige, pridelnde, oft recht 
zweideutige Liederchen vanfen. Großmama Anne Jubic aljo war 
biefe tapfere Franzöfin, die mit einer eigenen Truppe nad) Berlin 
fa, um bier fängit icon befannte Stüde von Hennequin und 
Viillaud und Vifjon ımd aud) Sardou einmal im Original aufzu 
führen. Sie Fam, fah, fang und fiegte ... Die Berliner, die da 
glaubten, am Ende würde der Scene-Chauvin durch bie Liebens 
würdige Nechnung der greifen Gaftipielerin einen polternden, vaj 
felnden Streich machen, irrten fih gründlid. Co gab jogar eine 
Woce hindurch einen Eleinen Judic-Kultus und das Fofette „Neue 
Theater“ des Herrn Lautenburg war allabendlih Zeuge fautejter 
Dvationen. Die Kunjt der Jubdie — die Kunft fid) jung zu 
haften vor Allem — und die anmuthigen Reize ihrer Spiel: und 
Vortrageweife in Ehren: wie wäre wohl der Beifall gewejen, wäre 
fie jünger, auf dem Gipfel ihres Könnens jtchend, und mit einer 
befferen Truppe hergefonmen! So aber Fonnte der Nenner der 
Jubic und franzöfifcher Bühnenkunft überhaupt mitunter fih eines 
gewijien Lächelns nicht enthalten, wenn ev hier und da in der Preife 
gar zu begeifterten Serzensergüffen begegnete. In manden Füllen 
war es aber allerdings vitterliche Gialanterie, as den Ausichlag 
gab und über einen Fehlbetrag himvenfehend im Webrigen fi an 
dem vielen Guten und Neizvollen ergögte, was Anne Judic_ ned) 
immer bietet... 

Und nach der Chanfonette und dem Yaubeville famen fteif 
beinige, Eunfigeredht drapirte Alerandriner: nach ben Ejprit md den 
Zweidentigkeiten der Sardon und Meile — der Pathos und die 
Yeidenfchaft der Nacine und Gorneille; nach der Judic die 
Segond-Weber, die 5 veritanden hat für die hervorragenbite 
unter den jungen frangöftichen Tragödinnen zu gelten, die Lertre 
terin der Traditionen altfranzöfiicher Wühnenhocfchule, wie fie die 
Comedie franenise und das Odron noch immer pflegen im Hafii 
chen Nepertoir, während auch fe jegt jhon lange im modernen dem 
Vodernen zu feinem echte verhelfen. An einem Sonntag verab 

















Kumftbriefe. 35 


ichiedete fich Anne Judic in „La femme & papa“ und am Mon: 
tag darauf ftellte fich im jelben „Neuen Theater“ Mme. Segond- 
Weber als „Phädra” vor. Aber die Hafjiiche Tradition biejer 
Künftlerin und der traditionelle Klafficisimus ihres pielplans be: 
hagte dem Berliner fihtlid weniger und obzwar Mme. Segond- 
Weber weit jünger und jhöner, als Mme. Judic, fo zog er den 
priefeinden und pifanten und anmuthigen Gefang diefer dem pathe- 
tüchen und mägchenreichen Zingjang jener entjchieben vor, was aud) 
ganz zu begreifen, umfo mehr, als dieje zweite Truppe noch fdjlechter 
üft, als die Judic'ihe... Es war leer, recht leer bei Heren Lauten: 
burg und er mochte froh fein, dafj Mime. Segond:Weber nur 6 
Abende für Verlin frei hatte, während ihre Vorgängerin 14 Mal 
fpielte . . 








Aber intereffant waren fie doch, die Nacine’fchen und Cor- 
neille’fchen „tragedies“ zwifchen al den modernen Sittenjtücen, 
Yebensausjchnitten, Charakterbildern und Poilen, die jegt die Bühnen 
beherrichen. Und Hatte die gelungendfte der Aufführwigen, die der 
„Pbädra”, immerhin zum großen Theil auch nur bie Vebeutung 
eines „succös de enriosit@“, wie fie e8 in Paris nennen — man 
überzeugte fi dabei doc) anbererfeits, dab die wahre Dichtkunft 
immer jung und „modern“ bleibt; nur das Gewand, in dem fie in 
diefem Falle vor uns hintrat, war veraltet, verihoilen und forderte 
den fin-de-siecle-Theaterfreund zu einem Lächeln heraus. 

Freilich) — mandes Mal hat auch das fin-de-sidele-Produft 
jeloft Fein befjeres Loos, als belacht zu werden, weil 6 umver- 
ftanden bfeibt. - 

Da gab © zB. im Schaufpielhaufe einen Heinen Dreiafter 
von Theodor Wolff. Er it ein Neffe des bekannten Annoncen 
Königs und Milfionärs Rudolf Vlofje und gehört fomit zum großen 
der Schriftiteller des „Verliner Tageblatts”, das befanntlich 
viel in Wälfchthum macht. Much Theodor Wolff, ein nad) ebenjo 
junger, als begabter Schriftiteller ift von feinem Ohm nad) Paris 
gejdjieht worden, das trop allem Xielen in Deutichland nod) immer 
als die Hauptichule jeglichen Gejchmads gilt. Und Herr Theodor 















Ei 


36 Runftbriefe. 


Wolff ift fehr gelehrig und gefehiet und ein echter, vediter Voufevarb- 
Stilift und „eausonr“ geworden, ber in deutfejer Epradie franzö- 
fich fehreibt. Num ift er aud) unter die Dramatiker gegangen und 
abermals möchte man fagen, er hat ein franzijifces tüd in 
deutfcher Sprache geliefert. Nicht etma im Lindau'fchen Gheifte. 
Nein — dur) die Grazie und den Aumftgefehmad, die als Eelbit- 
zwerf in „Niemand weiß; es” eben, erfejeint es wie aus frangöft 
{chem Hirn und Empfinden herausgeboren. Aber in dem biendend 
ihönen Nahmen, nebenbei bemerkt in ftreng japanifchem Stil (bie 
Dichtung fpielt nämlich in Japan) ift ein Stück büfteren Symbolis- 
mus gefaft und — für Eombolismus hat der Berliner nichts übrig, 
dazu ift er zu „helle“. SHätte er Wolff den Vorwurf gemacht, daf 
da nichts Selbftändiges üt, daß Malterlinf und Lerlaine u. A. 
Gevatter geftanden haben, dafı der japanijche Aufmen das Piitmachen 
einer parifer Mode, da; es bebauernswerth, wenn ein beutjcher 
Dichter feangöfifch zu empfinden und zu fcaffen beginnt — jo wäre 
die abfehnende Haltung begreiflich geweien. Aber fie richtete fich 
nur gegen den Anhaft als foldhen, der von ber tragifchen Gefchichte 
des fehönen japanifchen Mäbchens Tajo gebildet wird, Die ben wilden 
Maler Yori liebt, aber einen Alten heirathet, dann  jebod) 
Hori in die Arme finft, der ben Alten in der Stille der Nacht 
erdoleht und fi) in’ Gefängniß auf die Folterbanf führen 
täht, ohme das Schweigen über feine That zu bredien, während Tajo 
fich den Ölnfigen Yatagan in die Bruft flöht. Worauf es dem 
Dichter anfam, das war Stimmung an fih zu erzeugen, traumver- 
forene Märchenftimmung. das düftere Gejehid maferiich zu erfafien, 
das über dm Licbeopaar im jhönen Japan brütet . .. Und dabei 
kam ihm die Negie in fteigiebigfter Weife zur KHülfe durch eine 
ebenfalls märchenhaft jchöne Ausitattung. Aber vergebens; vergebens 
auch das Wemühen Aein’s, der den Alten gab, des Frl. v. Man: 
burg and. Mattowoifh's wache und Handlung blieben der Mafie 
umverjtändlich und wenn fihh ihrer eine Stimmung bemächtigte, fo 
war 08 Die des Ufo... 

Diehr gefiel jChon eine andere, diefes Mal eine wirklich fran- 
zöfifche Vühnendichtung, Edmond Notand’s Komödie „Die Noman- 
tiihen.“ Sudwvig Fulda, der reiche Franffurter Patrisierfohn, der 
Frankreich und die Franzofen gut fennt amd zwifchen zwei eigenen 











Runftbriefe. 37 


Dichtungen immer irgend eine dramatifche Gabe des Nachbarvolfs 
für die deutfche Bühne bearbeitet, hatte die Ueberfegung geliefert 
in fein policten erfen. Das Lefing-Thenter brachte die eigen- 
artige Novität. Roftand fchöpfte aus dem Born mittelalterlicher 
Dramatit und thut hier zu dem, was einjt das Mefen italienischer 
vomedia del’ arte bildete, modernen Wi und fin-de-siöcle- 
Sarkasmus hinzu, jowie eine Dofis Schäferjpielpoefie des 17. und 
18. Jahrhunderts. Und fo gab's eine Lujtige Traveftirung derer, 
bie die Nomantit außerhalb im Leben fucen und heraufzaubern 
wollen und erit jpät merfen, baf fie längft im eigenen Herzen Iebt 
und nur da zu Haufe ift und daß die fhlidhte Wirklichkeit rei) an 
Poefie fein Tann. 


„Richt wahr? Die Porfie erblüht aus treuer 
Serzinnigteit aud) ohne Abenteuer . . . 

Ja! Denn es leuchten für ein liebend Maar 
Am nadgemachten Himmel echte Sterne . . . 
Und thöriht fuchten wir in weiter Ferne 
Die Poefie, die in uns jelber war.” 


Das wird uns an den Erfahrungen eines Liebespaares und 
den Erlebniffen feiner närrifdhen romantittollen Qäter ggeigt.... 
Eine ergöglice Komödie, phantaftifch in der Handlung, phantaftiic) 
aud) in der Austattung. wie denn ;. B. die Mitwirfenden fid) in 
der Tracht verfchiebener Jahrhunderte zeigen, ohne daf es ein 
Mastenjeft gäbe. Damit follte wohl angedeutet werden, ba die 
Nomantiktollheit nicht einer Zeitepodje allein angehört. Ganz brachten 
die deutfchen Nünitler das grazile Sächelehen, das mit einer Föltfichen 
Rarodirung des „unglücjeligen Liebespaares von Xerona“ ein: 
jeßte, nicht heraus. 

€s nahm fi) mandes ehvas jchwerfällig und daher mitunter 
albern aus. Auch jo was mühte man durchaus von Franzofen 
felbft gefpielt fehen. 


38 Kunftbriefe. 


Da nun heute fo viel von Franzöfiichem die Nebe, jo paht 
aud) Paul Lindau redt gut in den Nahmen, er, der feinerzeit der 
lautejte Verfünder und Verbreiter der Bühnenfunt Frankreichs in 
Deutfchland war. Er ift jegt befanntlich ntendant des einjt jo 
berühmten Hoftheaters zu Meiningen geworden. Der langjährige 
fehneibige und wigige ITheaterkritifer, der fruchtbare und früher 
glüctliche Dramatiker hat fomit, wie mancher jeiner Zeitgenoiien, wie 
DOsfar Yumenthal ;. B., der Direltor des Lefjing- Theaters, oder 
Otto Vrahm, der Leiter des Deutjchen Theaters, num auch die Mög- 
fichfeit nad) den „theories“ die „exemples* zu fiefern, nach ber 
Porfie —- ihre praftifche Vethätigung. Man war daher geipannt 
auf den Beginn feiner Intendantenherricaft. Und er trat in ber 
That mit einem förmfihen Programın hervor in Form eines Ein: 
afters, der unter dem Titel „Die Venus von Milo“ eine Anek: 
hote aus den Tagen der Herrlichfeit griechiicher Antite nicht unge 
ichieft dramatifch behandelt. Da giebts u. X. einen harten Pleinungs- 
ftreit über die alte und die neue Nunft. Der Mäcen Agathon und 
der Bildhauer Sfapas führen ihn und der Rünftler geht als Sieger 
hervor mit ber Tirade: 


„Ach! Die Jungen! Alten! 
Braucht’ id) den Aundreim nimmermehr zu hören! 
Dem Phidios, unfer aller grofem Meifter, 
Der nun feit fehzig Jahren im Eiyfion 
Den hitigen Streit der Schulen mild belächelt, — 
Schon ihm Hang gellend, Freifchend in den Ohren 
Das dumme Lied von Alten und von Jungen! 
Was in der Aumft ift alt? Was jung? Gicb Antwort! 
Vielleicht ift Phivdias alt, der ewig Junge? 
Am Ende altert auch Unfterblichteit? 
Und ift nur wahr, was unfre Augen jehen? 
Steig’ nur hinauf, Areund, zur Akropolis, 
Vetradt' am Parkhenon das Bild des Zus, 
Und fag' mir: ift das wahr, in Deinem Sinnet 
Das Bild hat freilich Mind und Stien und Naje 
Und Ohren juft wie wir —— menfchliche Züge! 
Und doc) ift's anders — mas? Mir fehlt das Wort, 











Runfthrief. Er) 


Doch fühl‘ ich's deutlich: nenn’s das Göttliche, 
Das übermenjchlich Schöne, jchanrig Schre, 

Nenm’s wie Du willt! ch nenn’ 06 einfach Aunft! 
Und fteh' ich vor des nrofen Gottes Vilonif, 
Dann fühl’ ib woht, wie hinter diejen Brauen 
Der Donner jchlummert, wie das mädt'ge Auge 
In Zorn entflammend Fenerblige fpeit, 

Und wie die Fluth fi ftaut und grollend fchäumt, 
Und die beftürzte Erde furchtfam bebt, 

Wenn er des Yauptes fehwere Cole [chüttelt. 
Das ift das Göttliche, das ift die Aunft! —« 


So entjcheidet Paul Lindau die moderne, viehumftrittene Frage 
von Wahrheit oder Schönheit in der Nunit... Er hat nicht viel 
Freunde im Verlin, wie fich das auch bei der hiefigen Aufführung 
der „Venus von Milo” — im Leifing-Theater — zeigte und er 
fann ficher darauf rechnen, daß man hier hölfifch aufpaffen wird, 
ob und wie er jein Glaubensbefennmiß praftiich bethätigen wird. 
Es hat etwas Mihliches, mit cinem feierlichen Programm hervor: 
gutreten, wenn es fich auch in griehiicher Gewandung verbirgt und 
in (muttönenden Verfen ausipricht . 

Das find jo einige Zeiten aus der Verliner Theaterchronit 
der Ietten zwei Vtonate. Auch auf den anderen jtcht Vieles ver: 
merft, wenngfeid) eo rafcher vergefien wird. 

Dofi Yudmig Fulda aud) mit einer eigenen Neuheit erichien, 
natürlich im „Deutichen Theater“, das verftcht fich ebenjo von jelbit, 
wie daß Felir Bhilippi im Leffing-Theater besgleichen ein neues 
Schaufpiel brachte. Sowohl „Nobinfons Ciland“, das übrigens 
nicht zu den befien Sachen Fulda’s gehört, obfchon die dee recht 
glüdlich war, die Nobifonade zu modernifiven und fo zu beweifen, 
dab; auch heute noch im fulturlofen Lande vet wohl der wahre 
Werth) deo Menfchen fich zu bethätigen Gelegenheit hat, wie auch 
Pbilippi's „Dornenweg“ find Tendenzitüce, aber wo der heiter 
Franffurter lacht und fcherzt, da väfonnivt meiftene der fühle Ber: 
finer unbarmderzig und jo hat Philippi auch diefes Mal einen harten 
Gonflift zwifchen Wahrheitopflicht und Mutterliebe hart und fcarf 
dramatifirt, ohme dafı man darüber hinwegtäme, nicht Mandıes bloh 





40 Aunftbriefe. 


als Pofe aufzufaflen. Darin hat er viel Verwandtes mit Voh, 
nur daß biefer noch weit büfterer und wuchtiger ift, wie jegt wieber 
in feinem neueften Drama „Die neue Zeit“, das im „Neuen 
Theater“ nicht allzuviel Beifall fand, objhoen gerade das gewöhnliche 
dortige Publifum, ebenfo wie das des „Verliner Theater“ an Rüh: 
vung und Grihütternng nie genug haben kann. 

Daß aber darum beide Stüce, wie natürlich aud Fuloa's neuejte 
Dichtung die Runde über alle deutfce Bühnen machen werben - 
das ift ganz zweifellos. So gelangen fie wohl aud nad den Cit- 
feeprovinzen, was von den Arbeiten Wolff’s und Noftand's fauın 
anzunehmen lt. 

Auch Mifch’s „Nahruhm“ und Ernjt Nosmer’s (Arau 
Bernftein) „Tebeum“ dürften vielen Lefern vorgeführt werben, umfo 
eher, je weniger fie ehvas Neues bringen, objchen Nosmer zu den 
Erforenen des „Deutfchen Theaters“ mit feiner Pflege des Moder- 
nen gehört. 

Und zudem ift’s Zeit, dal; ic abbrede ... Hanje's Schluß: 
und Abjchiedegaftipiel im ngl. Schaufpielhaufe wird erft das nächfte 
Dial beiprodien werden fönmen ... Cs ift der Schwanengelang 
einer alten Echule und ——- bezeichnend genug — es !hut gar Vielen 
weh, dafj es ein Schwanengefang. An Ende Fommt’s auch wirklich 
anders. 


Berlin, im December. I. Norden. 




















Litterärifhe Umfhan. 


Be 
PM] ogteic) die Ei 
“ 


TR 





vatur über Napeleon I. eine unermehliche und 
> faum mehr überjehbare ift, erfcheinen doc) noch immer neue 

Vücher über ihm in Frankreich. Während aber unter dem 
zweiten Naiferreich, abgejehen von ben durch Napoleon IIT. infpirirten 
und von ihm angeordneten Gejhichtsdarftellungen, des Kaifers uner- 
jättlihe Groberungspolitif j—harf verurtheilt und feine Perfon bitter 
feitifirt wurde, wofür befonders Lanfreys Werk den beiten Beweis 
fiefert, und zulegt noch Taine feine geiftreihe, aber fchonungslofe 
Analyje von Napoleons I. Charakter und Perfönlichteit gegeben hat, 
it in den legten Jahren wieber ein gewiffer Umfchwung in ber 
Auffaffung feines Charafters eingetreten. Die parlamentarifche 
Corruption, die Unfähigkeit der fortwährend wechfelnden Regierungen, 
ebenfo wie der Kammern haben das demofratifch-parlamentariiche 

jem in weiten Streifen völlig discrebitirt und man fehnt fich 
inftinetiv wieber nad) einem wirklichen SHerrjcer, einem genialen 
Manne, der mit ftarfer Hand das Staatsfhiff leitet. Diefe Stim- 
mung fommt auch der Beurtheilung Napoleons I. zu Gute; feine 
Perfönlichleit beginnt den Franzofen wieder in einem günftigeren 
Sichte zu erf—einen. Bejonders über fein Privatleben, den Hof, 
das Treiben in den Tuiferien find im Lepten Jahrzehnt zahlreiche 
Schriften veröffentlicht worden, unter denen die Denfwürdigfeiten 
der Arau von Nemufat und nod) mehr ihre Briefe die erfte Stelle 
einnehmen. Im neuefter Zeit hat fich befonbers Friedrid Maffon 











"2 Litterärifche Umfchm. 


mit der Perfönlichfeit Napoleons I. beichäftigt, zuerit in feinem 
Yuce Napoleon I. und die Frauen und dann in dem Werke 
Napoleon I. zu Haufe. Der Tageslauf in den innern Gemädern 
der Tuilerien. Beide find von Csfar Marfcall von Vieberftein 
ins Deutiche übertragen‘). Das zweite Fient uns in dritter Auflage 
vor. Maiton's Puch giebt eine fehr intereffante Meberfiht über das 
tägliche Leben des Naifers; wir jehen Napoleon recht eigentlich im 
Schlafroct, ja im Bette, wir lernen alle feine Cigenarten und eigen“ 
!hümlichen Gewohnheiten fennen, erfahren feine Tageseintheifung 
und werden mit feinen Aerzten, feinen Kammerdienern und feiner 
geibwache befannt gemacht. Cbenfo wird une bie mechfelnde Alci- 
dung Napoleons I. genau beichricben, wir wohnen feinen Mahlzeiten 
und Abenderhofungen bei und werben mit der peinfich genau betinmmten 
Hofetifette vertraut. Xor allem aber gewinnen wir durch Vaifon’s 
Durch einen vollen Einblick in die raitlofe Thätigfeit und unermüb- 
fiche Arbeitskraft des Naifers. Er arbeitete eigentlich ununterbroden 
die ganze Woche hindurch und zeinte fc der Vevölferung nur am 
Sonntag; noch am Abend fnät jah er an feinem Arbeitotifch und 
ichen. in der Nacht Ins umd arbeitete cr wieher. Nur auf dieje 
Weife war es ihm möglich, allen auf ihn einbringenben Anforde 
rungen zu genügen, zumal da er fich in allen wichtigeren ragen 
die perfönlihe Enticheidung vorbehielt. An Arbeitiamfeit und umer- 
müblicher Erfüllung feiner Negentenpflichten Fam ihm feiner ber 
Fürften jener Zeit aud nur entfernt gleich, er leftete darin wirffich 
Benwunderungswürdiges. Maifen’s Werk it in feichtem und fliefendem 
Stil geichrieben. die Daritellung lebendig, 6 bietet eine beichrende 
und zugleich angenehme Lecture. Die Weberiekumg üft lesbar, aber 
nicht ausgejeichnet. 

In die Napoleontiche Zeit füllt zum 
Thätigfeit des Grafen Neinhard, d 
oben Wilhelm Can in einem bedeutenden, auf mehrjährigen 
Stubien und reichen fitterärifchem Material beruhenden Buche 
geichildert hat?). „Aus einem Würtembergifchen Wagifter Tann 
Alles werden,“ dies befannte Wort findet auf Neinhard feine 





























33 Eeipzig, Heinrich Schmidt & Cart Günther. 3 M. 60 Pi. 
>) Bamberg. 6. C. Buchner. 10 M. 





Litterärifche Umfchau. 43 


volle Anwendung. Ein an Umfhwüngen und Wechielfällen reiheres 
Leben als das feinige läßt fi faum denen. Gin Zögling bes 
theologifchen Stiftes in Tübingen, eifriger Dichter und begeifterter 
Verehrer der Kantjhen Philofophie, wird er Vicar bei jeinem Later 
in Balingen. Dann gebt er nad) der Schweiz, wird Hauslchrer in 
Bordeaux, wo er, ein Ichwärmerifcher Anhänger Rouffeau's und von 
foomopolitiichem Freiheitsfinn erfüllt, in ben Kreis der Männer 
gerät, welche ipäter unter bem Namen der Girondiften fo befannt 
geworden find. Mit Jubel begrüßt er die evolution und ging 
mit feinen renden nad Paris, wo er bald eine Stellung im 
Minifterium des Auswärtigen fand und zur Schredenszeit mit Mühe 
der Guillotine entging. Darauf wurde er Gefandter der franzöfifchen 
Nepublif bei den Hanfeftäbten, organifirte dann in Toscana die 
Hepublif und war 1799 drei Monate Diinijter des Auswärtigen in 
Franfreic als Talleyrands Nachfolger. Napoleon ernannte ihn zum 
Gejandten bei der hefvetifchen Nepublit und dann wieder in Hamburg; 
er Fichte Neinharb nicht und ließ ihn feine Ungnade burdh die 
Ernennung zum franzöftfchen Nefidenten in Nafiy, was eine Art 
Xerbannung war, fühlen. Dort geriet Neinhard in ruffifche 
Gefangenfchaft, aus der er bald wieder befreit wurde. Nachdem er 
dann urze Zeit aus dem Staatsdienit geichieben war, beitimmte ihn 
Napoleon zu jeinem Gefandten in Kafjel bei König Jerome; er follte 
deifen Benuffihtiger und Mentor fein. In biefer fÄhwierigen 
Stellung bat Neinhard von 1808 bis 1813 gewirkt. Nach Napo- 
leons Sturz ichloß er Fi Ludwig NVII. an und blieb ihm aud) 
während ber 100 Tage treu. 1816 wurde er franzöfiicher Gefandter 
am deutjchen Vundestag in Frankfurt a/Dt. und bekleidete dies Amt 
bio 1829, wo er feinen Abfchied nahm. Unter Ludwig Philipp 
wurde er Pair von Frankreich und Mitglied der Afademie der 
moralifcen und politihen Wiffenichaften, er ftarb 1837 zu Paris. 
Talleyrand, obgleich jhen dem Tode nahe, hielt ihm in der Afademie 
die Gepähtnißrede, in der er übrigens fih auf Koften Neinharb’s 
verherrlichte. Welche Wandlungen muß der Plann durchgemacht 
haben, welher es vom Tübinger Stiftler und Freiheitsihwärmer 
zum Napoleonifchen Diplomaten und Pair von Frankrerch gebracht 
hat! Nine aus dem Fosmopofitifchen Geifte des vorigen Aahrhunderts 
it ein foldhes freimilliges Aufgehen in eine andere Nationalität zu 














4 Sitterärifche Umfchau. 


verjtehen. Vollfommen war jie doch nicht, denn Reinhard fühlte 
fich nur politifch als Aranzoje, dem Gemüthe, dem innern Leben 
nad blieb er Deutfcher und verleugnete in jeiner äußern Unbeholfen: 
heit und fchwerfälligen Nede bis zulegt nicht den Schwaben. Durch 
diefe Doppeleit feines Wejens Fam ein tiefer Zwielpaft in fein 
Leben, den er oft genug fchwer empfand und der feine Gemüths- 
ftimmung verbüfterte. Mehr als einmal hat ev daran gedacht, Frant- 
reich ganz zu verlaffen und fid) dauernd in Deutichland wieder an: 
zufiedeln, aber Gharakterichwäche und Ehrgeiz ließen biefen Entichlufi 
nie zur Ausführung fommen. Einem charakteritarfen Manne wäre 
6 and) unmöglid) gewejen, nad) einander der Nepublif, Napoleon 
und Ludwig XVII. zu dienen. Neinhard aber lieh fc, wie er 
05 bezeichnete, vom Schiejal treiben und erfüllte in jedem Amt 
teeu feine Pflicht, wie jchwer fie ihm aud wurde. Und welche 
Aufgaben hatte er zu erfüllen! Am Hofe Ieromes muhte ex nicht 
nur den König überwachen, jondern auch, den Epäher und Aufpafier 
auf alle deutjchen Negungen und Erhebungsverfuche machen. Als 
Yundestagsgeiandter hatte er die Aufgabe, die früheren Rheinbund: 
itaaten unter franzöfifchen Schug zu nehmen. Lang fchliet feine 
Charakteriftit Neinhards mit den treffenden Worten, er fei das 
Tehrreichite Beifpiel von deuticher Treue für fremdes Volfsthum, er 
hätte aber hinzufegen follen, gegen das eigene, und darin liegt das 
Widerwärtige und Abtohende von Neinhard’s ganzer Lebensthätigkeit. 
E. M. Arndt hat dody nicht unrecht, wenn er Neinpard den deutjchen 
Apoftaten, den willigen Schergen des Forfiihen Zwingheren nennt 
und gegen feine Verherrlichung eifert. Neinhards zwiefpäftiges 
Weien ft der ftrafenden Nemefis nicht entgangen. In feinem 
Adoptivvaterlande war er niemals vecht beliebt und wurde als 
Diplomat zweiten Nanges bald vergefien; mo feiner fpäter noch ge: 
dacht wurde, geichah es mit Geringichägung oder gar mit erum- 
alimpfung. In Deutfchland dagegen wurde er über Gebühr hod- 
aefbägt und gepriefen und blieb eben wegen feiner wunderbaren 
ebensentwicklung vom fehwäbifhen Pfarrvicar zum  frangöfifchen 
Gefanbten und wegen feiner zahlreichen freumdfchaftlichen Beziehungen 
unvergeffen. Durch feine Frau Chriftine Neimarus gehörte Reinhard 
jener befannten, ganz von aufflärerif—en und freigeifteriihen Inte: 
vefien erfüllten Hamburger Familie an, der Leffing einft fo nahe 


Kitteräriiche Umfcan. 45 


geftanden hat. Durch fie fan Reinfarb mit vielen bedeutenden 
Männern der damaligen Zeit in Verührung. Der Glanz feines 
Lebens aber war die Freundidaft mit Goethe, dem er 1807 in 
Narlsbad nahegetreten mar und mit dem er Dis zu deo grofen 
Dichters Tode in lebhaften  brieflihen Gedanfenaustaufch jtand. 
Goethe fprad) fid) gegen ihm über bie Zeitverhäftnifie fowie über 
die fitterärifchen Richtungen und Perjönlichfeiten offener und vüd- 
baltlojer aus als gegen die meijten feiner jonitigen Gorreipondenten, 
wie dag der jhon vor 45 Nahren gedrudte inhaftreiche Briefwechjel 
zwifchen beiden ausmeift. Unter den zahfreichen von W. Lang ver 
öffentlichten Briefen nehmen die nad Inhalt und Form gleich an- 
zichenden von Frau Chriftine eine ber erften Etellen ein. Aber 
aud) jonit enthält das Yud), defien Inhalt ein reicher und mannig: 
faltiger ift, bewerfenswerthe Beiträge nicht nur zur politifchen 
Geschichte, jondern auch zur Kenntnif; der fitterärifchen und Guftur: 
verhäftniffe der denfwürdigen Periode vom Tode Friebrids des 
Großen bis zum Sturze Napoleons. Sehr zu bedauern ift 08, 
dafi es Lang nicht gelungen, Einfiht in den zu Paris von einem 
Nacjeommen ftreng verfchlofien gehaltenen Nachlaß Neinhards zu er: 
langen, in dem fi Aufzeichnungen des alten Dipfomaten über die 
wichtigeren Abjchnitte jeiner politifchen Thätigkeit vorfinden follen. 
Wenn fih nad) deren Bekanntwerden wohl im Einzelnen Manches 
in der vorjtehenden Lebensfchilderung modifieiven wird, im Großen 
und Ganzen werden die Nefultate von W. Lang’s Forichungen 
gewiß; beftehen bleiben. 

Die Feier von Vismart’s adıtjigitem Geburtstage, die, einen 
ganzen Monat während, ihres Gleichen in der beutfchen Gefdichte 
micht Hat, erhielt ihren eigentlichen Glanz und ihre wahre Weihe 
durd; die Neden und Anjprachen, welche der große Staatsmann mit 
itets friiher Geiftesfaft und umerichöpflicher Gedanfenfülle an die 
Deputationen umd Huldigungszüge richtete. Diefe Zeugnifie keffter 
pofitifcher Weisheit, die zugleih mit bewunderungswürdiger Kunjt 
und Gewandtheit an die befondern Verhältniffe der verihiedenen 
glüchwünfchenden Gruppen anfnüpften, verbienten «6 in  vollitem 
Mafe, and) jpäter nad gelefen und beherzigt zu werden. Go war 
daher ein glüdlicer Gedanfe von Karl Wippermann cine voll: 
jtändige Sammlung diefer Neben und Anjpradhen zu veranftalten; 














46 Litterärifhe Umfchau. 


fie ift unlängft unter dem Titel: Fürit Bismard’s 80. Geburts 
tag. Ein Gedenfbuch erihienen!). ALS Cinleitung ift der 
Veridht über die bedeutfamen Huldigungen der Deutichen aus Pojen 
und Weitpreufen vorausgejchidt. Cs werden dann jedes Mal die 
Anpradien und Glücwunfchadrefien der Deputationen und Vereint 
gungen mitgetheilt und dann die Erwiderungen des Fürjten gegeben 
In einem handlichen Bande hat man fo alle Erinnerungen jener 
glänzenden Tage beifammen. Da fo viel geboten wird, fann man 
den Wunfd nicht unterdrüden, der Verfajier hätte dod) noch einen 
ritt weiter gehen uud eine kurze Beichreibung der Fejtlichfeiten 
hinzufügen follen. Wei diefer Gelegenheit drängt es uns mit einigen 
Worten der großen von Dr. Horft Kohl veranftalteten Fritifchen 
Ausgabe der politifhen Neden des Kürten Bismard zu 
gedenfen, die nunmehr mit dem 12. Bande abgejchloffen vorliegt). 
Wir haben den erften Yand biefer Nusgabe an einem andern Orte?) 
jeiner Zeit eingehend bejproden und den Werth und das Verbienit 
derfelben gewürdigt. Dept wollen wir in aller Kürge über den 
Inhalt der folgenden Bände berichten. Yand IT bis IV umfajlen 
die Zeit von 1862 bis 1870, aljo die Periode, in welcher Vismards 
glänzende atsfunit in beftigem Widerftreit mit der Volksvertre 
tung die größten Erfolge errang. Der Herausgeber Hat alles zum 
Verftändniß der Neden Bismards Erforderliche, ja nur Wünjchens 
werthe hinzugefügt, fo gleid) im IT. YBande eine Furze, aber injtrue 
five Vorgeihichte des Conflicts als Ginfeitung vorausgeicict. Aud) 
die wichtigen Commiffionsverhandlungen find, fo weit Bismard an 
ihnen theilnahm, volljtändig mitgeteilt, jo die denfwürdige Nede am 
30. September 1862, in der Vismarcd das berühmte Wort von 
der Herftellung ber deutjchen Einheit durd) Eifen und Blut (fo, nicht 
wie gewöhnlich umgefehrt lautet es anthentiich) iprah. Aud) Bis- 
mards große Denkjchrift über die jchleswig-holfteiniiche Frage wird 
zum Verftändniß der Situation abaedrudt. Amı IV. Bande wird 
wieder eine Furze inftruftive Worgefchichte des deutjch franzöfifchen 
Nriegeo gegeben und die dazu gehörigen Atenjtüce mitgetheilt, 

















’, Münden, E 9. Ved’jce Verlagsbuhhandlung. 3 M. 
?, Stuttgart, Verlag der F. 6. Gotta’jchen Buchhandl. Nachfolger, a 8 M. 
%) Düna« Zeitung 189%, Nr. 212-214 








Litterärifche Umfcan. 17 


ebenfo die wichtigiten auf die Herftellung des beutichen Neiches fi 
degichenden Adreffen und Anfprachen binzugefügt. Band V bis VII 
umfafen dann die Zeit von 1871 bis 1879, die Periode des Nulturs 
fampfes, der wiederholten Steuerreformpläne Bismards, d 
bahnverjtaatlichung und des Soctaliitengefepes. Der größte Theil 
der Reden des Fürften in diefen Bänden beichäftigt fi mit dem 
Kuftutampf, für deifen Vorgefchichte die wichtigiten 
mitgetheift werden, im Anfang 
fege abgedrudt. Die von beiden Seiten mit leidenichaftliher Erre 
gung damals geführten Nämpfe treten in den Neden Vismard’s dem 
Lejer mit vollfter Lebendigkeit vor Augen. Der VII. Band leitet 
zu der großen von Vismardt durchgeführten Steuer: und Wirthichafts- 
veform herüber, deren Lorgeichichte Nohl ebenfalls in Iehrreicher 
Zufammenfafjung befeuchtet. Der jchwere Kampf, in dem Bismard 
diefe Neformen durchfegte und bei dem die bisher jo mächtige na- 
tionalliberale Partei in Cppofition zum Kanzler trat und daburd) 
ihre einflußreihe Stellung einbühte, erfüllt die Neden des VILL- 
Bandes. Die Neden des IN. Yandes, von 1881 bis 1883 reichend, 
bejchäftigen fich mit der grohartigen, ganz aus Vismard’s Geifte 
bervorgegangenen Arbeiterichuggeiehgebung und beziehen fi) weiter 
auf den Anfchluh Hamburgs am das Zollgebiet des deutichen Neichs, 
zu dem der Kanzler trog alles heftigen Widerftrebens Hamburg 
Aud) die Neden des N. Yandes beicäftigen fid) mit der 
Fürforge für die Arbeiter, insbefondere mit der Unfallverficherung. 
andererfeits mit der Verlängerung des Socinlijtengefeges. Dazu 
fommt dann die Nolonialpofitit, die Viomard jeit 1855 energijch 
betreibt. Auf fie und die Zollpolitif beziehen fi) and) die Neden 
des XI. Bandes. Eine der gewaltigiten Reden Vismards ijt die 
vom 13. März 1885, in der ex fih mit dem größten Naddrud 
gegen den Hader der Parteien md dns Webergemicht der Partei 
interefien wendet und mit dem berühmten mpthologijcen Hinweile 
auf Xofi und Hödur jchloß. Enplid) Fommt in diefem Bande die 
Wendung in der Kolenpofitif der Negierung und das energifche 
Vorgehen gegen die nalionalpofnif—hen Beftrebungen in Pofen zur 
Sprache. Der XI. Yand umfaßt die Neden aus den legten Jahren 
von Vismard’s Anntsthätigkeit von 1886 Bis 1890. Zumäcit 
handelt es fich in ihnen um die völlige Beilegung des Streites mit 




































48 Litteeärifche Unfchan. 


der fatholifchen Kirche: alle dahin gehörigen Aktenftüce find beige 
fügt. Dann titt Vismard auf's Entichiebenjte für die Erhöhung 
der Friedenspräfenzitärke des Heeres ein. Als der Neichstag fie 
verwoirft, erfolgt die Auflöfung deiielben und die Vildung des Car 
tells. Am 6. Februar 1888 bielt dann Wismar jene mächtige 
Rede, deren Schlufwort: Wir Deutfche fürchten Gott, aber Tonit 
nichts in der Welt, einen Beifallsfturm innerhalb und außerhalb 
des Neichstages Hervorrief. Diefe Rede ift nach Anhalt und Um 
fang — fie dauerte 21/, Stunden — eine der größten, bie Vie: 
mare je gehalten hat md zugleich die Iete aus der Neihe jener, in 
welchen er feine Politif dem Reihstage in großem Stil entwickelte. 
Von monnmentaler Größe, chlichter Einfachheit und ergreifender 
Herzensbewegung ift dan weiter ber Nachruf, welchen ev am 9. März 
1888 Naifer Wilhelm T. im Neichstage widmete. Den Schluß des 
Bandes bildet die authentifche Daritellung der Entlajfung Vismards. 

Aedem Bande it ein forgfältiges Perjonen- und Sadhregifter 
beigefügt. Wo es nöthig, begleitet der Herausgeber den Tert mit 
Anmerkungen, in denen er auf frühere Aeußerungen Bismard’s hin 
weift oder die Stellen aus den Neden der Abgeordneten, auf die 
Vismard fd, jpeciell bezieht, wörtlich mittheilt oder endlich erfäu- 
ternde VBemerfungen giebt. Mit Net nennt fd diefe Ausgabe eine 
fritifche, denn der Tert der ftenographiidien Protofolle ift forgiam 
geprüft und viele Fehler darin find von H. Kohl verbefiert worden. 
Visweilen ift der Herausgeber freilich unferes Erachtens zu weit 
genangen und hat an manchen Stellen die jtenographiichen Berichte 
geändert, wo deren Wortlaut uns feiner Beanftandung zu nnterliegen 
scheint. Vefremdet hat cs uns und wohl aud) mandje andere Lejer, 
daf; der Herausgeber es für nöthig gehalten hat jedes Iateinifche 
Gitat nicht nur, fondern aud) jebe Inteinijehe Wendung in ben A 
merfungen zu verbeutjehen, ebenfo aud) jedes Inteiniiche und griedhiiche 
Fremdwort. So um nur ein paar Veifpiele aus dem NIT. Bande 
anzuführen, wird heterodox, furtim, pretium affectionis, bona 
fides, ja jogar salus publien überfegt. Diefe Ueberfepungen der 
befannteften und gewöhnlichften Nusbrüce jcheinen uns mit dem 
ganzen Charakter diefer grohen Ausgabe im Miderfpruch zu ftehen 
und wirfen geradezu ftörend. Für gnoranten, die folder Beleh 
rung bebürfen, find bod) weder Wismard’s Neben gehalten noch it 











Sitterärifche Umfchan. Ei) 


für fie diefe Ausgabe bejtimmt. Die Vanquiers, Naufferen und 
Grofinduftrielfen, die folder Belehrung allenfalls bedürften, haben 
ja ihren Büchmann und Heyfe, aus denen fie fid im Nothfalle die 
erforderliche Auskunft holen fönnen. Im Neichstage haben gewih, 
als Bismard die Neden hielt, auch Dance gejejlen, denen das La= 
teinifche fremd war, aber der Kanzler hat es doch nicht für möthig 
gehakten, deshalb gewohnte Ausprüde aus den alten Spradien zu 
vermeiden. Es wäre ein frauriges Zeichen für den Verfall der 
Haffifchen Bildung in Deutichland, wenn wirklich weite Kreife der 
Gebilveten jolcher Ueberfegungen bebürften. 

Dieje nun abgefchlofiene Ausgabe der politiichen Neben Bis 
mards ijt ein wahrhaft monumentales Werk, deffen würdige, einfad) 
vornehme Ausitattung der Größe und dem Merthe des Inhalts 
entfpricht. Da der Preis diefer Ausgabe ein verhälmißmähig 
höherer iit, jo wird die Sammlung der Neben Bismard’s von 
Böhm und Dove daneben ihre Geltung und Verbreitung behalten 
und geringern Aniprüden werden die Auswahlen von Ilracmer 
und Stein genügen. Aber für den Hiltorifer, den Staatsmann, 
den Politifer und Publicijten wird Kohl’s Ausgabe der Neden 
Bismard’s unentbehrlich und allein verwendbar fein und bleiben. 
Ein unermeßliher Schat volitiicher Weisheit, vrigineller politischer 
een, mäcjtiger Anregungen it in biefen Neden dem beutichen 
Volfe und den deutfchen Staafsmännern zur praktischen Venugung 
und Aneignung dargeboten; die Gegenwart jcjeint es nicht zu ver: 
ftehen, davon rechten Gebraud) zu machen; um jo nachhaltiger und 
erfolgreicher wird cs, dejjen find wir gewiß, die Nachwelt thun. 

Am 4. December n. St. find es hundert Jahre, dah einer 
der größten und originelfften Geifter Großbritanniens das Licht der 
Welt erblidt hat, der Schotte Thomas Garlyle. In diefem Anlaf 
ift kürzlich erfcienen: Chriftian Rogge, Thomas Garlyle. Ein 
Gedenkblatt zur hundertiten Wiederkehr feines Geburtstages'). Dieje 
Schrift it troß aller Kürze eine recht gelungene Zujammenfaffung 
aller wejentfi—hen Momente in Garkyle’s Leben und Entwidlungsgang 
und fie giebt zugleich eine gedrängte Weberficht über feine hervor: 
ragendjten Werke, wobei namentlich feine Vedeutung auf jocinfem 








') Göttingen Bandenhold & Nupreht. 1 M. 20 Pi. 


50 Citterärifche Umfchau. 


Gebiete hervorgehoben wird. Nogges Büchlein ann allen, bie bisher 
von Garlyle wenig oder nichts wußten, warm empfohlen werden; 
fie wird als Einführung in die Lectüre und das Stubium feiner 
Werte ehr gute Dienfte leiften. Wer fich dann eingehender mit 
Garlyle zu beichäftigen und genauer mit feinen Werten befannt zu 
machen Neigung empfindet, dev wird das Bud) von Schulze-Gaevernig 
zu Nathe zu ziehen und vor allem Frondes große Biographie zu fndieren 
haben. Wir müfjen an diefer Stelle der Verfudjung wideritehen auf Garz 
Inles Bedeutung als Hiftorifer und focialer Schriftitellernäher einzugehen 
fowie feine außerordentliche Berfönlichkeit und fchriftitelleriiche Eigen- 
art näher zu charafterifiren: wir Hoffen, das bald bei einer andern 
Gelegenheit thun zu fönnen. 

Beiträge zur deutichen Litteraturgefchichte enthalten die Eleinen 
Schriften von Franz Kern, von denen unlängit der erite Band 
unter dem Titel: zu deutfchen Dichtern erfchienen it!). Der Ver- 
feifer, ein verdienter Pädagoge, zuleht Director des Fölnifchen Gymna- 
fiums in Berlin, hat fi durch einen umfafjenden, tief eindringenden 
Gommentar zu Goethes Tafio und din eine jeharffinnige Neform: 
iohrift über die deutjche Zaptehre, Fowie durdy eine eingehende 
Aürdigung von Nücerts Weisheit des Brahmanen bekannt gemacht, 
außerdem eine inhaltweiche Biographie des Stettiner Schulmanns 
und Dichters Ludwig Giefebrecht geihrieben. Die in dem vorliegen: 
den Yande vereinigten Auffäge find von dem Sohne des Verewigten 
sufanmengeftellt worden, der auch cin anfpredendes Lebensbild 
Franz Kerns vorausgeiciet hat. Die 12 Auffäge behandeln faft 
alle neuere Dichter, nur der erite Über Angelus Silefius geht in 
eine frühere Zeit zurüd. Der Verfafier Hält fi) bei der Bejpredung 
der einzelnen Dichter von allem Rhraienhaften und Ucberihwänglichen 
fern, feine Charakteriftifen find in ruhigem, mitunter etwas Fühlen 
Tone gehalten. Mean erkennt leicht, daß ihm das Nomantifche, 
das eigentlich Pyrifche ferner ftcht und daf; feiner imnern Neigung 
und Richtung mehr die Gedanfeniyrit zufagt. Daher erörtert Stern 
Schillers Jdeale vom Menfchenglüct in vortrefflicher Weile und giebt 
von Ar. Nückert, der fein Liebling it, eine jchöne und treffende 
Charatteriftit, aud) Senaus Pocfie entwicelt er mit Sympathie in 


















) Berlin, Nicolaice Verlagssuchhandfung. 3 M. 





itterärifche Umfchau. 31 


einem anziehenden Vortrage. Dagegen jcheint ms Nern Upland 
und bejonders Eichendorff nicht voll zu würdigen, wenn c aud) in 
deren Chorafteriftifen wie anders wo nicht an feinen Bemerfungen 
fehlt. Gegen Platen endlich ift er gradezu ungerecht, indem ex ihm 
das wahre Dichtertafent gänzlich abipriht. Das; zulegt Feliv Tahns 
Dichtung Harald und Theamo eine eingehende Veipreduug und 
Würdigung findet, hat uns jehr gewundert. Diefem jchnellichrei- 
benden Autor der Tageslitteratur ift Dadurch, wie durd) die Anreihung 
an die wirklichen echten Dichter eine fehr unverdiente Ehre zur Theil 
geworden; wir begreifen nicht, wie ein jo feinfühlender und ar 
urtheilender Mann wie F. Kern in einen folden Jerthum hat vers 
fallen fönnen. Die Auffäge diejes erfien Yandes bieten eine gute 
Einführung in das Verjtändnif der bedeutenditen Dichter diejes 
Jahrhunderts; der zweite Wand, deifen Ericheinen man wohl bald 
entgegenfehen Fann, wich wahricheinfich eine weitere Folge von wohl: 
durchdachten und belehrenden Charakterüitifen bringen. 


Bei ber ion der „Balt. Mon“ find ferner folgende Schr 
Veiprehung eingegangen: 
od, Mar, Geihichte der deutichen Litteratur. GHeichent-N 
(Stuttgart, ©. I. Göfhewice Verlagsbuchhandtung.) 
Kurz, Irolde, Nalienifche Erzähfungen. (Cbendateibft-) 
Münd, Wilbelm, IAnmerhmaen zum Tert des Lob 
N. Gaertnar’s Verlag.) 
Koch, 6., Beiträge zur Gejdichte der politiicen Joren und der Negierungs: 
prayis. 2 Bünde, 
1. Abfotutismus und Parlamentarismus. 
1. Demotratie und Konftitution. 1T50--1791. (Ebendai 
Neuß, Eleonore Fürftin v, Philipp Nathufns Yargendjahre. 
(Berlin, W. Serh.) 
Aus dem Leben Theodor dv. Vernhardi's. Fünfter Band: Tagebuc) 
blätter aus den Fahren 1863-1861. (Leidzig, S Sigel.) 
Das deutihe Reid von 1871-1895. Ein biftoriher Nücbtid auf 
die erften 25 Jahre. (Berlin, N. von Derer's Verlag.) 
Mütter, Dr. Z., Das Wefen des Humors. (Münden, U Lüneburg.) 
Euttner, WG. v, Ein Dünen. Roman aus der Gegenwart. (Dresden 
€. Pierfon's Verlag.) 





zur 








gabe, ach. 





, abd. (Berlin, 























52 Sitterärifche Umfhau. 


Grolfer, Balduin, Zehn Geichidten. ‚(Ebendajetbit.) 

Kreper, Mar, Ein Unberühmter und andere Gefhichten. (Ebendafelbit.) 

Niemann, Aug, Der Agitator. Roman. (Ebendafelbit.) 

Kaemmel, ©, Zalieniiche Eindrüde. (Leipzig, Fr. W. Brunow.) 

Bähr, Dr, D., Gefammelte Anffäpe. MM. Band. Mufläpe politifchen, 
foginfen, wirthfcjaftlichen Inhalts. (Ebenbafefbit.) 

Earipte, Thomas, Soziatpolitifhe Schriften. Aus dem engliichen über. 
don €. Pianntuce. Mit einer Einleitung und Anmerkungen heran 

P. Henjel, Privat-Dozent in Strahburg i. Ei. 

(Göttingen, Bandenhoed u. Ruprecht.) 

Tragddien. Iu newer Ueberfepung von star Hubatjch. 
(Bielefeld, Velhagen u. Mafing.) 

Fulda, Ludwig, Die Kameraden. Luftfpiel i 
(3. ©. Eotta’iche Buch., Nachfolger.) 

Vaumgart, Herm., Gocthes Geheimniffe und feine „Iudiichen Legenden“. 
(Ebendafelbit.) 

her Dentwürdigfeiten. Hrag. von Theodor Sciier 

. Band: Jugenderinnerungen des Rrofeilors Afegander 
Arvanowitic Nititenfo. Aus dem Auffilden überjept von N. Türftig. 
Ebendafelbft.) 

Shuige, Dr. Sicnm, Der Zeitgeift der modernen Litteratur Europas 
Einige Kapitel zu vergleichenden Litteraturgeichichte. (Dale, Kacme 
mern & Co) 

Meinede, Friedrich, Das Leben des Generalfeldmarjhalls Hermann 
von Boyen. IB. (2. ©. Gotta’fche Buch, Nachfolger.) 

Vrümmer, Franz, Leriton der demffchen Dichter und Profaiften des 
19. Jahrhunderts. Vierte Ausgabe. 1. Lief. (Leipzig, P. Reclam jun.) 

Hartwig, Arthur, Grinmerungen. Vier Erzögfungen. (Arensburg, 
Verlag des Arensb. Wochenbl.) 










3 Aufzügen. Zweite Aufl. 

















Beilage 


Baltifchen Monatsichrift. 


Februar 1896. 


Inhalt: Gedichte. 
Holde Jugendefelei. Skige von Schtfcedrin. 
Kunftbriefe. V. Don J. Worden. 
Eitterärifche Umfhau. 


Uacydrud verboten. 


— 





Gedihte 


Renjahr! 


I neue Jahr tritt Leife ein 
Verpüllten Angefichts — 

Mag Ichredensvoll die Antlig fein? 
Gteicht'8 einem Bild des Lichts? 


Sei uns willtommen neues Jahr, 
Bas du aud) immer bringft — 
Ob weihe iloden in das Haar, 
Ob Luft, ob Reid bewingft. 


Ob du uns führeft raue Bahn 
O6 fanften Blumenweg — 

Nur vorwärts führe, nur hinan, 
Dann gilt uns gleid) der Steg! 


Und zufft du una zu Kampf und Streit, 
So gieb uns freub'ge Kraft, 

Die unverzagt zu jeder Zeit 

Ar Wert des Friedens fhafft. 


Die Treue fei unfer Panier, 
Die Liebe unfer Schwert, 
Der Schild des Glaubens unfre Bier, 
So find wir wohl Keisefrt. 
* 


56 


Gedichte. 


Und ift ums biefes’neue Jahr 
Das Icpte auf der Erd’ — 

Billtonmen fei es immerbar, 
Benn’s jel’gen Tub beicjeert. 


Nicht fremd ift uns das neue Jahr, 
3 ift ein Jahr des Her -— 
Hoc) über ihm frahlt ervig Mar 
Der Gnade Himmelftern. 
Sylva Zefa. 
Glüd. 
Du fragft mich, Kind, „was ift denn Glüd?“ Ya, Glüd? 
Was fag’ ic) dir, wie mal’ id) es in Worten? 
Num denke Dir: die Herrlichite Mufit 
Grklänge Dir in jeligen Aktorden; 
Ein tiefer Strom unendlich Mar und groß 
Trüg? fie Dir zu; Du brauchteft nur zu Laufchen, 
Und Hingeftredt auf üppigeweihiem Moos 
Umgäbe Lenzhaud; Die, und Waldesraufchen. 
Den? Div dazu der Jugend volljte Kraft, 
Das heil'ge Recht, ein Vaterland zu fchühen, 
Den frommen Glauben, der da Wunder haft, 
Den reinen Etolz, da Schönfte zu befiben; 
Vereine das zu einer Harmonie 
Und — Tannft Du deine Seele drein verfenfen, 
So afnft Du’s wohl; Ded) ganz begreifft Dus nie — 
Das Glüd läßt fi nur fühlen, niemals benfen. er 
Bergfee. 
Der See Liegt tief im Dunllen, 
Der Bergwald jcjließt ihn ein; 
Gin Sonnenlächeln ftreifet 
Die Waffer und den Stein, 
Wie Liebesglutherinnern, 
Das Leuchtend trofterheilt 
Tief in die düftre Grele 
Des Weltverlafnen fällt. 
Alerander Frhr. von Mengben. 


Gedichte, 57 


Stimmungsbild. 


God) ragt im Ser das Marmorhaus 
Unter wehenden Wipfeln; 
Da fliegen die Vögel ein und aus 
Bon den wehenden Wipfeln; 
Der See fehmiegt fofend fich am den Stein, 
Dein fviegelt fid) geldner Sonnenichein, 
Sch feh’s allein... 


Die Wolten droben ziehen fchnell 
In gelbem Glanze; 

Vald dunfel der Wald, bald wieer Heil 
In gelbem Glange; 

Ein Kahn fchteimmt in der Fern’ vorbei, 
Gefchmücht wie der Nadjen einer Zei, 


Die Erd bededen Schatten grau 
Und grau den See; 
Kalt wehts und tamig vom Marmorbau 
Und von dem See. 
&o über mein fonnenftoh Gemüth 
Urplöplich der alte Nebel zieht — 
Und die Hoffnung flieht... . 


Victor von Andrejanoff. } 


Palm 118 
Berb 14: Der Herr ift meine Macht und mein Palın und ift mein Heil, 


Der Herr ift meine Macht, mein Heil, 
Mein Lobgefang, mein Segen, 
Mein Palm, mein Preis, mein töftlic Theil 
Auf allen meinen Wegen ; 
Der Here ift meine Zuverficht, 
Mein Troft, mein Glüd, mein helles Licht, 
Ich will dem Heren Iobfingen. 


58 


Gedichte. 


Des Herren Rechte muß ja boch 
Den Gieg zuleht behalten, 
Er waltet als ein Herrfcher noch 
Und wird aud) ewig walten; 
Des Herren Rechte ift erhößt, 
Und wer zu ihm um Glauben fleht, 
Den wird ex nicht verlaffen. 


Im der Gerechten Hütten Mingt 
Des Herren Lob mit Schalle. 
Des Herren Sieg mit Freuden fingt, 
Die ihr ihm bienet, alle! 
Den Tod zerbricht fein Heilig Wort, 
Ic) werde Ieben, fort umd fort 
Des Herren Ruhm zu finden, 


Balter Remy. 


IE 





Macbrud verboten.) 


Holde Zugendeielei. 


Aus dem Ruffifcien des M. €. Sfaltyloff (Schtihedrin). 


Se ift Abend. Der junge Dichter Kobyljnikor (gleichzeitig Tiich- 
vorfteher der Goupernements-Berwaltung) figt brütend vor 
einem fanber bejchriebenen Bogen Papier in feinem bejcheidenen 
Stübden und faut mit unfäglichem Ingrimm bald an der 
Feder, bald am feinen Nägeln. Cs geht fchen auf fieben; 
nod eine Stunde, und die Wohnung des Nathes Lopatnitow 
erftrahlt im heiteren Slanze der Weihnachtäferzen ; noch eine Stunde 
— und fie tritt in den Saal, in einem kurzen weißen leibchen 
(den leider zähft fie erft fünfgefn Sommer) frifd und fröffid) 
und umtoittert von dem Duft Tieblicfter Unjchuld. 

„Nun Herr Kobyljnitow, Haben Sie Ihr Wort gehalten ?“ 
fragt fie ifn. 

Bei diefem Gebanten fpringt Kobyljnifow wie von der Tarantel 
geftochen in die Höhe umd greift mit beiden Händen nad) feinem 
Kopf. Er beginnt einzujehen, daß er feinem Gebicht ein gar zu 
breites Fundament gegeben Hat. Echon zwei Strophen, jede von 
adıt Verjen, find fertig und fauber abgefchrieben, dad; nad) der. 
Entwiclung, die der Grundgedanke dabei erfahren hat, läßt fi 
au nicht annähernd abfehen, worauf das Gedicht Hinauslaufen 
werde. Gr hat ber erblühenden Schönheit bes jungen Mäbchens 
fon einen reichen Tribut ber Vegeifterung gezollt; er hat bereits 


60 Holde Zugendefeei. 


bes NMeidhens gedacht, bes Lilienhaljes, ber „Wänglein gleich 
Hlaumigen Pfirfhen® und endlich auch, 

Etwas, was ich gern befänge, 

Aber gar nicht nennen darf! 

Sept Iegt er fi) bie Frage vor, wer alle biefe Schäge 
befigen foll: ber fchlotternde Greis im Sifberhaar, oder der Dichter, 
ber fchtuarzgelodte? 

Sag’ mir, wefjen Helbenantlig 
Diefes Herz dereinft entflammt ? 
Ber den Pfirfih. . . . 

Aber da verfagt ihm die Phantafie endgiltig den Dienft. Ein 
Reim auf Antlit will fi nicht finden Tafjen; er geht ba ganze 
Alphabet durch und findet nichts als „Bandlig", „Cantblig“, 
nDantlig*, „Bantlig*.... der Teufel Hole diefe Ungereimtheiten! 

„Nein — aber was nun? was mm?“ fößnt er in heller 
Verzweiflung. „Soll ich denn gleich das erjte Mal zum wort- 
brüdigen Schurken werden ?“ 

Aber die Beit fließt unterdeijen, taub gegen feine Verzweiflung, 
unaufgaltfam dahin und rückt ben Zeiger der Uhr erbarmurgslos 
vorwärts — Kobyljnifom blidt fchmerzvoll auf: nur noch 5 Minuten 
biß fieben. 

„Nein! um nichts in der Welt gehe id) Hin!“ ruft er aus 
und finft in tieffter Erihöpfung auf den Stuhl zurüd. „Lieber 
bfeibe ich Hier ganz allein figen, Tieber gehe ich ohne Abendeffen 
fchlafen, als da id) zum Schurken werde!" 

„Bandlig!* Höhnt unterdefjen eine unbarmberzige innere 
Stimme” 

„Pfui über biefe Niedertracht! Wie mer dieje Dummheiten 
in’3 Gehirn kommen! Da ift weder Sinn noch Verjtand 1! 

KRobyljnitor fpeit aus vor Werger.! 

„Um nichts in der Welt gehe ich Hin!“ wiederholt er, ver- 
finft aber doch wieder in tiefes Sinnen, 

Die Jugend beginnt im mit femeichelnden Stimmen zuzte 
reden. Bor feinen Augen erfcheint der Kerzendurdhftrahfte Saal; 
in ber Mitte fteht der Weißnachtsbaum mit Bändern und gliperndene 
Flitterrverk gefchmüdt, bie Biweige gebogen von der Laft ber 





‚Holde Iugendejelei. 61 


fodenden Näfchereien. Und dort ift aud) das weiße Stleidchen 
und das liebliche Gefichtchen, umrahmt von dunklen Locen. Hinnmel! 
welche Anmuth in den Linien diefes Untliges! welche ZFrilche, 
welcher Zauber in diefer eben emporknospenden Mädchenbruft! Und 
wie fo Hell und fröhfid) Mlingt ihr glodenreines Laden durd) dei 
Saal! Juft jo, wie wenn die liebe Sonne aus trüben Regenwolfen 
hervorfugt und Alles ringsum zu freudigem Lächeln erwedt: «8 
Tächelt ber Bach, der furz zuvor nod; feine fchlammigen Fluten 
träge dahinwälzte; ed lächelt die nahe Wiefe, welde eben noch 
ihren Blüthenteppic; vor ben Regen- und Kältefhauern des finftern 
Umwetter8 verbergen mußte; «3 Tächelt jelbft der Stantsrath 
Voplarfor, ber zwanzig Mal nad) der Reihe am Kartentiiche 
ein mürrifches „Pafje“ Hatte vernehmen lafjen. Ad! und num 
beginnt fie gar zu tanzen! — und wie jo ganz anders fteht 
ihr das, al8 den Uebrigen. Man ehe, ober beffer gejagt, mar 
höre nur, wie 3. B. Naftja Poplarofow oder Njuta Smuschtichinstyy 
tanzen! „Die Roffe ftampfen, die Erde dröhnt!" Sie dagegen! 
Unhörbar, jaft unfichtbar fchwebt fie über den Fußboden dahin, 
mit ihren fchlanfen Fügen die Erde Taum berührend, gleichjam 
als fehwänge fie fich höher und immer Höher hinauf, um fchtießlich 
ganz gen Himmel zu fahren. 

Aber außerdem ift auch das Übendefjen nicht ohne Reiz. 
Schon wird ber lange Tiich im Hintern Zimmer gedect, und obgleich 
die Hände Andrei’s, des Hausfnechts, nicht ganz fauber find, fo 
läßt fih doc) bei der guten Kiiche des Haufes feinen Augenblick 
daran zweifeln, daß fowohl frifcer Stör, wie fetter gebratener 
VBradjs und Alles, was dem Vorabende eines jo hohen Feites wie 
Weihnachten gebührt, auf die Tafel fommen werde. 

„Und mn muß ich diefes Ped, haben,“ dentt Kobyljniforo, 
aber fein Entfchluß ift Schon matter, ohne die frügere Energie der 
Entfagung. Weberhanpt) erweift fih, daß die Bilder feiner Phantafie 
eine merflid)e Erfchfaffung in feinem ganzen Organismus hervor- 
gerufen haben. 

Sept [hlägt e3 fieben und Kobyljnitow erhebt fi) mechanifd, 
vom Stuhl und begiebt fih zum Sleiderjchranf. 

„Bandlig“, „Dantlig!* flüftert plöglic) eine feindliche Stimme 
md bringt ihn auf halben Wege zum Stehen. 


62 Holde Zugendefelei. 


Eine Minute dauert noch der innere Kampf, endlich fiegt 
die Jugend. Kobytjnifor wirft fid, eilig in den Frad, blidt noch 
einmal auf die zwei zierlich in’8 Meine gejhriebenen Strophen in der 
fcwadjen Hoffnung, da fie au) in diefer unfertigen Geftalt ifren 
Dienft Teiften könnten, aber bei jorgfältiger Prüfung wollen ihm 
die Verfe noch weniger gefallen ala zuvor. Wo Aerger wirft er 
fie bei Seite und läuft auf die Straße. 

Draußen ift e8 dunfle Nacht, eine jener finfteren fdhauerlichen 
Nächte, wie fie nur in abgelegenen Provinzialftädten vorfommen, wo 
der Branntweinspächter ned) nicht durch janfte obrigkeitliche Mafregeln 
zu der Ueberzeugung geführt worden ift, daß «8 feine Pflicht fei, 
den Spiritus für die Straßenbeleuchtung zu fpenden. Ein heftiger, 
cneidender Wind Hläft dur; die Straßen, den feinen Schneeftaub 
zu förmlichen Säulen emportirbelnd und bricht fic) Heulend unb 
winfelnd an den Eden und Dächern der Häufer. Ein wahres Glüd, 
daß Kobyljnifow nicht weiter als dreißig Schritte zu gehen hat, 
fonft könnte der Wermfte nur glei wieder umkehren und fid 
einfam in feinem Poetenftübchen an die Vollendung der verwünfchten 
Berje machen. 

„Bandlig!" heult der Sturm ihm plöglich mit voller Gewalt 
in bie Ohren, 

„Pfui zum Teufel!” brummt Kobyfjnitomw und watet, jid) 
fefter in feinen Mantel hüllend, mit Anjtrengung durch bie tiefen 
Schneemaffen, welde der Wind auf dem Trottoir zufammen- 
geweht hat. 

Aber da glihert bereit Licht durd) den wirbeinden Schnee, 
‚äuerjt fchrwac; wie ein fleiner unftiger Kreis, aber nad) und nad) 
wird e3 größer und beftimmter und bie hell erleuchtetden Fenfter 
der ftantsräthlichen Wohnung bieten fich dem Auge in ihrer ganzen 
verführerifchen Pracht dar. 

Halb erftarrt und vor Kälte fhauernd betritt Robyljnitor 
den Flur des erfehnten Haufes und e8 bauert längere Zeit bis e& 
ihm gelingt, jeine vom Schnee berangirte Toilette wieder in Orbnung 
zu bringen. 

„Ad, junger Mann, Bitte treten Sie näher!“ begrüßt ihn 
der Haushere Ivan Dementjitich Lopatnitom. „Nun wie ftehta?" 
Haben Sie die Kapuftnitowfche Sadje erledigt?" 


‚Holde Jugenbefelei. 63 


„Sie ift fertig!" antwortet Kobyljnitor und benft dabei: 
„wenn Du wüßteft, daß ich, ftatt an der Kapuftnifowfchen Ucte 
zu arbeiten, drei volle Stunden mit Verjemaden zugebradht habe.“ 

„Das ift recht, fonft Hätte der neue Chef una Beide mit 
Haut und Haaren aufgefrefien.“ 

Aber während er mit dem Hauäheren fpridt, wei Kobyljni- 
tor doch einen forjdjenden Blid zur Seite zu werfen und ba 
bemerft er zu feinem unfäglichen Entzüden, daß genau ein ebenfo 
forjhender Blick hinter dem Weihnachtsbaum Hervor auf ihn gerichet 
ift. Er beeilt fid) daS Gefpräd; mit dem liebenswürbigen Haus: 
Herm abzubregen und eilt auf Flügeln der Sehnfucht dorthin, 
wo ihm ein Paar warmblieende Augen in Eindlicher Unhänglichteit 
ein aufrichtige® Willtommen entgegenftrahlen. 

Vieber Lefer! Ic weiß nicht, ob Du jemals in der Provinz 
gelebt haft, aber ich, der e8 fich wohl fein ließ zu Wjätla, der da 
florirte zu Perm, der fein Leben genoß zu Mjäfan, fich des tiefften 
Seelenfricdens erfreute zu Tıver, id) Tann verfichern, daß die Erine 
nerungen an ben Weihnachtsbaum zu den lieblichften und unaus« 
Töfehlichften meiner Vergangenheit gehören. Erftens weht ein jo 
eigener friedenbringender, feiertäglicher Hau) durd) bie Luft und 
Tichte freubige Gebanfen werden wach bei dem Anbfit der brennenden 
Beihnachtsferzen und diefer vollen rothwangigen Gefichter, bie in 
munterem Geplauder und fröfichem Gelächter ihrer Feftfreube 
Ausdrud geben. Bweitens aber, was find das dod) für herrliche 
Gejchöpfe, diefe Kinder! Wie aufmerffam und gejpannt bliden ihre 
Mugen Weuglein drein! und wie jo gar nicht gleichen fie ihren 
Vätern, welche gleichfalls Hier umherftehen und mit Ungebulb ben 
Augenblid erwarten, wo man fid) an den grünen Tiic) fegen Tann, 
oder da3 Signal zum Angriff auf den Imbißtifh und die Flafchen- 
batterie gegeben wird. Der eine Vater hat fid) mädjtig in die 
Breite gelegt; fein rundes Gefiht fhaut drein wie ein Schweizer 
Nabfäfe, jogar die Nafe ift verjchwunden, aber fieh mal an, fein 
Söfndsen ift jcjfanf und bräunfich, die Heuglein Bligen mur jo, das 
tömifche Näschen ift fein wie gemeihelt. Ein anderer Vater fieht 
wie ein Künftler aus: er ift fChwarzäugig, |chlant, bfeih — kurz, wie 
man zu fagen pflegt, ein intereffanter jeune homme, aber fein 
Söhnchen Hat Aehnlichteit vom Gouverneur und biefer von einem 


64 ‚Holde Fugendefelei. 


Heujcober. Und num ftehft Du da und bfidjt auf diefe Iodigen 
lädjelnden Kinder und denkjt wohl: It es möglich, wird Wanja 
wirffic dereinft Rath der Getränfeverwaltung? Wird jene jlinfe 
bligängige Zjätjä wirklich einftmals Frau Bice-Gowerneur? Und 
bei diefem Gedanfen erfaßt Dich ein leichtes Grauen. 

Kolla, mein Freund! la Dein fröhliches Tanzen jein, denn 
Du wirft niemals Rath der Getränfeverwaltung! ber PBopanz 
tommt und treibt alle Räthe fort. 

Kjäljä, mein liebes Kind! drehe Deine runden Aermchen nicht 
fo und fege Dein Köpfehen nicht fo coquett auf die rechte Seite, 
niete dem Mitja Prorehin nicht jo freundlich zu, denn Mitja wird 
niemals Vice-Gouverneur! der Popanz fommt und jet alle Vice 
Gouverneure außer Etat — wegen Entbehrlichkeit. 

„Nun, haben Sie’S gebracht?" fragt unterdefien Nadjenka 
unferen Stobyljnikon. 

„Ih... Nadejchda Imanowna, id... ic) habe e8 begomen, 
aber noch nicht beendet” — ftammelt Kobytjnifow. 

„Ic aber glaube, daf Sie nur geprahlt Habe und gar nicht 
dichten können.“ 

Und Nadjenka jehrirrt davon wie ein Wögelhen. 

„Bitte, Nadejchda Imwanorona, id) Habe wirklich jhon vedht viel 
fertig. gefehrieben“ ruft Kobyfjuifom ihr mit flehender Stimme nad. 

Aber Nabjenka ift jhon längft fort md ziwitichert bereits 
unter ihren Freundinnen. 

„Sieb fchnell Her!” bittet Nutja Smufchtichinsty. 

„Mes dames! wir wollen e3 im Schlafzimmer Iefen*, jagt 
Naftia Poplanfow. 

„Es giebt nichts zu lefen! e3 war eine Ieere Prahferei! er 
fan gar nicht Verfe maden!" antwortet Nabjenfa mit einer 
Stimme, der fie mit Anftrengung einen gleichgittigen Ton zu 
geben fucht, die aber dennod) vor innerer Betrübniß bebt. „Mes 
dames, wir wollen in heute nicht in unferer Gefelljchaft dulden.“ 

Unterdeffen ift Kobyljnikow Herangefommen. 

„Nadjenta!” ruft er mit flehender Stimme. 

Nabjenfa wirft das Köpfchen zurüc und fieht ihn fo ftolz 
an, daf der arme Poet fic) felbft ganz dumm vorkommt. 








‚Holde Jugenbefelei. 65 


„Was find das für Vertraulicfeiten?“ ruft fie und dazu 
no) jo Iaut, daß Kobyljniforw fid) fcheu nach allen Seiten umbtidt, 
denn ihm wird ernftlich bange, Papa Lopatnitom könne diefen ent- 
rüfteten Ausruf gehört Haben. 

Darauf ftürmt die ganze junge Gefellfcaft in's Nebenzimmer, 
den num ganz vernichteten Kpbuljnifow allein lafjend. 

„uch, der Arme, wie leid er mir täut“, bemerkt Njuta 
Emujhtihinsty. 

„Ad; was, ein Prahlpans, weiter inichts!“ erwibert falt- 
bfütig die graufame Nadjenfa. 

Knbyfiniom fteht da, als hätte er unvermuthet ein Sturzbab 
erhalten. In feiner Seele ift e8 finfter und leer und wie zum 
Hohn gehen ihm unterdefjen zwei fchlechte dumme Verfe durch 
den Kopf: 

Gar nichts, gar nichts will mich tröften, 
Gar nichts, gar nichts mic erfreur, 

Und diefe dummen Derfe junmen ihm wie eine zudringliche 
Müde unaufgörlih in den Ohren. 

„Was für ein verwünjchter Abend! Buerft jene dummen 
finnlofen Reime und nun auch nod) diefe Albernheit!" denkt Kobylj» 
nifor und wird voth vor Scham, 

Der Gejellfaftsabend aber nimmt unterdefien feinen Verlauf. 

Papa Lopatnitow Hat im einem hohen Preferencefpiel dem 
Staatsratt; Boplarofo drei Unterftiche beigebracht und das Unglüc 
be3 legteren ift thatfädjlic, fo beifpiellos groß, daf alle Antoefenden, 
fogar bie Mitfpielenden, ganz gebrüdt und Tpracjlos bafiten, gleich- 
fam al3 wollten fie durch biejes trübe Schweigen dem fdhwerbe- 
troffenen, ohnehin fchon unter der VBürde einer zahlreichen Familie 
feufgenben Unglüdsmann ihr Veileid bezeugen. WBoplartor jelbft 
figt da, roth wie ein Krebs, und fcheint noch nicht recht fafjen zu 
fönmen, was ihn betroffen hat. Cr vergißt fogar fich den Verluft 
anzufchreiben und malt mit dem Finger irgend eine unerhörte Zahl 
auf Tuch. Seine Gattin, bie gerade in’3 Spielzimmer hineinficht, 
macht fofort Tintzum Tehrt und ruft fo laut, daß «8 die ganze 
Gejellfcgaft Hören Tann: „Mein alter Narr verliert natürlich wieder!“ 

Die Kinder lärmen umd freuen fi. Mitja Borubin fucht 
Waffjä Satipkin Har zu madjen, daß er ihm feine Portion Nüffe 


66 ‚Holde Jugenbefelei. 


abzutreten habe und begründet feine Forderung damit, daß, wer 
viel Näfchereien it, mit der Zeit ganz bünne rumme Strohbeindhen 
befomme, Manja Kulagin forbert ihren Bruder Safha auf, vor« 
zumadjen, wie die Truthühner auf ihrem Hofe „Sdravje shelajem 
wasche Blagorodje“ rufen. Senja Borubin, ein budliger boshafter 
Knabe, fäuft, ald ob er ahnte, was in Kobyljnitorw’s Seele vorgeht, 
auf biefen zu umd zieht ihn wegen jeines Verhäftnifjes zu Nadjenfa 
auf, wobei er fi) fogar dunkle Anfpielungen auf gewifje Intimitäten 
erlaubt, die zwilhem Nadjenta und dem Primaner Prodorom 
beftanden haben follen. Der Iegtere Hat ji in eine Ede zurüd- 
gezogen, bohrt fich die Nafe und amüfirt fi) augenfcheinlich vor 
güglich dabei. Nobyljnifom, der den boßhaften Porubin gern in’s 
Ohr gefniffen hätte, Tann feiner feider nicht habhaft werben, denn 
der Feine Catan windet fi ihm, nachdem er fein Gift von fich 
geiprigt hat, wie eine Schlange aus ben Händen. — 

Nadjenfa flattert inzwiicen im Zimmer Hin und Her und 
lacht und fchwapt abfichtlich bejonders laut und fröhlich, wenn fie 
an dem erbitterten Boeten vorüberfommt. Diefem hat Senja 
Vorubin einen böfen Gebanfen eingegeben. 

„Wie foll man auch) nicht fröhlid) fein, wenn der Heißgeliebte 
Vrodoromw zugegen ift!“ zifcht er durd) die Zähne als Nadjenta 
wieder an ihm ‚vorüberfommt. 

Nadjenfa wird bfufroth und macht Miene nmzufinken. 

„Was jagen Sie da!" fragt fie, vor ihm ftehen bleibend. 

„Nichts! ich fage blos, daß e& fein Wunder ift, wenn gewifje 
Zeute vor Freude außer fich find. Der liebe Prodorom ift hier!“ 
wiederholt Kobyljnifom, mit feinem Uprjchfüffel fpielend. 

„Ich Hoffe, dak von diefem Uugenblid Yes zwilhen uns 
aus ift“, plagt Nadjenka heraus und entfernt fi augenblidlich. 

„Ganz wie Sie befehlen!" ruft ihr Kobyljnifow nach: „was 
will e3 denn auch fagen, mic) zu verabfchieden, wenn man den 
lieben Procdorow in Referve hat!“ 

Die Beleidigung erbittert dag arme Heine Herzchen Nadjenta’s 
aufs tieffte, und zwar um fo tiefer, als in dem Vorwurf Kobylje 
nifow’3 allerdings ein Körnchen Wahrheit ftedt, In der That hat 
8 eine furze, aber wirklich nur ganz kurze Zeit gegeben, two Nabjenfa 
fich für Prodhorom interefficte, MS frühreifes Kind Hat fie fie) (dom 


Holde Jugenbefelei. €7 


zeitig ihre eigenen Gedanken gemacht. Ihre Lindifche Phantafie 
Hatte Prochorom mit allerlei Tugenden und Geiftesgaben unsger 
ichmüdt, bie diefer gar nicht bejaß. Damals hatte fie c3 gelicht, 
ihm allein bei Seite zu nehmen und ihm mit einer geroißen 
Wichtigkeit gefagt: „Yeht, Prodhorom, wollen wir von Ihrer Zukunft 
fpredjen!" 

Aber Prochorom Hatte nur eine Bafjion: das Nafenbohren, und 
pflegte mit wirklichen Intereffenur von Näfchereien zu fprechen, benn er 
war ein nerfättlicher Vielfraß und ein feidenfdjaftliches Ledermaul. 
Die Paifion Nadjenfa’3 war bald geihwunden; fie war fogar 
überzeugt, daß Niemand etwas bemerkt Hätte....... umd mu 
plögtich! Nabjenfa fäuft zum Weihnachtsbaum, macht fid) allerlei 
zu fhaffen und [wagt ohne Aufhören, aber das Heine Herzchen 
arbeitet heftig und jeher. Mitten in einem Sage fühlt fie plöplic), 
daß etwas ihre Bruft beffemmt, daß etwas ihr heiß in die Mugen 
tritt. Sie reißt fid) von ihren Freundinnen lo3 und läuft fort in 
die inneren Gemächer. 

Kobyljnitow fieht Alles mit an, begreift aber nichts. Er fieht 
Nadjenfa fröhlich und vergnügt und benft nur: E8 wird ir wohl 
das Band von einem Schuh aufgegangen fein, da fie fo jchnell 
davonläuft. — 

Aber Nadjenka Hat unterbefjen ihr Gefichtchen in’s Kiffen 
gebrüdt und benegt e3 mit Heißen Thränen. Unb je reicjlicher 
die Thränen fließen um fo leichter und milder erjcheint die Kränkung, 
welche diefelben verurfaht hat, um fo mehr drängt fi ihr eim 
anderes Gefühl auf, ein Gefühl, das ihr armes Herzdhen gleichzeitig 
mit geheimen Bangen unb ganzen Strömen von Freude mb Gtüc 
erfüllt. 

„D Du garjtiger Kobytjnitow!* ruft fie zum legten Mat 
aufichluchzend. „Armer Ditenka!“ wieberholte fie gleich) darauf, 
in füßes Simmen verfinfend, 

Die Lichter des Weihnachtsbaumes find inzwifc—hen niedere 
gebrannt; auf ein gegebene Zeichen ftürzen fd die Kinder in 
müßten Durdjeinander auf ihm umd werfen ihn zu Boden. E& 
entfteht ein allgemeiner Wirrwarr; man hört Schreien, Winfeln und 
triumphirende Ausrufe. Genja Prorubin cntwidelt, tro feiner 
Verfrüppelung und Edwäclichkeit, eine erftaunliche Gewandtheit; 





68 Holde Jugendefelei. 


3 gelingt ihm, faft die Hälfte aller Koftbarkeiten de Baumes in 
feine Tafche zu prafticiren. Der Primaner PBrodorom macht au 
Diiene, mit den Uebrigen zufammen auf'3 Fouragiren auszuziehen, 
aber e8 gelingt ihm auch nicht ein einziges Gonfectchen zu erhajchen, 
denn die Kinder mälzen fi, um feine Beine nnd Lafjen ihn gar- 
nicht heranfommen. Schließlich ergreift ihm noch die Wärterin der 
Heinen Poplamfom ganz ungenirt an der Hand und führt ihn aus 
der Kinderfchnar fort, indem fie ihm bie Karten Worte zuruft: 
„Schämen follteft Du Dich, Herr! Solch) ein großer, ertwachjener Menich, 
und will fi) mit den Sindern Herumbalgen! Faft Hätteft Du 
Mafchenfa mit Deinen Stiefeln das Händchen zerquetfcht,“ 

Die Hätte fi Nabdjenta geihümt, wenn fie Beugin biefes 
Auftritts geivefen wäre. 

Aber ihre Abwefenheit wird erft bemerft, nachdem der Baum 
bereit3 geplündert ift. Papa Lopatnifow beunruhigt fich exuftlich, 
und jchiet fi Ihon au, fein Töchterdhen aufzufuchen, al3 diefe 
im Saal erjcheint. 

Nadjenfa ift etwas blaß, aber auf die Frage ded Vaters: 
„Halt du Kopfweh ?“ antwortet fie: „Nein Papa!" und al8 er 
weiter fragt, ob ihr Magen etwa nicht in Ordrung fei, flüftert 
fie, ihr erröthendes Gefichtejen an der Bruft de Vaterd bergend: 
Über was fällt dir ein, Papa ?*. 

„Was fehlt dir denn, mein Herzchen?“ fragt er weiter. 

„Ad, Papa, was du auc Alles fragt!“ fpricht fie und 
fäuft davon. 

Während diefes Verhörs fchlägt das Herz Kobyljnifows immer 
unruhiger und unvuhiger und plöglich wird «8 ihm Kar, weld 
einen fchlechten Streich er gefpielt, als er Nadjenfa eine folche 
Niederträchtigkeit in’3 Geficht fehleuderte. Mit Zorn, ja mit Hab 
blict er auf Senja Prorubin und fucht ihn mit einer vergoldeten 
Wallnuf Beranzuloden; aber Senja fcheint abermals zu ahnen, 
was in der Seele Kobyljnifoms vorgeht: er rührt fid) nicht vom 
der Stelle und zeigt jeinerfeit3 auf einen großen Haufen vergoldeter 
Nüffe, die vor ihm liegen. 

„Nun, warte mr! Wir werden fchon fpäter abrechnen“, 
denft Kobyfjnitow und fehaut im felben Mugenblid inftinktiv zu 
Radjenfa hinüber. 


‚Holbe Iugendefelei. 69 


Von dort bliden ihm zwei graue ungen mit  berfelben 
Tindlichen Anhängkichteit md Bärtlichleit an, mit der fie ihn bei 
feiner Ankunft Hinter dem Weihnachtsbaum hervor begrüßten. 
Die angewurzelt ruhen biefe tiefen, großen Augen auf ihm, als 
ob fie gar nicht fähig wären, anderswo Hinzubliden. Kobyljnitom 
überfommt 3 ahmugsvoll; «8 ift ihm, als ob das Blut aus 
feinem Herzen ftröme und fi Tropfen für Tropfen in feine Bruft 
ergiee und zum Zerfpringen anfülle. Co felig, fo gehoben, fo 
mutig fühlt er ich plöglich. 

„Nun fehen fie doch mır Nadjenfa an!“ flüftert Frau Por 
parofor Frau Prorubin zu, „fie fann ja die Ungen von diefem 
Milhbart garnicht abwenden, als ob fie ihn gleich verfchlingen 
wollte.“ 

„Verliebt! Anna Petrowna, verliebt wie ein Kätchen“, 
antwortet Wama Porubin mit boshajten Achfelzuden. 

„Ich wundre mic) mır, to biefer alte Narr feine Uugen Hat?« 

„Warum dem nicht? Für ein Deädchen ofme Mitgift ift 
auch) diefer eine amchmbare Vartie!“ 

„Aber doh . . . . immerhin... ." 

„Warum kommen Sie nicht zu mir?“ fragt unterbefjen 
Nadjenta Kobyljnitow in jenem Halbunterdrüdten YFlüfterton, den 
die Stimme unwilltürlih annimmt, wenn wir von Dingen reben, 
die alle unfere Lebensnerven zugleich erregen. 

Kobyljnifow antwortet nicht; er Fann nur jeufzen. 

„Warum kommen Sie nicht zu mir,“ wiederholt Nadjenta. 

Er fdhweigt noch immer, obgleich ihm das Herz jchier zer- 
Äpringen will, vor Schnfucht, fi zu erffären. Er fühlt, daß wenn 
er auch nur ein Wort fpricht, fein Halten mehr jein wird: er wird 
ich Nadjenta zu Füßen werfen, er wird das liche gute Gefchöpfchen 
in feine Arme nehmen und am jich preffen oder aber aud) in 
Tränen andbrechen und laut, Tat zu fhludjzen begmen. 

„Warum geben Sie mir nicht die Hand?“ fährt Nadjenta fort, 

„Nadjenfa!* ringt e3 fic) endlic) aus der Bruft Robylinitows Io8. 

„Was fprechen fie da für Dummheiten?* 

„Engel!“ ftöhnt Kobyljnikow. 

„Und warn werde id) da verfprochene Gedicht haben?“ 


Daltifge Monatöfgrift Bd. SLIV. Heft 2 5 


0 Holde Jugenbefelei. 


Robytjnitor will eben antworten; er will ihr erzählen, daß 
die Verje Teine Fabel find, daß das Gedicht faft ganz fertig ge= 
worden, daß er nicht nur eins, mein! zehn, zwanzig, Hundert 
Lieber dichten will, zur Verherrlichung feiner lieben Heinen Nadjenta, 
als plöglich der böfe Bube Prorubin Alles verbirht. 

„Bandit I" piept er, Kobyljnifow faft zrwifchen den Beinen 
Hindurd) fpringend. 

Kobylinitor glaubt den Böfen felbft aus dem Munde des 
Ruaben zu hören. 

„Woher weißt du das?“ ruft er Hinter dem Suaben Her- 
laufend, den er num aud) wirklich erwiicht. — „Nein, age mir, woher 
du das weißt ?“ 

„Mama! Mama! Kobyljnitow Mmeift mich!” Heut Senja 
aus vollem Halfe. 

Bei biefem Schrei läßt Kobyljuifow feine Beute unwillfürlich 
fahren und begimt jogar Senja den Kopf zu reicheln. 

„Streichle mr, ftreichle nur!“ zifcht die junge Schlange. 
„Mama, er fchlägt mich, weil ich ihn mit Nadjenfa erwifcht habe.” 

&3 beginnt ein Verhör. 

„Wollen Sie mir gütigft jagen, DmitriNitofajeroitfch, was Ihnen 
das unjchuldige Kind gethan hat ?* inquirirt gefräntt Mama Porubin. 

„Ihr Sohn hat mir eine Ungezogenheit gefagt!” erwibert ganz 
außer Faffıng Kobpfjmikom. 

„Mama, id) Habe ihm garnichts gefagt!” Magt feinerfeits 
Senja unter geheucheltem Schluchzen. 

„Ihr Sofn Hat mir „VBandlik“ zugerufen!“ führt Kobylje 
nitor plöglich heran. 

„Bandlig? was heißt VBandlig ? und in wiefern ift biefes 
Wort für Sie beleidigend?" 

Bei diejen Worten fchüttelt Mama Porubin bedenklich) beir 
Kopf umd breitet verwundert die Arme aus. 

„Nun ja! Bandlig, Cantlit, Dantlig, Fantlig!* höhnt Senja 
boshaft und tanzt vor Kobyljnifor Hin und Her. 

„Bitte fehen Sie jelbft!" jagt Kobyljnitom. 

„Qch jehe, ich jehe Alles! Schämen follten Sie fi, junger 
Mann. Senja, laß den Herrn in Ruh’ und tvage nie mehr ein 
Wort mit ihm zu fpreden.“ 


Holde Iugendefelei. 1 


Damit jegelt Fran Porubin majeftätiich von dannen, Senja 
im Echlepptau mit fi) führend, fieht fi) aber unaufhörlich um, 
als käne bie Peft Hinter ihr drein. 

Kobyljnikoro fühlt fich jehr unbehaglic; er begreift, da er nicht nur 
Nabdjenka compromittirt, fondern fc aud) in ihren Augen lächerlich 
gemacht Hat. Wieviel Dummheiten hat er bereits an diefem Abend 
begangen? Mindeftens drei: erftend hat er fich durd) unfinnige 
Neime aus dem Concept bringen Iaffen uud in Folge deffen fein 
Gedicht nicht vollendet, während es doc weit einfacher gemwefen 
wäre einen Ver ungereimt zu laffen (das fommt fogar bei den beften 
Dichtern vor !); zweitens hat er Nadjenfa eine große Ungezogenheit 
über ihr Verhättnif zu Prochorow gefagt; und drittens Hat er mit 
dem boöhafteften Buben der Stadt angebunden, der num wahre 
fheinli in der ganzen Stadt Lärm fchlagen und den ärgften 
Scandal hervorrufen wird. Kobyljniforv kommt e3 fo vor, als 
feien Aller Blide auf ihn gerichtet, al brüce fi) in allen Mienen 
ftrengfte Mißbilligung aus, ja al3 würde jogar der Hausfuecht 
Andrei jogleid) den Vefen ergreifen, um den Berführer fünfgehne 
jähriger Mädchen aus dem ehrbaren Haufe auf die Straße zu 
Kehren. Kobyljnitomw überläuft e8 Heiß und falt; um feiner Ver 
wirrung Herr zu werden, eilt er rajch ind Herrenzimmer. 

Da figen die Herren an mehreren Tifchen beim Startenfpiel. 
Der Präfident de Kameralhof3 fpielt mit dem Gouvernements- 
procureue Woift-Grandiffimo — gegen den SKameralhofsrath und 
den Bataillonscommandeur. Der Herr Bräfibent ift nicht gerade 
bei befter Laune; er hat zwölf Mal Pique ohne AB und als dreis 
zehnte Karte Cocur-Biwei. Gr fpielt die Bique-Zwei aus — das AB 
hat fein Partner, der aber die Farbe natürlich) nicht verfolgen fanır. 

„Ich fie auf Eapitalien!" Hagt der Herr Prafident, — „denn 
die find alle frei, alle frei" — 

Der Procureur geräth in WVerlegenheit; er begreift die Gis 
tuation und fucht zu errathen, was die dreizchnte Karte feines Partners 
fein Lönnte. Der Präfibent fieht das und zeigt ihm, um die Sıtu- 
ation zu Mären, die Coeur-Ziwei, natürlich nur in der Abficht, den 
Procureur zu rajcherem Spiel zu veranlaffen. 

Dagegen Tommen dem Kameralhofsrath die hohen Karten nur 
fo zugeflogen ; nie fehlt es ihm an Handfarten, nie an Unter- 

5 





72 Holde Jugendefelei. 


ftügung, aber jein Glüc madit ihm feine Freude, denn er fühlt 
€, daß er feinen Vorgefepten damit erbittert. Darum fucht er 
fich auf jede Weile zu entfQhuldigen. Wenn er die Karten aufr 
nimmt, fo zudt er die Adjfeln, als wollte er fagen: „Immer 
biefes vermaledeite Glücd!* Wenn er einen Stid; nimmt, fo fegt er 
die Karten nicht ruhig bei Seite, fondern jchfeudert fie verächtlich 
von fi, als mollte er jagen: „Da ift jchon wieder fold ein 
Hundefohn von AB!" Aber der Präfident ninmt davon gar feine 
Notiz, jondern erboft fid) nur noch mehr über feinen Untergebenen. 

„Aus weldiem Grunde deden Sie Ihr Spiel auf?" fährt 
er ihn an. 

Der Rath, der feinem Borgefegten einen Stich zumenden 
will, verfeugnet Farbe. 

„Haben Sie fein Coene?* inguirit ftreng der Bataillons: 
commandeur. 

„Nein — ja doch!” ftammelt ber Rath. 

„Nicht einmal zu fügen verfteht er,“ denkt der Präffbent. 

Kobgjnitor ficht den Spielenden zu und hat mır den einem 
Gedanten, wie er durd) irgend eine Grofthat diefen Abend in einer 
Weife bejchließen könnte, daß damit bie Scharte aller drei Dumm- 
Heiten auf einmal ausgewept würde. Plöplich wird ihm fo wohlig 
und fröhlid, zu Sinnen: er fieht ein großes erleuchtetes Zimmer, 
in Mitten desfelben fteht Nadjenfa in ihrem meihen Tarlatankleid- 
hen und neben Nedjenfa fteht er jelbft, beide mit Champagner« 
pofalen in den Händen; die Gäfte fommen auf fie zu, gleichfalls 
mit Champagnergläfern, ftoßen an und gratuliren ihnen. 

„Iwan Dementjitih" — fpricht er mit bebender Stimme, indem 
er unter dem Banne diefer feligen Pfantafiegebitde anf den Haus- 
herrn zutritt: „geftatten Sie mir einige Worte unter vier Mugen“. 

Iwan Dementjitjch blickt ihn etwas verdroffen au, weil dieje 
unerwartete Unterbrechung ihn beim Spiel ftört. Als er aber be- 
merkt, da Kobpljnikom am ganzen Körper zittert, wird er beforgt. 

„Was ift Ihnen?“ fragt er — „Sie Haben doch nicht gar 
die Kapuftnifowfche Wete verloren?“ 

„Ich — bitte unter vier Augen“ wiederholt Kobyljnikow. 

Ivan Dementjitfch geht mit ihm abjeits. 

„Run?“ fragt er. 


Holde Iugendefelei. 73 


„Ih... ich möchte...“ ftottert Kobyljnitomw, dem plöplic) 
aller Muth entfchrwunden ift. 

„Aber fo fprechen Sie doc, mein Bejter, und Halten Sie 
mid) nicht auf!“ bemerft Iwan Dementjifh ärgerlich. 

„Ich bitte um die Hand Nadejchda Iwanorwnas“, plapt Ko- 
byljniforw heraus. 

Ivan Dementjitfh dreht den Freier gegen das Licht und 
fieht ihn einen Mugenblict beforgt an. Dann fehrt er fofort an 
den Ktartentifch zurüdt und macht nur eine abmwehrende Handbewegung, 
als wollte er eine Fliege von der Naje vertreiben. Kobyljnitow ift 
ftare vor Schred; er läßt nicht mır die Arme finten fondern nicht 
aud) in den Kniefehlen zufammen; e3 wird ihm ganz grün vor den 
Augen und das Zimmer dreht ji im Sreife umher. Cr begreift 
nur da8 Eine: diefes war der vierte und allerdummmfte Streich. 
Plöplich ficht er etwas vor feinen Füßen hin und hev hüpjen: e8 
it Senja Prorubin. 

„Ad, das ift der vierte!“ Höhnt der böfe Buße, offenbar 
die geheimften Gebanfen errathend, die Kobyljnifors armes Herz 
bedrüden. 

Kobyljnitomw Hört e8 nicht einmal, er ift vernichtet, entehrt, 
obgleich Papa Lopatnitow gleich an den Kartentiich zurüdgefehrt 
ift und mit der größten Gerfenruhe, als ob nichtS vorgefallen wäre, 
fieben in Pique angefagt hat. Prorubin tanzt unterbefen vor dem 
Unglüdtichen Hin und her und höhnt forhvährend: „Erich, etich! 
das war der vierte.“ Kobyljnitor drücdt fich vorfichtig an der Wand 
Hin, um ixgenbivie unbemerkt in’s Vorzimmer zu gelangen. Senja 
Prorubin bemertt e8 und fprengt das Gerücht aus, Kobyljnitom 
habe Magenfdmerzen. Kobpljnifow hört biefe Verfeumdung und 
bleibt ftehn; er Iehnt fih an die Wand nnd fchaut fühn brein; 
aber vergebens, die Verleumdung hat fen ihre Wirkung gethan. 
Unter den jungen Mädchen Hört man flüftern: „der Arme!“ 
Nadjenfa wird roth md wendet fi) ab; offenbar find ihr vor 
Shan und Schmerz die Thränen nahe. 

„Bandlig“, flüftert fein verfluchtes Gedädtnig und Kobyljni- 
Tom jpringt, wie von einer Wespe geftochen, aus dem Zimmer fort, 
durd) feine Flucht ein Tuftiges Kichern unter den jungen Mäbehen 
hervorrufend. 


74 Holde Jugendefelei. 


Und wieder fipt Kobpljniforo in feinem einfamen Stübehen; 
er fit und weint bitterlich. Vor ihm liegt die Rapuftnitomfche 
Mcte und die Thränen fliehen nur jo aufs Papier; darauf jteht: 
„E83 petitionirt der Kaufmann SKapuftnitom, 
worin aber feine Bitte befteht, befagen folgende 
Runfte, — dod) feine Augen find verfchleiert und fein arınes 
Herz will in Etüde fpringen. 

Durd) die Thränen aber und das herzbredjende Schlucdhzen 
Hindurch fehimmert heil das Bild des lieblichen Mädchens: er 
glaubt ihren frifchen Wehem zu fpiiren, den Schlag ihres Heinen 
Herzens zu Hören. 

„Mitenka", fpricht fie und läßt ihr Lodenköpfhen verihämt 
auf feine Edjulter finfen. 

„Mes dames“, flüftern bie jungen Mädchen ringaum: „Mes 
dames! Kobyljnitomw Hat Deagenfchnierzen.* 

Kobyljnitor fpringt auf und läuft im Zimmer umher, greift 
fid) dabei nad) dem Kopf und macht alle jene Bewegungen, die 
einem Verzweifelten anftehen. 

„Bandfit!* ruft plöplich das mentrinnbare Gebächtnif. 

Kobyljnikorw beit fid) vor Ingrimm die Lippen blutig, er 
jept fich wieder mund nimmt abermals bie Kapuftniforjche Aete vor, 
in ber Hoffnung, darin die Erinnerungen des Abends zu erftiden. 

Aber Hinter der Vretterwand regen fi die Hauswirthe — 
Nleinbürger. Cie find allem Anfchein nad) gleichfalls joeben vom 
Befuch Heimgefehrt und im Begriff jchlafen zu gehen. Man hört 
tiefes Athen, man Hört das Deffnen einer Commobde, man hört jenes 
Rafcheln, welches das Austleiden und Zubettegehen immer zu ber 
gleiten pflegt. Endlich ift Alles ftill. 

„Bit Du eine dimme Gans ober nicht?“ fragt der Haus 
wirth) feine Gattin: „bit Du eine dumme Gans oder nicht?“ 

„Schlaf Dich aus, Trunfenbold; bedenfe a8 morgen für ein 
Feiertag ift”, ermahnıt die Gattin. — 

„Nein, fage mir, bift Du eine dumme Gans ober nicht?“ 
wiederhoft der Hausherr Hartnädig. 

Hinter der Vretterwanb hört man ein erfehüitterndes Gähnen. 
Kobyfjnitom nit tiefer und tiefer und endlich fint fein Kopf ganz 


‚Holde Jugendefefei. 75 


auf die Kapuftnitowiche Acte. Er träumt vom Weihnachtsbaum, 
er träumt, daß er mitten im erleuchteten Saal fteht, aber neben 
ihm fteht nicht Nabjenka, fondern der Kaufmann Kapuitnifom und 
petitioniet, worin aber feine Bitte befteht, bejagen 
folgende Punkte... . 


Ne 














Aunitbriefe. 


V. 


&" in Gran Alles... Aber fein vornehmes Silbergrau, wie 
> 8 mancher Landichafter der Natur nach im fein Bild 
Hineinzuzaubern weiß, namentlich in unferen Tagen der Stimmungs- 
malerei. Nein — ein Häßliches Graugrün und fehmuiges Gelb- 
grau. Cie nennen e& hier „Winter“, fügen aber Hinzu, daf Berlin 
aud) jhon andere Winter gejehen hat. Mag fein. Meine Lejer 
aber, die die deutfche Reichshauptftadt zumeift mur in der fommerlichen 
Hälfte des Iahres zu befuchen pflegen, Lönnen fich fchwerlic) eine 
Vorftellung davon madjen, wie häflich Berlin in folhen Winter 
fic) ausnimmt. Und zu den fchönen Gtädten gehörte e8 ja nie. 
Die Stellen, mit denen e8 fi) fehen lafien Tann, find gar bald 
hergezäßtt, rafcher und leichter, als all’ die Mißgriffe, die bei der 
Auzgeftaltung von Neu-Berlin während der Iepten zwanzig Iahre 
in äfthetifcher Hinficht begangen worden find, angefangen bei der 
verunglücten Wahl des Plapes für das Neidjstagsgebäude und der 
fprichwörtlichen Hählicjfeit des in feiner Nähe fichenden „Sieges- 
fpargels*, wie ja der boshafte Berliner Voltswig die Siegesfäule 
abgetauft hat. 

Man fehe fi) mer ein Mal mit den Augen des Künftlers 
ober auch nur mit Schönheitsfinm Vegabter die Hänferzeilen und 
Pläge, die Brunnen und Denkmäler der Neichspauptjtadt an: 
fast nirgends ein fhöner Anblick, fajt nirgends ein Harmonifcher 





Kunftbriefe. 77 


Abjchluß und Gefammteindiud. Was hätte man — um nur ein 
Veifpiel anzuführen — in Paris oder Wien aus dem Potsdamer 
Plap gemacht und ficher hätte man dort einem Denkmal, wie das 
Zuthers, eine bejjere Stelle anzuweifen gewußt, al3 hier gejchehen. 

Doch das ift ein Kapitel, deffen Behandlung für ein anderes 
Mal vorbehalten bleiben mag und id) fehre zurüd zu dem, wovon 
id) ausging. 


® * 
* 


Gran in Grau Alles. Auch auf dem Gebiete der Heurigen 
Winter-Kunftfaifon, aus der mur das Menzelfeft und bie beiden 
dem Altmeifter zu Ehren, den Nacjtommnen zu Nugen veranflalteten 
Ausstellungen in der Afademie der Künfte und in der Nationale 
gallerie als eine ftrahlende Epifode hervorleuchten inmitten eines 
eintönigen Einerlei, 

Aber doc) ift das nur der Gefammteindrud, deu ber rüdwärts 
Blicdende gewinnt. Sieht er näher zu, befinnt er fi auf das 
Einzelne, fo Hat er feit der Beit, wo im October die Thore des 
Ausftellungspalaftes beim Lehrte Bahnhof geichloffen wurden, 
immerhin manches Schenswerthe geichaut, Wiffenswerthe Tennen 
gelernt. Und gerade, weil die Phyfiognomie Berlins jept jo gar 
Häßtich ift, find die Heinen Kumft-Ansftellungen, die ung unauzgejegt 
geboten werben, fozufagen eine wahre Wohlthat, die einigen Erfag 
bietet für die mangelnde Befriedigung fünftlerifcher Anfprüche und 
Anregungen im nüchternen Strafen- und fontigen Außenleben 
Berlins .. ... 

&s fehlt Hier nicht an Kunftvereinen, die in ihren Räumen, 
fei e8 zu Handels- oder zu Bildungszweden, wiederholt oder aud) 
fortlaufend den Winter über Augftellungen veranftalten, wie vor 
Allem der „Verein Berliner Kiünftler” im Architeftenhaufe in der 
Wilpelmftraße. Doc) nicht diefe Ausftellungen find 8, die ge= 
meinhin da8 Interefiantejte bieten. Das finden wir vielmehr in 
den Kunftfalong der Firmen Ed. Schulte und Frip Gurlitt. 

€&3 find die beiden bedeutendjten KunftHandelfirnen Berlins. 
Das heißt, richtiger Hiefe «8 Vilderhandelfirmen, denn faft nur 
Bilder befommen wir dort zu fehen, und zwar nur Originale, 
vornehmlich Delgemälde und MUquarelle, feltener Stiche und Rar 


78 Kunftbriefe. 


dirungen. 3 erimmert Einen hier nichts an den Laden. Es find 
eben wirttih Kunftfalons. Kein Verkäufer ift zu fehen, feinen 
Sadentifch giebts, feine „Raffe" aufer der zur Löfung der Ein 
frittöfarten. Tide Teppiche decten ben Boden; fehwere Vorhänge 
umrahmen die Thiröffnungen; ftilvolle Scffel und Divans laden 
zum Sigen ein; zwifden den großen und Heinen Gemälden an den 
Wänden Hier und da eine Statue, eine Vafe; auf einem Sefel, 
wie zufällig, ein Bild aufgeftellt; Miles in den dunfleren Nadje 
mittagsftunden im Scheine eleftrifchen Lichts, deren Lampen an 
der Dede, aber Hinter Blenden angebracht find. Das Gefchäfts- 
Kurean ift von biefen Räumen vollfländig getremt.... Sowohl 
bei Scyulte, u, d. Linden 1, an der Ede des Parifer Plapes, als 
bei Gurlitt, in der Leipziger Straße 131, zwiichen dem Leipziger 
PBlag und der Wilhelmftrafge, befteht jchon feit ein paar Jahrzehnten 
die Sitte, das ganze Jahr hiudurd, Ausftelungen zu veranftalten. 
Groß find fie natürlich wicht, aber immerhin giebt mitunter 
doc) 100 und mehr Nummern. Das rumde Jahr Hindurd) werden 
diefe Augftellungen alle drei bis vier Wochen regelmäßig erneuert 
und dabei beträgt der Abonnementspreis für 12 Monate bloß 
3 Rum. Ein lächerlich billiger Preis, wenn man bedenft, wieviel 
man hierfür im Laufe des Jahres zu fehen befommt, Der intime 
Charakter biefer Ausftellungen, wo mandjer Kinftler ganz anders 
zur Geltung zu kommen vermag, al8 auf den großen internationalen 
Bozars der fommerlichen Gefammtausftellungen in Berlin, Vünden 
u. f. w., fo daß; der Nuhm diefes und jenes Künftlers tHatjächlich 
von diefen Kunftfalons aus feinen Weg in bie große Maffe ger 
nommen hat, die günjtige Lage der Ausjtellungslotale, die Ber 
quemlicjfeit, die fie den Bejuchern bieten — das Alles zufammen 
Hat 3 bald dahin gebracht, daf e3 zum guten Ton gehört, fein 
Abonnementsbilfet bei Schulte und Gurlitt zu befigen, wie feine 
LZoge oder feinen Logenfig in der königlichen Oper. Nachmittags 
vor Ti, jo zwifhen 1 und 3 Uhr, wenn man die Linden 
Hinunterfehlenbert, ober auf der Leipziger Straße flanitt, da tritt 
man dann wohl für eine halbe Stunde in die Salons ein, in 
Straßentoilette, die Herren aud den Hut nicht ablegend, nyan ift, 
namentlich in der erften Woche jeder einzelnen Austellungsperiode, 
zumal in den Wintermonaten, fiher, Bekannte zu treffen. Sunfts 








Kunftbriefe. 79 


Tritifer und Schriftfteller und Künftler, Vertreter der Welt des 
BVollglanzes und des Sceins, unjceinbare wahre Kunftfreunde 
neben Progen, die die Mode mitmachen, reelle Käufer und ver« 
bifjene Krittler, Leute, die mur fehen, andere, die fich bloß jehen 
Iafjen wollen, mitunter au) foldje, die auf ungefährliche Weije fi 
hier ein Mendezuous geben fönmen und, anfcheinend ganz und gar 
in bie Befpredhung einer itafieniihen Landichaft oder eines natırrar 
Kitifcen Yauernnedhtes vertieft, von durchaus anderen Dingen 
TedvEen 2...» 


. * 
* 


Das größere Local Hat Schulte aufzuweifen; er verfügt unter 
Anderem fogar über einen jdönen Oberlichtfaal. Aber Fünftlerifch 
höher fteht wenigftens in diefem Jahre wohl der Salon Gurlitt. 
Dian gewinnt bei Schulte den Eindrud, als ließe er fh zumeift 
die Werfe in’s Haus hineintragen, während Gurlitt mehr prüft 
und fihtet und — fucht. Un intereffanteften find natürlich immer 
die Einzelwerfe ganz junger, nenauftauchender SKünftler, fobann 
Sammelaugftellungen älterer, endlich einzelne neue Werfe von alt« 
berühmten Meiftern, d. 5. Meiftern aber jtets der Neuzeit, die 
beiden Firmen haben faft ausfchliehlich die moderne Kunft im Auge. 

63 wäre übrigens ungerecht, wollte man Schulte'3 Aus» 
ftellungen diefes Winter8 verurtheilen. Wuc, er Hat manchen jehr 
guten Griff gethan. So war «8 ein ebenfo pietätvoller, als 
glüclicher Gedanfe, da8 Andenken des Liebenswürdigen jüngjt ver- 
ftorbenen märkifchen Landihafters Bennewig v. Löfen dur 
eine Sonderausftellung von Skiggen und Studien in Del und 
Aquarell zu ehren. Gerade diefe Ausftelung Hat uns deu Werth 
de3 Künftlers beffer erichloffen, als all’ die vielen großen Bilder, 
die von ihm in bei Ießten Fahren zu fehen gewefen find. Much 
die größeren Augftellungen der Berliner May Uth md Walther 
Lentikan, die beide in den legten Jahren fic) in der Aquarell» 
Tcchnit bedentjam entwickelt Haben, beanfpruchten neben dem befonderen 
ein allgemeines Intereffe. Das Gleiche gilt von der Sammlung der Ger 
mälbe und Skiggen des Münchener Wilhelm Volz, ein Dalerpoet 
Böclinfcher Schule, wenn man fo eine Anfehnung und Empfindungs- 
verwandtjhaft bezeichnen mag, die der junge Kinftler in Bezug 


80 Runftbriefe. 


auf den alten Meifter zeigt. Unter den „Modernen“, die bei 
Schulte zu finden waren, feien auch) die Toforiftifcy fehr originellen 
Bildniffe, Acte, Stillteben des Impreffioniften im Stile des Parifer 
Bernard, Kurt Herrmann, fowie die Landfhaften BHiTipp 
Frand’3 genannt, ferner Frig Burger mit feinen naturaliftie 
fchen, ebenfalls durdjaus von Paris beeinfluften Portaits. Diejelben 
Naturaliften, die unlängft mod) fo gern Fabrifarbeiter, Adertnechte 
n. {. w. malten, namentlich, wern fie zur Naffe der „Erniebrigten 
und Bedrüdten" gehören, um das Doftojewstifche Wort zu gebrauchen, 
— jet fuchen fie die Objefte für ihre Stubien in den entgegen- 
gefepten reifen ud fo begegnet man Männerportraits aus den 
Kreifen de Chie’8 und des Pichuett'3, die das Entziiden eines jeden 
Mobefchneiders und Gigerl’3 ausmadjen fünnen, denn ebenjo wahr: 
heitögetreu, wie einft jene Hungerfeider, find jegt diefe Upperten 
gemalt. Ob diefe Bildniffe mehr der Amıft Rechnung tragen, a8 
jene, mag der Lefer feibft entfeiden. Brillant gemalt find bie 
Sachen entfehieden, aud) bie Burger’fdjen, und für dharakteriftifche 
Typen unferer Zeit können fie ohne Zweifel ebenjo gelten, wie die 
des Elends md des Jammers. 

Noch viel Anderes, In- und Wusländifches, gab e8 bei 
Schufte zu fehen, was erwähnenswert) wäre, aber id muß mich 
kurz faffen. Nur eines Landsmann fei mod) gedacht, des Profefjors 
Eduard v. Gebhardt, der einen „Chriftus als 12 jähriger 
Knabe im Tempel zwifcen den Schriftgelehrten“ ausftellte. Der 
Gewohnheit gemäß verjeßt uns der Maler ins beutfche Diittelalter. 
Der Tempel wird zur Sacriftei einer chriftlichen Kirche, die jüdifchen 
Schriftgelehrten werden zu gelehrten Theologen und hodweifen 
Kicchenätteften, die dem am Schmalende eines grünverhangenen Tifd)es 
figenden blonden, einem Eftenfnaben gleichenden Jefus gefpannt 
ober vertoundert zuhören. Links im Hintergrunde dringt Dlaria 
erregt herein, vom Cchliefer mühfam zurücgedrängt. Die Aus: 
bildung der Gefichtözüge der Männer, der Ausdrud Jefu und 
feiner Mutter, das Dämmerlicht zwifchen den dunkten holzgetäfelten 
Wänden der Sacriftei, ihre ganze ftilgerechte niederdentfche Ein» 
richtung, das durch die Thür hereinfluthende Licht, die Trachten 
u. f. mw. — das ift Alles fo überzeugend gemalt, wie immer bei 
Gebhardt, und wie immer auch hat man die Empfindung, da; er 


Kunftbriefe. 8 


im Detail allzu viel geben till. Zedodh) — das ift Gefchmad- 
jache, wie auch feine ganze Manier, bibfifche Vorgänge in die Zeit 
der deutfchen Renaiffance zu verlegen. ... 


* * 
* 


Altbefannte Namen von beftem Klang boten uns die zier- 
fihen Kataloge der Gurfittien Ausftellungen. Darunter aud) 
größere Sammelausftellungen. Co gab’3 eine Thoma-Aus- 
ftellung, bie 56 Bilder und Original-Steindrude aus den Jahren 
1866— 1894 bot. Mit diefem jüngft fo viel genannten Franke 
furter Maler Habe ich mich im erften „Kunftbrief“ fon ein- 
gehender bejchäftigt und ich bemerfe nur, daß diefe Sammlung 
mich 5loß in meinem damaligen Urtheil beftärft Hat. Sehr 
intereffant waren übrigens die Steindrude, Auch mehrere Leibl 
stellte Gurlitt aus, ganz vortreffliche Portraits und Genre-Kopfz 
ftudien. Danı befamen wir bort fünf hier noch) unbelannte Böd- 
Tin zu fehen, zur größten Freude al’ der zahlreichen Verehrer 
diefes eigenartigen Farbendichters und Humoriften von genialer 
Unverfrorenheit, die er namentlich wieder in der „altrömifchen Bachus- 
fefteOrgie" zu Schau trug -— in einer Weife, wie Tüngere e3 ihm 
nacjzumadjen vergeblich fid) mühen. Zu ihrem Veften, dem da 
fie das Urmefentliche des jchtweizerifchen Meijters, der übrigens 
jegt ganz in Slorenz lebt, nicht zu treffen oder nicht zu erreichen 
vermögen, jo kehren fie wohl von dem Wege um, der Einem ver- 
ftändlich wird eben nur an der Haud Bödtin’s jelbit. Lenbad 
und Liebermann — Leptever fogar mehrfad) vertreten und 
zwar durchtveg jehr gut — fehlten cbenfo wenig, wie Frih v. 
UHde und Adolf Menzel, von dem einmal eine ganze Reihe 
fhönfter Handzeichmngen zu fehen waren. Von Ausländern feien 
namentlich der Römer Pradilla und der aflbefanute englifche 
Farbenefjeftler WhHiftler genannt. Viel von fid) reden machte 
die Decemberaugftellung bei Gurlitt, auf der über 100 Bilder 
von deutfchen und frangöfifchen Künftlerimmen zu fehen waren. Aus 
Berlin und Münden, aus Hamburg und Wien, aus dem Haag 
und Amjterdam, aus Paris und Prüffel ftammten die Urgeberinnen 
der Werfe und fogar St. Petersburg war vertreten, dur bie 


82 Kunftbriefe. 


Londfhafterin P. ECouriard. Diefer Kreis Funftbefliffener 
Damen verricth wicder einmal, daß fie ebenjo fehlecht nicht bloß, 
fondern aud) mitunter ebenfo gut malen Lönnen, wie ihre männlichen 
Kunftgenoffen und daß fie ebenfo wie biefe in allen Richtungen 
und Stilarten, vom offenherzigften Naturalismus 6i8 zum befremd- 
lichften Symbolismus, und vom pinfelfchwenfenden Impreffionrismus 
6i8 zum gewifjenhafteft tüftenden Seinigteitsfultus, zu Haufe zu 
fein vermögen. Nur die große, zwingend gewaltige Erfindung 
feheint ihnen verfchloffen zu bleiben ud andererjeit8 weiß man 
ihren Bildern gegenüber nie fo recht, wieviel Nachempfindung und 
Anlehnung mit im Spiele ift. 


- * 
* 


Dafı all diefe Ausftellungen von ihren Veranftaltern natür- 
lich in erfter Linie zu Verfaufszweden bejtimmt find, braucht wohl 
nicht mod) erft befonbers Hervorgefoben zu werben. Wohl aber, 
daf wirklid baar gefanft wird. Den leichteften Abjag findet das 
Allgemeinverftändliche, unmittelbar an Herz und Kopf fi, Wendende. 
Steht einmal unter einer tollfühnen Phantafie, einem gewagten 
Verfuc) die Infchrift, „Verkauft“, fo weih man aucd) gleich, ganz 
ebenfo wie bei den verfauften Werken erfffaffiger Künftler, wie 
Bödlin, Leibl u. j. w., daß der Käufer ein richtiger Sammler 
ober aber ein Fanatiker ift — eine Beobachtung, die jeder regel» 
mäßige Ausftellungsbefucher übrigens überall machen Tann. 

Bie follte 08 aud) anders fein..... 


3. Norden. 
Berlin, im Januar 1896. 


a 


sestsesgususuererersrerrren 








wertsettren 











Kin Gefchichte der Unfreiheit nad) ihren verfchiedenen Formen, 
als Sklaverei, Hörigfeit und Leibeigenfchaft, und in ihren man« 
nigfaltigen Werzweigungen Bis ehwa zur großen franzöfifchen Mer 
volntion wäre eines der wichtigften Kapitel aus ber Kulturgefchichte 
der Menfchheit. Eine foldhe Darftellung, welche dem Urfprung der 
Sklaverei bei ben verfchiedenen Wölfern nachfpürte, ihre Geftaltung 
im Orient und dan ihre jo ehr verjchiedenartige Entwicelung bei 
Griechen und Römern behandelte, ifrem allmählichen Aufgören bei den 
Völtern Europas nacjginge, enblid) die im Mittelalter fid) aus 
Bildende neue Form der Unfreifeit, als Hörigfeit und deren Aus- 
artung zur Leibeigenfchaft, |hilderte — eine folche Darftellung, um= 
fafjend und auf gründficher Forfchung beruhend, würde eine Fülle 
Tehrreicher und anziehender Grgebniffe liefern umd nad) den verfcjieben- 
ften Richtungen Hin Licht verbreiten. Die Bedeutung der Religion 
für diefes ganze Gebiet würde fid) dabei deutlich herausftelen und 
die entfcheidende Einwirkung des Chriftenthums auf die Befeitigung 
der Sklaverei, obgleich «3 diefelbe nicht von vornherein prinzipiell 
befämpfte, Har zu Tage treten. Iedenfalls ift die Aufhebung der 
perfönlichen Unfreiheit einer der größten Fortjehritte in ber Ent» 
widelungsgefichte der Weenichheit. Die Lobredner der Gegen- 
wart, die zugleid; erbitterte Ankläger der antifen Sklaverei und 
mod) mehr der mittelafterlichen Hörigteit find, follten übrigens nicht 
vergeffen, daß, wie die Blüthe der antifen Kultur auf dem Unter- 


8 Kitterärifche Umfchan. 


grimbe der Stlavenarbeit berufte, ebenjo auch der glänzende Anfe 
ihwung der modernen Induftrie nur durch eine neue Art von Uns 
freiheit möglic, geworden ift; die heutigen YFabrifarbeiter befinden 
fid) zu einem großen Theile in einer jchlimmeren Lage als die 
athenifchen SHaven und die Hörigen des Mittelalters. ine Ge- 
fdjichte der Unfreiheit nad) den oben angedenteten Gefichtspuntten 
würde freilich, wenn fie auf forgfältiger Forfchung beruhte, das 
Werk eined ganzen Lebens fein und Hätte viele Vorarbeiten noch 
erft zur Vorausfegung. Mu foldjen fehlt e3 für einzelne Perivben, 
wie 5. B. die antile Welt und einzelne Länder Europas, aller- 
dings nicht und fehon eine Zufammenfteffung der bißferigen Forfchun- 
gen und Nefultate wäre ein Ddantenswerthes Unternehmen. Cine 
folche verheißt uns das Bud) von John Kells Ingram: Ger 
ichichte der Sklaverei und der Hörigfeit, redt- 
mäßige dentfhe BearbeitungvonteopoldKatjder.‘) 
Allein fchon der Umfang desjelben ftimmt unfere Erwartungen 
herab; wie Tieße fi) der ungeheure Stoff auf 200 Seiten Heineit 
Formats auc) mir einigermafen erichöpfend behandeln? Der Ber« 
fafer erklärt denn aud), er habe fein Büchlein nicht für Facjgelehrte, 
fondern für denfende und gebildete Laien gefchrieben, verfichert 
aber zugleich, er hoffe Hinfichtlich des Thatjachenmateriald nur ganz 
Richtiges zu geben. Das vorausgeicicte Verzeichnih der Quellen, 
auf die fid) Ingrams Arbeit jtügt, zeigt aber große Lüden, ber 
fonder3 die Nichtbenugung der zahlreichen beutichen Forjcungen 
ift zu bedauern. Aus der deutfchen Litteralur Hat der DVerfaffer 
mr Böch’s Stanthaushaltung der Athener und Sugenheim’s Ges 
fhichte der Aufhebung der Leibeigenfhaft in Europa, zwei an 
Bedentung und Werth ehr verfchiedene Werte, benmpt. So weit 
feine Quellen oder vielmehr Hüffsmittel ausreichen, hat Ingram ben 
Stoff überfichtlich und zwedmäßig zufammengejtellt. Die Gefdichte 
der Stlaverei im Alterthum ift im Ganzen befriedigend, wem aud) 
mande Liden fich finden. Dagegen ift die Entwicelung der 
Hörigfeit fehr bürftig, für Deutfchland ganz ungenügend, da der. 
Verfaffer nicht einmal G. 2. von Maurer und ©. Waik fennt. 
Die Aufgebung der Leibeigenfcaft in den Staaten Europas wird 


1) Dresden umb Leipzig. Derlag von Carl Reiffner. 2 M. 80 Pig. 


Kitterärifhe Umfcau. 85 


Hung, aber dem Zwee des Buches entfpredhend, dargeftellt. An 
befehrendften find die drei legten Abichnitte, welche die Befeitigung 
des folonialen Sflavenhandels, die Abichaffung der Negerftiaverei 
und die Sklaverei im mohamedanifchen Orient behandeln ; das Iepte 
Kapitel enthält aber weniger, als der Titel verfpricht, — inden 
darin nur die Verhältwiffe in Sanfıbar, der Türkei und Marofto 
erörtert werden. Im einem Anhang wird dann moch kurz die 
Sklaverei bei den Egyptern, den alten Hebräern, den Chinefen und 
Indern behandelt. Als Ueberblid ift daS Bud) von Ingram braud;- 
bar und dem Laien wird e3, trog ber bemerkten Mängel, vieles In= 
tereffante und Belehrende bieten. 

Eine vielgenanmte Perjönlichteit aus der Gejdhichte der Re- 
formation in Jtalien behandelt die Schrift VBilhem Sommer» 
felt3 Francesco Spiera, ein Unglüdlider. Aus 
dem Normwegiihen von 9. ©. W. Hanjen.!) Francesco 
Spiera, ein  angefehener Nechtsgelehrter und Wdvofat in 
Eittadellan im Oberitalien, Hatte den evangeliihen Glauben 
angenommen md wurde ein feuriger Werfündiger desfelben in 
feiner Baterftadt. Deswegen vor das Kebergericht in Venedig 
eitirt, verlor er Muth und Kraft umd jchwor feinen Glauben 
nad) dem ihm vorgelegten Formular ab in Sommer des Jahres 
1548. Nun aber ergriff ihn die furchtbarfte Verpweiflung, er war 
überzeugt, die Sinde wider den heiligen Geift begangen zu haben, 
wüthete gegen fic) felbft wie ein Nafender und erfrantte zulegt. 
So verbrachte er vier Monate nad) feiner Abichwörung, zuerit in 
Padua, dann in feiner Vaterftadt. Sein Zufpruch, feine Tröftung 
von Seiten der fatholifchen Geiftlichen, feiner Freunde und Befann- 
ten, fo tie anderer von nah und fern ihn aufjuchender Perfonen 
Half etwas, Spiera Hatte für Alles eine Widerlegung. Unter bei 
entfeglichften Seelen» und Gewijjendqualen ftarb der Unglüdliche 
endlich im November desfelben Fahres. Der gleich) nad) feinem 
Tode veröffentlichte Bericht von Spieras Verzweiflung machte über- 
al im Europa großen Eindrut und au, fpäter ift fein Schidfat 
vielfach gefchildert worden. Nachdem in unferem Fahrhundert 
€. 2. Both, Sizt und Rönneke eingehend über ihn gehandelt, hat 

1) Leipzig, A. Deichertfche Berlagsbuchhandlung Rachfl. 1 DI. 

Sattifge Monatsigrift. W. XLIV. Yeft 2. 6 


86 Kitterärifhe Umschau. 


der italienische Neformationshiftoriter Comba neues Material zur 
Gefchichte des merfwürdigen Mannes entdet und veröffentlicht. 
Anf feine Forfchungen gründet fih Sommerfelts Schrift. Er findet 
die Erklärung von Spieras unerjdütterlicher Verzweiflung, wir 
glauben mit Recht, in befien fefter Unhänglichteit an Calvins ftrenge 
Prädeftinationglchre. Die Schrift hinterläßt einen ernften, ja er- 
fchütternden Eindrud; was fie fhildert, ift eine eindringlide 
Warnung vor Ölaubensverleugnung aus Menjhen- 
furdt und wider die innere Meberzeugung. 

Die gewaltigen Ereigniffe von 1870 und die Hufrichtung des 
Deutihen Reiches haben die wunderbare Reorganifation des preußi- 
ichen Etnates am Anfange diefes Jahrhunderts und die glorreichen 
Kämpfe und Siege ber Wefreiungsfriege etwas zurücgebrängt. 
Aber wer fih in den Zufammenhang ber Dinge vertieft, wird den 
Blid doc) immer wieder zu jenen außerordentlichen Fahren zurüce 
wenden, im denen der Grund zu alle dem gefegt worden ift, was 
fich fpäter grofjartig entwicelt Hat; damals ift der Yaum gepflanzt 
worden, der fpäter jo ftolz feinen Wipfel zum Himmel empor- 
geftredt hat. Die Größe der Männer, deren Genie und jchöpfer 
rifche Kraft den zertrümmerten Staat auf neuen Grundlagen wieder 
aufrichtete und das vernichtete Heer neugeftaltete und zum Giege 
rüftete, wirft auch) Heute woch nad). Der ideale Schwung und die 
glühende Vaterfandsliche jener auferordentlicen Männer ergreifen 
auch heute nod) Ieben, der ihnen näher tritt. Theodor Lindner fagt 
in feiner deutfchen Gefchichte fehr treffend: Unter ihnen find Heroen 
ohne Fehl und Tadel, zu denen man mit ehrfürchtiger Ber 
wunderung auffhaut; Ieuchtendere Vorbilder gibt e$ nirgends in 
der Gefchichte. E83 war dod) eigentlich nur ein Heiner Kreis von 
Männern, von denen bie ganze Bewegung, die ympulfe zu Allem 
ausgingen, aber Jeber von ihnen war aud) eine Heldenperjöntichfeit 
von eigenartigjtem Charaftergepräge. Allmählic Haben die meiften 
von ihnen eine würbige Darftellung gefunden. Stein’8 Leben hat 
Perg und dann der Engländer Seeley befchrieben, Gneifenau’s 
Heldenfeben ift von Perg und 9. Delbrüd gejchildert worden, 
Scharnhorft Hat endlid) in Mar Lehmann den berufenen Biographen 
gefunden und Glauferwig” Lebensdarftellung durd K. Schwarg ijt 
zwar in Form und Auffaffung wenig befriedigend, bietet aber doc) 


Litterärifche Umfcau. 87 


reiches Material. Seht wendet fi) das Intereffe der Hiftorifchen 
Forfhung and den Männern zu, welche neben jenen Herven als 
deren Mitarbeiter und Helfer in zweiter Reihe ftehen: Cart von 
Srolman und Hermann von Boyen erhalten endlich auch ihre 
Biographen. Nur jenen Großen gegenüber ftehen fie in zweiter Linie, 
zu andern Zeiten, bei andern Bölfern wären fie Männer erften Ranges 
gewefen. Mit Grolman’3 Leben werben wir ung fpäter befchäftie 
gen, für jegt gehen wir auf Voyen’3 Biographie näher ein. Der 
Feldmarjhatt 5. v. Boyen Hat fehr eingehende Erinnerungen aus 
feinem Leben aufgezeichnet, die von dem Theologen Fr. Nippold 
in brei umfangreichen Yänden vor einigen Jahren in nicht ganz 
zwedmäßiger Weife herausgegeben worden find. Diefe Erinnerungen 
find ein foftbares Denkmal des Heldengeiftes der Befreinngäfriege 
und durd; ihre Treue und Zuverläffigfeit eine Höchft werthvolle 
Quelle für die Gefchichte jener Zeit. Aber fie reichen nur bis zum 
Jahre 1813 umd, wie jede Selbftbiographie doc) mr ein unvoll- 
Tommene® Bild ihres Werfaffers giebt, fo ift das bei Boyen’s 
ihlichtem und verfchlofjenem Charakter ganz befouders der Fall. 
8 ift daher mit Genugthunng zu begrühen, daß ein jüngerer 
Hiftorifer, Friedrich, Meinede, auf H. von Spbel’8 Anregung 8 
unternommen hat, da8 Leben des Hochberdienten Mannes in ange» 
mefjener Weife zu jhildern. Zunächft liegt dev erfte Band bes 
Werkes: Das Leben des Generalfeldmarjdalls Her- 
mahnnvon Boyen von Friedrid Meinede:) und vor. 
Das Bud) beruht nicht mur auf dem gefammten Handfehrifttichen 
Nacjlap des Feldmarfhalls und anderen ardivaliihen Materiale 
und zieht außerdem alfe neueren Veröffentlihungen heran, jonbern 
3 ift eine wirkliche Biographie im vollen Sinne des Wortes. Der 
Verfafer Hat fich nicht damit begnügt, den äußeren Lebensgang 
feines Helden ausführlich darzuftellen, er hat fich die viel höhrre 
Aufgabe geftellt, die innere Entwidelung von Voyens Charakter 
und Perfönlichteit darzulegen, nacjzuweijen, wie die geiftigen Strö- 
mungen der Zeit, die Aufklärung und die Sant’sche Philofophie 
bildend und fördernd auf die Entfaltung feines Wejens eingewirkt 


1) Stuttgart, Verlag der I. ©, Gottarfcen Buchhandlung Nachfolger. 
8 Mitt. 


or 


88 Litterärifche Umfchan. 


Haben. ES ift dies DMeinede in vorzüglichem Mafe gelungen und 
das diejer Aufgabe befonders gewidmete vierte Kapitel ift einer der 
glängendften Mbfchnitte des Buches. Auc) die Ausführungen über 
die allmäglidje Umwandlung ber mifitärifchen Anfehauumgen Boyen’S 
von der umbebingten Bewunderung de fridericianifchen Heeres zur 
Rertretung burchgreifender Neformideen, die fid) nur im Princip 
noch von der fpäteren großen Reform unterfchieden, find vortrefflich. 
Der Berfafjer behandelt das Leben VBoyen’3 fteis im Bufammen- 
Hange mit den allgemeinen Greignifjen; darin, wie it der vertieften, 
weitblictenden Muffaffung fehen wir ein Hauptverdienft des Buches. 
Mit Boyen’s Teilnahme an der großen Meform des Heeres ber 
gümnt feine Hervorragende Mitarbeit an der Herbeiführung der Ver 
freiung und Erhebung des Staates. Die grohen Führer der Ne- 
form werden von Meinede Kurz, aber vortrefftid) charakterifirt und 
die wohlabgewogene, mafvolle, im Grunde aber dod) nicht günftige 
Charakterijtif Friedr. Wilhelms IU. fei als fehr nelungen befonders 
hervorgehoben. Boyen’3 verdienftvolfe Ihätigkeit bei der Errichtung 
der märfifchen Sandwehr und bei der Organifation des Landfturms, 
feine ruhmreie Mitwirfung als Generalftabschef Bülow’s bei den 
glänzenden Siegen von Groß-Beeren und Denmewig, fowie bei 
der Eroberung Hollands tommen dann zu eingehender, Har und 
fcharf gehaltener Darftellung. Zulept wird Boyen's größte That, 
das Wehrgefeg von 1814, welches er als Kriegaminifter nad) den 
Vorarbeiten und Then Scharnforft’3 entwarf und durchfehte und 
welches, wenn aud) mit mamigfachen Mobdificationen, die Grund- 
Tage der preußifchen Armeeorganifation bis heute geblieben it, im 
Bufammenhange dargelegt. Wenn wir etwas an dein VBuche ver- 
miffen, jo it «8 die häufigere Verwendung individueller Züge, 
manches der Art aus den „Erinnernngen“ jähe man gerne in ber 
Darftellung des Verfaffers vertvendet. Höchft intereffant find die 
zwei Selbjtcharakteriftilen und Selbftkritifen Boyen’3 aus den Jahren 
1502 und 1803, welde Meinete mittheilt. Man kann zweifeln, 
06 8 recht iit, folche rückhalticje Gntüflungen des Innern, die mır 
für Gott umd das eigene Muge beftimmt find, der Deffentlichfeit zu 
übergeben ; vollfländig wird das nie gejchehen Lönnen und aud) Hier 
find einzelne Auslafjungen notwendig gemefen. Aber wie fie nun 
einmal vorliegen, machen fie einen tiefen Gindrud; nur ein hoher Sim 






Litterärifhe Umfchan. 8 


und ein Charakter von umbedingter Wahrhaftigkeit können fo mit dem 
eigenen Ich in’3 Gericht gehen. Ieder Anflug von Genialität fehlt 
Boyen’s Perfönlichkeit, feine file, wenig nad) Außen tretende Natur 
barg jedod) tiefe Leidenfchaft in fich, große geiftige und militärifche 
Begabung verband fich in ihm mit. eifernem Pflichtgefühl, ein erniter 
Nationalismus vereinigte fic) bei ihm mit großer Gemüthstiefe, idealer 
Sinn und völlige Selbftlofigfeit geben feinem Charakter das Ger 
präge, und die heißefte Vaterlandsfiebe, die ihm zur Religion wurde, 
erfüllt feine ganze Seele. Das vorzügliche, dem Buche beigegebene 
Portrait, welches Boyen im Alter darftellt, drüdt, namentlich in 
den Augen, ebenfo Klugheit wie Kindlihfeit aus. Möge der Schluß- 
band des trefflichen Werfes nicht allzu Tange auf fich warten lafjen! 

Ein wichtiger Beitrag zur neneften Gejchichte ift der fünfte 
Band des Werkes: Aus dem Leben von Theodor von 
Bernhardi, welcher den Nebentitel führt: Der Streit um 
die ElbherzogtHümer Y). Die bier veröffentlichten Tages 
buchblätter reichen vom 1. Januar 1863 bis zum 18. Februar 
1864, umfaffen alfo nur wenig mehr al8 ein Jahr. Der Konflikt 
zwifhen dem preußifchen Wbgeordnetenhaufe und der Aergierung, 
der Aufjtand in Polen und die durch den Tod des Königs 
Friedrih) VII. von Dänemark brennend gewordene Schlesrig« 
Holfteinfche Frage find die Hauptgegenftände, mit denen ji) die 
Tagebuchaufzeichmmgen Gefchäftigen. Vernhardi ftand mit vielen 
Hochftehenden und angefehenen Männern in Verbindung, er wurde 
mehrfach aud) zum Tafel des Mönigs gezogen, Hatte perfünfiche 
Beziehungen zum Krouprinzen und deffen Gemahlin, verkehrte mit 
Miniftern und Diplomaten, kurz, Halte reichlich Gelegenheit vieles 
zu hören und zu erfahren, was den meiften andern Menfchen vers 
borgen bleibt. Es ift daher erflärlic, daß fich in dem Vuche viele 
interefjante Aufichlüfe über Perjonen und Zuftände finden und 
daß manche Mitteilungen gemacht werden, die von Hiftoriichem 
BVerthefind. Dahin rechnen wir befonders Berharndi’s Unterredungen 
mit dem Krieggminijter von Moon, die Wenferuugen König 
Leopolds I. von Belgien in der langen, Bernhardi gewährten 
Audienz, endlid die Schilderung des Treibens am Hofe des 





1) Leipgig. ©. Hixel, IM. 


90 Litterärifche Umschau. 


Auguftenburger3 in Gotha und feiner Umgebung. Bei weiten 
wichtiger aber al8 burd) bie einzelnen hier berichteten Thatfacdhen 
erfdjeinen uns diefe Tagebudjblätter als Spiegelbild der damals in 
den einfichtigften und unterrichteften Streifen herrjchenden politifchem 
Anschauungen und Urtheile; daß diefe von einem jo fcharfblienden 
und Mar urtheifenden Marne, wie Vernhardi, aufgezeichnet find, 
gibt ihnen erhöhte Bedeutung. Vernhardi Hagt mehrmals über 
die allgemeine Plantofigfeit und feine Aufzeichnungen beftätigen 
diefe IHatfache durchaus. Aber nody eine andere Wahrnehmung 
drängt fi dem Lefer diefes Bandes fortwährend anf: die ver- 
fhjiedenften Perfonen, nicht zum wenigften Vernharbi jelbit, fucen 
fortwährend auf den König, den Kronprinzen, einzelne Minifter 
und andere deutfehe KFüriten im Sinne ihrer Partei und ihrer 
politfchen Anihanung einzwoifen, damit die Negierung zur 
Aenderung ihres Epftem$ oder eunzelner Daßnahmen genöthigt werbe. 
Doß ein folches Vorgehen, eine folde Einflugübung in nicht ver» 
antwortlicher Stellung dem Fonftitutionellen Syften, deffen Anhänger 
and Vertreter fie als eifrige Liberale doc waren, durchaus wider 
fpricht und wenn fie gelungen wäre, nothtwendig zu einer Art von 
Nebenregierung hätte führen müffen, ähnlich der fo viel gehaßten 
Gamarilla unter Friedrich, Wilpelm IV, nur mit entgegengefegten 
Tendenzen, darüber fcheint fid) teiner diefer eifrigen PVolititer Har 
geworden zu fein. Berngardi fommt wohl mitunter eine Ahnung 
diefer Sachlage, fo wenn er 5. B. einmal meint, wenn man der 
Regierung ernftliche Oppofition mache, müffe man fich aud) bereit 
Halten an ihre Stelle zu treten, und er hat mitunter das richtige 
Gefühl, daß diefes nanze Treiben und Wirken im Grunde dod 
zved- und erfolglos ijt, das Ichrt fein Ausiprad: man vermag 
fehr wenig, wenn man wicht jetbt in den Gefchäften üit; aber er 
Tann e3 doc nicht Tafjen gemeinfam mit feinen Freunden immer 
wieber zu verjuchen, durch) hochgeftellte Perfonen auf den König in 
ihrem Sinne einzwwirken und das Minifterium zu veranlaffen, nady 
ihren Vorausjepungen den Staat zu Teiten. Bejonders die autd« 
wärtige Politit mödpten fie nad) ihren Geficjtspunften gehandhabt 
jehen und üben an deren Führung die fcjärfite Kritit. Es ijt 
jehr bezeichnend, da VBernhardi zu Vismard nicht in der geringften 
Beziehung fteht, alles was er von ihm und feinen Meußerungen 


Litterärische Umfchau. 9 


berichtet, hat er nur von Hörenfagen und dennoch urtheilt er über 
feine ‚Bläne und Abfichten ab, als wären fie ihm völlig bekannt. 
Wenn der Herausgeber in feiner dunfeln Vorrede meint, Bernhardi 
ftehe in feinen Anfichten-und Uxtheilen hoc; über dem Durchichnittsr 
liberalismus jener Tage, ift das nur zum Theil vihtig. In 
einer Frage allerdings, in der er volle Sadhfenntnih bejaf, in 
der Frage ber Armeereorganifation, war fein Urtheil volltommen 
frei von der damaligen Parteiverblendung und Hat fid) glänzend 
bewährt. Im Uebrigen war Bernhardi ein Altliberaler und, ob» 
gleich ein entfehiebener Gegner der demofratifchen Fortichrittspartei, 
doc nicht frei von den Schwäcjen diefer dbortrinären Politiker, 
wenn er auch die realen Mächte im Staatsfeben befjer würdigte, 
als die meiften feiner Gefinnungsgenofjen. Gerade in den Fragen 
der auswärtigen Politif, über die er bejonders jadverftändig zu 
urtheilen glaubte, zeigt fi) die Unzulänglichkeit des doctrinären 
Standpunfts am deutlichiten. Cr findet, Bismard Habe ohne 
politiches Programm das Minifterium übernommen und tadelt forte 
während die PBlnnfofigteit feiner Bolitit, fieht ihn ganz der Kreuz- 
geitungspartei verfallen und meint immer wieder, Bismard wolle 
Schleswig-Holftein den Dänen überfaffen. Dah Bernhardi Bismards 
geniale Politik, die damals auf oft ehr verjcjlungenen Wegen ihr Biel 
verfolgte, nicht erfannte und begriff, daraus fan ihm fein Bor 
wurf erwacjen. Uber da er von einem Gtaatsmanne, defjen 
Genie er früher felbft anerfanıt Hat, glauben Eonnte, er lafje 
fih mur von den äußeren Umftänden bejtimmen und handle ganz 
siefe und planlos, das it Fchwerlic) zu entf@julbigen, od) weniger, 
daß er aus bdiefer feiner Anficht aud fremden Staatsmännern 
gegenüber fein Hehl macht. Bernhardi lich fich durch feine faliche 
politiiche Auffafjung der Dinge und dur) das an jic) jehr chren- 
werte Bejtreben, an der Losreißung der Eibherzogthümer von 
Dänemark mitzuwirken, dazu beftinmen, in den Dienft des Auguften- 
burgers zu treten, für ihn jenen dur nichts zu rechtfertigenden 
Brief an Napoleon III. zu fehreiben und als fein Agent nad) London 
zu gehen, wo er natürlid) nid)t3 ausrichtete, aber über die Stimmung 
der maßgebenden politifchen Kreife gegen Preufen und Deutichland 
Iehrreiche Erfahrungen machte. Von feiner früheren Werthihägung 
der politifchen Weisheit und des weitgehenden Einfluffes Herzog 


92 Sitterärifhe Umfchan. 


Eruft IT. von KRoburg ift er in diefen Tagebudjblättern völlig zurüd» 
gelommen; er durchjchaut den theatralifchen und egoiftiichen Charakter 
diejed Fürften ganz und gar. BVergeblich Hat ber eitle Herzog 
feine pofitijche Thätigteit in drei fehtweren Bänben felbft verherrlicht; 
man Fan die Nachwelt auf die Dauer dod) nicht tänfchen und bie 
Wahrheit Tommt zufegt immer an’3 Licht. E3 Hat großen Meiz, 
die urfundliche Darftellung der Gefchichte biefer Zeit in Gybel's 
Wert mit Vernhardi's Tagebuchblättern zu vergleichen und die 
Staatskunjt Bismard’s, wie fie wirflich war, den hier ausge 
fprochenen verfehrten Urtheilen, fhiefen Auffafjungen und uubes 
gründeten Veforgniffen gegenüber zu ftellen. Cs ift ein troftfofes 
Bild der damals in allen Kreifen Preußens herrfchenden Verworrendeit 
unb pofitifchen Unreife, weldjes man bei dev Lektüre des vorliegenden 
Bandes der Aufzeichnungen Bernhardi’s erhält; auc) die Diplomaten 
von Beruf, wie Graf Vernstorff, Savigny und andere zeigen nicht 
viel größere Einficht als die Uebrigen, von dem gefchäftigen Herrn 
Geffden, der fid) nachher durd; feine Gegnerfchaft gegen Bismard 
fo befannt gemacht, ganz abgejehen. So werden diefe Mufzeichnungen 
wider Beruhardi’s Willen zu einen glänzenden Denkmal für bie 
überlegene finatsmännifce Einficht Vismard’3, der allein den 
Bufammenhang der politifchen Verhältniffe Europas durchicjaute 
und auf dem Boden der Realpolitit feine Ziele verfolgte. Neinen 
Genuß gewähren dem Lefer Bernhardi's Neifebeobachtungen in 
Belgien und England, ebenfo feine Kumftnrtgeile; man bewundert 
feinen fdarfen Blid und feine ricjtige äfthetifce Auffaffung. Auch 
fonft begegnet man vielen treffenden und guten Wemerkungen in 
dem Buche. Manches hätte ohne Schaden für den Inhalt gekürzt 
werden, manche Wiederhofung fortgelaffen, and) wohl einzelne auß« 
gedehnte Gefpräche zufanmengedrängt werben fünnen. Wir jehen 
den fechften Bande wit Spannung entgegen. Wird in ihm fich 
Bernhardi das Verftändniß der Staatsfunft Bismard’3 zu erfhließen 
beginnen ? 

Von ben biographiihen Blättern) liegt uns das 
vierte Heft vor, mit welchem der erfte Bad fchlicht, das dritte it 
ung noc) nicht zugegangen, Wir heben aus jeinem mannigfaltigen 


1) Berlin. Exnft Hofmann. 


Sitterärifche Umfhan. 93 


Inhalte die Charakteriftit Rudolf von Gneift'3 von Zofeph Reblich 
and die pietätvolle Würdigung H. von Sybel’3 durd) feinen einftigen 
Schüler E. Warntrapp bejonders hervor, an bie fi) E. Betiche's 
Auffat über Gottfried Keller ald Maler anreiht. Sehr interefiant 
find die von TH. Wiedemann mitgetheilten Briefe Leopold Rante’s 
aus Italien an Warnhagen von Enfe von 1828—1830, die einen 
bebentfamen Beitrag zu Nanle'3 Biographie liefern. Auch die 
5 Briefe von €. M. Arndt an Karl von Raten aus den Jahren 
1844—49 lieft man, \vie alles, was von diefem termdeutjchen Manne 
tommt, mit Vergnügen. Nicht eigentlich in den Nahmen ber Zeit- 
chrift gehören zwei Briefe Karl Hillebrand'3 über das Lefen als 
Bildungsmittel; aber fie find fo inhatreich und beachtenswerth, 
daß man fich ihrer Veröffentlichung freut. Wir wünfchen ber 
Beitjchrift beften Fortgang, möge ber neue Jahrgang an anziehenden 
biographiichen Auffägen und Mittheilungen ben erften noch übertreffen. 

Schon wieder ein nenes Bud über Italien! werden viele 
unmuthig ausrufen, wenn ihnen die Schrift von Otto Kaemmel, 
Italienifhe Eindrüder) zu Gefichte fommt. Man würde 
aber irren, werm man darin eine Meifebefehreibung oder eine Schif« 
derung der Kunftwerke Staliens zu finden glaubte, Der Verfafier, 
‚Hiftorifer feines Zeichens, hat mehrere Frühlingswochen des vorigen 
Jahres dazu benupt, Italien vom Norden bis zum Süden zu durche 
ftreifen und theitt in dem vorliegenden anfpruch3lofen Wücjlein die 
Eindrüde mit, welche er von Land und Volk erhalten hat. Die 
geniale Auffaffung und glänzende Darftellung eines Bictor Hehn 
wirde man in der Schrift vergeblid) fudhen, aber e& ift ein wohle 
wollender, fachfundiger und unbefangener Beobachter, welcher daraus 
fpricht und defjen Ausführungen wir gerne folgen. Er giebt zu- 
nächft beherzigenäwerthe Winfe, wie man in Stalien reift und betont 
mit Necht, daß, um im dent fchönen Lande mit Genuß und ohne 
Aerger zu reifen, die Kenntnig der italienifchen Sprache abfolnt 
unentbehrlich ift. Das Kapitel über den Volkscharakter und das 
Voltsleben in Stalien ift eines ber anziehendften in dem Buche; 
der Verfafjer erkennt die großen Vorzüge ber Italiener durchaus 
an, verjchweigt aber aud) ihre Schwächen nicht. Auc) der Abfchnitt: 


1) Leipzig. Br. Wilf. Grunew. 1 M. 80 Pf. 





94 Kitterärifche Umfchau. 


Volkswirthfgaftliches und Soriales enthält des Lehrreichen und 
VBeachtensiwertgen nicht wenig und fordert zur Vergleihung mit 
den deutfchen Verhältniffen auf. Ueber die römijche Kirche urtheilt 
der Verfaffer mit Villigfeit und die Cchattenfeiten des itaftenifchen 
Nationalftants verfhweigt er nit. Wir folgen ihm gerne, wenn 
er und die Eindrüde fehildert, weldhe er von deu italienischen Land» 
haften im Norden und im Süden erhalten hat. In dem leten 
Abjhnitt über die Städte als Hiftorifche Denkmäler verbinden ji, 
die Wahrnehmungen des Neijenden mit den Anichauungen des 
‚Hiftorifer8 in intereffantefter Weije. E3 ift eine fehr bemerfens- 
werthe Beobachtung Kaemmel’s, daß es in Italien faft gar feinen 
freien Bauernftand giebt, fondern nur Pächter und Tagelögner und 
ebenfo, daß das Vürgertfum der Städte fi) weit hinaus auf die 
Dörfer erftredt. Für denjenigen, der Italien noch nicht gefehen 
Hat, wird Kaemmel’3 Büchlein eine nüpliche Worbereitungsleftüre 
jein und dem, der das Land der Sehnfucht für alle Nordländer 
f&jon fennt, wird c& viele angenehme Nüderimerungen erweden. 

Bei der Fülle von Werfen über die dentihe Litteratur muß 
jedes nene Buch diefer Urt erjt feine Epriftenzberechtigung erweilen. 
3 herrfcht auf diefem Gebiet eine foldie Ueberproduftion, daß 
man jeder neuen Erfdjeinung diefer Art mit beredjtigtem Miftrauen 
entgegentritt, zumal wenn fie den Charakter eines kurz zujammen- 
faffenden Hanbe oder Lehrbuds trägt. Um fo mehr jdeint 8 
geboten, auf ein Bud) hinzuwveifen, daß, obgleich e8 die Form einer 
furzen Ueberficht hat, dod) der Beachtung und Verbreitung durchaus 
werth ift. Es ift dag Mar Koh’3 Gefhidhte der deutjhen 
Litteratur. Der Verfaffer, Profeffor an der Univerfität zu 
Breslau, hat e8 verftanden, die Mafje der neneren Forfchungsrefultate 
in einem Heinen Raume zufammenzudrängen und giebt in einem 
kurzen Sage, oft nur in einem Worte, die Ergebnijfe umfaffender 
gelehrter Unterfuchungen. Bejonders werthvoll ift dadurd) der die 
ältere Literatur behandelnde Theil des Buches, aber aud) für die 
fpäteren Perioden find alle wic)tigeren litterärzhiftorifchen Arbeiten 
verwerthet. Daß durch das Streben, möglicjft viel Stoff in die 
einzelnen Säge hineinzubrängen, bisweilen Schwerfälligfeit und 


1) Etutigart. 6. I. Göfchen’fche Verlagshandlung. Gefepentausg. 3 Mr. 


Litterärifche Umschau. 95 


Schwerverftändlichteit entfteht, ift bei der Ausführung einer Aufgabe, 
wie die hier gejtellte, faum zu vermeiden. Auch in den Urtheilen 
über manche neuere Dichter wird man vielfach anderer Meinung 
fein als Koch. Am wenigften Tonnen wir ung mit feiner überz 
Ichwänglichen Bewunderung der Mufifdramen Richard Wagner’s, 
in denen er gleichfam den Gipfel und Abfchluß der neueren beutjchen 
Litteratur fieht, einverftanden erklären; wenn wir aud zugeben, 
daß fie weit über ben andern Operntegten ftehen, jo fünnen fie, 
rein ald Werte der Voefie betrachtet, dod) auf feinen hohen bic)« 
terifchen Werth Anfpruc) madjen. Zu dem modernen Naturalismus. 
nimmt Koch) eine abrvartende, wem auch nicht jehr günftige Stellung 
ein; hier wäre ein entfchiedenes Verwerfungsurtheil am Plage 
gewejen. Kod’s Litteraturgefdjichte Tann Allen, bie fid) mit dem 
gegenwärtigen Stande der Forfchung bekannt machen wollen, warır 
empfohlen werden und aud) derjenige, der mit dem Entwicelungs- 
gange der deutjhen Litteratur vertraut ift, wird das Buch nicht 
ohne Nugen und Velehrung zur Haud nehmen. 

Dit der neneften Litteratur bejchüftigt fid) eine beachtenäwertge 
Schrift von Siegmar Schulte: Der Beitgeift ber 
modernen Litteratur Europas. Einige Kapitel zur ver- 
gleichenden Litteraturgefchichte.)) ES werden darin die Haupt» 
richtungen ber mobernen Litteratur und ihre Vertreter in Franfs 
reich, Rußland und Skandinavien behandelt, während Deutjchland 
einer fpätern Veröffentlichung vorbehalten bleibt. Ju einem ein- 
leitenden Kapitel fpricht fich der Werfajfer über den Buftand des 
Beiftesfebend in der Gegenwart aus und gelangt dabei zu einem 
trofilojen Nefultat; er findet, daB die Menfchheit fi in einer 
Periode des Niederganges befinde und dem Abgrunde ber Barbaret 
fi nähere, da überall Zeichen tiefer Entartung fi) kundtgun. 
Dean könne fic) Leinen größeren Gontraft benfen, fagt er, ala ben 
zwifchen der hoffnungsfreudigen, den höcjiten Zielen zugewandten 
idealen Stimung der Geifter am Ende de3 vorigen Jahrhunderts 
amd der pefjimijtifchen, an jedem höheren Biele der Meenichheit 
verzweifelnden, jteptifchen und materialiftifchen Geiftesrihtung am 
Ende de3 gegemwärtigen. Schule fieht den Grund des geiftigen 


1) Halle a. ©. Berlay v. €. U. Anemmerer, 1 DM. 20 Pi. 


% gitterärifche Umschau. 


Niederganges unferer Beit im Verfjchwinden des Glaubens an das 
Gute und deffen endlichen Sieg in der Welt, a da8 Ewige, an 
Gott. Wir fönnen diefen Ausführungen mır vollfommen beipflichten. 
Ebenfo treffend und wahr ift, was er über das Ariom der Moder- 
nen: man mühe die Wirklichkeit darftellen, und die damit verbune 
dene neue Aefthetif jagt, forwie was er über den völligen Gegenjag 
zvifchen der Haffifhen und modernen Litteratur auseinanderfeht. 
In zwei weitern Abchnitten führt Schulge dann überzeugend au, 
wie der philofophifche Materialismus die Grundlage ber modernen 
Litteratur ift und wie fie gang und gar von den Lehren des 
Darwinismus beftimmt und beeinflußt wird. Der Menfc ift ur- 
fprüngfich Thier, das ift die Grumdvorausfegung diefer Litteratur 
und die Refte und fortwirkenden Cfemente diejer Thierheit im 
Velen und Handeln des Menfcen nachzuweifen und darzuftellen, 
betrachten die naturaliftiichen Schriftfteller als ihre eigentliche Auf- 
gabe. Nachdem der Verfafjer hierauf die Hauptvertreter de mo- 
dernen Naturalismus furz, aber treffend, meiftentheils durd) ihre 
eigenen Ausiprüche dharafterifirt Hat, geht er auf die Heilmittel 
über, welche aus ihrer eigenen Mitte gegen die fortfchreitende Ents 
artung der Menjchheit in Vorfchlag gebradjt werden. CS ift iehr 
Ichrreich und für daB tief in dem Menfchenherzen wurzelnde Ber 
dürfniß nad) einem höheren Biel, nad) einem idealen Bwede des 
Dafeins bezeichnend, daf fogar diefe modernen Naturaliften, welche 
die rüdfichtslofe Befriedigung der Begierde, die Herrichaft des 
thierifchen Zufticts al das eigentlich Menfcjliche verkiinden, do) 
genöthigt find, für das Menfchendafein irgend einen Bivet aufzu- 
fuchen. Rad) Aufführung der verfchiedenen von den Hervorragend» 
ften modernen Naturaliften proponirten Heilmittel zur Hebung der 
Menfehpeit geht Schule näher auf Niepiche's Mhilofophie der 
Geiftesariftofratie ein, in der er mit Mecht eine Reaction gegen bie 
vom Naturalismus geleugnete Jubividualitit des Menfhen fieht. 
Er hebt die Echwächen diefer Theorie treffend hervor, nrtheilt aber, 
anferes Erachtens, zu günftig über diefe nach einer anderen 
Nichtung ebenfo wie der Naturalismus verderblide, wahrhaft teuf- 
fifche moderne Weisheit Zum Schluf wird der Myfticismus als 
eine nothiwendige, aber in feiner Entartung ebenfalls frantHafte 
Reaction gegen den Naturalismus behandelt. Diefer Abjcnitt 


Litterärifche Umfehau. 97 


fordert am meiften zu Bedenken mb Einwendungen heraus. Das 
Wefen der deutjchen Romantit am Unfange diefes Jahrhunderts 
verfennt der Verfaffer vollftändig; «8 aus Fr. Schlegel’ Lucinde 
herzuleiten und zu erllären, ift ganz verfehrt. Yud) da die Haupt- 
ftätte der muyftiichen Nomantit in der erften Hälfte diejes Jahre 
Hunbert® nicht in Dentjchland, fondern in Frankreich gerveien fei, 
müfjen wir durchaus beanftanden. Endlich feheinen uns die jata« 
nifchen Poefien von Charles Baubelaire, Rollinat und anderer 
nener franzöfifcher Autoren in jede andere Rubrik eher, als in die 
des Mpfticismus zu gehören. Der refigiöfe Standpuntt des Ber- 
faffers ift ei ernfter und wohlmeinender, aber etwas verj hwonmen 
und unbeftimmt. Mit einem vagen Theismus wird man die gewaltige 
Macht desliaterialismus und Naturalismng nicht erfolgreich befümpfen, 
dazu bedarf 8 eines pofitiven, fraftvollen, gefeftigten refigiöfen 
Glaubens. Die Darftellung ift oft etwas breit und weitjchtweifig 
ab Teidet an manchen Wiederholungen. Aber die Schrift berugt 
auf forgfältigen Studien, it Lehrreidh und berührt angenehm durch 
ihre ernfte Haltung. Wir empfehlen fie angelegentfid) allen, bie 
fid) nod) nicht völlig von den Theorien und Lehren des modernen 
Naturalismus Haben berüden und umftriden Lafjen, zu aufmerkjamer 
Kectüre und ernftem Nacjdenken. 

€3 ift eine wahre Erquiclung, wenn mau, auß der miasmati- 
fen Stidfuft des modernen Naturalismns heraustretend, wieder 
einem Dichter von idealer Geiftesrihtung begegnet. Der hervor- 
tagenbfte deutfhe Humorift de Iegten Menfchenalters, Wilhelm 
Naabe, hat mod) lange nicht die verdiente Anerkennung und Wür« 
digung gefunden. Er Hat fi) in der Tangen Reihe feiner dichterie 
ichen Production, deren Zahl vielleicht zu groß ift, immer ernfter 
und immer tiefer entwicelt, Nachdem er zuerft mit Kleinen, meift 
Kiftorifchen Erzählungen, in denen ein Halb fhaftgafter, Halb ironi« 
iher Humor oft zur Erjdeinung fommt, begonnen, hat er die 
Näthjel des Lebens, die Frrgänge des Menfchenherzens, feine Ver 
f&ränftgeit und Größe in immer neuen bicjterüchen Werfen mit 
tiefem, oft je hwermithigem Humor gejehildert. In drei Vänden 
gefammelter Erzählungen) ftellt er jept feine früheren 


1) Lerlin, Berlag von Olte Iante. 


9 Litterärifche Umfchan. 


fleinen Arbeiten zufammen. Der uns vorliegende erfte Band ent 
hält mande wohlbefannte Stüce, die man aber gerne von Neuem 
Tieft. Wir heben davon drei al8 befonders anzichend umd für 
Naabe’3 Darftellung in der erften Periode feines Schaffens harafter 
xiftifch Hervor: die fehwarze Galeere, das legte Recht, aus dem 
Leben des Schulmeifterleins Michel Haas, in weld' Iehterer Nos 
velle ber Grzäßferton vom Anfange de vorigen Jahrhunderts vor- 
züglich getroffen ift. ber auch die übrigen Erzählungen des 
Bandes find des Lefens werth. Diefe furze Hindeutung auf das 
Erfcheinen bdiefer Sammlung möge die Freunde ernfter poctifcher 
Zectüre, namentlich foldhe, die Ranbe noch nicht fennen, auf fie auf« 
merkjam machen; bie ideale Tendenz und bie fittliche Reinheit find 
nicht ihr geringfter Vorzug. 

Einen ganz andern Charakter al3 diefe Erzählungen zeigt 
Raabes meueftes Werk: Die Akten des Vogeljangs.') 
Der räthfelhafte Titel beharf der Erklärung. Der Vogelfang iit 
die Tändliche Vorftadt einer Meinen Refidenz und die Akten find 
die Aufzeichnungen, welche der Oberregierungsrath, Karl Krumhardt 
über fein gemeinfames Jugendfeben mit Velten Andres und Helene 
Trogendorff im Vogelfang unmittelbar nad} dem Tode feines Jugend- 
fremdes madit. Das Buch fängt eigenthümlid) genug mit einem 
Briefe von Helene Trogendorff an den Berichterftatter an, worin 
fie ihm den Tod Veltens meldet. Dann erjt beginnt die Erzählung 
von dem Leben im Vogeljang. Die Schilderung des Bufammen- 
Tebens, der thörichten Streiche, de3 Etreited und der Wiedervers 
Fühnung von Velten und Helene find meijterhait, 8 ijt ein wahres 
Söyll, in das ums der Verfaffer Hineinverfegt. Aber and) der 
Ucbermuth, die derbe Ausdrudsweiße, die Auflehnung gegen jede 
Autorität bei den heramvadhjenden Gymmajiaften, wie der Trog 
und Eigenwille des Mädchens find vortrefflicdh aufgejaßt und mit 
bervundrungswürdiger Kunft zum Ausdrud gebradht. Wuc) die 
Eitern ber beiden Knaben, die Frau Doctorin Andres und der 
Oberfecretär Nrummharbt find wahre Prachtgeftalten; jene, eine 
Fran von dem liebevofliten Herzen und phantafiereihen Kopfe, 
allen winderlichen Einfälfen und Handlungen ihres Sohnes bereit» 


') Berlin. Derlag don Otto Jante. 


Litteräriiche Umschau. 99 


tilliges Verftändniß entgegenbringend, diefer, ein braver und wohl- 
wollender, aber allem Phantaftifchen von Grund aus abgeneigter 
Kanzleimenfch, ber fein höheres Ziel fenut, al8 feinen Sohn ftudiren 
zu laffen und dann eine höhere Stellung in der Beamtenhierardjie 
einnehmen zu fehen, als e3 ihm, dem Unftudirten, wergönnt gemefen. 
Auch der alte einfache Bürger Hartfeben, bei dem Helenens Mutter, 
eine verdrehte Dentjchamerifanerin wohnt, ift eine rechte Charakter 
figur, ebenfo die Frau Fechtmeifterin Feucht. Der eigentliche Held 
des Romans aber ift Velten Andres, defjen Weien durch di 
Göthe’ichen Werfe bezeichnet wird: Ein leicht bewegtes Herz It 
ein efend Gut Auf der wanfenden Erbe, Diefen ganz eigenartigen 
Charater Hat Raabe mit wunderbarer Kunft dargeftellt und mit 
fefter Hand bis zu Ende durchgeführt. Won früh a fug)t Velten 
durd) Celbftironifirung fein Herz zu verbeden und zu fdügen. 
AUS der reichgeworbene Vater Helenens feine Frau und Tochter 
nad) Amerika zurüctuft, da folgt er ihr fpäter, dem die Liebe zu 
ihr erfüllt fein Herz. WS fie dan doc) einen reichen Yankee 
Heirathet, fehrt Velten zu feiner Mutter zuriic. Cr fucht durd) 
Selbftverfpottung und Ironifirung aller Empfindungen Göthes der den 
angeführten Verfen voransgehenden Mahnung: „fei gefühllos“ nad)= 
zufommen, Cr verbrennt und verfehenft nach dem Tobe feiner 
Mutter allen ihren Nachlah, weil er fein Eigenthum auf Erden 
mehr haben will, Wer aber gefühllos und ohne igenthum auf 
Erden fein will, der Hat auf ihr nichts mehr zu thun, defjen Herz 
it geftorben. Und fo geht denn der Zdcafijt Velten zufegt unter, 
in feinen Tegten Stunden von Helene Trogendorff, die Witte 
geworben, gepflegt. Dieje Helene ift die unigmpathiichite Gejtalt 
im Buche. Ein jchwermüthiger, oft düfterer Humor durchzieht 
da Merk und wirkt nicht felten tief ergreifend. Die Darjiellung 
ift etvag manirirt, Wiederhofungen desfelben Ansoruds und 
mannigjache Umfchreibungen find dem Humor eigenthünfich. Es 
ift ein ernftes, tieffinniges Buch, diefe Akten des Vogelfangs, feine 
Lektüre für jugendliche, Hoffmungsfroh in die Zukunft blidende 
Gemüther. Aber Menfchen gereiften Geiftes, die das Wejen diefer 
Welt in der Schule der Erfahrung fennen gelernt haben, werden 
es mit theinehmendem Verftändniß Lefen und nicht ohne cin Gefühl 


der Wehmuth aus der Hand legen. HD. 
» 


* 
* 


100 Litterärifche Umfcau. 


Bei der Nebaltion der „Balt. Mon.“ find ferner jofgende Sepriften zur 

Veipzedjung eingegangen: 

Aroter, G., Geichichte der griedifchen Litteratur. 1. Band: die Pocfie, 
Keipsig, Fr. W. Grunon). 

Verbed, D, Der erfle Befle. Die Neuenhofer Mlude, Maria Neander. 
Drei Ergählungen. (Leipsig, Fr. W. Grunow). 

Als der Großvater die Großmutter nahm. Ein Liederbuch) 
für altmodifche Leute, Dritte vermehrte und verbefierte Aufl. (Beipsig. 
Fe. MW. Grunen). 

Siäarling Henril, Junge Helden. U fe Hjälms und Palle Löwe 
Spaten. Aus dem Dänifchen von P. I. Willapen. (Bremen, I. Heinfius 
Nachfolger). 

Genficen, ©. %, Parrhausfegen. Eine Dicptung. (Berlin, A, Dunder), 

Rirdner, Lie. Dr. Fr, Die beutjcje Nationallitteratue deB 19. Jahr 
Hunderte. (Heidelberg, Cg. Weib). 

Memoiren des Grafen Gruft von Münnic. Heraudg. von 
A. Jürgenfohn. (Stuttgart, I. ©. Gultarjche Buchhandlung, Radjolger). 

Hörihelmann, D. F. Profi Andrens Knopfen, der Reformator Rigas. 
Leipyig, U. Teicherliche Verlagebuchandlung. Georg Böhme). 








Beilage 


zur 


Baltifchen Monatsichrift. 


März 1896. 


Inhalt: Das Recht der Lords von Ningiale. Bal- 
lade von L. v. Schröder. 
Der alte Stard. Erzählung von Alerander 
Stehen. von Mengden. 
Kunftbriefe. VI Bon 3. Norden. 
Litteräriihellmidhau Xon H, D. 


Nachdrnd verboten. 























Das Necht der Lords von Kingjalct). 


Ballade von 2. v. Schröder. 


Johann de Couren, ein Nitter werth, 
Gar treu cr war feinem Herrn, 
Nein Andrer jchwang fo gewaltig das Schwert, 
Nein Andrer fchmang 8 fo gern. 
„Dem König Richard gehört mein Arm, 
Dem Löwenberzen mein Blut! 
Für König Nichard der Feinde Schwarm 
geriprengte er uftig und gut. 
Doch als Aönig Nichard fant dahin 
Und Here ward König Johann, 
Der fihlug in Yanden mit argem Si 
Nönig Richards treueften Man. 
‚Meinen Bruder Richard du ichteft jehr, 
Mit ihm wur wollteft du zichn! 
Xah mi 
Jam Turm nun traue um ihm. 
Zu Werd, du Ahörichter Könt 
Jet Halte den Franfen Stand! 
Zu ftreiten rüden fie driuend heran 
Um das fdöne Normannenland. 
„Meinen beiten Nitter fen’ id Dir —" 
Der Franfen König entbeut — 
„Stell Deinen bejten, fie Kmpfen hier, 
Entjepieden jei 05 noch) heut!” 

















9 feiern mn Schwert und Speer, 





Fohann, 











*) An diejes berühmte Necht, Das jich jeit vielen Jahrhunderten fchon 
in der Kamilie der Aingfales fortgeerbt hat, wurden wir vor einigen Monaten 
erinnert, als die Runde vom Tode eines Yord Aingfale dur) alle Zeit 





104 


Johann, du thörichter König Johann, 
Wie Hei die Heu’ Dir erwacht! 

Du Haft Deinen beiten Kittersmann 
Geworfen in Kerfers Nacht. 

Der Nönig podht an des Nerfers Thor: 
„Mich reuet, was ic, geihan! 

Tu guter Ritter, tritt eilig hervor, 
3u fehten für uns auf dem Man!“ 

Johann de Conrey, ein Nitter gut, 
Tas Wort cr fhweigend gewährt, 

Er jept auf's Daupt fi den Eifenhut, 
Er fcwingt fich gerüftet aufs Pierd. 

Er wirft den fränfifchen Nittersmann 
Gewaltigen Schnwungs in den Sant 
„Kür Did, mein König, ich bier gewann 
Das jcöne Rormannenland!” 

„Nimm, edler Kitter, nimm Tanf und Lohn 
Und fordee, was Dir gefällt! 

Was bieten ich fan von Englands Ihren, 
Es fei Dir gewähret, Du Gelb!” 

0 fei mir gemährt, vor Englands Herrn 
zu ftchn mit bedestten Haupt, 

Und Söhnen und Enteln in weitefter Feen’ 
Sci nimmer das Vorredht geraubt.“ 














„Nimm bin die Gnade für ewige Zeit, 
Aür Söhne and Entel, nimm Gin! 
Sie zeuge, daS berrlichite Ehrentleid, 
Von dem herrlichften Niterfinn." 

„And wer die Strone von England trägt, 
Sei ftolz auf Dich und Dein Ned, 
Und Lafs c$ auc, dauern umentwegt 
Fortab vom Gefchlecht zu Geicpledh." 


ee 














der alte Stark. 


Erzählung von Alerander reiferen von Mengden. 





Il 


Id) verbrachte meine Sommerferien im elterlichen Haufe in 
ber Hafenjtadt N., die zu jener Zeit mod) ein idylliiches Nejt war 
und nur wenig an den jtolzen Handelsplag gemahnte, zu dem fie 
fi mittlerweile ausgemwadjien hat. Id war zwanzig Jahre alt 
und Student. 

Die Kommilitonen weilten jest größtentheils fern und ganz 
feife nur fchlug das Braufen der Welt an die Thore der Jugend» 
ftadt. Eigentlihe Langeweile aber verjpürte ih nie. Id ging 
den Hafen hinab bis an die Mofen, wo an deren jteinernem Fu 
in der frifchen Salzluft tie Wogen des heimathlichen Meeres bran- 
beten, ich jagte im Stadtwalde nad) Wildtauben oder am Strande 
nad) Möven oder auch: id) fchlenderte gemädhlich durd) die Gafjen 
und Gäßgen der guten Stadt, die friedlih und traulich mit ihren 
Mauern und Gärten aus dem Grün unzähliger Yinden emporwud)s, 
und liebäugelte verjtohlen mit dem Farbenbande an meiner Bruft. 

So that id) aud) an jenem fhönen Juninadmittage, der mich 
mit dem alten Start zufammenführte. m der jonnigen Schwüle, 
die über der Stadt ausgebreitet lag, fah ih im fpärlichen Schatten 
der gegenüberliegenden Häuferzeile eine fleine vornübergebeugte 
Geitalt die Strafe abwärts eilen. Die ungleichen, vuetweilen Schritte, 
die fahrigen Bewegungen der furgen Arme, das Cigenthümtiche 

ir 


106 Der alte Stard. 


der ganzen Erfcheinung: das fonnte niemand anders als der alte 
Start jein. 

Ich eilte hinüber und ihm nad. 

Der Alte jehritt rüftig aus, den Nopf zur Erde geienft, in 
der Rechten einen fehveren fAhwaryen Nnotenjtot, den er bei jedem 
Schrüte wuchtig und Elappernd auf das Mlafter ftich. Wie ich 
näher heranfam, bemerkte ich, daß; der duntele langichöhige Not, 
den er Irug, an den Näthen glänzte und die pumpen Stiefel an 







feinen Fühen geflict waren. Das war auch früher j—hon fo geweien. 
„ser Stard!“, vief ic, „Herr Stand!” 





Er hielt inne und wandte fih um, den Kopf feitwärts ge: 
Tehet, wie neugierig und eritaunt, daß ihn jemand anrede. 

Ein befonderer, merfwürdiger Nopf mit einem weitläufigen, 
gelbfic bleihen, von unzähligen Fälthen bedertten Geficht, aus 
dem unter hoher Stien Heine, trübe Augen ehvas mihlranifch mid) 
anblicten. Dann aber, wie ich meinen Namen nannte, leuchtete 
cs in den Aenglein auf, pfiffig freundlich und wehmüthig: ver- 
müglich und über dem breiten Laden, weldeo den borftigen 
pnurrbart in die Höhe hob, verfhwanden fie fait ganz unter den 
Falten der Liber. 

„Sie, junger Here!“, ftieh er mit ftarfer, vollender Stimme 
hervor, welche einzeine Confonanten befonders auffällig betonte, und 
drüdte mir herzlich die Hand: „Aus Dorpat zurüd, was? und «6 
geht gut?" Er wies fchlau lädhelnd auf meine bunte Mübe. „Na 
was frage ich! wenn man die friich auf dem Nopfe hat, Fann es 
einem nicht fehlen!” 

Seine Wenglein bligten ımd er fodt mit dem Stod auf- 
geregt umher. 

„Wahrhaftig nicht!” wiederholte er. „Schen Sie, junger 
Her, es find an die fünfundvierzig Jahre her und doch ift cs mir, 
als wäre cs erjt geftern, wie der Fernando Tften, mein liebiter 
Freund — Gott habe ihn felig! — auf mich zutritt und die Freude 
leuchtet ihm von feinem braven Geficht und er drüdt mir von 
hinten her ganz fachte und verftohlen etwas auf den Kopf. Nun 
ic) merfte ja gleich, daß; es der neue Dedel war. Na, und was 
da folgte, der Zug in die Kneipe, und die Glücwünfhe der andern, 
und von dort ins Weihe Hof... ." 











Der alte Stard: 107 


Der Alte Hatte fhmell und eifrig geipradien, jegt erloih der 
Glanz in feinen Yugen, er ichwieg und fait bejhämt jenfte er den 
Bid zur Erde. 

„Verzeihen Sie, daß id) Sie mit alten Geidichten be- 
täjtige,“ fagte er dann, mit einem eigenen, wehmüthigen Lächeln. 
Er reichte mir die Hand: „IK muß gehn.“ Etwas wie Mitleid 
regte fid in mir. Id mochte mich nody nicht von ihm trennen. 
Kangjam gingen wir die Strafen hinab, bie mir vor einem un 
anfehnlichen Haufe, deifen Thür zwei uralte Linden bejchatteten, 
jtehen blieben. Ich fannte es wohl, denn im Erdgeichof lag die 
Törnerfche Eonditorei, in der ich zuweilen voriprad. „Hier wohne 
ich“, jagte mein Begleiter und deutete mit dem Mnotenjtoc zum 
zweiten Stodwerf hinauf, wo am Biebel ein bejcheidenes Feniterchen 
fihtbar war. 

Wir Hommen die dunkle Treppe empor, die nur von der 
Vodenfufe Her einen jEhwachen Schimmer von Yicht empfing. Der 
Treppe gegenüber lag eine Thür. Während der alte Star 
auf die Zehen Hob, um auf dem Gefimje nach dem Schliff 
taften, ertönte von innen ein Inutes freudiges Gebell. „Leda”, 
vief der Alte, und etwas Warmes, Jnniges legte fid) in den Ton 
diejes Wortes. 

Wie er öffnete, jprang uns an der Schwelle eine body 
beinige gelbgeffecte Hühnerhümdin ftürmifc) entgegen amd an dem 
alten Stard empor, dejen Geficht und Hände fie winfelnd zu feden 
fughte. „Nujd) Dich, Lada, Fujch Did,” wehrte diefer die Lieb 
fofungen mit liebevoller Strenge ab, „was joll der fremde Herr 
von Dir denken!" Das Thier gehorchte, wandte fid) mir zu und 
Inurrte leife und mihtrauid). 

Id) fhaute mich um. Ein fleines, halbleeres Gemad, dns 
von Verwahrlofung iprad) und in dem wohl nur jelten ordentlich 
aufgeräumt wurde. Die Fenfter Halb erblindet, Wände und Dede, 
die urfprünglid) weih getündht waren, jegt grau und brödelnd. Ju 
der Eife ein j—hmales tannenes Bett, einige Stwohftühle, ein voher 
Tifch, auf melden Daffen von Papier, weißer und farbiger Pappe 
und verjchiedene VBuchbinderwerkjeuge ansgebreitet lagen, daneben 
ein bürftiges Geftell mit Büchern und Zolianten in brammen falbs- 
levdernen Einbänden, — Ueberrejte einer Jamilienbibfiothef wie 











108 Der alte Stard. 


6 Ichien. Das war die ganze Einrichtung. Ober dod) nicht, denn 
über dem Bett war ein Nehfell gelpannt, von weldem herab an 
Nägeln ein alter, aber gut gehaltener Vorberlader und daneben, 
fich freugend, ein verrofteter Schläger mit großem farbigem Norbe 
und eine Furze Pfeife mit angeräuchertem Kopf hingen. Die 
Strömung bildete eine altmodijhe Studentenmüge von jener breit: 
ichirmigen und maifigen Form, wie fie vor fünfzig Jahren in Dorpat 
beliebt war. hr uriprünglides Grün hatte das Alter bis zu 
einem lichten Gelb verwittert, und die Nundung war von un- 
zähligen Landesvätern zerfegt. Wie etwas Ehrwürdiges grühte fie 
von ihrer Höhe in den öden unmwirthlihen Raum. 

Der Alte war meinen Bliden gefolgt, nun lachte er mit 
jeinem bejonderen, gutmüthigen, fajt findlichen Laden; „Etwas öde, 
nicht? Doc) jo wie Sie's hier jehn, wohne ich jdon fo mandes 
Jah, ic) mit meiner Lada. Nm, nnd man gewöhnt fich chlicklid) 
md danft Gott, da; ein Unterichlupf für uns da ft.“ Gr jprad) 
nicht Hagend, nicht unzufrieden oder verbittert, fondern jo, als ob 
fi) alles von felbjt verfiände. „Und dann,“ fuhr er fort, „aud) 
unten habe ich viel zu danken, er giebt mir das 
ia halb umfonft. Ein braver Mann, Gott vergelte 
es ihm. Mit dem Pappen und Kleijtern da,” er wies auf den 
Ti) — „Lüme ich nicht weit.” 

„Ein wenig Grün Habe id) hier auch“, begann er nad) einer 
fleinen Paufe wieder und trat an das Fenfter, von dem jid ein 
freundlicher Ausblid auf den von Yinden und Objtbäumen bein 
denen Hausgarten bot. „Ich freue mid) täglich dran und Nadı- 
mittags Ichleicht fid) wohl aud) ein Sonnenftrahl in meinen Winkel. 
Das ja hübjdh, obwohl . obwohl nur ein Schwacher Erjat 
für einen, für den cs nichts Schöneres gab, als in Wald und 
Vujc umherzuftreifen.“ Er feufzte leife. 

„Zie waren Jäger?” fragte ich theilnehmend. 

„Das wollte id) meinen, Herr.” Die Stimme des 
Alten nahm einen energiichen Nlang an, der das „r“ dumpf vollen 
lief. „Und ein richtiger Jäger, denfe id." Cr deutete auf das 
Gewehr an der Wand. „Wo md wohinterher find wir Beide 
nicht gewejen? Die Yeda freilich, es ift fhade um das junge Thier! 

















Der alte Stard. 109 


Ich jage fait garnicht mehr, cs ws fo wenig zu Idiehen hier, 
und dann — man wird alt . 

Er Hlopfte der Hündin, deren Augen auf ihren Herrn gerichtet 
waren, leife und bedauernd den ichönen Kopf. Cs fiel mir auf, 
mie ungepflegt und mager das Thier war, aus dem bürren Leibe 
fahen die Rippen deutlich hervor. md dann dachte id), wie jo 
gut die beiden, Herr und Hund, zufammenpaßten, dem Aeußern 
fowohl als dem Weien und dem erftaunlichen Daafe gegenfeitigen 
Verftändniffes nach, das fie für einander an den Tag legten, ja, 
wie fie fih, fo zu fagen, ähnlid) jahen. 

„Sehen Sie, die Yeda hat einen Stammbaum, um den fie 
mandjes Rennpferd beneiden würde,” nahm der Alte das Geipräd) 
wieder auf, „io leicht und mühelos Läht fih ihr Uriprung ver: 
folgen viele Generationen Hindurd. Den Urgrofvater, Ponto hiel; 
ex, Habe id) nod) jelbit in Dorpat beieifen.” 

„Wie lange ift das her, Herr Star?” fragte ich erjtaunt. 

„D, an bie fünfundzwanzig Jahre.“ 

Id) rechnete in Gedanfen nad). Xor fünfundvierzig Jahren 
war er auf die Univerfität gefommen und vor fünfundzwanzig 
befand er fi noch immer dort. Eine hübfche Zeit. Wljo gegen 
zwanzig Jahr muhte er ftubirt Haben. - 

„Und num erzählen Sie mir etwas aus dem alten Dorpat,“ 
unterbradh mid; Start in meinem Gedanfengang. In feiner 
Stimme lag eine jehnfüdhtige, erwartungsvolle Wärme. Er z0g 
mich auf einen Stuhl nieder und fegte fi) dicht neben mich auf 
den anderen und zugleid) legten im Zimmer. 

Gerne folgte ich jeiner Aufforderung und während id) die 
Schleufen meiner jugendlichen Verediamfeit öffnete, hingen die Blide 
des Alten gefpannt an meinen Lippen und in feinen Augen mar ein 
eigenes Sprühn und Leuchten, wie von mühfam unterdrüctter freudiger 
Aufregung. Nie Hatte id) einen danfbareren Zuhörer gehabt. Yeim 
Abichiede drüdte er mir warm die Hand, und in feinen Augen 
fcjimmerte es feucht. „Id danfe Ihnen, id) höre fo gern etwas 
vom alten Dorpat!* 

I. 

Es war nicht gerade Günftiges und Ermunterndes, was ich 

inzwiiden über den alten Start erfubr, daß er trog jeiner grauen 


110 Der alte Ztard. 


Haare nur ein verbummelter Student, da man nicht wille, wos 
von er lebe, dai er in fehledhter Gefellichaft verkehrte, gern trinke 
und eine gänzlid iolirte Stellung einnehme. Ich mochte nicht 
daran glauben, eö fchien mir gehäffig oder dod) übertrieben. Und 
wenn die MDienjchen auch hie und da Recht hatten, was Fünmerte 
85 mich? Lachend überiprang id) im Gefühle meiner jtudentiichen 
Sowverainität die Schranken, welche man zwifhen iym und mir 
aufrichten wollte, und id) war feitdem ein häufiger und gern 
geiehener Gajt in der Törnerichen Dadıitube. 

Gerne entfinne id) mid) der jtillen und gemüthlichen Stunden, 
die ich in der Gejellichaft des alten Start zubradhte, und der 
Unterihied in unferen Jahren that der Cigenartigkeit unjeres 
Verfeprs in meinen Augen nicht allein feinen Abbruch, fondern 
fügte ihm auch einen bejonderen Neiz hinzu. Der Hau) eines 
gewilfen weltfremden Vehagens jchien von den verräudherten 
Wänden der vergeffenen Vodenklauje auszugehen, wenn wir 
friedlid) dort oben bei einander jahen, während Leda, die mic, 
längit nicht mehr anfnurete, zu unjeren Fühen jchlief. Dann 
flebte und pappte der Alte an feinen (hen und Kartons, meine 
Blicke folgten den Bewegungen feiner Hände und id) überlich 
mid) dem feichten Geplauder über irgend welde gleichgültige 
Dinge, in das mein Wirth nur Hin und wieder furze Be: 
merfungen mifchte. Er war überhaupt wortfarg und zurückhaltend, 
der alte Stark, nur wenn die Nede auf Dorpat Fam, wid) jein 
einfilbiges Wejen erfreulichen Beredjamteit, dann veränderte 
fich fein ganzes Wefen und mit bligenden Aeuglein und jchallender 
Stimme begann er von jeinen eigenen Yurfchenjahren zu berichten, 
anichaufich, Iebendig, oft mit bem eindringlichen Humor wehmüthiger 
Selbjiironie. Merkwürdig mur, dab fein ganzes Fühlen, Denfen 
und Erinnern jo ausjchliehlid) in der alten Wiufenftadt zu wurzeln 
und fid in ihr zu vereinigen fhien, während er feiner perjönlichen 
Schidjale und der Creigniffe feines eigentfihen Manneslebens 
faum anders als mil einem flüchtigen Worte gedachte. 

Mir war cs Längjt fein Geheimni mehr, in welden Ver: 
hältniffen der alte Star lebte, daf er oft Hungerte md darbte 
und mit feiner Hände Arbeit kaum das Nothenbigite erübrigte. 
Andrerjeits begann id) die Erzählungen der Yeute über feinen 




















Der alte Stard. 111 


Lebenowandel für eitel Nlatfh zu halten. Der alte Viann friftete 
ein völlig jtilles und zurüdgegogenes Dajein, er verkehrte fait 
mit Niemandem und trinken hatte id) ihn nie geiehn. Man that 
ihm Unrecht, gewiß: er war nur arm, einfam und glülos. 

As man num vollends von verichiedener Seite über meinen 
Verfehr mit dem Alten zu fticheln begann, trat ih mit Wärme 
für den Angegriffenen ein und fertigte die Spötter energiich ab. 

So fühlte id) mid) allmählich) in eine Vejhügerrolle hinein: 
gedrängt, die meiner jugendlichen Eitelfeit wol gefiel und zu ber 
mic) das Jntereife, das id an meinem neuen Velannten 
nahm, auch zu befähigen jchien. So viel in meinen Kräften 
itand, juchte ih cs aud) practiich zu bethätigen. Ich verichaifte 
dem alten anne in einem befreundeten Haufe einige nothdürftig 
bejoldete Aushülfejtunden, ich vermittelte mit Hülfe eines Kommi- 
litonen, deiien Vater Kaufmann in der Stadt war, den flotteren 
Abjag jeiner Papparbeiten und fo mande Gigarre aus dem väter: 
lichen Vorrat fand in der Törnerichen Dachitube Ziel und Zwed 
ihrer Bejtimmung. 











I. 


Eines Nachmittags jahen wir wieder nad alter Art bei: 
jammen. Ein Somnenjtrahl war durd) das Feniter geglitten und 
funtetnd auf dem alten Schläger haften geblieben, defien Klinge 
er in jlühfiges Silber tauchte. In der bejonderen Beleuchtung 
erregte die Waffe meine Aufmerfiamteit. Jh nahm fie vom 
Nagel und betrachtete fie jorgfältig. Die vojtige, nur nod) Idwad) 
in den Nieten Haltende Ninge aus bejtem Stahl war ungemein 
breit md an ihrem oberen Theil mit fdönen Damascirungen 
bedeit, der Korb unbequem und von altmodiidher Zorn, das 
Ganze auffallend fehwer -- eine fogenannte Plempe. 

„Führten Sie zu Ihrer Zeit immer jo wuchtige Waifen?” 
forfchte id) umd lieh den feife ächpenden Schläger durch die Yuft 
faujen. 

Der alte Start jchaute von jeinen Näftden und Kartons 
auf und nidte zerfireut. Dann trat ex jdmell Hinzu, nahm mir 
die Waffe aus der Hand, befichtigte fie, pußte an der inge und 
Ying fie vorfichtig an ihren gewohnten Pag. Doch fehrte er 


112 Der alte Stard. 


nicht zu feiner Arbeit zurüd, mit gejenftem Saupte blieb er vor 
mir jtehn und feine Lippen murmelten etwas. „Bald vierzig 
Jahre!” vernahm ich undeutlich, „und faft hätte id; cs vergeffen.” 
Ein Ausprud fummervollen Vorwiurjs fat auf feinem Antlige 
hervor und er fhüttelte den Kopf. Dann erinnerte er fid) meiner 
und fdhredte auf. 

„Entijuldigen Sie,” fagte er leile, „id werde Ihnen 
jeltjam vorgefommen fein. Die da oben ijt Fernando's Klinge, 
Fernando Tftens, Sie haben ja durd) mich von ihm gehört. Nun, 
mit jener Waffe in der Hand ift er gefallen. Wer Hätte das 
denfen önnen: er, der beite Schläger des alten Dorpat, gegen 
einen täppiihen Wilden! Freilich, tolltühn war der Fernando 
immer and an jenem Tage einfad) unfinnig. &s war, als ob er 
die Gefahr herausforderte, wie bie Hape mit der Maus fpielte 
er mit dem Gegner. Parirte fajt garnicht, fing die Hiebe mit 
dem Helme auf oder Lich fie burchpfeifen. Nun, und der andere — 
man fan ihm das nicht verübeln — wird fuchswild, aud) fürd)tet 
er für feine eigene Haut und das mit Recht. So haut er drauf 
108, daß die Funken fticben, einerlei wohin, immer trah! trad! 
tradh! Und da mit einem Mal jaujt es herein, mit der ganzen 
Breite der Klinge jauft e8 herein — und dann ein unheimlices 
Ziichen, ein Pfeiffen, — nur mit Mühe fange id) einen zweiten 
wüthenden Hieb auf, denn ich natürlich fetundirte dem Fernando. 
Aber er Hatte jhon am erften genug. Er taumelt, ftürzt, wir 
fangen ihm anf, fdhleppen ihm ans Fenfter auf die Yanf. Der 
Slider aud) gleich heran und ihn unterfucht. ‚Furctbare Blutung! 
Lungenhieb, tödliche Abfuhr, meint der Arzt, wie er bie jer- 
fchnittene Ader unterbindet und den Verband anlegt, ‚hledhte 
Ausfihten!” Und nun zurüd mit dem jlerbenden Freunde auf 
dem ftohenden Wagen, adt Wert zurücd in die Stadt! DO, die 
Fahrt, id) vergeffe fie nie! Wie wir unfer Quartier endlich 
erreicht haben und ihn ganz fachte, jachte die Treppe Herauf tragen, 
da Löft fi) der Verband und das Blut flieht aufs Neue, jtärfer, 
ftärfer, im Vogen, wie eine Fontaine jprigt cs heraus! Diesmal 
half feine Nadel und fein Lappen. Noch in der Nacht jtarb er 
in meinen Armen, mein armer Fernando, mein....“ Er voll: 
endete nicht, fondern trat an fein Vett und zog umter dem Kopf 





Der alte Stard. 113 


fiien ein einfaches dunkles Lederpolfter hervor. „Zehn Sie, auf 
biejes Kiffen hatten wir jein Haupt gebettet, da er veridied. 
Die dunfeln Fleden hier und dort find Vlutstropfen aus feiner 
Todeswunde. Die Zeit hat fie nicht fülgen fönnen, ebenfowenig 
wie der Tod unfere Freumdichaft. Die Klinge da und jenes 
Kiffen hier. nahm id) aus Fernando's Dinterlaifenidaft an mich. 
Seit Jahren ruhe ich darauf und,“ feste er mit flüfterndem Tone 
binzu, „id närriicher Nerl bilde mir ein, ba; der Kappen Leder 
die Gemeinichaft zwiihen uns aufrecht erhält...“ 
„Zie haben viel an ihm verloren?“ fragte 
tert und mit dem Gefühle, etwas recht Git 
Selbftverftändliches, gefragt zu haben. 

Er Hob die Augen und ah mich halb eritaunt, halb ver- 
ftändnißlos von der Seite an. „Verloren, viel verloren, meinen 
Die? D, ja! Einen guten Theil meines Selbit, und id habe 
66 nie wiebergefunden.” 

Er rad) jäh ab md begab fd mit unfiheren Schritten 
an feinen Tifdh zurüd, wo er laut und übereifrig zu hantiren 
begann — — 


id, innerlich, 
ältiges, weil 






* 
* * 


Wie id), in Gadanfen verfunfen, die enge bimkle Treppe 
niederftieg, jah ic am Eingang der Gonditorei Tüörner jtehn, der 
fich etwas in der Thür zu ihaffen machte. Cr war ein jtattlicher, 
bübicher Mann mit gellen Augen, roten Wangen und ftroh- 
blondem Schnurrbart. 

„Ab, Sreundicaft mit bem alten Start geichlofien!” begrüßte 
er mich in feiner munteren Weife, welhe Worte und Säge Enapp 
und lärmend hervorjtieh. „Habe Sie oft nad) oben gehen jehn. 
Sich amüfirt mit dem närrifchen Naup, mas? Jhr Gaudium 
gehabt mit dem alten Stnaben?” 

Es ärgerte mid. „Ic wühte nicht, was Ihnen das Nedht 
giebt, in diefem Tone über Herrn Start zu reden,“ braufte ich auf. 

Törner jcien etwas verdugt, lieh fid) aber nicht aus der 
Fafung bringen. 

„D, nichts krumm nehmen,“ meinte er freundlich, „nicht 
ungemüthlich werden. Werden mir dad) erlauben, nach meinem 
alten Miether zu fragen oder was man fo Wiether nennt, ha ha! 


114 Der alte Stard. 


Hat jest freilich feine jolide Zeit, wird bann traurig und bas 
jtedt an. Sollten ihm aber jehn, wenn der Nojenfeld da ift und 
ihm auf die Beine Hilft,“ und er machte die Bewegung des 
Trinfens. 

Ic) jah mir den Dann genauer an. Aus feinen offenen 
Augen jprach unverfennbares Wohlwollen und id) hatte Beweiie, 
dab er co mit dem alten Einjiedfer oben gut meinte. Zugleich fiel 
mir ein, was man in der Stadt über Star redete und dah der 
reichgewordene Tifhlermeifter und jegige Viöbelfabrifant Nojenfeld 
grade nicht zur beiten Gefellihaft zählte. in höchft unangenehmes 
Gefühl überfam mich und ic) empfand die Neigung zu wider: 
jprechen. 

„Das ann nicht fein,” entgegnete id, „ic weih genau, 
Herr Star trinkt nicht. Es jei denn,“ fügte ich emas umficer 
hinzu, „daß man befondere Stünfte anwendet, um = 

Törner lachte grade heraus. „Nünjtel Der kommt immer 
freiwillig. Abwarten. Na, adieu!” md mit minterem Gruß 
verichwand er in ber zur Gonditorei führenden Thür. 








Iv. 

Einige Tage ipäter fand ic) den alten Star am Arbeits 
tüc, wie er voth und erregt mit einem groben Bleiftift auf der 
rauhen Platte vedjnete. Bei meinen Eintritt jprang er auf und 
jeigte mir ein aufgeräumtes, ja ftrahlendes Gefiht. Der borjtige 
Schnurrbart war fühn in die Höhe geitrichen, die Lippen j—hmun 
gelten und in der Haltung der fleinen Geftalt lag etwas 
Freies und Friidhes, wie id) cs bisher an ihr nad) nicht wahrge 
nommen hatte. 

„Sin Slüdstag!” begrüßte er mich mit fejten Dandichlage 
md jenes findlihe Yächeln, das mid) immer rührte, flog über 
die verrungelten Züge. „Denen Sie Sich, ih bin heute ein 
reicher Mann.” Cr deutete auf die Brufttaiche. „Vaare breihig 
Nubel jteden drin, viel gutes fdönes Geld, Der Schmehmann 
auf dem Markt hat mir für die Näftchen und Kartons jehr gute 
Preife gezahlt; eo jei große Nachfrnge,“ meinte er. „Und dann 
iit and) das Monatohonorar für die griediichen Stunden einge 
floffen, alles an einem Tage!” 

















Der alte Stard. 115 


Er jtürmte im Zimmer Hin und her, blieb dann vor mir 
ftehn und blinzelte mich lütig an. „Da habe ich mun gerechnet 
und geredinet, wie ich das viele Geld am beften eintheile. Ich 
habe Schulden. Da ift der Törner unten, der auf Miete und 
Noftgeld wartet; nun mit dem mache id) es jpäter ab, — und 
Schuhter und Wäfcherin und nod) mancher andere.” Er iprad) 
aeihäftig und athemlos, als wäre ihm ein umerwartetes Glüd 
widerfahren und er wille fih mun damit noch nicht abzufinden. 
Dann griff er hajtig nad) Müge und Anotenftud. „Sie verzeißn, 
doch ich muß gleich bezahlen gehn. Das nimmt Zeit und feine 
Schulden fann man nie früh genug (os werden. Na, ja, Led," 
fprad) er auf den Hund ein, der Eugen Auges zu ihm emporiah, 
„matürfich fällt heute auch für uns was ab, wollen uns einen 
guten Tag macjen. Komm nur, komm, mein Thier.“ 

Mit fait jugendlicher Gelenfigfeit eilte er die Treppe Hinab. 
Draußen verabichiedeten wir uns und theilnahmvoll icaute ich 
ihm nad. Das Haupt fait fühn erhoben, mit Hirrendem Nnoten- 
jtod und weitausgreifendem Schritte, die treue Leda an der Seite, 
9 der fleine Dann dahin, wie ein Feldherr, der in einen 
greichen Kampf jchreitet. Wie viel Aindfiches und Naives, wie 
viel Ehrliches und Zuverläffiges lag in diefem Weien! Wieder 
war id) geneigt, Törner und den anderen nicht zu glauben — -- 














V 

Die Ferien gingen ihrem Ende entgegen. Won einem Aus: 
flüge zu Verwandten zurüctgefehrt, gedachte ich nur meinen Noffer 
zu paden oder vielmehr von forglicen Mutterhänden paden zu 
fajien und wiederum dem Quell der Wiflenichaft zuzueilen, den 
id) bisher nur ganz aus der Ferne hatte jprudeln hören. Ich 
ftattete meine Abichiedobefuhe ab und vergaß natürlich meinen 
alten Freund und Schügling nicht. Co befrembdele mic, dah ich 
ihn nicht zu Haufe fand, obwohl er um die Mittagsitunde jonjt 
nicht auszugehen pflegte. 

Am Abend befuchte mich der Kommilitone, mit dem ich die 
Neife nady Dorpat antreten wollte und wir famen überein, bei 
Törner eine Partie Villard zu ipielen. Das Billardzimmer lag 
fints vom Buffet, an das fi ein paar Speife und Lejeräunme 


116 Der alte Stard. 


ichloiien. Qon dort her ericoll bei unierem Cintritt durd) die 
halbofiene Thür Inuteo Gelächter, Gläferklang und wirreo Durd) 
einanderreden. Es ging dort offenbar hod) her. Törner, der 
feine Gäfte immer jelbft bediente, lief mit Gläfern, Zlajhen und 
Tellern ab und zu. 

Während wir unfere Partie fpielten, fcien drüben die 
Fröhlichfeit zu wachien. Cine Vermuthung jtieg plöglid in mir 
auf. Ic) fragte Törner, der am Buffet Grog bereitete, nad ber 
Iuftigen Gefellichaft. 

Törner fchmungelte unter feinem gelben Schnurrbart. „Der 
Nofenfeld und feine Bande,” jagte er vergnügt und in einem 
Tone, als ob fid das von felbjt veritände. „Da geht es immer 
fidel zu.” Er goß Cognac in die dampfenden Släfer und meinte 
mit einem faumigen Seitenblid: „So treiben fie's chen feit 
vorgeftern. Mein alter Miether it einer der Luftigiten.” 

Ic fchaute ihn ungläubig an. 

„Warum follte er nicht!” meinte Törner pfiffig. „Sagte 
ich's Ihnen nicht?” Cr Hordhte auf und legte den Finger auf die 
Lippen. „Hören Sie nur, da erzählt er eben eine Gejchichte.” 

Vom Buffet aus lich fi, da die Thür grade geöffnet war, 
die im Nebenzimmer verfammelte Gefellihaft deutlich, überihaun. 
Id) traute meinen Augen faum. In der hell erfeuchteten Stube 
an dem mit zahlreiden Flaichen und Gläfern beiegten Tiiche, fahi 
der alte Stard, die Arme aufgeftügt, die Yeine bequem von fid) 
geftredt, eine Cigarre im Vlundwinkel, inmitten einer ihm eifrig 
laufenden und lärmend zuidanenden Nunde und feine tiefe 
rollende Stimme tönte vernehmbar zu mir herüber. 

„Ufo wie id) Shnen jagte, Her..x..m. Ich fie da 
in meiner Sneipe. Vornehm jah ich nie aus...“ 

„Nicht zu beiheiden, Starchen,” mahnte fein Nebenmann, 
ihm vertraulich mit der fetten, beringten Hand auf die Schulter 
Hlopfend. Ic) erfannte Nofenfeld. Sein vothes gedunienes 
Schlummergeficht erglänzte wie der Vollmond und unter der 
goldenen Brille hervor, die ihm ein grotesf:gelehrtes Anfchn ver- 
fieh, fahn ein paar Kleine, verichwwommene Augen gutmüthig ver: 
fhmigt in die Welt. 

„Nicht unterbrechen,“ jchrie ein anderen, 

















Der alte Stard. 17 


„Stille, Herren," tommandirte Stard. „Alle id jite da 
und es treten drei Fremde ein. Die Fremden wollen mid) provo: 
eiren. „Höre, fragt der eine und gudt mid) an, „bit Du ein 
Schneider?” „Nein,” fagte ic) ruhig. Darauf der Zweite: „Bit 
Du ein Schufter?” „Nein.“ Nun kommt der Dritte: „Bijt Du 
ein Schladhter?” Da fpringe ich auf. „Ia,“ fage id, „ih bin 
ein Schlachter und verftehe Ochfen jeber Art vor ben Sopf zu 
hauen.” 

Brüllender Beifall erioll ringsum. „Bravo! gut gegeben! 
da eapo!" Rofenfeld fchob ihm gemädjlic) ein groies Glas 
Gognacgrog zu. „Profit, Ir Wip foll leben, alter Junge.“ 
Der Alte liebäugelte mit dem Getränk, che er das Glas an die 
Lippen jete und mit gewaltigem Zuge zur Hälfte leerte. 

„Stard, noch) eine Geicichte!” mahnte Rofenfeld. 

Der Angerebete warf den Kopf herum, aber (angiam, fait 
verädhtlich, und wie er num um ic jhaute, dien er fi auf die 
Gefellfichaft zu befinnen. „IA mag nicht,” Fnuerte er. 

„Dacyen fie feine Gedichten,“ drängte Nofenfeld zärtlich, 
was frinfen wir umterdefjen?” 

„Ic jtimme für Nothwein,” clug der Nachbar zur Linfen 
vor, ein dürrer junger Mann mit fpärlichem Ninnbart und jchreiend 
buntem Stips, offenbar ein Advotatenschreiber. 

„Nothwvein, ja natürlich,” rollte Star, der bie Negung 
von vorhin überwunden hatte und mun ganz im alten Fahrwailer 
Schwamm. „Nothwein ift für alte Nnaben eine von den beiten 
Gaben! Her damit!" Er fippte leicht mit dem Kopf vornüber, 
richtete fid) aber fofort wieder empor. 

„Qörner, eine Flajche!” beitellte Rofenfeld. 

„Schmedt gut und ift frei,“ warf der Schreiber gegen 
Star gewandt ein. 

Der Alte mah den Vorwigigen mit einem furzen und 
umvilligen Bid md jegte fi in Politur: „Scht Herren...“ 

Ruhe!” rief der Möbelfabrifant in den Lärm hinein, „es 
fommt.” 

„Da hatte ich mic) aljo mit einem veruneinigt. Scidt der 
mir eine Forderung, einen dummen Jungen wie man’s nennt. 
Nun, der die Votichaft auszurichten Hat, tritt jehr aufgeblajen 





E 





118 Der afte Stard. 


und anmahend auf mich zu und jant zu mir To von oben herab: 

„Döre, der und der jciet dir einen dummen Jungen.“ Da fneife 
ich die Angen zufammen, fege die Hand über die Stirn — jcht 
jo — firire ihn und fage ganz ruhig: „Ih Sehe ihn.“ Der 
Erzähler jtarrte mit nicht mihzuverftehender Beziehung dem 
Schreiber in’s Geficht. 

Wieder erhob fi lautes Gelächter. Nur der Schreiber 
ftimmte nicht mit ein, ev war bla geworden und mujterte feinen 
Nachbar mit tüdiihen Bid. „Was Haben fie damit jagen 
wollen?“ fragte er plöglid und erhob fd) drohend. Der alte 
Star enwiderte nichts; im fich zujammengefunfen, mit geidyloffenen 
Augen, job er auf dem Stuhle da. Er ichien völlig beraufht. 

In demfelben Augenblick wechjelte ich mit dem Kommilitonen, 
der bereits durch mid) von dem alten Stardt erfahren, ein Zeichen 
des Einverftändniffes und gleichzeitig überichritten wir die Schwelle 
des von Weindunjt und Tabadodampf erfüllten Zimmers. Drinnen 
wurde eo bei unferem Eintritt plöglich ftill; überraicht idauten 
die Zecer empor. Auf den gerötheten Gefidhtern malte fich) 
Unmillen über die Störung, Ansrufe wurden laut, im Hint 
geunde jchlug jemand mit feinem Glaje dröhnend auf den Tiidh, 
und der Schreiber trat auf mich zu und fragte fred: „Was 
wünjchen Sie hier?” 

Ih fchob ihn fehnveigend zur Seite und trat an Nofenfeld 

heran, der in diefem Mreife die meifte Autorität zu genichen 
fchien und mid unter feiner goldenen Brille hervor überrafcht, 
aber nicht unfreundfich mufterte. 
Id bitte der Störung wegen um Entichuldigung,“ Tagte 
ich höflich, aber bejtimmt, „doc werden Sie zweifellos mit mir 
einer Meinung fein, daf; mein Bekannter,“ ic, dentete auf 
den alten Start - dringend der Nuhe bedarf und nicht mehr 
in eine Gefellichaft gehört. Id hatte Nofenfeld an der richtigen 
Stelle gefaßt. Yangfam und mit einiger Mühe beugte er feinen 
diden Körper zu dem Schlafenden herab und Elopfte ihm fanft 
auf die Schulter. „Was ift Ihnen, Stardchen?” Und als feine 
Antwort erfolgte: „Ja, ja, Sie haben Recht. Schade, er war 
heute jo aut aufgelegt. Wollen ihn zu Bett ichaffen, ich helfe 
Ihnen,“ 
































Der alte Stard. 119 


Der Alte fuhr plöglih auf und fah mit Icerem, glafigen 
Did umber. Mo er mic) erfannte, nahm fein Auge einen 
furhtfamen, fajt entfegten Ausdrud an und er lallte ein paar 
uuverjtändlihe Worte. Widerjtandslos ließ er dann alles mit 
ich gefchehen, als wir ihn mit Nofenfelds Unterftügung die enge 
Treppe empor geleiteten und unter Leda’s Häglichem Gewinjel 
zu Bett bradıten. 

VI. 

5 ging bereits gegen Abend als cs an die Thür meines Stübdens 
Mopfte. Auf mein Herein öffnete fid) die Thür und der alte 
Stark erihien auf der Schwelle. Wie hatte er fid) verändert! 
Meiner und bürftiger als je zuvor erfchien mir feine Geftalt, Die 
Aeuglein lagen tief eingefunten in den Höhlen und trübfelig hingen 
bie grauen Strähne des Schnurbarts über die faltigen Mund- 
winfel. Cr machte einige Schritte vorwärts und blieb dann, auf 
den Stod geftügt, mit bittender Miene ftehn. „I Fomme von 
wegen geftern Abend,“ begann er jtodend, „es it mir leid.” 

Dich durdzudte ein bitteres, fait wiberwilliges Gefühl 
gegen den Alten, da ich des Auftritts bei Törner gedachte. Doc) 
peinficher nod) berührte mich die bemüthige Entfchuldigung aus 
dem Munde des Greifes. Ich wehrte ab. 

„Nein, nein,“ wiederholte er bejtimmt, „es üit mir leid. Und 
damit fo etwas nicht wieder vorfommt, Habe id) dem Törner gefündigt.” 

Die Bitterfeit in meiner Seele jhwand dahin und ich em: 
pfand nur herzliches Mitleiden für den Alten. „Haben Sie eine 
neue Wohnung gefunden ? 

„a, dort irgend wo zur Stadt hinaus, an der Tüna. 
Grade genug zum unterfrichen für mich und die Leda.“ 

Mit fharfer Aralle jharrte es draußen an der Thür. Fol), 
das peinfiche Gefpräd; abbreden zu fönnen, fprang ich auf und 
öffnete. Mit einem mächtigen Sag jhoh; Leda herein und begrüßte, 
an mir vorüberftürmend, winfelnd ihren vermißten Herrn. 

In dem alten Stard fhien etwas vorzugehen. Bald jah er 
zur Seite, bald auf mid) und rüdte unruhig auf feinem Stuhle 
hin un her. 

„Sie reifen morgen?“ fragte ex enblich gepreit. 

Id) nicte. 


120 Der alte Stard. 


Der Alte jah vor fi nieder, dann fagte er zögernd: „Wer 
weiß, ob ums noch ein Wicderfehn vergönnt it... Und bach ft 
«5 mein jehnlichfter Wunich, dat; Sie mid) richtig beurtheilen .. . 
Wollen Sie, junger Freund, wollen Sie mir ein Stündehen jchen- 
fen, damit id) ihnen erzähle, wie es mir im Leben ergangen ?“ 

Ich erwiderte nichts, aber aus meiner Miene (as er bie 
Zuftimmng. 

Der Alte jtühte, wie um feine Gedanfem zu fammeln, den 
grauen Nopf in die Hände und ftarrte eine Minute lang vor fich 


hin. Dann begann er leifen Tones. —- — 
. P 








Ich bin hier in der Nähe geboren und aufgewadjien, als 
Sohn eines landiichen Pajtors, unter vielen Mädchen der einzige 
Knabe. Mein Later war ein einfacher, frenger und frommer 
Mann von Hohem Pflichtgefühl, und in diefem Geifte fuchte er auch 
mid) zu erziehen. Nad) dem übereinjtimmenden Wunfhe der 
Eltern jollte ich in feine Fuhtapfen treten, Theologie ftudieren und 
wenn möglich einft diefelbe Kanzel beiteigen, von der herab er 
fonntäglich feine  fchlichten und eindringlichen Predigten hielt. — 

IA war ein gewedter Junge, eindrudsfähig und voll Phan 
tafie, und lernte leicht. Anfangs leitete dev Vater jelbjt meinen 
Unterricht, fpäter wurde ein Hauolchrer in’s Pajtorat genommen und 
ich erhielt in dem Sohn unferes Patronats- und Majoratsherrn, 
Baron Titen, einen Vitfchüler und Nameraden, mit dem mic, 
fo fange er febte, innigfte Bande der Freundfchaft verfnüpft haben. 
Ferdinand, oder wie ic ihn mit feinem Spignamen von Dorpat 
her zu nennen gewohnt bin, -- Fernando übertraf mid, wenn 
aud) nicht an Begabung, jo doc an Ausdauer, Eifer und leif. 
Was feine Character- und Yerzenseigenfchaften anging, fo habe ich 
feinen biederern und trauern Menichen gefannt und ein Zug ritter- 
licher Rühnheit erhöhte noch den Neiz feines Wefens. Was war 
er auch äußerlich für ein jehöner Junge! Blond, hoc und fchlanf 
gewachien, mit ausbrudsvollen Zügen, ein Meifter in allen Leibes: 
übungen! Wie die Tanne den Wachholder, jo überragte er mich 
und co war fein Wunder, da er in Allem und Jedem auf mich, 
den schwächer gearteten, einen fiarfen und wohlthätigen Einfufs 
ausübte der mir leider nun zu früh verloren gegangen ilt. 


Der alte Stard. 121 





Wir follten beide in Dorpat jtudieren. Fernando ging {don 
ein Jahr vor mir dahin ab, während mein Vater es für gut fand, 
mic) noch für ein Jahr auf das Gymnafim nad) WM. zu icicen. 
Dann fam die Zeit, wo aud) mic) die alma mater in die Schaar 
ihrer Jünger aufnahm. 

Nun, Sie werden aus meinen früheren Mittheilungen 
erfahren haben, dab ich ein friiher und fröhlicher Student gewejen 
bin. Aus dem Zwange ber Schule befreit, ging mir in Dorpat ein 
ungewohntes, verlodendes Leben auf. Die neuen Eindrüde und 
die Pflichten der Yandsmannfdaft nahmen mich bald ganz gefangen, 
das Gefühl meiner jungen afademifhen Freiheit ging mir über 
alles und Yurfchenkuft und Burfhenteid Habe id) aus vollen Zi 
gen genoffen. Ic würde das nimmermehr bedauern, wenn id) 
Mah zu Halten und meine Zeit richtig einzutheilen veritanden 
hätte. So aber arbeitete ich wenig und planfos und die Nollegia 
fahn mid) nur jelten. Von völligem Müfjiggange rettete mid) 
Fernando, mit dem zufammen ich wohnte und der mir, wie einjt 
in der Ninderzeit, ftügend und Helfend zur Seite jtand. Xon ihm 
Hätte Niemand jagen Fönnen, daß er ein Ducmäufer war, denn 
wie faum ein anderer ftand er mitten im Getriebe des forporellen 
Lebens. Aber im Gegenfag zu mir veritand er cs Arbeit und 
geiellichaftliche Pflichten zu vereinen und dem Studium feiner 
geliebten Wiediein, das er, der fünftige Majoratsherr, nit als 
Vroterwerb, jondern aus aufrichtiger Neigung erwählt, gab er 
fh aus voller Seele, wenn aud) ohne Ueberhajtung hin. Wenn 
ex mich dann einmal gehörig ins Gebet genommen; wenn dazu ein 
Brief aus der Heimat; eintraf, in dem mein enttäufchter Vater 
anfragte, warn ich denn eigentlic) das Examen machen werde, — 
ja dann Half es für die nächite Zeit. Innerlich verdrojien, während 
draußen die freie goldene Sonne lachte und vom grünen Dom 
herab laute Vurjhenlieder erflangen, jegte id) mic an die 
theologiichen Vücher und abjolvirte, mühfam genug und heimlich 
mit ganz anderen Gedanken beihäftigt, meine Studien und 
allmählid) aud) mein erites Eramen. NAum aber das Schwierigite 
vorüber war, lachte mir das Leben auf's Neue. Bis zum Sc)lu 
eramen war es noch weit, über der bunten Folge von Paufereien, 
Kommerfjen und Konventsfragen vergaß id) nur gar zu gern die 

Pr 








122 Der alte Stard. 


trübjeligen Streitigfeiten ber alten Rirdenväter und vielleicht hätte 
ich mic) trob Fernando’s Warnungen überhaupt nicht um die Zukunft 
gefümmert, wenn mir nicht der Gehanfe an fie, an Hanndhen 
gekommen wäre... 

Ja ich hatte mich inzwiichen gebunden. Die Umgebung bes 
damaligen Dorpat bot eine hübihe Jagd und zu Zeiten wimmelte 
der Embach von Enten und anderen Wafjervögeln. Num, id war 
ichon damals ein leidenichaftliher Nimrod und nichts Schöneres gab 
6 für mich, wenn ich mich einmal aus dem bunten Strudel des 
Gorpslebens feitwärts drüden und in meiner Art ansruhn wollte, als 
mich mit meinem treuen Hunde und das Gewehr an der Schulter 
in Flur und Wald zu tummeln, Im Hodjommer auf ber Jung- 
wilbjagd verirrte ich mid) eines [dhönen Tages auf einen abgelegenen 
Pachthof und Halbverichmachtet, wie wir beide, Dann und Hund, 
waren, trat id) in das Haus und bat das friiche blonde Mädchen, 
das mir im Flur begegnete, um Waller. Sie bradhte mir nicht 
Wajler, fondern eine Schüfjel fhöner jüher Mild, von der aud) 
Ponto feinen Theit abbefam. Das behagte mir, — umd fie gefiel 
mir überhaupt, das liebe Hannden, in ihrer janften, freundlichen 
Unbefangenheit, — To gut, daß id) den Weg zu ihr jpäter noc) 
inmal, und natürlich wie zufällig, zurücfand und mich allmählich 
öfter einftellte. Defter, als c9 dem Later Hanndens, einem 
alten, grämlichen penfionirten Lehrer, ber fi) zu feinem Bruder, 
dem Pächter, auf's Land zurücdgezogen, lieb jein mochte, denn er 
verhehlte fein Dißvergnügen an dem jagenden Theologen feines: 
wege. Das Hatte nun weiter nichts zu bedeuten, ich verlobte mich 
dennoch) mit meinem Sanndıen, freilich nur heimlich, ganz heimlich. 
Exit wenn id) den geiftfichen No angezogen und die bayur 
gehörige Pfarre erworben, follte id) offen als Freier hervortreten, 
fo hatten wir’s abgemadt, Bannden und ic und die nädjiten 
Verwandten. Nur mußte id dem Alten jchon jegt verfprechen, 
nad) dem Schlußeramen die Flinte für immer an den Nagel 
zu hängen. Nein, fo weit fam es nicht. 

Wohl aber nahte die Zeit, wo ich im Talar auf der Kanzel 
der Univerfitätsficche meine Probepredigt über ein vorgeihriebenes 
Thema Halten follte. Ich hatte die Rede hübjc) ausgearbeitet, mum 
amd fie ging ja aud), wie mir jadjverftändige Kollegen fagten. Frei 

















Der alte Stard. 123 


Ipredien war aber meine Sadje nie gewefen, alles was an ein 
Eramen erinnerte, machte mic) fopfiden und vor der Stunde, 
wo id) vor der ganzen Gemeinde meine Stimme erheben follte, 
empfand id) eine Höllenangft. Da hief; es denn fleißig memoriren, 
um zu beftehn, denn ablefen war verboten. Aber am Abende vor 
dem enticheidenden Sonntage muhte es fi) gerade treffen, daß 
ein Landsmann feinen Geburtstag feierte, an dem ic) nicht fehlen 
durfte und der feucht genug ausfiel. Wergeblich mahnte Fernando 
ab, die Gejellichaft der fröhlichen Kommilitonen erfchien mir gar 
zu verfodend. Exit als es vom Thurm der Johannisfirche drei 
ihlug, begab ich mid) mit nichts weniger als farem Ntopfe auf 
den Heimweg. 

Am Morgen war mir goltesjümmerlid zu Muthe. Ich 
warf einen Vi in das Konzept meiner Predigt. Die jhwarzen 
Vuchitaben auf dem weißen Bogen tanzten vor meinen Augen 
und id bemerkte mit Entiegen, dah id) von dem Inhalte nur 
bfutwenig wuhte. Draußen aber ertönte, die Hörer einfadend, die 
Stoce ber Univerfitätsfieche in Hellen, weithin fcallenden Schlägen. 

Mit wanfenden Knien beftieg ic) die Kanzel. Die Räume 
ber Kirche verfehwammen vor meinen Augen und drunten, wo die 
Gemeinde jah, eridien mir alles wie eine graue, wirre Majle. 
Nur allmählid) lernte id) fie unteriheiden; die jtrengen, erwartungs- 
vollen Diienen der Profefjoren, die Gefichter befreundeter Landsleute 
und Kommilitonen, Fernando’s gute, etwas bejorgt blidende Augen 
und dort im Hintergrunde auf der Seite wo die Frauen faßen, 
auch Hanndhens blondes Köpfchen, das mir aufmunternd zuzuniden 
ichien. €s half doc) nichts, eine furdhtbare Angit ergriff mich, 
wie ich fie felbft im Eramen nicht gefannt. Und dann begann 
id) zu reden. Meine Stimme Hang mir wie eine freinde, vor 
der id) mich fürdhtete. Werzweifelt Hielt ih trogdem den Hauptfaden 
feit, er entichwand mir nicht ganz, wenngleid) aud) häufig Paufen, 
Stodungen und Unterbredungen eintraten und ich meine Zuflucht 
zum Sonzept nehmen mufite. Ich bemerkte wohl, wie die Brofefloren 
unter Kopfihütteln auf ihren Sigen rudten und einander Blide 
zumarfen, über deren Vebeutung mir fein Zweifel blieb, wie die 
Miene Fernando’s, der gerade vor mir im Gange ftand und deiien 
Augen mich unausgeiegt beobachteten, einen befümmerten Ausbruc 


124 Der alte Stard. 


annahmen. Nach Hannchen wagte ic) nicht zu fhaun. Mit einem 
Gefühl, das id Niemand gönnen will, jtieg id, als ich geendet, 
die Stufen der Ranzel herab und verihwand in der Safı 

Draußen erwartete mid) Fernando. Cs waren gewiß liche, 
freundliche Worte, die der gute Junge mir gab, aber ich verftand 
fie nicht, ich entwand mich ihm und eifte fürt. Cs zog mich zu 
Sannchen. In der Tiefe der Nitterftraße, zu der id) in athemlojem 
Gange gelangte, Jah ich einen weißen Schleier leuchten, Hanndens 
Schleier, und dann erkannte ich ihre fhlanfe Geftalt in dem anfprud)s- 
fojen grauen Kleide. 

Id) holte fie ein und z0g fie mit verwirrter Entfhuldigung 
von der Tante, mit der fie gerade ging, hinweg in eine ftille 
Strafe und von dort dem Dome zu. Droben war cs jo jhön 
und jtill unter den raujchenden alten Yäumen, die id) fo jchr liebte. 
Heute aber hatte id) feinen Sinn für ihren freundlichen Gruß, 
doc) allmählid) wurde «6 ftiller in wir; die Cinfamfeit that mir 
wohl und vor allem Hanndens Nähe. Erft jest fonnte ich ein 
Wort finden. „Hannchen,“ fagte ich dumpf, ohne aufzuichauen, 
„Du bit focben Zeugin meiner Niederlage geweien; gieb mich 
auf, aus mir wird im Leben fein Paitor ..." 

Sie Hatte geweint, dod) tapfer drängte fie die Thränen zurüd, 
wie fie mir nun mit janften Worten Muth zufprad. 

6s tröftete und erhob mid). 

Id offenbarte ihr meinen heimlich jcon längit gehegten 
Man, umujattsn und Philologe zu werden. Ich wollte 
tüchtig arbeiten, jpäteitens in 3-4 Jahren fertig fein, um dann 
eine Anftellung zu juchen und die Geliebte als mein Weib heim- 
zuführen. „Aber bis dahin ift es nod) lange,” jdloß id meine 
Ausführungen und bei diefer Ausficht fanf mein eben nad) gehobener 
Put). „Wirft du nicht müde werden zu warten, mein Danndhen? 
MWirft du jtark genug jein, zu mir zu halten, an mid) zu glauben?“ 

Sie hatte mir jchweigend, mit einem etwas wehmüthigen 
Lächeln zugehört. It blieb fie jtehn und jah mid) aus ihren 
großen, Hugen Augen erregt und finnend an. „Ich bleibe bir treu, 
fowagr id) dir vertraue,” fprad) fie mit jeltfamer Betonung der 
feßten Worte. Grit jpäter, als es hen zu ipät war, habe ich 
den Zinn ihrer Antwort ganz begriffen. 











Der alte Star. 125 


Der bdämmernde Laubgang, in dem wir wandelten, lag 
menfchenftill und verlaffen. Ih umfahte Dannden, ich dankte ihr 
und fühte fie innig auf den vothen, friichen Mund. - 

Zu Haufe erwartete mid) ein Brief meiner Mutter, der mir 
den pföglichen Tod des Waters meldete und alle droben auf dem 
grünen Dom geiponnenen Pläne und Träume jählings vernichtete. 
Da mein Vater ohne Vermögen geftorben war, jo war id) von 
nun an auf mid) felbjt geftellt und darauf angewiejen, mir einen 
Erwerb zu fuchen, der das MWeiterjiudium ermöglichte. Unter 
Zuftinmung Hanndens, die fih ergeben in die neue Prüfung 
ihite, nahm ich eine Vauslehrerftelle in der Umgebung von 
Dorpat an. 

Ein ganzes Jahr verbrachte id in der Ausübung des neuen 
Berufes. Da warf mir ein glüdlicher Zufall ein Fleines Stipendium 
in den Weg, weldes mit dem bereits Erworbenen mic) in den 
Stand fepte, das unterbrodene Studium wieder aufzunehmen. 
Triumphirend fehrte id nach Dorpat zurüd, doc ich jubelte zu 
früh. Im diefe Zeit fällt das unfelige Duell, in welchen mein 
unvergeßlicher Fernando blieb. Mit dem ganzen Pomp jtubentifcher 
Ehren, unter Scjlägerklivren und Liderklang, trugen wir unferen 
geliebten Senior zu Grabe. Dann galt c8, einen zweiten 
ichmerzlihen Abichied zu nehmen von meiner Braut. Der 
Vater Hanndens nämlich Hatte, einer grilligen Laune nachgebend, 
beichlofien, nach Niga, jeiner Vaterftadt, überzufiedeln, natürlid) 
follte Haunchen ihm folgen. Mit dem erneuten Helöbnife meiner 
Trene und mit feiten Zufiherungen für die Zufumft trennte id) 
mid) von dem thenern Mädchen, und wer es damals gewagt 
hätte, den Grnft meiner Abfichten zu bezweifeln, der hätte einen 
Gang mit mir bejtehn mühfen auf Yeben und Tod! Als aber der 
Keifewagen Hanndens aus der herbitlich entblätterten Allee des 
einfamen Pachthofes auf die Landitrafe bog, als die Geliebte fid) 
noch einmal vorbeugte und mit wehendem Tajcentucde mir den 
Abjchiedsgruß zumwinkte, da war cs mir plöglic, als follte id) 
niemals wieder in ihr blühendes Antlis, in ihre Lieben, guten 
Augen fan; etwas jtand in mir auf, düfter und feindlic, und 
als id) ihm in das finftere Antlig jah, da war co die Angit 
vor der Zufunft, das Mißtrauen aegen mid) jelbit! 


126 Der alte Stard. 


€s ift doch nur fehr bebingungsweife wahr, daß ber Menfch 
fich felbit fein Schidjal jchmiedet. Gewiß wäre dann, dah; das 
Wertjeug, mit bem ausgerüftet er in bie Melt tritt, bod) oft gar zu 
leicht im Feuer des Lebens jcmilzt oder jchadhaft wird und viele 
nie die Meifterihaft erringen, fondern ewig Stümper bleiben in 
der Kumjt des Schmiebens. Nein, ebenfo richtig ift es, daß ein 
Jeder mit gewiffen Anlagen geboren wird, die unabhängig von 
feinem Lcbensgange und feiner Erziehung in ihm fortwirfen, fo 
lange er athmet. Mit dem Willen allein ijt nichts gethan, 
außer bei wenigen Auserforenen. Was aber jeder braucht, ift 
ein wenig Sonnenihein, ein wenig Liebe, Anhalt, Schu in der 
rechten Weije, — furz, ein wenig Gfüc. Ich gehörte nie zu den 
Willensträftigen. Ic war immer leihtlebig, Ihmwac, und von den 
Eindrücen des Augenblids abhängig. IA bedurfte mehr, viel 
mehr als die anderen eines jicheren ftetigen Ecubes, eines 
unmittelbaren Anhaltes, um auf der richtigen Bahn zu 
bleiben. Das alles wurde mir jept fo recht Mar. Seit Fernando 
todt und Hannden fern waren, begannen mir bie wohlthätigen, 
treibenden Kräfte zu fehlen, die meinen Entichlüffen bie redhte 
Ausführung und meinem Herzen Muth und Zuverficht verlichn 
Hatten. Von Hannden tamen ja Driefe genug, liebe und gute 
Briefe, die ich fo gern Ins und denen ic) fo gern glaubte. Doc) 
die fummen Zeichen genügten nicht, mir den (ebenswarmen Haud) 
ihrer Perfönlichteit, ihren freundlichen Bli, ihr Icbendiges Wort 
zu erjegen, fie ftähften mich nicht gegen die Verfuchungen und 
Locungen des mid umraufchenden Lebens. — 

So geihah 6, das ich mich umfonjt abmühte und es dad) 
zu nichts Nechtem brachte. Bald fehlte c6 bei mir an diefem, 
bald an jenem Vorwände find ja leicht zu finden, — mas 
mir aber wirklich mangelte, war die rechte, thatfräftige Strebens- 
fuft und wo follte id) fie herzaubern, da fie nicht in mir felbjt 
wohnte? Wohl quälte mich zumeilen das Bewußtiein eines 
Unred)tes, das ich gegen mich, noch mehr aber gegen Hanncen 
beging, indem ich das ihr gegebene Mort nicht einlöfte, in 
der nächften Stunde aber verfdludte ich diefe Bebenten mit 
billigen Selbftvertröftungen und belog, wenn and) abjichtelos, 
ebenjo mich, wie id das Vertrauen der Geliebten täufchte. 


Der alte Stard. 127 


Darüber verrannen nuplos Semefter ımd Jahre und ih wurde 
ein alter Student, — 

Zulegt fam cs, wie es fommen muhte. Hannchen jchrich 
mir ab. Sie fünne mir nicht mehr vertrauen und bitte, fie ihres 
Tremvortes zu entbinden; auch habe fie i—hen anders über fich 
beichloffen. Der Brief vernichtete mich, aber er zeigte mir Har, 
was ich zu thun hatte. Meine Neue war ohnmächtig, meine Liebe 
rechtlos geworden. Ic durfte Hannden nicht mehr an mein 
Dafein fefleln, jeitbem ich jelbjt fühlte, daß ich ihrer unwerth 
geworben. Und jo fanbte ich ihr mod an demfelben Tage Ning 
und Wort zurüd. Sie hat das beffere Theil erwählt, denn noch 
fürzlich erfuhr id), daf fie in glüdlicer Che lebt. 

Bisher hatte ich noch ein Ziel vor Augen. Jebt bühte ich jede 
Luft am Streben und den legten Neft jenes gefunden Ehrgeizes 
ein, welder der Vater alles Tüchtigen und aller Thaten ift. Ic 
ftubierte nicht eigentlich und nahm auch am Vurjcienleben feinen 
wirklichen Antheil mehr, ich lebte jo für mid) hin, — id) bummelte — 
und das ift das Gefährlichite. Ohne böfen Willen, aber aud) ohne 
Kraft, mir Rechenschaft über mic) jelbjt abzulegen, j—hritt ich auf der 
geneigten Bahn fort. Mit der Zeit aber fand id) mid) in mein 
eben, e6 genügte meinem erlahmenden Willen, meiner erihlaffenden 
Energie. Nad) außen hin vereinfamte id) und verkehrte nur nod) 
mit ganz Wenigen. Standen dad) meine Zeitgenoffen fhen Längit 
in Amt und Würden, und die meine Schüler gewefen, jah ih nun 
als Studenten und Korpsbrüder wieder. Es entging mir nicht, 
daß die jungen Leute über mid die Achieln zudten und den 
ergrauten Kommilitonen mit fdhledhtverhehftem Spott betrachteten, 
wenn nicht gar offen gegen mic) fid) etwas herausnahmen, wofür 
id) in meiner Lage fein geeignetes Mittel der Ahndung fand. 
Id war gegen zwanzig Jahre in Dorpat Student geweien, als id) 
mich jtreichen lieh. Tropdem blieb ich dort wohnen. An die 
Stadt feffelten mich nicht bloß rein materielle Gründe, die Regelung 
alter Verbindfichfeiten, fondern — was joll ich's leugnen? — id) 
liebte das alte Nejt, in dem ich jeden Winkel fannte nnd in 
welches die Gewohnheit mich fo feit eingeiponnen, daß id ein 
Grauen empfand vor der übrigen, mir fo gänzlid) unbefannten 
Welt. Nach der Heimath zog mich nichts mehr, feit auch meine 


128 Der alte Stard. 


Mutter todt war. Wovon ich unterdeiien lebte? Nun, Fümmerlid) 
genug von Stundengeben und Kopiven, und lange hätte es nicht 
fo vorgehalten. Da wurde mir durd) Vermittelung eines ehemaligen 
Kommilitonen eine Unterförjtertelle auf einem Privatgute in 
Kurland angeboten. ch fagte fofort zu: was hatte id) in meiner 
Lage zu wählen und zu müfeln? Außerdem behagte mir mein 
fünftiges Ant, gab es mir dod) Gelegenheit, meiner Jagbleidenichaft 
ausgiebig zu fröhnen. 

Und fo verließ ich Dorpat auf Nimmerwiederfehn. - 

Die Herrlidfeit meiner neuen Stellung dauerte nicht allzu: 
lange, id) vertaufchte fie gegen den grade vafant gewordenen 
Poften eines Nommiflairen auf einer einfamen Strandjtation nahe 
der Grenze. Dort habe ich lange Jahre gelebt, wenn man unter 
Leben verjteht, dab man erwacht, iht, trinkt, fich niederlegt und 
einen einförmigen Dienft verfieht, ohne Anregung, ohne echte 
Freude und rechtes Leid, ohne von Welt und Menjhen etwas 
zu hören. Mit dem Wogenjchlage des Meeres, den der Idarfe 
Dftwind zum Stationshaufe herübertrug, vauichten im öden Einerlei 
Vionate und Jahre an mir vorüber und die hohen Kiefern, welde 
mein Dad) umfcatteten, fangen jtets dafjelbe melandoliice Lied. 
Id fam mir vor wie ein Verbannter, aus der menjhliden Ge- 
fellichaft Ausgeftohener, und doc) follte mir ein Heines Ercii 
das grade diefem Lchensabjchnitte zugehört, beweifen, wie fchr 
ich noch mit der Welt zufammenhing und wie Unrecht ich hatte, 
mit meinem Pefimismus gegen mich jelbjt und gegen die 
Menichen. 

Zu jener Zeit wurde, namentlid im Frühjahr und Herbit, 
wenn die Nächte alt, lang und dunfel waren, an beiden Zeiten 
der Grenze ein Iebhafter Schmuggelhandel betrieben. Die Seele 
diejer gejegiidrigen Unternehmungen bildeten gewöhnlid) Juden 
und unter diejen ragte der rothe Schlom bejonders hervor. Ein 
Jeder fannte, ein Jeder bezeichnete ihn als Schmuggler und doc) 
war ihm nichts anzuhaben. Seine Schlauheit und Gericbenheit 
war allen Nachitellungen gemacjen. 

Wie ich eines Tages an meinem Tijche Eintragungen in 
das Pojtbuch mache, that fi) leile die Thür auf. Herein trat 





Der alte Stark. 129 
mit feinem gewohnten pfiffigen Gefihte der rothe Schlom und 
begrüßte mich jo recht unangenehmwertraulich. 

„Was fol" Herrichte id) ihn an. 

Der Jude antwortete nicht fogleid), fondern jah fidh fpähend 
im Zimmer um. Dann trat er dicht an mid) heran und begann 
flüjternd: „Wenn der Herr Kommiffair aud thut ungnädig, fo 
weiß er doc), daf; id) co gut meine mit dem Seren Nommiffair. 
Habe ic) in leter Zeit oft denken müfjen an ihn. Gott, habe 
id mir gedacht, wie thut er mir leid. Er ift ein fluger Mann, 
er ijt ein ftudirter Dann, und dad jchläft er in einem harten 
Bett vnd hat nur anzuziehn einen alten Nod und fehlt ihm dies 
und fehlt ihm das. Schlom, habe id) mir gejagt: du mußt ihm 
helfen, dem Herren Kommifjairen .. .." 

Seine Augen bligten liltig, als er fid zu mir herabbeugte 
und mir zuflüfterte: „UL ich einen Vorichlag maden. Will ich 
nichts weiter haben als den Schlüfjel zur neuen Waldicheune, die 
fteht Teer, und werde ich wieberbringen den Schlüffel nad) einigen 
Tagen. Will ich nichts haben umfonjt.“ Er holte eine fettige 
Vrieftafche aus dem Anmern feines Kaftans und langte einen 
Schein heraus. „Biete ich hundert Rubel.” Er legte das Geld 
vor mid auf den Tijch und trat einige Schritte zurüd, wobei er 
mich unausgejegt beobachtete. 

Id begriff zuerit nicht, dann aber ging mir ein voller 
Schimmer des Verftändniffes auf. 

Die Schmuggler hatten einen Hauptjtreich vor. Sie wollten 
in der nädjften Nacht eine Partie Waaren über die Grenze bringen, 
zögerten aber, vielleicht aus Furdt vor den grade jharfe Wacht 
haltenden Grenzioldaten oder aber, weil ihnen bie Nächte noch) 
nicht dunfel genug ehienen, die Ladung zu weit in’s Land hinein: 
zuichaffen und waren jo um einen geeigneten Lagerplag verlegen 
Die einjame, im Walde gelegene Scheune, welde die Futter: 
vorräthe für die Poitpferde barg und jest fait leer fand, war 
von der Grenze aus auf einfamen Schleichwegen jehr wohl zu 
erreichen und pabte zu diefem Zwede gut genug. er, wenn 
die Gelegenheit günftiger, fonnten ja die MWaaren unbeobachtet 
abgeholt und weiter geichafft werden. Der Preis, den man mir 
bot, war im Verhältniß zu der Dienjtleiftuna, die man von 

















130 Der alte Stard. 


mir verlangte, ungemein hoc; cs mußte fid) aljo um recht viel 
handeln. 

IH ericrat und mein Herz begann mächtig zu Hopfen: 
„I foll Euren Hehler machen und die geihmuggelten Saden 
bergen,” fagte id) und fahte den Juden fcharf in’s Auge. 

Schlom lieh fi) nicht aus der Faflung bringen. „Weil 
ich's,“ meinte er, „habe ich nicht davon gefprodien, fondern nur 
von dem Schlüfiel. Was ift's wenn einer dem anderen giebt 
einen Schlüfjel? If's ein Unrecht?" 

Ic mühte lügen, wenn ich erzählen wollte, daß ich das 
Anerbieten mit gebührendem Grimm und mit jlammender Ver 
adhtung zurücgewiefen hätte. Nein, ich gerieth in einen heftigen 
inneren Kampf und taufend wirre Gedanten zogen mir burdh den 
Sinn. Man mag ja jagen, daf hundert Nubel feine bedeutende 
Summe üt, für mid aber galt fie damals jo viel, als anderen 
das Zehnfadhe. Schlom hatte Hecht. Id war in Vedrängnif, 
mein Gehalt reichte faum zum Nothwendigiten und dod) mußte 
id) alte Schulden bezahlen. Nod) vor einer Woche hatte ich einen 
Brief aus Dorpat empfangen, in welden ein Gläubiger mir mit 
Verfonalarreit drohte, falls id) nicht einen mehrfad) prolongirten 
Wechfel, der binnen Dtonatsfriit fällig war, zum Termin einlöfte. 
Ging id auf das Anerbieten des Juden ein, nahm id) das Geld 
vom Tifc) und gab ihm dafür den Schlüfel her, dann war id) 
gerettet; anderenfalls war mir der Schuldthurm und der Verluft 
meiner Stelle fiher. 

Schlom errieth, was in mir vorging, und fein Auge bligte 
in Siegesguverficht auf. Aber er mifiverftand mich doch. 

„Sind Ihnen vielleicht hundert Rubel zu wenig?” vaunte 
er nähertretend, „biete ich Ihnen fünfzig mehr.“ Umd er Iegte 
ein paar Heine Scheine zu dem erjten. 

Ih war aufgefprungen, mit jcheuen Biden und unfideren 
Schritten durchmaß id) das Zimmer. Vor mir aber ftand mit 
erwartungsvoll vorgebeugtem Körper und [auernden Augen, wie 
ein zum toi; bereiter Naubvogel, wie der leibhaftige Verfucher — 
der vothe Schlom. 

Da zufällig fiel mein Auge in das nebenanliegende Schlaf- 
immer, deifen Thür offen ftand, und auf meinen alten Yurjcen- 





Der alte Star, 131 


dedef, ber friedlich über dem Bette hing. Und mit einem Schlage 
waren alle meine Zweifel und quälende Unruhe hin, bie wirren 
Gedanken ordneten ih und ich empfand glühende Scham. War 
es jo weit mit mir gefommen? Wagte man mir das zu bieten? 
Die Farben jollte ich beihimpfen, zum Hundsfott werden um der 
bunten Scheine willen! .... Nein, taufend Mal nein, lieber 
in’s Elend, lieber in den Schuldthurm!... 

„Schlom,* fagte ich ruhig und jah ihm grade in’s Geficht, 
steckt Guer Gelb ein, fofort!" Er zögerte und wollte etwas 
entgegnen, dod) wie er meiner drohenden Dliene begegnete, nahm 
er die Scheine fopfihüttelnd an fich. 

„Schlom,” jagte ich wieder und holte mein Gewehr von 
der Wand herab, „paht auf, feht, wenn ich jet eins, zwei und 
drei gezählt Habe und Ihr jeid noch Hier, fo Ichiehe ic) Diefe Ladung 
Nehpoften Eud) in die frummen Veine.” Der Jude fperrte den 
Mund auf und fpreiste die Finger feiner rothen, behaarten Hände. 

Ach hob das Gewehr in Anfchlag. Eins, zählte ich, zwei... 
da war der Jude mit einem Sab an der Thür, im Nu hatte ex 
fie geöffnet und mit flatternden Kaftanichöhen jtob er hinaus. 

Id) aber nahm meinen Dedel von der Wand, betrachtete ihn 
lange und liebevoll und jtrich licbfojend über die vergilbten Farben. 
Aus tiefftem Herzen danfte id Gott, da er mic) aus jo großer, 
fo furdtbarer Gefahr errettet .... 

Aber aud) fonjt ned) Hatte id) Grund, die Güte der Vorfehung 
zu preifen. Mir fiel es auf, daß ic) fo gar nichts mehr von dem 
fälligen Wechfel erfuhr, obgleich der Zahlungstermin Längft verftrihen 
war. Nein Protejt, fein Advofatenbrief, Feine Mahnung, — nichts. 
Erft viel päter erfuhr ih, dab der Wedel 1 bezahlt war. 
Von went, darüber vermochte mir niemand Aufihluß zu geben. 
Zulegt löfte fih aud) diefes Näthfel. Fernande's Bruder, den id) 
je aud) in Dorpat erlebt, der jegtige Majoratsherr, hatte durd) 
andere, an die id) mid) gewandt, von meiner Nothlage erfahren 
und die Schuld im Stillen getilgt. Id) dankte dem gütigen Mann, 
er aber wollte es nicht wahr haben... So hat mir Fernando 
nod) aus dem Grabe geholfen. — 

Von der Station fiedelte ich hierher über, wo mir ein Heiner 
Poften angefragen worden war. Meine Schweitern waren nad) 








132 Der alte Stard. 


dem Tode der Mutter fortgezogen und von den alten Univerjitätse 
fameraden, mit denen id) noch Fühlung hatte, wohnte hier fo gut 
wie feiner mehr. In meiner Waldeinfamfeit war id) jheu und 
weltfremmd geworben, hier in der Stadt und unter den Menjchen 
aber Fam ich mir nod) verlajfener vor. Mein befonderer Sciic- 
falsgang hatte mich denjenigen, die nad) Stand, Ciziehung und 
Bildung zu mir gehörten, entfremdet und die Art meiner Bes 
fhäftigung hier, welche verichiedene Formen annehmend und von 
Donat zu Monat wecjielnd mid) mr hödyjt fümmerlich über 
Mailer hielt, entfernte mich ned) mehr von ihrem Nreile. Sie 
jahen auf mid) von der Höhe ihres Standpunfts herab als auf etwas 
Niederwerthiges, Untergeordnetes, mit einem gewiffen fränfenden 
Mitleid, und ftatuirten ihren Nindern an mir ein warnendes 
Veifpiel, wie man es nicht treiben Toll, —- und ih, nun ja, ich 
Tonnte daran nichts ändern. Aber Niemand ift jo anfprudslos 
oder jo egoiftiich, da er ganz ohne Menfchen auszufonmen 
vermöchte, und da mir die Gejellfhaft der uriprünglic Gleich: 
ftehenden verjchloffen blieb, jtieg ich in die Tiefe hinab, zu 
und ungewollt. Bei Törner, wo id feit Jahren wohnte, lernte 
id) die Leute Fennen, in deren GSefellichaft Sie mic) geftern fahn, — 
Heine Nauflente, Juduftrielle, Beamte, die häufig in der Conditorei 
verkehren. Sie waren freundlich zu mir in ihrer Art, bewielen 
mir Teilnahme und das that ivohl. Nie aber, wenn id) nüchtern 
in ihrer Mitte jah, verlieh mich die Empfindung, daß id) mir 
eigentlich vergab und nicht in dieje Geiellichaft gehörte. Und 
dann erwachte in mir eine gewaltige Crditterung gegen das 
Schiehjal und die Luft mich zu betäuben. Was fam co jept mir 
drauf an, was die Welt über mich iprad? Mochte es denn feinen 
Gang gehn! Auch) ich hatte einen beiheidenen Anfpruch auf die 
Freuden des Lebens, ich fand ihn hier. So gab id mid, alles 
Andere drüber vergefiend und die innere Stimme zum Schweigen 
bringend dem Augenblide bin und fo fonnte eo fommen, dah id) 
das Dia des Erlaubten in Trinken und Neden überfchritt. Und 
andrerfeits: was hoffte ich noch vom Leben? Je früher es aus 
war, deito beifer für mid) und die übrigen . 

So dachte ich bis vor Nurzem. Doc) heute morgen kam 
die Erfenntnif, wie unrichtig meine Disherigen Anfchaungen geweien. 














Der alte Stark. 133 


Nein, id) hatte doch nicht das Necht mic weggumerien, fo lange 
mid) jemand, der an Bildung, Sitten und Anfhanung mir nahe 
ftand, mit freundlichem Wohlwollen, Nücficht und Achtung entgegen 
kan, wie Sie es gethan. Und ich gelobte mir, daj; Achnliches fi) 
nicht wiederholen follte. Wollen Sie mir vertrauen, mein lieber 
junger Freund? 

Der alte Star jchrwieg und reichte mir die Hand herüber, 
die id} lange und Fräftig drüdte. Wie dinfte id) da urtheilen, 
verurtheifen, vichten? 

€s war mittlerweile fo dimfel geworden, daß ic die Züge 
des alten Mannes vor mir faum mehr untericeiden Fonnte und 
Schattenhaft erichien auch feine Geftalt, wie er fi nun erhob und 
mit feifem: „behüte Sie Gott!” von mir Abihhied naym. Schwei- 
gend und bewegt geleitete ich meinen Saft bis zur Treppe, die 
auf den Kur und die Strafe führte. Auf der eriten Stufe drehte 
er fi nod einmal lebhaft um: „Und grüßen Sie Dorpat!” 


VI 

Die Jahre Tamen und gingen. Ich Hatte die Univerfität 
verlaffen und befand mid) in feiter Stellung. Meine Eltern lebten 
feit dem Winter, der meiner Vefanntfchaft mit dem alten Stard 
folgte, gleichfalls nicht mehr in N. So hatte ich feine Gelegenheit, 
die Stätte meiner Jugend zu befuchen und im Lärm des Tages, 
unter neuen, ftets wechjelnden Eindrüden gedachte ich nur felten 
ihrer und was mit ihr zujammen hing. ud) das Bild des alten 
Store war in mir verblichen. 

Da führte mid) eine zufällige Veranlaffung auf einige Tage 
nad) N. zurüc. Ih Hatte meine Gefchäfte erledigt und benußte 
den Neit der mir nad) bleibenden Zeit, alte Grinnerungen aufzu 
frifchen. Es war dort Alles größer und jchöner geworden. Vieles, 
was als unzerftörbar in meinen wiprünglichen Vorftellungstreis 
gehörte, war verichwwunden und Neues dafür aufgeblüht. Immerhin 
aber blieb genug übrig, was mich an die alte Zeit gemahnte und 
in fie zueücverfeßte. Auch den alten fchattigen Stadtpart mit 
feinen einfamen, verfchlungenen Gängen und uralten dichtbelaubten 
Bäumen, unter denen ich als Kind geipielt, fuchte id) auf und 
mic) ergriff ein freumdiges Gefühl, als id) ihn fajt unverändert 











134 Der alte Stard. 


wiederfand. Unvermerft führte mid) mein Meg aus dem Park 
auf die Heerftrae, welde von Pappeln eingefaht, jhnurgerade 
in's Land lief. 

Es war don Ende Auguft. Zeile nahte der Herbit und 
blieo mit zartem Sauce hie und da die Blätter rötlid) an, die 
eilenden Wolfen zeigten die Farbe der Haide und über die weite 
Ebene, bie fi) vor mir ausdehnte, jagten fanftbewegte, wechfelnde 
fremdartige Lichter, welde das Grün ber Birken am Horizonte 
bald in Helle Gtuth, bald in düftere Schatten tauchten. 

Auf der Strafe rollte ein feltiames Fuhrwerk heran. Ein 
mageres braunes Pferdhen zog mit Anftrengung an einem Lajt: 
wagen, auf dem allerlei Möbel und Yausgeräth idhledht und jorglos 
zufammengepadt lagen. Nebenher dritt ohne jonderliche Eile der 
Fuhrmann, ein Meiner dürrer Bauer, und feuerte von Zeit zu 
‚Zeit mit der kurzen Peitjhe fein Röplein zu größerem Eifer an. 
Den Veihluh machte eine Feine, gebüchte Männergeftalt, die, eine 
Flinte über der Schulter, mit kurzen ungleihmähigen Schritten 
hinter dem Wagen herging. 

Ich Hätte dem fonderbaren Zuge vielleicht gar feine Beahtung 
gei—jenft, wenn nicht der Heine Mann, meine Aufmertiamfeit auf 
fich gezogen Hätte. Wer ging dad) jo? Wie ic) ftehen blieb und 
ihn mir genauer anfah, da war fein Zweifel mehr möglich, — das 
war mein alter Vertrauter aus den Ferien der Studentenzeit, 
ber alte Stard. ch rief ihn an. Er jtugte und jchaute verwundert 
zu mir herüber. Ic) rief nochmals feinen Namen. 

Und während er, noch immer zweifelhaft, an den Hand der 
Strafe trat, war ich über den Graben gefprungen und auf ihn zugeeilt. 
„Erkennen fie mid; nicht mehr, Herr Stard?" 

Da beichattete er die Augen mit der Hand und wie fein 
Zweifel fi in Gewißheit töfte, zog wieder das alte, gemüthliche 
Laden über die verihrumpften Züge. Da jtand er leibhaftig vor 
mir, der alte Star, aber wie hatte die Zeit ihn gewandelt! Der 
Nüden ganz zufammengefunfen und gebüdt, der mächtige Kopf 
von fdneeweißem Haar umrahmt, das gute alte Geficht eingefallen 
und verwittert. Auch auf dem borjtigen Schnurrbart lag Schnee. 

Er hielt lange und wortlos meine Hand, „Sie, Herr—t, 

Sie!" Zwar jchnarrte er nod, aber es war nur ein Nadhall 














Der alte Stard. 135 


des früheren energiichen Tones. „Was führt Sie her in unfere 
Gegend?" 

Ich gab furze Auskunft. 

„Und wie it eo Ihnen unterdefien ergangen?“ forichte ich 
zurüc und mein Bid freifte die Gegenftände auf dem Wagen. 
Das waren diefelben wurmftichigen Stühle, der wadelnde Tiidh), 
das Schmale, unbequeme Bett, die ich einft oben bei Törner gejehn. 
Der Alte jhlug den Vlid nieder. „Nun, wie ich's gewohnt bin,” 
erwiderte er, „nicht allzugut, aber cs fönnte and, fchlechter gegangen 
fein. Wohin id) mit meinem Kram da ziehe, wollen mitten? 
Ia, jehn Sie, vor drei Vionaten wurde die Chauffeceinnehmerftelle 
frei, dort drüben,“ er zeigte die Landjtrahe herauf, „und da es 
dod) etwas Files und id) ohne Stelle war, jo griff id ji. 
Schwerer Dienft, bei Tag und Nacht, feine Ruhe und bei jedem 
Wetter Heraus, und dazu die infame Gicht in den Gliedern. Ic) 
ah, 6 ging nicht, und nahm meine Entlafung ...“ 

Während der Alte erzählte, Fonnte id) mic) von der Empfindung 
nicht befrein, daß mir etwas an feiner Gefammiterfheinung fehlte. 
Endlic) fiel es mir ein. 

„Wo ift Leda?” fragte ich in feine Erörterungen hinein. 

Der Alte jenkte das Haupt. „Todt,“ jagte er Iafonijch. 

„Und nun?” fragte ic) nad) längerem Schweigen und deutete 
auf die Fuhre, die fid) wieder in Bewegung jebte. 

„In die Stadt,“ erwiderte dumpf der Alte. „Irgend wo 
wird fid) ein Plägchen finden für den alten Stard und ein Stücchen 
Dad) über jeinem grauen Stopf, bis man ihm fein legtes Haus baut.” 

Pir wurde es weid und fÄwer um’s Her. 

„Herr Stark,“ fagte id) ein wenig zögernd, „Sie haben für 
Ihre neue Einrichtung gewih; einige Mittel nöthig. Darf ih?.. 
Sie wilfen, es ift gut gemeint.“ Ich bot ihm an, fo viel ih 
entbehren Fonnte. 

Er jah mid) an aus großen, gerührten Augen. „Yon Ihnen 
nehme ich's gerne,“ fagte er leife, „und, wil's Gott, fo follen 
Sie 08 bald wieder haben.” 

Wir reichten uns die Hände. Langfam, aber jtetig bewegte 
fi drüben der Wagen in der Richtung zur Stadt fort. „Ic 
mu eilen,“ fagte Stard unruhig. Cr nidte mir nochmals zu, 

3 









136 Der alte Stard. 


ichulterte das Gewehr und eilte dem Fuhrwerfe nah. Ih ging 
meine Strafe weiter, doch mod) ein Mal wandte ich mich um 
und jhante gedanfenvoll zurüc. Da jchritt der Alte jeinen Leidens: 
, weiter, weiter, immer Feiner und undeutlicher nurde feine 
talt, bis fie in der Hereinbrechenden Dämmerung verjank . . . 








* » 

Nad) einem Jahr etwa lief bei mir ein Geldbrief ein. Der 
alte Stard fchrieb mir und ich betrachtete mit ntereffe Diele 
tleine, Fraufe, weiche Handfchrift, die feinem Welen und Charakter 
io gut entiprad. Er idicte mir die Hälfte des gelichenen Geldes. 
ine Zeilen aber lauteten: 








Rd. 4 Jan. IST... 
Schr lieber verehrter Herr! 

Endlich bin ich in der Lage, mich wenigitens theilweiie ber 
Ihnen gegenüber eingegangenen Verbindlichkeit zu entledigen und 
wahrlich, ich Ahue es mit allerwärmften Danke. Nad) Jahresfriit 
hoffe ich auch den Nejt zurückzueritatten. Der alte Gott Icbt 
nod. Er hat mir auf der befchwerlihen Wanderung durd) das 
Leben endlich eine Najt vergönnt, da ich ausruhn darf, bevor ich 
die legte und größte Neife antrete. Neine Date, fein Palmen- 
ihatten, fein filberiprudelnder Quell, aber doc) eine gute bebagliche 
Stelle als Speicher: und Kellerverwalter in einem biefigen Seichäft. 
Drei [berrubel feite monatliche Gage, wie viel jchweres Held! 
Dafür kann ich nicht allein anftändig (eben, mir ein warmes 
Zimmer und einen guten Mantel beicaffen, Tondern aud Schulden 
bezahlen. Es lebte fid) jchen, wenn nur die Gicht mich nicht 
plagte. Doch darf ich nicht Hagen, hätte id) dod) nie geglaubt, 
dafi es einft mit mir noch fo gut werden fönnte. 

Ihr treu ergebener 
Karl Stard. 


















vun. 

Wieder war eine ftattliche Anzahl von Jahren verflofien, 
che ih die gute Stadt N. betrat. Wieder ging ich fchlendernd 
die Strafien hinab und Fam auf meiner Wanderung an den Ort, 








Der alte” Stard. 137 





wo inmitten einer Klucht neuerbauter Käufer in progigem Gefchmad 
fi die Törneriche Gomditorei furdtjam und verihüchtert zu ducen 
ichien, nod) gänzlid) unberührt vom Hauche einer neuen Zeit. Nod) 
immer wies diejelbe, mir jo wohlbefannte fhwarze Tafel mit den 
goldenen, jest halb verblidenen Yuchjtaben den Weg zum Cingang 
in die MWirthicaft und als id) meinen Vi in bie Höhe hob, jah 
ich aud am Giebel das Fenfter wieder, das zu der chemaligen 
Wohnung des alten Stard gehörte. Es war Alles wie einft, nur 
der Garten, in den ic) jo gerne hinabgefhaut, war verichwunden, 
die prächtigen Linden niedergelegt und an der Stelle, wo fonjt 
ihre jchattigen Nronen zum Simmel ftrebten, vagte jegt ein 
nüchterner Tafernenmäßiger Neubau empor. Unwilltürlich hemmte 
id) den Schritt und im nächjiten Augenblid fand id) vor dem alt 
befannten Buffett der Törnerfhen Mirthicaftl. Törner erfannte 
mid) glei und nidte mir lähehud zw. Gr war breiter md 
behäbiger geworden, aber die Nugen hatten den munteren, lebens« 
freudigen Ausdrud behalten. 

Ic beftellte etwas und fragte nad) dem alten Star. 

„O, der üft tobt!“ meinte Törner gleihmüthig, in bem er mir 
mein Glas füllte. „Ging ihm ja zuleht fo weit ganz gut, und fill 
und folide Ichte er and. Seit jenem Abende — mn Sie willen 
wohl — hat er fich bier fo gut wie garnicht mehr gezeigt und 
der Rofenfeld, der ja aud fchon fange auf dem Kirchhof 
liegt, bedauerte es jpäter immer, daß er dem Stard jo garnicht 
beifommen fünnte. Aber er fränfelte, der Alte, und jo gan 
langfam weggeflorben. Eine Art Teftament hat er aud hinter 
fajfen. Vejap ja nichts, doch feinen alten Farbendedel follte man 
ihm in dem Sarg legen und das alte Lederpolfter, das er im 
Leben immer als Nijjen benugte, unter den Kopf.“ 

Fernando's Kiffen! dadıte ich. 

„Dit aud) alles pünktlich ausgeführt worden,“ fehlen Törner 
feinen Bericht. 

„Wo liegt Staret begraben?” fragte ich. 

„Auf dem alten Kirchhof, fo viel ich weih,” erwiderte Törner 
achfelzuctend, „über das Weitere wird Ihnen der Nirhhofswächter 
wohl Beicheid geben.” 














gr 


138 Der alte Stand. 


Armer Stark! dachte ich, mie schnell bijt Tu vergefien 
Nicht einmal diefer, mit dem Dich jahrelange häusliche Gemein: 
fchaft verbunden, weih von deiner Nuheftätte! 

Id nahm einen Wagen und fuhr über die neue Vrüde, den 
Hafen entlang, der Vorftadt zu, an Heinen, beicheidenen hölgernen 
Häufern vorbei, bis der Weg immer einfamer und beichwerlicher 
wurde. Vor dem Haufe des Todtengräbers lieh ich halten und 
fragte drinnen nad Stard's Grab. 

Der jtille Mann mah mid mit einem erftnunten lid. 
„Kart Star?“ fragte er nachdenklich, „aus welchen Jahr? 18782 
Weit nicht, it ihon lange her, da muß id) meine Yücher nad): 
ichlagen.” Er blätterte längere Zeit, dann blieb fein Finger an 
einer Stelle haften. „Pier,“ fagte er, „Narl Stard, Grab auf 
der Fichtenhöhe.“ Und als er meinem fragenden Ylid begegnete: 
„a, das find die alten Gräber. Es iit jchwer fid) da zurecht: 
jufinden. Wenn Sie wollen, begleite id Sie.” 

Wir jhritten jchweigend durd) das Neid) der Todten, auf 
das der October doppelte Schwermuth jtreute, vorüber an frühen 
und halbverjunfenen Gräbern und Areuzen. Der Wind rajdelte 
in den welfen Swänzen und leife fchwanften die Aftern, auf den 
füllen Hügeln. Weit, weit hinten, wo der Friedhof fon zu Ende 
zu gehn Ihien, vagte eine jteile Höhe, die dunkle Kiefern frönten. 
Wir Hommen durd) den diden gelben Sand hinan und mein 
Begleiter lief; prüfend den Bid über die Umgebung j—hweifen. 
An einer Stelle blieb er jichn. „Sier,” fagte er latonijc), grühte 
und ging von dannen. 

Alfo hier hatten fie Did) gebettet, alter Stard! 

Ein von Moos und Unkraut überwachiener, halbverfallener 
Hügel, ein fchiefragendes, fdlichtes, dunkles Areuz aus Tannenholy 
mit einfadher, hatbverblahter Inichrift, —- das war alles, mas an 














ch,” las ich mühlam, „geboren 20. Juni 1806 
geit. 4. Nov. IKTK...* 

In der Nähe ftand eine Bank, id) fegte mich und ftarrte in 
Gedanfen verjunfen auf den Hügel. 

Um mic war es jo friedlich und jtill. ben in den uralten 
Kiefern Hang es wie von dumfeln Liedern und gradeaus vor mir 











Der alte Stard. 139 


dahin id den Bid nun Hob, that fih eine überraichend ichöne 
Ausiiht auf. Dort felug der weie Gifdht der Brandung wider 
die Mlolen, dahinter aber dehnte fi das unermehliche Meer, 
deffen grauer Spiegel heute von leichten Wellen gefräufelt war. 
Eine frifche, gefunde, falzige Luft wehte in Leifer Brife zu mir herüber. 

So hatte er die Natur doc) nahe, die er fo fehr liebte, 

Und id) dachte, ein wie cwaches und willensunfräftigeo, 
aber aud) ein wie treues umd rechtes Herz in dem Dianne geichlagen, 
der da ımten ruhte. Was er aud) gefehlt, er Hatte es überreichlich 
gebüft mit einem langen, langen Yeben voll Entjagung, Tereinfamung 
und Zurücdiegung. Er hatte nirgends feften Fuß gefaßt, er war 
ein Frembdling geblieben in diejer Welt, deren lichte Höhen er nur 
von ferne geichaut. Er hatte umfont gelebt, ein verfehltes und 
gefnidtes Leben, das in der Rnofpe erjtarrt war ohne Vlüthen 
und Frucht zu tragen. Oder nein. Zwei prangende Blüthen hatte 
es doch gezeitigt: begeifterungsfähige Freundichaft und die bis in 
den Tod getreue Liebe für feine Jugend, jeine Burjchenjahre. 

Ic, blicte zum Himmel auf. Dort jtand ein Stern an der 
graublauen Wölbung, gerade über Stard’s Grabe. 

Und wieder dachte id, wie niemand jo arm, mühjelig und 
beladen ift, dah ihm nicht in der Tiefe des Herzens ein Ndeal 
wohne, welcyes ihn führt und aufrichtet, ihm leuchtet und Tröftung 
bringt in den Dunfelheiten dieies Lebens. 


— 























Aunitbriefe. 


VL 

Aus der Hodfluth der ITheaterjaifon diejes Winters ragt 
bier und da Etwas hervor, nicht aere perennius, aber dod) 
werth vom Tageschroniften fefigehaften zu werden, jei's au nur, 
weil 5 von der immer no) fteigenden Fluth am Ende auch bevedt 
und fortgeriffen werden fönnte . . . . 

Wer fpricht Heute noch von dem großartigen Haafe- 
Jubiläum, das vor Monatsfriit in aller Yente Diund war in ber 
vajchlebenden llionenjtadt, in aller Leute Diund, foweit fie 
Raum haben in Hirn und Herz für geiftige Interejfen? 

Und es mar doch eine jo „ihöne*, jo „grohartige” Feier! 
Wenigitens wurde fie damals dafür ausgegeben. Was Namen 
hat in Thenter- und Schriftftellertreifen, drängte fih heran an 
den Jubilar md fonnte fid) in feinem Glanz, wie cs diefen 
andererfeits jelbjt vermehrte, 

Der bald fiebenzigjährige Vühnenfünftler, der weit cher 
einem Diplomaten oder Viinifter a. D. gleicht, als einem Ver 
treter der Kulifjenwelt, ift heute fie der im Auslande befanntejte 
deutfche Schaufpieler. Auch in Bezug auf feinen Lebensgang, 
von dem ja jedes Nonverfationslerion genügend Ausfunft zu 
geben weiß. Auch in feinem Waterlande, in dem er in den 
legten 13 Jahren feinem feiten Vühnenverbande mehr angehört 
bat, jondern nur als Gaftjpieler thätig war, gehört er zu den 
befanntejten und beliebtejten. Als daher ein legte, allerlegtes 












Kumftbriefe. 141 


Gajtipiel im Löniglichen Hofihauipielgaufe angefündigt wurde, mit 
dem Friedrid) Haafe jic) für immer von der Bühne verabfcjieden 
follte, da erregte es allgemein aroßes Interefie und gleichzeitig, 
begannen die Vorbereitungen zu einer großen Abichiedsfeier . . - » 
So famen denn noch einmal die Kopebue und Haupad), die 
Venedir und Scribe auf einer der erjten Bühnen Deutichlands zu 
Ehren während mehrerer Wochen, bis der 15. Januar da war, 
an dem die legte Haafe-Vorftellung tattfand und der Künftler 
als Graf Ihorane im Gugfowfchen „Nönigs Yirutenant“ mit deijen 
Schlußworten den Berlinern fein wehmüthiges „adieu, adieu 
pour toujours!“ zurufen tote... Schluchzen, Tücherichwenten, 
Seränge und Sträufe... Dann, eine große offizielle Verabichiedung 
auf der Vühne jelbjt. Das war das Vorjpiel. Tags darauf ein 
großes Feitefien im „Saiferhof.” Spenden und Ehrungen aller 
Art, zahlreiche rührende und gerührte Neden und Gegenreden in 
glänzender Verfammlung, die Tafel mit lauter Heinen Häschen 
im Lorbeerichmud geziert. U. j. m. Und das Ende vom Liebe? 
Nicht Friedrid) Haaje hat Nedht behalten, der in feiner Nede von 
der Bühne des Schaufpielpaufes herab den Zufchauern zurief: „er 
jei glüclich, dafı es ihm vergönnt gewejen, gerade in Berlin Ab 
ichied zu nehmen, das ihm stets fo freudig entgegengefommen jeil” 
Sondern Dofar Blumenthal, der im Naiferhof Inunig auf das 
nächfte Gajtipiel Haafe'o — im Yeifingtheater tonjtete. Im 
Keffingthenter hat es nun freilich nicht jtattgefunden, fondern in 
Dlagdeburg, dem fih ein weiteres in Röln anichloj. Und jo 
wird fid) der Meifter jsenifcher Nleinfunft und bejtechender Bühnen- 
toufine wohl noch ein Jahr durdwerabicieden von allen Haupt 
ftätten feines einftigen Wirfens. Wis dahin hätten wir aljo wohl 
noch Zeit, die Summe diejes Wirfens zu ziehen. Nun foviel 
icon heute: Haaje galt in den 50er und 60-er Jahren als einer 
der alferbejten Vertreter deo Faches, das man damals und aud 
fpäter alo das des „Charafterdaritellers“ bezeichnete, und er legte 
in diejes Fac) joviel perfönlices Können der Nleinmalerei hinein, 
dah; fid) mit der Zeit in der Sprade der Bühnenwelt das Wort: 
„Haaje Fach” herauobildete. Heute muh jeder Schauipieler Charafer- 
darjteller und jeder Wühnendichter Charakterichöpfer fein. Und 
Haaje, der vielbeneidete „Nealift“ von damals, er erideint neben 














142 Kunjtbriefe. 


den Nealiften von heute nur nod als Routinier. Aber, wie ic) 
fchon fagte, diefe Routine hat mitunter etwas Veraufhendes, das 
Detail feiner Menfdenmalerei etwas Feljelndes und das immer 
um fo mehr, je weniger der Dichter ihm an Material bot. 
Großes feeliihes Material der Dichterfürften vermochte er nicht 
zu bewältigen. Nidt fein Lear und fein Hamlet, nicht fein 
Nihard III. und fein Alba haben ihm die großartige Jubelfeier 
eingetragen, jondern fein Nocheperrier und Yonjaur, jein Thorane 
und fein Lämmchen, fein Klingsberg und jein Crommell.... 
* * 





* 

Tout passe, tout easse. tout lasse.... Au Hanje 
fonnte fid) die legten Jahre über davon überzeugen, wenn er die 
Mritifen am Abend feiner Bühnenlaufbahn mit denen aus der 
Zeit, wo feine Veifallstonne in Mittagshöhe ftand, verglid. Aber 
er fann fid) aud) mit der Gunft der großen Mafie tröften — die 
it ihm gleich treu geblieben ein halbes Jahrhundert bindurd. 
Vierfwürdig, dieie große Mafle — wie fangiam fie fi fort- 
entwidelt inobefondere auf dem Gebiete jeglicher Art Kunftgeihmads. 
Da bleibt fie fteis hinter der Eleinen Gruppe äfthetiicher Fein- 
ichmeder nnd ihrer die Fritifirende Feder fhwingenden Führer um 
ein paar Jahrzehnte zurüd. 

Das merft man jedes Mal auf's Neue, wenn einer der 
Halbgötter der Modernen zu Worte fommt, was jett freilich 
immer feltener zu geidhehen pflegt, denn jchliehlih it aud) für 
den tolliten Principienreiter unter den Theaterleitern ein jchöner 
Kaffenrapport über Aufführungen Haffiiher Dichtungen und 
unmoderner Mittelmaare weit werthvoller und lieber, als die 
begeiftertiten Spmnen jenes Häufleins Kritifer. Won allen Theater: 
leitern der legten 10 Jahre it hier mır Yudwig Barnay zum 
Viillionär geworden, obidon — oder weil? Stüde wie ein 
Obnet’icer „Hüttenbefiger“ zum eiernen Veltande feines Spiel- 
plans gehörten. 
Gar bitter find dagegen die Erfahrungen, die das „Deutiche 
Theater“ macht. Bejonders in diefem Winter. Die beiden Haupt- 
teiimpfe, die Direktor Otto Brahm ausipielte, erwiefen fih als 
viel zu Fady und wurden von Mifgunft und erftänbnihlofigfeit 
überjtochen. 








Kunftbriefe. 143 


Selbjt die allerwärmten Anhänger des Hauptmannz 
Kultus mußten zugeben, dab „Florian Geyer” ein gan 
verfehftes Werk. Deswegen hätte e6 freifid bei der Gritauf 
führung am +. Januar nicht zu den wunderlichen Nuftritten zu 
fommen brauchen, die im fepten Afte gar zu minutenlanger Unter 
bredung des Spiels und einem Höllenlärm führten. Hervorge: 
rufen wurde der beifpielloje Skandal weniger durch die Dichtung, 
als durd) die überlaute Gemeinde der Freunde des Dichters, die dort 
einen großen Erfolg jehen und fcaffen wollten, wo das Publitum mur 
Vihbehagen empfand und einen Diherfolg verzeichnete. Doc) wir 
wollen von diejen Vorgängen ganz abiehen, die den Theaterfaal zum 
Schauplag einer jtürmifchen Wolfoverfammfung machten. ie allein 
dürfen für das Werf nicht maßgebend fein. Gleich den „Webern“ 
its eine Mitleidstragöbie, aber die gequälten fahlefiihen Arbeiter 
mit ihrem Hunger und Elend ftehen mir immerhin näher, als die 
Bundjchugleute mit ihren 12 Artifen aus dem an tragiichen 
Epifoden und entjeglichen Xorfommniffen jo reihen fränfiicen 
Bauernfriege des Jahres 1525. Ihr vitterlicher Führer, der 
Slorian Geyer, gewiß; eine tragüiche Figur, it epiich und dramatiic) 
ichon wiederholt verarbeitet worden aber Hauptmann hat nicht 
mehr Glück dabei gehabt, als feine Vorgän Der Dichter 
nannte fein Wert „Bühnenipiel* — charafteriftiich für die Mo 
dernen ift überhaupt die gefliffentliche Umgehung der fandläufigen 
dramatifchen Gattungsbegeihnungen — aber aud) das Vühnenipiel 
muß uns in erter Linie eine feitgefügte Handlung, Steigerung 
und Entwidlung bieten, wenn anders cs feileln foll. Hier - 
nicht davon. “Eine endlofe Neihe von Bildern und Szenen, oft 
vollftändig zulammenhanglos, jo dafi z.B. das Loripiel ganz aut 
an Stelle des dritten Aftes, diefer anftatt des zweiten und der 
zweite als eriter Aft Hätte gegeben werden fönnen — man hätte 
wahrlich feinen Unterfchied gemerkt. Exit im vierten beginnt fo 
was wie dramatiihe Handkung uns zu feileln, die dann im fünften 
in echt Haupmannicer Weife gewaltig ergreift, chliehlid aber 
durd) das Mebermah naturaliftifcher Zumuthungen verfiimmt und 
Bis zur zweiten Hälfte des vierten Afts nichts als 
mwüfter Cärm auf der Bühne, ein Stohen und Drängen und 
Schreien von zahllofen immer wieder neuen Gejtalten, die fennen 




















144 Kunftbriefe. 


zu fernen wir gar nicht Zeit haben, deren Summen wir mitunter 
nicht einmal verjtehen fünnen. Florian Geyer jelbit aber mitten 
drin feineswegs der Alles beherrichende Mittelpunkt von zwingender 
Gewalt, um den fid Alles jammelt, jondern eigentlich aud, 
immer nur Epifode, wie die Uebrigen Alle, Freilich war das 
Werk, das zuerft für zwei Abende berechnet war, ftarf zufammen 
geitrichen worden. Vielleicht dadurd) ftellte die Aufführung an 
bitteriiche Spezialfenntnifie jo ftarfe Forderungen, Läht fie jo viel 
der Näthjeldeutungsfunft übrig. Aber Publitum will feine Näthiet 
Gen im Theater. Dazu das ewige Stimmengewir, Nüftung- 
geflier, Schwertergerafiel und Nanonengeprafiel - aud) Männer 
nerven hielten die Sade jcwer aus. Trog alledem gelang es 
Hauptmann nicht einmal, grofiausgeführte, Hargezeichnete, farben: 
präcjtige Zeitbilder zu liefern. ... Und das jollte mn einen 
Goetheichen „Söp” in den Schatten jtellen! Jemand meinte recht 
boshaft: diefer jei wirklid ein „eilerner“ Göß, Hauptmanns 
„slorion Geyer“ aber nur — blehbeichlagen. . . Der Naum 
verbietet mir leider eingehender bei der Dichtung zu verweilen. 
Iedoch heiiht es die Gerechtigkeit zu betonen, da ein Hauptmann 
jein dichteriiches Genie nimmer ganz verleugnen fann: auch hier 
gabs Momente, Züge, Scenen von groher dichteriicher Schönheit 
und Kumft, zumal im +4. und 5. Aft, theilweije auch im zweiten. Dan 
bat fie fpäter herauszuretten gefucht. Zur zweiten Aufführung 
war das große Vorfpiel ganz geftichen, waren die übrigen Alte 
erheblid) gefürzt worden --- aber geholfen Hat das nicht und nad) 
zwei Wochen jchon war das jo mühjam einjtudirte, mit joviel 
often inijenirte „Vühnenjpiel“ vom Spielplan jo qut wie ganz 
verjchiwunden. Wenn ich nicht inte, hat es überhaupt noch nicht 
zehn Aufführungen erlebt. 




















Fafı ebenfo jhlimm erging es War Halbe. Nicht jo hoc 
fiectt er fidh jein Ziel, wie der fruchtbarere Gefinnungegenofie und 
größere. Wenn diefer fünjtterifc Zeit: und Weltfrngen zu er 
fafien and dis zum Höhe dichteriicher Verallgemeinerung des 
Menfchlichen überhaupt zu erheben bemüht ijt, jo begnünt fich 
Halbe mit fleinen ftimmungsvollen Yebensausicnitten der einzel: 


Rumjtbriefe. 145 


nen DVienihen. Aber die Mittel, mit denen er arbeitet, find zu 
meift die gleichen und die treibende Pebenophilojophie ift diejelbe. 
Der Erfolg feiner „Tugend“ vor ein paar Jahren, die anzır 
bringen ihm übrigens viel Mühe gefoitet hat, wedte das Interefie 
für feine neuefte Dichtung: „Lebenswende*“ die er als 
„Tragifomödie” bezeichnet. Schon dieje Bezeichnung allein cr 
iheint verhängnüvoll. Was einem Shafeipeare gelingen fonnte, 
das Tragiiche und Nomiihe in einem Unauflöstichen zufammen 
zuverichlingen Halbe ift es mihlungen und jelbft zwei Halbe 
machen, trog aller mathematiichen Grundiäge, nod fein Ganzes. 
Das Tragiiche wird hier nicht fomohl vom Nomifhen, jondern 
vom Grotesfen überwuchert und wo der Tichter erihütternd 
wirken wollte, da verdarb er Alles durdy Banalität, die nament 
lich im 5. Alte Bas griff. Cine Handlung giebts freilich diejes 
Mal, aber fie fest erit im 3. Akte ein und wird jclichlich 
umerhört! —- nad) dem deus-ex-machina-Negept jäh übers Anie 
gebrodyen. Zwei junge Dänner, ein jwrebfamer Technifer, Weyland 
und ein verbummmelter, jaft: und marklojer Student, Ebero, ewig 
im Mater und verteäumt, leben in einem Chambre-garni bei 
einem Fräulein Olga, dem einft der Bräutigam furz vor der 
Hochzeit ftarb. Sie hat eine Nichte bei fd), Provinzialbadfiid) 
Vertha, ein verlichtes und verfchlagenes Mädchen, das die Nefidenz, 
fuft Tennen lernen foll und über deifen Lüfternheit und finnlider 
Neugier nur die Pilift i 

icheinbaren Herzensreinheit gebedt hat. Sie 
Ebert, bald mit Werland, lält fi) von jenem füffen und bietet 
fich diefem als Weib an. Das Yeptere thut auch Olga, in einer 
der beiten Szenen, in wahrhaft dichteriich natürlicher Weiblichkeit; 
fie jelbjt wird von einem aus Amerika heimgefehrten alten 
Jugendfreunde geliebt und umworben, Nobert Heyne, der Weib 
und stind drüben verlafien hat, wie fie ihren Bräutigam. Wen 
Land beichäftigt fi mit einer großen Erfindung auf dem Gebiete 
des Bronzeguifes. Aber dazu braucht er Geld. Die NMente 
Tilgas reicht nicht aus. Sie will daher das Opfer bringen 
natülih ohne da Wenland es weil; und Heyne heirathen, 
wenn er die Summe hergiebt. Aber er ift vorfihtig: erit muß 
er jehen, was «6 mit dev Erfindung auf ji) hat, am der der 








































146 Sunfibriefe. 


Terhniter im Hinterhaufe arbeitet, wo er fid) einen Gufofen her- 
gerichtet Hat, in deifen Feuerichein auch die beiden legten Ate 
ipielen. Da begeht die Liebende den Unfinn, ihre Hand dem 
greifen, halb blödfinnigen, aber veichen Hausbefiger zu veriprechen, 
der längft um fie buhlt. Doch inzwiichen befinnt fi) Heyne und 
da num andererfeits Olga auf Bertha eiferfühtig wird — fie 
glaubt, das Vrädchen habe Weyland bethört — fo heirathet fie 
doc) zu quterlegt den ugendfreund, der wie gejagt dem Erfinder 
jest zu Helfen bereit ift. Bertha aber, die fi erit mit Ebert 
verlobt Hatte, dann wieder entlobt wurde, nimmt ihn schlichlich, 
da Werland von ihr abjolut nichts willen will. . . 

Erquidend ijt das Alles nicht und and) nicht natürlich. Aber 
diefe eigentliche Handlung it ja ganz Nebenfache: die Milten- 
zeichnung, die Stimmungsmalerei, die Charafteriftit, vor Allem die 
Eberts und des Provinzmäddens während Olga nur ftellens 
weife gelungen it, Wepland ein langweiliger Schönredner und 
Heyne fid) dnrd) nichts von einem Scablonenmenjchen unter- 
Ädeidet -- Das macht den Neiz der Dichtung aus, namentlich in 
den drei cerjten Aften. . . Jedoch feine Serlenmalerei und ge- 
treue Alltagslebenschilderung find offenbar nicht nad) dem Ger 
ichmad des großen Publifums und da die Hoterie der Mobernen 
und ihre zumeift aus wenige Semejter alten Studenten beftchende 
Glaque wiederum von vornherein jcharf ins Zeug ging, jo gabs 
abermals Standal: ITrampeln, Züchen, Pfeifen fogar. Der Er 
folg des Stüds war ein jeher umftrittener und fein Gefchie gleich 
dem von „Florian Geyer”: 8 jteht chen nicht mehr auf dem 
Spielplan. Xilleicht wird’s zu einer Yebenswende aud) für Halbe 
jelbjt und gelangt fein jdönes Talent demnächjt auf den richtigen 
Weg. Afte, wie dev erfte und zweite in „Lebenswenbe“, gehören 
zu den beiten in der heutigen deutfchen Vühnenliteratur überhaupt. 
Nur Tann man ihren Neiz nicht wiedergeben - man muß fie 
schen. 

Auch von „Yiebelei“ läht fid) das jagen, dem dritten 
Schaufpiel, das das Deutjche Theater in der legten Woche auf 
die Vühne gebracht hat und in diefem Falle mit mehr Glüc. 
Der Dichter, ein liebenswürdiger junger Wiener Arzt, Dr. Arthur 
Schnigler, eroberte fi die Veryen der Berliner im Sturm. 














Kunjebriefe. 147 


Da der geiftreiche Feuilletoniit und Sapneten-Dichter von Henri 
Miurger und Alphonje Daudet beinflußt ericeint, da jein Dreiakter 
Grinnerungen an vie de Boheme* und „Sappho“ wachruft, 
bas tHut nichts, denn „Liebelei” it echtes Wiener Blut durd) und 
durch. Erzählt if's bald, was das Stüc bietet: Zwei junge 
Wiener Lebemänner, Theodor und Friß, lernen wir fennen und 
ihre augenbliclichen Bonfjaden, die feihe, Iuftig und leichtfertig 
durd)s Yeben flatternde und ihre Liebhaber wie Tänzer wechlelnde 
Mobdiftin Mizi und die fchwermüthige Mufiantentochter Chrüiline, 
der es Exnjt ift mit ihrer Viebe zu Arig. Und aud) diejer licht, 
und liebelt nicht, zum eriten Val in jeinem eben. Doc das 
Unglück fcjreitet fhnell. Cr hat aud) gleichzeitig ein Verhältnis 
mit einer Tame von Welt. Der Gatte fommt dahinter 
und mitten in das tolle, fuftige Treiben der vier in dem reichen 
Junggefellenheim Frigens fällt jeine Forderung, die er perjönlid) 
überbringt. Im zweiten Akt werden wir in das Heim des alten 
vefignirten Vlufifanten, zweiten Geigers in einem Vorjtadttheater, 
geführt. Cine faubere Dadywohnung voll Sonnenjhein und mitten 
drin die bange Chriftine mit der Angft um ihre Liebe, obgleich fie 
vom Duell nichto weiß. Aber Fri ift jo väthielhaft und zum 
Hendezvous Fam er nicht und eine alte Nachbarin jtihelt und 
Latjcht fo Hählid) und die Mizi lacht und f—erzt jo viel... Dod) 
da kommt der Friß... Endlidh!.. Er kommt Abjhied nehmen, 
ohne dah fie es merken darf... Dann geht er. Sie joll ihm 
nicht wiederfehn. Er füllt in Duell. Ju 3. At erfährt fie co, 
erfährt gleichzeitig, dal er ichon beerdigt ijt! Gleichgütige Verwandte, 
feicht vergeifende Freunde Fonnten ihm zur Erde bejlatten, und 
fie, und fie, deren Pebensfonne er war, fie durfte es nicht?... 
Da rat fie zur ür hinaus und jtürzt fd aus der Dachluke in 
den Hof hinab... 

Das ift alles. Aber wieder, wie ijt das gemacht. Mit 
wieviel Geihid und Geichmad, mit wieviel Empfindung und 
Naturtreue. Wie lebensvoll find alle fieben Perfonen, aud) die 
epifodijchen. Und dod — was bietet mm der Dichter? Nachdem 
er mit liebenswürdiger Naivität und fozujagen einem herzigen 
Gynismus zwei Akte hindurd) folhe „Verhältnifie” als veizvolles 
felbftveritändlides Surrogat des Münnerlebens gezeichnet hat, läht 






























148 Aunftbriefe. 


er im dritten doppelten Tod ans ihnen erwachlen und wir willen 
nicht, it diefe Wendung nur anedotisch oder tendenziös zu nehmen. 
Wogl im eriten Sinne: wiederum nur einen „Lebensabfchnitt” 
wollte uns Schnigler malen und weil er ihn liebenswürdiger, ge: 
ichmadvoller, minder grefl malte, als jeine norddeutichen Gefinnungs- 
brüder, gefiel er aud dev Majje bejfer, als Diele... 


Nur im Kluge önnen nod) einige andere intereflante Er- 
icheinungen uns dem Berfiner Bühnenfeben der festen Wochen 
geftreift werden, verdienten fie au mehr Worte, als ich ihnen 
hiev widmen fann. 

So Ernft von Wildenbrud's „König Deinrid,“ 
Tragödie in einem Vorjpiel md fünf Aften. Der gewaltigite 
Stoff beutfcher mittelalterlicher Geichichte it's, den der reichstrene 
Dramatifer und Fönigstrene Dichter Hier vorgenommen hat. Einen 
Stoff, der md ohne dichterifche Bearbeitung und Ausgeitaltung 
an umd für fi fchen von großer poetiiher Nunjtwirkung it: 
Heineih IV,, Greger VIL, Nanojja! Ein gewaltiger Blod und 
ihn Fünftlerifch auszumeiheln —- dazu gehört immerhin eine gröhere 
Nraft, als die Wildendruchs. Wo fie im Augenbli zu finden 
wäre ic) jehe fie nicht. Vielleicht fam es dem Verfafjer der 
„Quigow“ und von „Der neue Herr“ auch nur auf den Anall: 
dert am, der den Höhepmft der Dichtung bildet, die jtolzen 
Worte: „Id bin der Nönig und Treue zum Nönig und önig’s 
Wille ift Dentfhlands Gefeh. Ih frage nicht, ob 
Jude oder Chrift — ich bin der Nönig und Treue zum König it 
Deutichlande Neligion!” Sie find gewih von aktueller Be: 
deutung, wenngleich fie Naijer Heinrich IV. in den Diund gelegt 
werden. . . 

Wie dem and) fei — wenn aud fein Meifterwert der dra 
matiichen Nunft, To doc ein effeftvolles Ipenterftüc hat Herr 
v. Wildenbruch aus dem großen Stoffe gemacht und die Neibe 
funjtichöner und aud) empfindungsvolfer Bitder, die uns den herrlichen 
Naifer von den Tagen feiner Nindheit bis zum Höhepunkt feiner 
Diacht zeichnen und mit dem dichterifch autizipirten Tode Gregors 
ihliehen, fie geben bei aller Theatralif doc eine beifere Schilde: 















Kunftbriefe. 149 


derung der Zeit, als das naturaliftiiche Gelärme des Hauptmann- 
ihen „lorian Geyer“. Die Tragödie ijt das Zugitüd des 
„Berliner Theaters“ geworden und dah fie cs verdient, fall 
nicht beftritten werden. 

Nur ein Ruriofum noch zum Schluß. Weil es der prächtige 
gemithvolle Fedor v. Zobeltig ill, der Dichter von „Ohne 
Geläut, dem Schaufpiel im Zudermannihen Stil, aber ohne 
Sudermanniche Phrafe und Pofe, das vor zwei Jahren im „Yel- 
fing-Thenter“ einen jo berechtigten Erfolg erzielte. Er hat dem 
jelben Theater jest ein Luft befcheert und eo bedeutete eine 
Ueberrajchung, weil eo eine Enttäufchung brachte. Da; cr Sur 
üt, das wuhten wir aus jeinen Novellen und tigen. Nun 
icjrieb er ein Luftipiel. Warum auch nicht. Aber „Der Thron 
feiner Väter“ geht um den eigentlichen Stoff herum, der 
darin lag, dah ein preußifcher Gardelieutenant plöglic auf den 
„Thron“ eines drei Qundratmeilen großen Duodezjtantchens be 
rufen wird. Wie das auf ihn wirft, ihm vorübergehend wandelt 

fürwahr ein prädtiger echter Luftipielitoff. Aber was wir zu 
fchen und zu hören befamen, das waren die allexbilligiten und 
allernächitliegenden Wise über Nleinftaaterei und daneben eine 
fünpfe doppelte Heirathegeichichte in der Schwanfmanier der Mofer 
und Schönthan und Kadelburg. Das echte Luftipiel höheren 
Stils blieb ungefchrieben. Schade! 
Berlin, im Februar. 2. Norden. 












Trurfchterberichtigung. 


Im IV. Aumibrief Ties af Seite 36, 3. Ivo. Aultus fat 
Kulman und auf 3. 110.0. Theoric fat Pochic, 


























Litterärishe Amjhan. 





Die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts fo all- 
gemein verbreitete Titte in ausführlichen Tagebüchern die täglichen 
bniffe und Erfahrungen genau aufzuzeichnen, feine Fehler und 
Schwächen jorgfältig angumerten und die moralifchen Fortichritte 
des eigenen Jch ebenfo wie die oft genug zu beflagenden Fehltritte 
peinlich abzmwägen, ift mit Necht längft aus der Diode gekommen. 
Die bei einer foldhen Buchführung über die eigene Perfönlichteit 
et fich einfchleichende Selbitfpiegelung, Selbittäuichung 
feit wirfen auf den Charakter der Schreibenden 

i Dagegen it 8 eine alte wohlberedhtigte 
Neigung ernjter Geifter ihre Yebenserfahrungen und ihre Gedanfen 
über die mannigfaltigen Erjejeinungen und Wedjjelfälle des Lebens 
in fpäteren Jahren apheriftiic) aufzuzeichnen. In jolchen geiftreichen, 
anregenden, jcharfinnigen Nefferionen haben die Jranzojen feit 
Pascal Vorzüglid)es geleiitet und find darin wahre Meifter. Auch 
in Deutichland herrichte am Ende des XVII. Jahrhunderts große 
Vorliebe für jolhe jeharf zugeipigte, paradore Aphorismen. Novalis 
Fragmente find das glänzendfte Beijpiel für diefe Art fchriftitelleriicher 
Production. Den ganzen Neichtpum feiner großen Yebens- und 
Welterfahrung hat dann Goethe in feinen Sprüchen, Reflerionen 
und Marimen niebergelegt, deren Juhalt wahrhaft unerjchöpflich 
it. Hinter diefen fait alle Gebiete des Lebens, die Neligion 
allein ausgenommen, berührenden Ausiprüchen des großen Meiiters 
jtehen natürlich alle fpäteren Veröffentlihungen ähnlicher Art weit 
zurüc. Aber auch nachher find dach nicht wenige feine und tiefe 
























Litterärifche Umfcau. 151 


Gebanfen aus ben eigenen Erfahrungen von lebensfundigen 
Männern und Frauen aufgezeichnet worden. Und felbit in der 
Gegenwart, in der das innere Yeben jo verflacht ift und das Mejen 
und Treiben der Menjchen immer mehr veräußerlicht, fehlt cs 
erfreulicher Weife doch nicht an Perfönlichteiten, weldhe in die Tiefe 
des Lebens bliden und das, was fie erichaut, innerlich erlebt und 
erfahren Haben, in mehr oder weniger zufanmmenhängender Form 
ausfprehen. Dahin gehören z. B. die Aphorismen des pieudonymen 
2. Nobert, der Frau Dora Dunder Gedanken und Erfahrungen 
über Cwiges und Altäglices, die Schrift: Aus den Lebens- 
erfahrungen eines Siebjigers u. a. Ahnen reiht fih das jüngit 
erfchienene Bud von Wilhelm Münd, Anmerkungen 
zum Tert des Lebens*) an. Der Tert des Lebens ift für 
die meiften Menfchen derjelbe, aber viele bringen es zu feinem 
teten Verftändniß darin, andere fommen nicht über das Yuchjtabiren 
hinaus, viele endlich achten auf ihn gar nicht. Aber auch unter 
denen, welche fih mit Ernft und Eifer in ihn vertiefen, berricht 
große Mannigfaltigfeit der Auffaffung und des Verjtchens, denn 
jeder fieft in diefem Terte trog allgemeiner Uebereinitimmung doch 
nad) der Individualität Verfhiebenes. W. Münd ift Provinzial 
Schulrath in Coblenz und der Schulmann ift an manchen Stellen 
leicht zu erfennen; Gedanken, Beobachtungen und Heilerionen der 
mannigfachjiten Art find es, welche er uns in jeinem Buche bietet. Cs 
it ein feiner Beobachter, ein Mann von durchgebildetem Charakter 
und wahrhaft humanem Sinn, der aus diejen Blättern zu uns pricht, 
wir hören ihm gerne zu, auch wo wir anderer Anficht find als er. 
Für die charakteriftiihen Unterfchiede der veridiedenen Nationen 
hat Münd) einen iharfen und doch wohhwollenden Bid und die 
dunfeln Schattenfeiten des Lebens der Gegenwart entgehen ihm 
night. Aber er it nicht ein herber Kritiker und bitterer Moralüit, 
fondern durchweg ein wohhwollender Warner und freundlicher Diahner, 
überall aber zeigt er einen auf das Ndenle gerichteten Sinn. 
Münd) Hat viel beobachtet, viel erfahren, viel gedacht und die 
vorliegenden Anmerfungen find gewiß; mır ein Theil bejfen, was 
er im Terte des Lebens gelefen. Daß nicht alles in dem Buch 












+) Berlin, A. Onertners Berlagsbunhandlung. 3 M. 


152 Litteräriiche Umfechan. 


von gleichem Werth it, verjteht fi von felbft, aber das Gute 
und Beherzigenswerthe überwiegt bei weitem. Auf das Einzelne 
näher einzugehen ift unmöglich, Sammlungen von Gedanfen wie 
diefe Anmerfungen wollen in Paufen gelefen und bedadjt werden; 
mögen fie viele Zefer finden. 

Die Tage der Jubelfeier des großen Arieges von 1870 und 
1871 find num vorüber; eine große Anzahl von mehr ober weniger 
werthvollen Feitichriften haben den ganzen Arieg md die Auf- 
rihtung des deutjchen Neiches behandelt, andere die eingenen 
hervorragenden Ereigniffe dargeftellt. Cine beachtenswerthe Er: 
gängung zu diefer Litteratur bildet das jüngit erichienene Bud): 
Das Deutide Neid) 1871-1891°). Es ift eine ganz 
objective Zufammenftellung der Thatfahen, ohne Hinzugefügte Ur: 
theile und Reflerionen, gewiiermahen vom Standpunkt der Negierung 
aus; dah aber feine einfeitige Verherrlihung des neuen Kurfes 
darin beabfihtigt ift, Ichrt die Widmung des Budjes an den 
Fürften Vismard; auf's deutlichite. Worausgefchiett find dem Ganzen 
die befannten, für alle Zeit denfwürdigen 191 Nriegsdepeichen. 
Aus dem reichen Inhalt der lebten 25 Jahre find natürlich mur 
die wichtigen umd zwar für die Folgezeit irgendiwie bedeutfamen 
Greigniife hervorgehoben und berichtet. Die eriten zehn Jahre bis 
1881 werden fürper, die fpäteren immer ansführlider, am ein: 
gehendften die legten fünf Jahre feit dem Sturge des Fürften 
Bismarck behandelt; diefer fepte Abihnitt it die erite überfichtliche 
Darftellung der inneren und äuferen Politit des deutf—hen Neiches 
unter Staifer Wilhelms 11. eigener Leitung. Die Darjtellung ift 
auch Hier rein fachlich und fucht volle Objectivität zu bewahren, 
was bei der Verighterjtattung über die vielen Verfehrtheiten des 
Gaprivifhen Negiments allerdings nur mit Mühe gelingt. Das 
Bud) ift durd) feine Sadhligfeit und Zuverläffigfeit zur Orientirung 
fehr geeignet und ein treffliches Hilfsmittel zum Nacichlagen; 
leider fehlt ein Negifter, das die Brauchbarfeit des Werkes wefentlich 
erhöht und vermehrt hätte. 

Höhit intereffante Einblide in das geiftige Leben und die 
fitticen Anfhaunngen des deutichen Bauernftandes, vorzugsweile 





*) Berlin, R. von Teders Verlag. 2 M. 





Eitterärifche Umfcha. 153 


in Mitteldeutichland, gewährt eine Schrift, welche unter dem 
unfheinbaren Titel: Zur bäuerlichen Glaubens: und 
Sittenlehre von einem thüringiiden Sande 
pfarrer*), unlängit in dritter Auflage erichienen ijt und die 
forgfältigite Beachtung Aller verdient, die fid) für die Erhaltung 
und das Sedeihen diefer wichtigiten Vevölferungsklaffe des Staates 
interefiren. Der Lerfafjer hat fih nicht aenannt, es ift aber 
befannt, dafı Dr. Hermann Gebhardt, Pfarrer zu Violihleben in 
üringen der Autor des Buches it; er ichöpt feine Mittgeitungen 
aus einer langjährigen Erfahrung und genauer Beobachtung und 
was er berichtet, Hat Nufpruch auf volle Zuverläfiigfeit. Gebhardt 
meint felbft, der rihtigere Titel des Buches würde jein: Glaube 
und Sitte auf dem Sande und darin hat er gewiß Necht, denn 
icon rein fulturgefchichtlich betrachtet bietet das Bud) eine Fülle 
von wichtigem und Iehrreihem Material. Des Verfafiers Abficht 
ift freilich eine viel höhere, nämlich die Ummwandlungen, den Wedhfel 
in den religiöfen und fittlichen Anfhammngen und Lebensformen 
des Vauernitandes während der legten zwei Menfchenalter und 
die Rücwirfung diefer Veränderungen auf das Verhalten bes 
Landvolfes zur Kirche darzulegen. Er behandelt feinen Stoff vom 
pofitiv Firhlicen Standpunkt aus, und von diefem allein war es 
möglicd) die Dinge richtig zu würdigen, aber milde und weitherzig. 
&o üft 5. 3. vortrefflich, mas er über die frühere Kirhlicjfeit in 
den Gemeinden und die Urfahen des Verfchwindens derjelden in 
der Gegenwart jagt; er Hebt die Vorzüge ber früheren Zuftände 
auf dem Lande nachdrüdlich, oft wehmüthig hervor, verfennt aber 
auch die mancherlei Fortjchritte und befferen Erfheinungen in der 
Gegenwart nicht. Da die Schrift uriprünglid) zum Lortrage auf 
einer Konferenz von Amtogenofien bejtimmt war, jo Hat Gebhardt 
den Stoff in etwas eigenthümlich theologiicher Weile nad) den drei 
Gtaubensartifeln gruppirt, wohurd dann die Hauptmaffe derfelben 
unter dem dritten behandelt wird; eine andere Eintheilung nad) 
rein fachlichen Gefihtspuntten wäre wohl zwedmähiger und fir 
die Ueberfichtlichteit förderlicher gewefen. Doc) die Dauptjache it 
und bleibt der Inhalt und man freut fich immer wieder der reicher Be- 








*) Gotha, Guftav Schloehmann. 3 M. 50. 








154 Litteräriche Umfchan. 
Lehrung, die das Bud) bietet. Der Verfaffer hat einen jehr feinen Sinn 
für das Volfsthümliche und führt den Lefer aufs febendigite in 
den Gedanfentreis und die Anfhamungsweile des Voltes ein, ihm 
liegt alle Schönfärberei gänzlich fern, er lächelt über die Salon- 
bauern in den Dorfgeidichten, aber er hebt auch das Urmwüchjfige, 
Kräftige, in bi iten Zinn Gonjervative in der Bauernnatur hervor. 
Dan darf übrigens bei ber Lectüre des trefflichen Buches nicht 
aufer Adıt lafien, dah «6 die Verhältniffe in einem beitimmten 
Gebiete Deutichlands find, welde uns darin vorgeführt werden. 
Mögen auch einige Ericheinungen, wie die Yusbreitung des Un- 
glaubens von den Städten auf die Dörfer, die Auflöfung der 
Familienbande, die Steigerung der Unfittlicfeit überall gleid) oder 
ähnlich fein, jo find die Zuftände der Yandbevölferung in Pommern 
oder Oftpreußen von denen in Thüringen unzweifelhaft jehr ver- 
ichieden und ebenfo wieber die in der Nheinprovinz und Würtemberg. 
Gebhardt Fommt fchliehlich zu dem betrübenden Nefultat, daf; der 
Niedergang des Firchlichen Lebens auf dem Lande unverfennbar 
fei. Die Vorfchläge, die ex zur Mbhülfe diefes Nothitandes macht, 
find wohldurdhdacht, mahvoll und beherzigenswerth; am  meilten 
erwartet er von einer ernjten, allgemein durchgeführten Kirdhenzucht 
und der früher oder fpäter fidjerfid) eintretenden Trennung der 
Kirde vom Staat. Gebhardts Schrift ift fein Bud) für junge 
Mädchen und zartfühlende Seelen, aber ernftien Männern fann es 
nur aufs wärmjte empfohlen werden, möge c8 namentlich von recht 
vielen unferer Paftoven gelefen werden. Zum Schluß fönnen wir 
einen Wunfch nidt unterdrüden. Möchten fid) dod) erfahrene, 
unbefangene und mit fcharfer Veobahtungsgabe ausgejlattete 
Viänner unter unferer Geiftlicfeit finden, welde durd) längere 
Amtsthätigfeit umd Secljorge mit den religiöfen und fittlichen 
Anfhangen der fettiihen und eftnifchen Landbevölferung unferer 
Provinzen vertraut, ih an die Aufgabe machen eine ähnliche 
Bufammenftellung, wie Gebhardt e6 für Thüringen gethan, über 
unfern Bauernjtand zu veranftalten und zu veröffentlichen. Solde 
Schriften würden nicht nur praftifch von nicht geringer Bedeutung, 
fondern aud) Fulturgeihichtlich von großem Werthe 
Die Haffiihe Bildung, die Kenntniß des griehiichen und 
vömijcen Altertbums wird, das Läht fich leider nicht verfennen, in 

























Litterärifche Umschau. 155 


der Gegenwart immer mehr zurüdgedrängt und die Veldäftigung 
mit den Geifteswerfen der Alten nad) der Gpmnafialzeit wird in 
den reifen der Laien ftets jeltener; was vollends in der Tages- 
preife für grobe Unfenntnif; in Bezug auf das Hafliche Alterthum 
hervortritt, ft geradeu erftaunlic. Anfpielungen auf befannte 
Verje und Sprücye der antifen Autoren, die früher jogleih verjtanden 
wurden, bedürfen heute ber Erklärung und Ueberfegung und bie 
Vefanntihaft aud) nur mit den Meifterwerten der griedhiihen und 
römifchen Poefie ift außerhalb des engen Streifes der Fachgelehrten 
böchft gering; viele zählen fih heute zu den Gebildeten, die nie 
eine Tragoedie des Sophofles in der Meberfegung, geichweige denn 
im Original gelefen haben. Den Urfachen des Niederganges der 
flafjiichen Bildung nachzugehen, würde uns ‚hier zu weit führen. 
Die ganze gegenwärtig in der Litteratur herrihende Richtung, der 
rohe Naturalismus, das grobe Kopiven der gemeinen Wirklichkeit 
wären garnicht möglich, wenn unter den Gebildeten eine, wenn 
aud) noc) jo dunkle Erinnerung an die in der antifen Litteratur 
unvergänglic) fortlebende Welt der Schönheit vorhanden wäre. 
&s ift daher ein verdienftliches Unternehmen durch) eine geichichtliche 
Darftellung der antifen Poefie und Litteratur überhaupt in gemein- 
verftändlicher Form weiteren Nreifen wieder das Verjtändniß der 
herrlichen Werte des Alterthums zu vermitteln. Den erjten Verfuc) 
biefer Art Hat in neuerer Zeit Jakob Mähly, ber jelbit Whifologe 
den gewaltigen Stoff mit voller Sachenntnih behandelt, gemacht. 
Da er aber die gelammte Literatur der Griechen und Nömer in 
zwei einen Bänden darftellt, jo fonnte er nur jelten auf die einzelnen 
Werke der Schriftfteller näher eingehen und mußte fih oft mit 
Andeutungen begnügen; tropdeın ift fein Yuch eine jehr empfehlens- 
werthe eftüre. Gegenwärtig liegt ein neuer Verfud), mit engerer 
Begrenzung des Stoffes vor: CE. Krofer, Geihidte der 
griedhijden Litteratur‘) von der bis jegt ber erjte 
Band erihienen it. Das Bud, von Handlichem Format, it 
äuferlid) vortrefflid) ausgeftattet. Diefer erite Band reicht von 
den Anfängen der griedjiichen Bocfie bis zur neuen Komödie. Das 
Werk, ganz populär gehalten, ijt wohl dazu geeignet, des Griehiichen 








*) Yeipgig, Fr. With. Grunom. 2 M. 80. 





156 Litteräriihe Umichan. 


unfundige gebildete Laien in den Tempel der helfeniihen Dichtung 
einzuführen; dafı Facfenner diefes und jenes im Einzelnen auszufegen 
haben und manches vermiffen werden, fommt für den Zwed des 
Buches nicht viel in Betradt. Als einen wirklichen Dangel des: 
jelben betrachten wir es, dal nicht einleitungsmeiie eine Charakteriftif 
des helleniichen Voltscharafters und namentlich der griehiihen 
Sprache gegeben worden ift; aud) eine furze Weberfiht über das 
Wefen und die Veihaffenheit der griediichen Mufit vermißt man 
fehr. Bei Homer ift ferner vom Epos und epiihen Gedichten 
viel die Rede, ohne dab dod) eine Aare Vegriffsbeftimmung von 
beiden gegeben würde; «6 hätte gerade in diefem Sapitel das 
Wefen des Epos, wenn aud) nur in Kürze, entwidelt werben 
follen. Bei der Befpredhung der Dramen dev drei großen Tragifer 
wird oft mehr, als ung berechtigt erfcheint, vom modernen Stand- 
punkt aus geurtheit. Aber mag man auch in verichiebenen 
Punkten und manden Einzelheiten vom Verfafler abweichender 
Anficht fein, das Vuc) verdient dod) allen Gebildeten zur Lektüre 
warm empfohlen zu werden; wer es aufmerfiam und mit red)tem 
Interejfe lief, den wird daraus ein Haud) hellenischen Schönheit 
amvehen und berühren. Die Inhaltsüberjichten der epiihen Gebichte 
und der Dramen find ja zur Bekanntmachung mit dem Gegen: 
ftande ganz zwedmäßig, aber fie fünnen nur zu leicht die Vor- 
ftellung erweden, daß man dadurd) Hinlänglic) mit den Dichtungen 
befannt geworden fei und fie jelbjt nicht mehr zu Iefen braucht. 
Das wäre aber ein großer und gefährlicher Irrtum, denn erit 
durd) die dichterifche Behandlung wird der poetijche Stoff zum 
Gebight. Die rechte Wirfung einer Litteraturgejcjichte foll die fein, 
dafi der Lejer durch fie angeregt wird fid) mit den Dichtungen 
felbjt befannt zu machen. Bei den Werten der Alten wird der 
der Epradje nichtfundige Laie zu Weberfegungen greifen; leider 
find nicht wenige von diefen fo ichwerfällig und hart, dahı fie 
eher abidreden als anziehen. Namentlih die Nahbildung der 
kunftvollen Chorlieder bereitet den Ueberfegern umüberwindliche 
Schwierigkeiten, da die Wiedergabe der Versmaße im Deutihen 
unmöglich ift umd nur zu unnatürlicen Wortbildungen und un: 
gewöhnlichen Wortformen führt. Der Lerfuh die griehiichen 
Dramen in mobernifirter Form zu übertragen, namentlich die 





Sitterärifche Umschau. 157 


Chorlieber in ganz jreien gereimten Strophen wiederzugeben, wie 
ihn Gravenhorit, O. Marbach, L. Klug und andere gemacht haben, 
bringt die Dramen dem modernen Sinn allerdings viel näher, 
beeinträchtigt aber den Charakter der antifen Werte doch gar zu 
fehr. Eine jochen erfchienene neue Ueberfegung der Tragödien 
des Sophofles von Oskar Hubatich*) dlägt einen 
Vittehweg ein. Hubatfc hat den griechiihen Trimeter mit dem 
uns geläufigen fünffüßigen Jambus vertaufcht und wendet in ben 
Chorgefängen außer Daftylen und Anapasjten nur Jamben und 
Trocjäen jtatt der im Deutjchen faum oder garnicht wieberzugebenden 
ichwierigen Versmahe an. Der fünffühige Jambus bringt den 
Dialog uns allerdings näher und macht ihn weniger feierlid, als 
der Trimeter cs für uns thut; aber mandmal jheint uns in der 
Neberjegung dadurch doch viel von der Würde und Hoheit des 
Originals verloren zu gehen, jo 3. B. in dem berühmten Monolog 
des Mjar. In der Uebertragung der Chorlieder hat Hubatid) 
jehr Anerfennenswerthes geleijtet; wer freilich das Original fennt, 
dem wird die Neberjegung doch nicht immer ganz genügen, fo 
3 3. die des wundervollen dritten Chorgefanges von den un: 
geichriebenen Gejegen im König edipus. Aber wir wollen nicht 
ungerecht fein; eine Weberfegung, die ebenfo treu wie gut deutich und 
zugleich wahrhaft poetifch it, wird co faum jemals geben. Hubatfch 
Uebertragung hat große Vorzüge vor allen bisherigen Verdeutfhungen 
des Sophofles. Knappe, aber genügende Einleitungen zu jedem 
Drama fowie hurze Anmerkungen erleichtern das Verftändnif,. 
Wir wünfhen Hubatjch Arbeit weite Verbreitung. 

Unter dem originellen Titel: Als der Großvater 
die Großmutter nahm. Ein Liederbud füralt- 
modiihe Leute") ift fürzlid) eine ganz eigenartige Gedicht: 
fammfung in dritter vermehrter Auflage erichienen. Der Heraus: 
geber ift der durch) feine Schrift: Allerlei Sprahdummpeiten in 
weiten Kreifen befannt gewordene Dr. Gujlav MWuftmann, der 
ftrenge Wächter deuticher Sprachrihtigfeit und Sprachreinheit. 
Der Zwed des Buches ift die zur Zeit der Groväter und Väter 





*) Bielefeld und Leipsig. Verlag von Telhagen u. Mafing. 4 M. 
*+) Leipzig, Verlag von Zr. Wil. Grunow, geb. 6 M. 50 Pi. 


158 Eitterärifche Umfchan. 


ber jest lebenden Generation befannten und beliebten Fabeln, 
Erzählungen, Lieder und Opernarien in einer vollftändigen Samm- 
lung der Gegenwart wieder in Erinnerung zu bringen. In einem 
ftattlihen Bande hat man hier nun alle jene Gedichte beifammen, 
deren nicht wenige einem noch aus der eigenen Jugendzeit wohl 
befannt find, da fehlt weder „Johann der muntere Seifenficder” 
noch „der grüne Gfel, weder „der fleine Töffel“, nod) „bie zwei 
Hunde“, weder „die Tabakspfeife” nod) „Unten und oben”. Die 
alten Lieder „Komm, lieber Mai“, „Wer wollte fi, mit Grillen 
plagen”, „Guter Mond, du gebt fo itille“, „Us ich mod im 
Flügelfleide”, „Willtommen, o feliger Abend“ und fo viele andere 
finden fi) alle hier; Dr. Cifenbart fehlt ebenfo wenig wie „Es 
fann ja nicht immer jo bleiben“ oder „Wir winden div ben 
Jungfernfranz”. Nicht ohne eine Gefühl der Nührung vergegen: 
wärtigt man fi beim Yejen und Durchblättern des Yuches die 
Freude und das VBehagen, das Großvater und Großmutter einft 
an diefen einfachen Liedern und Fabeln gehabt haben; wie fern 
fiegt die Stimmung, aus ber fie hervorgegangen find und in der 
fie frohen und traurigen Wiederpall fanden, uns Heutigen! Wie 
einfach und, von äußern Ereigniffen unberührt, wie behaglid) und 
jeder Empfindung freien Spielraum gewährend war dod) das 
beutjche Leben bis in den Anfang diejes Jahrhunderts hinein, wie 
naiv gab man fi dem frohen Gefühle des Dajeins hin und wie 
überfchwänglid) war man in der Trauer und im Schmerz! Natur, 
Liebe, Freundihaft, Wein, Streben nad) allgemeiner Menfchen: 
beglücdung —- das find die bewegenden Mächte, die ausihliehliden 
Intereffen der Menfchen jener Zeit. Beim Yirjenfen in die 
Gedichte diejer Sammlung überfommt einen mandmal die Schnjud)t 
aus der Zerrifienheit, dem Warteihader, den wilden Interefjen 
tämpfen, dem Vaterialismus des Lebens in der Gegenwart fi) 
hinauszuflüchten in die glücklichen Tage jener Grofvaterzeit, die 
uns wie das Paradies der Kindheit ericheint, md man vergiht 
momentan bie dunklen Schatten, die au auf jener Zeit lafteten. Zeit 
der Zeit Napoleonifhen Drudes wird der Ton ciwas anders, 
Vaterland und Freiheit gewinnen aud) einen Naum im Bennußtfein 
der Menichen, aber im Ganzen bleibt die alte Gemütglihkeit und 
dauert in den Kreifen des Mittelftandes neben den neuen ftarfen 








Litteräriihe Umjcau. 159 


Strömungen bis 1840 fort. Der eigentliche Zwed ber vor- 
liegenden Sammlung ijt nicht der aejthetiiche, fondern der fultur: 
geidichtlihie und litterärhiftoriche, das darf man bei der Lektüre 
nie aus den Augen lajfen, der Herausgeber hat die Gedichte jtets 
in ihrem älteften umd zuverläßigftem Terte gegeben und An- 
merfungen hinzugefügt, die fitteräriiche und biographifche Notizen 
enthalten. Daß troß des Neichthums der Sammlung man dad) 
diefes oder jenes Gedicht vermißt, wird feinen Sachfundigen 
wundern, fo fehlt 5. ®. „Weint, ad) weint, ihr jühen Herrchen“ 
ebenjo wie „Schön ijt’s unter freiem Himmel“, aud) Boyens einft 
viel gelungenes Lied „Des Preußen Lofung ift die Drei“ vermifien 
wir ungern. Dah diefe Sammlung fon drei Auflagen erlebt hat, 
fann nur mit Genugthuung erfüllen und beweift, daß in nicht 
wenigen Kreifen dad) nod) etwas von dem Geijt und Sinn der 
alten Zeit fortlebt. Die Ausftattung des Buches it fo vorzüglich, 
wie man jie von der Verlagebuchhandlung erwartet. Möge es 
zu den alten noch viele neue Lejer gewinnen, das wünichen wir 
von Herzen. 

Während in Stanbinavien, namentlich in Norwegen, der 
moberne Naturalismus jeine üppigiten Wlüthen treibt und immer 
neue Autoren und Werke hervortreten, die ih in unnatürlicher 
Verzerrung der menchlien Natur, in der Schilderung des Wider- 
wärtigen und Häßlichen überbieten, hält fih, Dänemark freier von 
diefen Auswüchien einer verderbten und entarteten Kultur. Zwar 
fehlt es aud da nicht an eifrigen Verfündigern deo modernen 
Evangeliums, da das Hählihe und Unfittliche der eigentliche 
Gegenjtand der Poefie jei, aber ihnen jtehen Männer gegenüber, 
die in ihren. Werken das Schöne und das denle zur Darjtellung 
bringen. Zu ihnen gehört ganz befonders Profejjor Henrif Scharling 
in Kopenhagen, der unter dem Namen Nikolai jchreibt und deiien 
Erzählungen bei feinen Landoleuten mit Recht lebhafte Anerfennung 
gefunden haben. Die prächtige, an echter Nomif reiche, von liebens- 
würdigem Humor erfüllte Erzählung: „Zur Neujahrszeit im Paltorat 
von Nöddebo” und mod mehr das reizende Bud: „Meine Frau 
und ic”, deiien einfad) naive Charaktere mit feiner Anmuth 
gezeichnet find und das von einem Föftlichen Humor dindhweht i 
haben, ins Deutfche überfegt, weithin Anklang und freundliche Auf: 















160 gitteräriüche Amfcan. 


nahme gefunden. Zu ihnen gefellt jid) mun bie deutiche Ueberfegung 
eines allerdings jhon vor längerer Zeit von Henrif Scharling 
verfaßten dritten Buches: Junge Helden. Uffe Hjälms 
und Palle Löwes Thaten. Autorifierte freie 
Ueberjegung aus dem Däniidyen von P.J. Willagen*). 
Cs wird darin die Entwidelung zweier in demfelben Haufe wohnender 
Jünglinge von ganz verfhiedenem Charakteren geidjildert. Der 
eine, Uffe Hälm, der Sohn eines mit der Zeit, mit jeinem Volle 
und allen Mienjchen zerfallenen, in feiner Familie deipotiichen 
Oberjten, ift ein dumpf dahinbrütender, fcwerfälliger, nie den 
Ausdrud für feine Gedanken finbender Junge, der fid) von Allen 
bin und her fdhteben läht, während der andere Walle Löme, ber 
Sohn eines Großhändlers, redefertig, gewandt, früh entwidelt, in 
feiner Familie vergöttert, allgemein beliebt, ein eifriger Politifer 
und ein begeifterter Anhänger ber Freiheit üt. Diefe beiden jo 
verfchieden genrteten Naturen find von Nindpeit an gute Freunde 
und Wie jteht natürlich fortwährend unter Palles Einfluß. Sehr 
ibön ift die Schilderung, wie durd) die Liebe zur jcönen Inez 
äuerit eine Wandlung in Uffes jchlaffem träge fi bahinfdyleppendem 
Wejen eintritt, feine Neigung endet mit bitterer Enttäufchung, 
das beitimmt ihn als Freiwilliger am Nampf gegen Schleswig- 
Holftein theilzunehmen. Im stieg erwacht num das bis dahin 
fchlummernde geiftige Leben in ihm vollftändig, er findet endlid) 
fich jeloft und vollbringt heldenhafte Thaten. Dieje Charakter: 
entwicklung ift ganz im Geifte des alten Nordens, ja fie it 
urgermanifdh, wo die jungen Helden auch dumpf dahinleben, bis 
der Kampf ihre Seele erwedt. alle geht aud) als Freiwilliger 
in den Ntrieg, erweilt fi aber natürlid als jämmerlicer Poltron. 
Die Darjtellung ijt etwas breit, wenn auch nidjt ermüdend, an 
Humor fehlt es md) in diefem Buche nicht, doch tritt er hier mehr 
zurücd. Die meiften der auftretenden PBerjonen find vortrefflich 
gezeichnet, jo beionders Tante Malene, Kapitän Noslin, der 
Großhändler Yöwe u. a. Trog allem Schönen, das cs enthält, 
macht diefeo Bud) auf nichtdänifche Lejer doch nicht ben rein 
befriedigenden Eindrud wie die früheren. Der Verfafier wendet 























*) Bremen, Verlag von U. Heiufins Rachfolger. 6 M. 


Litteräriiche Umichau. 161 


fic) darin jehr enticieden gegen bie Nopenhagener Demofratie und 
ihre fiberalen Phrafen und andrerjeits betrahtet er die Erhebung 
Schleswig-Holjteins und den gegen die Herzogthümer geführten Krieg 
jeljwverftändlid) ganz vom dänischen Standpunft; die Gegner fiegen 
immer mır durch ihre große Mehrzahl und die Dänen find ihnen 
an Tapferkeit weit überlegen. Deutihe Lejer werden das dem 
Verfaffer zu gute halten, da feine Landsleute fih) damals, 
1547-1850, und ebenjo 1864 wirffih tapfer geichlagen haben, 
aber bejonderes Vergnügen fönnen ihnen diefe Schilderungen 
natürlich nicht bereiten, ebenfo wenig wie die Karifirung der 
Schleswig-Holfteiniichen Freiidhärler. In Dänemark muß, beiläufig 
bemerft, das Avancement ein viel rajderes und leichteres fein als 
anderswo, denn Uffe, der im Frühling 1848 alo Freiwilliger in 
das Heer eintrit, fchrt 1851 als General nad) Kopenhagen zurüd. 
Im Nebrigen gewährt aud diefe Erzählung Scharlings vielen 
Genuß, befonders durch die piychologiihe Feinheit der Charakter: 
entwidefung. 

Eine eigenthümliche litteräriiche Erfcheinung ift Phalaena, 
Die Leiden eines Budhes von Karl Weitbredtt). 
Phalaena, d. h. Nachtfalter ift der Titel der legten Gedicht: 
jammfung von Paul Widram, einem Vlanne, der alten Drud und 
alle Noth des Lebens zur Genüge erfahren hat und im Alter völlig 
vereinfamt ift. Ein Eremplar diejer Gedichtiammlung fommt 
nun aud in den Yucladen der Stadt, wo Widram Iebt. Cs 
wird an verfdiedene Kunden zur Anficht verihidt, Tehrt aber in 
Folge der verfejiedenartigften ungünftigen Umftände immer wieder 
zum Vuchhändler zurüd. Wie es dazu fommt, wird in einer 
Neihe novellifttücher Schilderungen erzählt. Zulegt findet der alte 
Dichter in der Tochter einer Jugendgelichten dod) eine verftändnih- 
volle Freundin und Verehrerin feiner Mufe und zugleich einen 
Trojt in jeinen alten Tagen. Mit jeinem Hinfgeiden jcließt das 
Bud. Cs waltet darin ein jhalfhafter echt Ihmwäbiicher Humor, 
aud) an ergöplichen Perjönlichfeiten fehlt es nicht, der ernite 
Grundgedanke des Ganzen tritt dadurd mur heller ins Licht. 
Man freut fic heutzutage immer, wenn man einem idealgerichteten 








*) Stuttgart, Verlag von Adolf Bonz n. Ho, 2 M. DU. 


162 Litteräriiche Umicau. 


Shriftfteller begegnet. Das anipruchsloje Büchlein hat fih icon 
mande Freunde erworben, wie Die vorliegende zweite Auflage 
beweift; mögen ihr noch weitere folgen. H. D. 
* * 
* 
Bei der Hedaftion der „Balt. Mon.” find ferner nacftehende Schriften 
zur Vefprecjung eingegangen: 
Steffen, Suftan% An der Fünfmilfionenftabt. Nultur: 
bilder aus dem heutigen England. Aus den Schwedilcen überieht 
von D. Nenher. (Leipzig, Peter Hobbing. 1895.) 
Turguan, Zofeph. Die Generalin Bonaparte. Ueber: 
tragen u. bearbeitet von star Marjejall v. Wieberftein. 4 Aufl. 
(Leipzig, Schmidt u. Günther. 1806.) 
Hellgren, Olof. Aus den Memoiren eines Yaubfrofces. 
(Glarus und Yeipzig, Babelte Vogel. 1806.) 
Ruland, Wilhelm. Riviera. (Ebendfelbit.) 





. 


Beilage 


zur 


Baltifchen Monatsschrift. 





April 1898, 


Inhalt: Dr. ©. J. 0. Shulg-Vertram. Litteräriide 
biographiiche Skizze von E. v. Schulg-Adaiensty. 
Kunftbriefe. VI. Von I. Norden. 
gitteräriihe Umjhau. on H.D. 
Heimathgruf. 


Nachdrud verboten. 

















Dr. 6. 3. v. Shulg-Bertram. 


Viographifch-litterärifche Stizze von Ella v. Schul: Adatewity. 


„Der Biograph Ihres Herrn Vaters mühte ebenfo vielfeitig 
fein, wie er felbjt es war; um nur eins anzuführen, er mühte 
ebenjo gut ehitnifch wie deutjch verftchen, um ihn als bilingualen 
Dichter beurteilen zu Fönnenz* — jo äußerte fih vor einigen 
Jahren der geehrte Präfident der chjtnifhen gelehrten Gefellichaft 
Profeflor Leo Wieyer, also die Frage beiproden wurde, die 
fi mande Freunde Dr. Vertrams jchon geitellt, warum doch 
bisher feine einzige Biographie, ja nidht einmal ein etwas aus: 
führlierer Nefrolog erichienen ei. Im der That mag jener 
Umjtand wohl eine der Urfadhen gewefen fein, weshalb, obgleid) 
ichon zwanzig Jahre jeit feinem Tode vergangen, fein eingehenderer 
Nachruf das Leben und Wirken meines Vaters näher beleuchtet, 
ihn feinen Kandoleuten wieer in’s Gedäghtnif; zurüdgerufen hat. 

Wohl wird jept die Frage um fo beredhtigter erjcheinen, wie 
eine Aufgabe, die als befonders f_hwierig von Fompetenter Zeite 
dargejtellt wurde, in Angriff genommen werden fonnte von Jemand, 
der nicht allein die wenigit geeignete Kraft war, um meinem 
Vater auf allen Gebieten feines Wifjens und Könnens gerecht zu 
werden, fondern deren fubjektive Auffajjung aud) der unbefangenen 
Beurteilung des Gegenjtandes oft hinderlich in den Weg treten mußte. 
Dazu fommen nod) die materiellen Schwierigkeiten, mit denen der 
Biograph meines Vaters zu fämpfen hat, da legterer, wie es oft 

* 





168 9.53. 0. Schulg-Bertram. 


geniale Leute zu thun pflegen, Teinerlei Mahregeln getroffen, um 
eine foldhe Arbeit zu erleichtern. Cr hat feine Manuffripte oft 
hierhin und dorthin verfandt, ohne Abihrift zu nehmen oder die 
Sendung zu nofiven. Er jagt jelbit in einem Briefe an feine 
Viutter, da es ihm unmöglich fein würde, eine volljtändige Lifte 
feiner Arbeiten aufzuitellen; die Abhandhungen und Auffäge, die 
er in Zeitfchriften veröffentlicht, zählten nad) Taufendeu, deren 
geringfter Theil von ihm notirt oder im Abzuge vorhanden wäre. 

Man hat meinen Vater einen gen Verjchwender” 
genannt, ein Vorwurf, der nicht ganz ohme Berechtigung war; doch 
it er ihm am häufigften gerade von denjenigen gemacht worden, 
die feine gefelihaftlicdhen Talente am meiften in Anfprud) 
nahmen. 

Im dem Vorwort zu den „Petersliedern“ geichieht der Anz 
gewohnheit Peter des Großen Erwähnung, Eicheln, die er immer 
vorräthig in der Tafche trug, auf feinen Spaziergängen in die 
Erde zu verfenfen. Wehnlic verfuhr mein Vater mit den Ein: 
gebungen feiner unerichöpflihen Rhantafie und mit den Gedanken: 
förnern aus dem bei ihm aufaefpeicherten Vorrath an Kenntniffen. 
Wohin er fam, veritreute er fie, mit dem Bewuftfein fih zufrieden 
gebend, daf, was er jo gepilanzt, dod einmal aufgehen und 
Früchte tragen würde, — „einerlei in weflen Garten.“ 

Wenn ich nun, troß aller Vedenfen, die in mir auffteigen 
musten, der freundlichen Aufforderung des Nedafteurs der „Balt. 
Monatsjchrift”, eine litteräriich-biographiiche Skizze meines Vaters 
zu fchreiben, entgegenfam umd mich entichlof für die „Baltiiche 
Monatsihrift”, die jo oft Beiträge meines Vaters veröffentlicht 
hat, eine jolche Skizze zu ichreiben, To ift es mit dem vollfommenen 
Benuftjein der Unzulänglichkeit derjelben gefdjehen. Es it eben 
eine Sfigje nur, eine Andeutung des litteräriic): biographiichen 
Viaterials, das fih einem würdigeren Viographen meines Vaters 
darbieten fünnte und welches ich in eine einigermaßen überfichtliche, 
wenn auc) lüdenhafte Ordnung zu bringen, mix angefegen jein lieh. 

Möchte dieje Stiyze dazu dienen, das Bild meines Vaters, 
feinen noch lebenden Zeitgeneffen wieder in’o Gedähtnif; zurüd: 
zurufen, der jüngern Generation aber Kenntnif; zu geben von 
einem vaterländifchen Schriftiteller, dejien Werke die Liebe zur 














6.3. v. Schulg:Bertram. 169 


heimathlicien Scholle wie ein rother Faden durchzieht. Namentlic) 
in feinen „Baltijchen Skizzen“ führt er „Junglivland“ ein wahrheite: 
getreues Bild von „Altlivland“, wie es nad) zu Anfang diefes 
Jahrhunderts beftand, wie in einem Spiegel vor die Augen, mit 
all jeinen prächtigen Tugenden und licbenswerthen Eigenschaften, 
feinen originellen charaftervollen Gejtalten, feiner edlen Gajt: 
freundichaft, feiner aufrichtigen Frömmigkeit und feiner guten, alten 
Zitte, ohne jedoch zu verihweigen, was die alte Zeit auch an 
objoleten Anfchauungen und eingewurzelten Mihbräucen mit fidh 
führte und was, da echte Liebe nicht ohne Strenge denkbar üit, 
ex feiner lieben alten Heimath geradeheraus zu jagen für eines 
Sohnes Pflicht hielt, von dem heißen Wunjche bejeelt, da es ihr 
zum Wohle gereichen möge. 
* + 
* 

Mein Vater erzählt im erften Kapitel der Baltiichen Skizzen, 
wie er in einer jtürmifhen Nacht, auf hoher Ser, an Bord eines 
finnifchen Einmajters, zur Welt gefommen; wie eine Waicichaale, 
die zu unvechter Zeit in Stüce ging, ihm um die Erbihaft einer 
Tante gebradt und wie durd) fein eigenes rechtzeitiges Erideinen 
auf dem Schiffe, welches dreizehn Perfonen trug, der Muth der 
Vannfchaft gehoben, einer alten Dame, die man eben als Drei 
zehnte über Bord werfen wollte, das Leben gerettet wurde und er 
jelbit einen fürjtlichen Taufpathen erhielt. 

An diejer Meberkieferung hielten wir Ninder feit, denn der 
bejte Beweis, dab fie Wahrheit und nicht Dichtung, ftand vor 
uns, wenn aud) nicht in Fleiich und Bein, fo dod) in Bein, d. U. 
in Geftalt eines aus Horn geichnigten Spielzeugs, weldhes die 
Vüllionentante meinem Vater alo Entihädigung in die Wiege 
gelegt haben follte und welchem die Ehre einer genauen Perfonal- 
beichreibung in demielben Kapitel zu Tyeil wird. Id) meine den 
„Pugemann“, das Eleine jhwarze Ungeheuer mit blanfen Augen, 
geinzendem Munde und negerartig gefräufelter Perrücde —- welches 
auf einer Dlagnetipige fteehend die unheimliche Eigenichaft bejah, 
fid an allen eifernen Geländern und Gegenftänden anzuflammern. 
Es machte uns Sindern einen tiefen Eindrud, wenn das „Kuge: 
männchen“ aus der Familientruhe herausgehoft wurde, wo es an 





170 9.3. v. Schulg-Bertram. 


Stelle der fehlenden Millionen mın bereits gegen hundert Jahre 
als eine Art Fetiich, Palladium, Schuggeift, pietätvoll aufbewahrt wird. 

Dft Hatte mein Urgroßvater, fo erzählte meine Vatersichweiter, 
— da6 Spielzeug feinen Enfeln zur Veluftigung gezeigt und den 
Yugemann feine Nunftjtüce ausführen laffen. Das Dichtergemüth 
meines Vaters, durch dieje auferordentliche Eriheinung angeregt, 
wurde durch diefelbe in fpäteren Jahren zu einem Kindermärdjen, „die 
Kuabbetaiche*, begeiftert, weldhes manches Kinderherz erheitert und 
mandem fleinen Patienten in der Kranfenftube die Zeit vertreiben 
und bie Schmerzen vergeffen half — üt das nicht eine Million werth? 

Außer diefen beiden Thatfahen aber, — dem vorhandenen 
Yugemann amd der fehlenden Million, welden noch, — wie aus 
dem Taufzengniß; meines Vaters zu erfehen - der fürftliche Pathe*) 
beizufügen wäre, -— find die in den Baltiichen Skizzen angeführten 
Vegebenheiten bei der Geburt meines Vaters Erzeugnifie jeiner 
poetüfchen Phantafie. 

In Wahrheit und nad) dem irchenbuc)e erblite mein Vater 
das Licht der Welt am 22. Septbr. 1808 auf feitem Lande und 
zwar auf dem Nevalfchen Domfeljen, in dem Paftorate der Nitter: 
und Domtirche. 

Sein Vater, Chriftian Timothens Schulk, der, 
wie es auch jein Vater jchon geweien, Oberpaftor an der Dom- 
kirche war, entjtammte einem alten Predigergeichlecht, welches feit 
der im Jahre 1681 erfolgten Ginwanderung des Theologen 
Georg Edulk (gebürtig aus Pardim in Medlenburg, nady 
maligen Pajtors zu Nöthel und Rropft**) eine ununterbrodhene Reihe 
von Predigern aufweiit, fo daß ein Iebendes Vlitglied der Familie, 








>) Peter riebrih Georg von Holftein-Ofdenburg, 1808 General: 
genverneur won Chftland. 

>) Georg Sch aus Rardim, geb. 1633 FITI0, sind. zu Lena, Prediger 
zu Nöthel, jpäter Propit. - Georg Aricdhric Sch. geb. 1089, 47 stud. 
in Halle, Pr zu Pönal in Ehftland. -- Johann Friedrih St. 
geb. 1727, +1708, stud. in Halle, Cberpajtor an der Domtirche zu Reval. 
Ehriftian Timotheus Sch. geb. 1767, +1809, stud. in Nena, Oberpaftor 
am der Nitter u. Domficche zu Neval, Afefjor des Ehftl. Provingial-Nonfiiteriuns, 
Tiretor des Dom-Wailenhaufes. — Georg Aulius Sc. (Dr. Bertram), 
stud. in Dorpat Mediyin. Scheftiteller, Jenior und Kaiferlicruffiider Staatsrath. 


























©. 3. v. Schulg-Bertram. 171 


gleichfalls Prediger, mit Recht, wenn aud) nicht richtig, jagen fann: 
„Wir find feit zweihundert Jahren Baftor.“ 

Seine Mutter, Caroline Charlotte, war die zweit 
ältefte Tochter des Propftes zu TormaLohhufa, Franz Asverust), 
aus Weimar gebürtig, deijen Familie nod) bis Anfang diejes 
Jahrhunderts im Thüringiichen anfähig und begütert war und die 
mit dem Finderlos verjtorbenen Major Asverus, einem Neffen des 
Bropftes, erlojhen lt. Vorfahren diejes Gefchlechtes zeichneten fich 
bei der Befreiung Wien’s von der Dat ber Türken rühmlichft 
aus. — Propit Asverus war mit der Tochter des Propites zu 
Iewe, Gertrude Rod, verheirathet. 

Ehe id) in der eigentlichen Lebensbeichreibung meines Vaters 
fortfahre, will ich, eingedent der Ermahnung meiner Groftante 
„unmer vom Ei anzufangen” — furz berichten, wie mein Großvater 
meine Großmutter nahm. 

Ich entnehme diefen Bericht den Aufzeichnungen der Schweiter 
meines Vaters. Da heißt es: Als mein Vater, der Oberpajtor 
Ehriftian Timotheus, mit vier unmündigen Kindern aus erjter 
Ehe, deren jüngfte id war, im Jahre 1805 als Wittwer zurüc- 
geblieben war, bejuchte er feinen jüngeren Bruder, den Pajtor in 
Waimara, mit dem er zufammen in Jena ftudirt hatte. Da fie 
Beide Dorpat und die Univerfität noc) nicht Tannten, befchloffen fie mit 
der Poft eine Neife dahin zu machen. Bei Torma vorbeifahrend 
tamen fie auf ben Gedanten einen Amtsbruder fennen zu lernen 
und fehrten ein. Gleich im Vorhaufe machte eine Infhrift mit 
goldenen Buchjitaben über der Thür einen angenehmen Eindrud. 
Sie lautete: 

„Darf ic auf Nedlichkeit und Menfchenfreundicaft hoffen, 
© jtehen Haus umb Herz dem fieben Frembling offen**).” 

Der ehrwürdige Prediger, wie ein Patriarch ausfehend, 
begrüßte fie auf's freundlichite und bald war die Unterhaltung —- 
Häufig Inteinifch geführt — in vollem Gange. Beim Vittagefien 


*) Franz Gotthilf Friedrid) A, geb. in Weimar 1747, stud. in Schul: 
yorta, dem Öpmnaftum zu Weimar u. der Univerfität Jena. Paftor zu Torma: 
Lohhufa in Yivland (1775) und Propft des Törptichen Sprengels 1803, 41818, 

**) Diefe und ähnliche Infchriften waren uns vom Tichter Kotebue 
gefehenkt. — Siehe Balt. Stizgen I. 9. 2. Kap.: „Ein Pajtorat vor 30 Jahren.“ 








172 6. 3. v. Schulg- Bertram. 


war e8 meinem Vater aufgefallen, wie die fo jugendliche Tochter 
alles Sorge getragen umd auf eine Frage ihres Waters eine 
jo jehr verftändige Antwort gegeben hatte. As fie fid) ipäter zu 
der Gejellfichaft gelegt, wo ihre Schweiter, die fchöne Doktorin 
Woucha durch ihre muntere Unterhaltung Alle an fid) gezogen, 
da hatte mein Water fi zu der jtilleren jüngeren Schweiter 
gewandt und war erjtaunt geweien, jo viel Bildung und Intereffe 
für Altes bei einem jo jungen Mädchen zu finden, — eine feltene 
Ericjeinung zu damaliger Zeit, 

Als die Brüder zur Weiterreife fid) verabfchiedeten, wurden 
fie aufgefordert, bei der Nürkfehr wieder vorzufprehen. Das 
geiha) mit Freuden und fie verweilten einen ganzen Tag im 
Pajtorat. Mein Vater fam zur Weberzeugung, dab er feinen 
Nindern feine beifere Stiefmutter geben fönne, als das Fräulein 
Asverus. Zu Haufe angelangt, fehrieb er dem Propfte, bewarb 
fih um die Hand der Tochter und erhielt die gewünfchte Zujage.“ 

Trog ihrer Jugend zeigte fd) die faum  fedhgehnjährige 
Oberpajtorin den mannigfachen Pilichten ihrer Stellung volltommen 
gewachen. Anfänglich mit einigem Vorurtheil empfangen, erwarb 
fie fih der zahlreihen Gemeinde allgemeine Adıtung und An 
erfennung, welche fi) in einem geflügelten Worte, das damals 
in Neval gäng ımd gäbe war, fund gab. Cs hieh nämlid) bald 
in der Stadt: „Unfere junge Oberpajtorin fann mehr noch als 
Dauen einfegen.“ „Mauen“ waren, wie cs jcheint, eine 
beionders fomplizirte Art von Nermeln, die einzufegen viel Ge 
ihielichfeit erforderte, und wer mehr nod) fonnte als das, muhte 
ein Wunder von Verftand und Klugheit fein. 

Nur vier Jahre dauerte die glückliche Che. Am 29. Juni 
1809, faum zehn Donate nad) der Geburt feines jüngften Eohnes 
Georg ftarb der vielverehrte Mann an einem Ädweren Nervens 
fieber, erit 42 Jahre alt, „ein Vater der Wittween und 
Wapjen“ wie es in einem Nachrufe heißt. Mit den feltenjten 
Eigenichaften des Geijts und des Herzens ausgeitattet, bewahrte 
er fih) bis an fein Ende, „Frohfinn, männliche Standhaftigfeit 
und Sfeihmüthigfeit.” 

Ganz bejonders wird jein zur Yarmerzigfeit und Mid 
thätigfeit geneigter Zinn hervorgehoben. Leine liebite Yeic 





























SI v. SchulgBertram. 173 


fand er in der Fürforge für das feiner Leitung anvertraute 
Waifenhaus (gegründet 1 von Chr. Fr. Midwis, 1724-1748 
berpajtor an der Domfirche). 

„Licblich war ihm der Gedanke ein Vater der Verlafienen 
zu fein... Der Segen Gottes ruhte auf diefem Werke... 
Trauert, trauert arme Wapfen, ihr jeid zum zweiten Mal Wapjen 
geworden. hr habt verloren euren Vater umd Freund. lo 
ibon die Stranfheit ihn anf's Kranfenlager geworfen hatte, fragte 
er nicht nad) den eigenen theueren Nindern, ihr wart jeine beftändige 
Frage. Er liebte eud) jo*).“ 

Die 19-jährige Wittiwe zog mit ihren eigenen zwei 
Morig und Georg und einer Stieftohter nad) Torma zu ihren 
Eltern. -- Diejes Ereignifi finde ich verzeichnet in einem alten 
Sparbüchlein, das die thätige Pröpftin für ihren Liebling Georg 
anfegte. Da dieje Zeilen charakteriftiich find für die alte Dame, 
deren febhafter Geift und originelles Wejen nicht ohne Einfluh 
geblieben auf das Wefen und die Entwidelung meines Vaters md 
zu den erften, fo wichtigen Eindrücen feiner Kindheit gehören, jo 
fchreibe id) fie ab, mit Beibehaltung der Orthographie. 


D. 6. Auguft 1809 brachte deine Mutter dich 
zu uns, wo dein guter Groß Vatter did) Liebreich zu 
erziehen verjprad) und dic) in feine Arme nahm. Dein 
guter Vatter jtarb den Juny ungefannt von Dir, 
mein lieber Golly. Deine Liebe Mutter Stillte dic) 
jetbft und oft in Trähnen um den geliebten zu früh) 
geitorbenen Vatter, den du im 10 Wonatl deines erjten 
Jahres verlohrit. Seyn Segen leite did. Er war 
ein Nechtichaffener Dann. 











) (Eine Geräctnihpredige bey der Beerdigung des weyland Herrn Ober: 
pajtors an der Mitter: und Tomtirche, Alejors des Enitländiichen Provincial: 
Eonfüitoriums und Director des Dom-Wanfenhanfes in Neval Ehriftian Timorheus 
Schulg, gehalten von Heinhold Holt, zwevten Prediger an der Nitter: und Tom 
firde. Reval INIO. gedr. ben |. 9. Grefiel mit einem Vorworte des Propites 
3. Wsverus.) 











174 9.3. 0. SchulgBertram. 


Lebe wie du, wenn du ftirbit, Wünfcen wirft gelebt zu haben. 
Güter, die du hier erwirft, Würden bie dir Menfchen gaben 
Nichts wird dich im Todt erfreun, Diefe Güter find nicht dein. 
Weiche nicht von der Tugend, handle offen u. 
auth, das wünfcht beine alte did) fiebende Großmutter 
Asverus 
Torma d. 20ten Februar 1811. 

Darunter fteht: „Mit diefen 40 N6. fing ih 1810 im 
October einen Handel auff euer Glüd an.” 

Hier im Paftorat zu Torma verlebte mein Vater eine frohe 
glücliche Kindheit, die ihm unvergehlid blieb und der er in den 
Baltiichen Skizzen mit warmer Liebe und Dankbarkeit gedentt. 
So in den Kapiteln: Ein Paftorat vor 50 Jahren, Das Pröpftliche 
immer, Cine livfändiiche Vollsfammer, Gin Sonntag auf 
einem landichen Paftorat. Die Geftalt des „Grohpapa’s im 
Silberhaar” mit inniger Verehrung gezeichnet tritt befonbers hervor. 
Dort erzählt mein Vater, wie der fremme Großvater, der nidyts 
ohne Gebet unternahm, die große Standuhr alle acht Tage, mit 
den Kindern zufammen unter Abfingen eine Chorals, aufzog; wie 
er mit großer Geduld es zulich, daß feine Enfel fi) um jeine 
Folianten viffen, — „weil deren Söpfe im wichtiger waren als 
die Bücher“; — wie mein Vater an den alten Titelblättern und 
Schnörkeln fid) ergößte, für die er noch in fpäteren Jahren große 
Vorliebe Hegte und eine Sammlung daven anlegte; wie er als 
fünfjähriger Vücerwurm in des Grofvaters Bibliothek jtöberte 
und alles Ins, was ihm unter die Hand fam, und als ihm bieje 
verichlofen wurde, fih auf Chriftinn Warg’s Kochbuch warf, ja 
fogar ichliehlih mit dem Wäjhebuch jeiner Großmutter vorlieb 
nahm, aus welchen ihm dev imponirende Poften von 400 Tijd- 
jervietten noch erinnerlid) blieb. 

Bei dem Großvater genofien die drei Geichwifter, welde 
wegen ihrer fait gleichen Körpergröße und bes geringen Altero- 
unterjchiebes, bie Drillinge genannt munden, den erften (ateinifchen 
Unterricht, die Schweiter mit eingeichloifen. Mit Vorliebe iprad) 
der Propit, als einjtiger Schüler Schulpforta’s mit den 
Enteltindern lateinifche Broden und die Geburtstagswünihe mußten 
in lateinifher Sprade abgefaht werden. 





©. %. v. Eduly- Bertram. 175 


Einige Züge aus feiner Kindheit, die mein Vater jelbft mit 
Stilljhmweigen übergeht, dürften hier nicht unerwähnt bleiben: wie 
er ein Kagenhofpital anlegte und wie es fam, dah feine alte 
franfe Großmutter ihm ihre Wiedergenefung verdantte. 

Das Napenhoipital befand fi) auf dem Heuboden und 
beherbergte eine Anzahl augenkranfer Kägchen, welche mein Vater 
in der Umgegend aufgejammelt und hier heimlich untergebracht hatte. 
Er pflegte md fütterte feine Heinen Patienten und wuld) ihnen 
die Augen mit warmer Mil, jo jchon damals eine Neigung für 
die Augenheilfunde verrathend, die ihm den Titel eines „Silma 
bottor*) eintrug, als er in viel jpäteren Jahren, eine Heine Privat- 
Augenklinik für franke Bauern des Gebietes, in Friedenthal-Torma 
anfegte. 

Die Heilmethobe, welde mein Vater bei feiner Großmama 
mit Erfolg ammwandte, war nicht gewöhnlicher Art. Hier muß ich 
aber vorausfdhiden, dal; der erwähnte Heuboden aud der Lieblings- 
tummelplag des Knaben war. VBelonders liebte er es waghalfige 
Sprünge von den Querbalfen des Dades hinunter in das weiche 
Heu zu machen, ein Vergnügen, welches die bejorgte Großmutter 
ihm ftreng unterjagt hatte. 

Eines Tages ließ nun die alte Franke Pröpftin ihren Lich: 
fing, Golly, an ihr Bett rufen und fagte ihm, daf fie vielleicht 
noch heute jterben mühe und was er dann wohl tyun würde. — 
„Dann gehe ich auf ben Heuboden und mache Aufferbälle!” war 
die vache Antwort. Groimama lachte und genah. 

Diefe vom Vater geerbte mildthätige Liche, diefe „Dit: 
feidigfeit” mit allem Verfafjenen und Leidenden, erjtredte fid) aud) 
auf bie „itumme Greatur”, worunter mein Vater zerbrodene 
Gläfer, Teller, Taffen 2c. verjtand, die er nicht anjehen Fonnte, 
ohne fofort das Verlangen zu fühlen, fie zu „heilen“, oder richtiger 
„sufammenzufleben”. „Eigentlich bin ich zum Slider geboren,” 
fagte ex oft Icergweife, 

Der Großmama Felder und Aeder waren immer bie beit- 
beitellten der Umgegend und häufig kamen die Nachbarn fie um 
Nath zu fragen. Sie hatte das „Departement des Aeußern” über: 








=) Ehitnifh — Augendocter. 


176 9.3. v. Schulg-Bertram. 


nommen, während der Propit, geiundheitshalber darauf verzichtend, 
in feiner Stwdirfnbe blieb. Auf ihren Fahrten durd) das Land 
in einem jelbjtgelenften Wägelchen, mit einer frommen weihen 
Stute beipannt, — (der „Lediihen“, der mein Water in den Balt. 
Sfigjen aud) ein Denkmal gelegt) - nahm „Urmama” meiltens 
ihren Licblingsgrobjohn mit, oder fehritt mit ihm, ihn wie einen 
Stridbeutel unter den Arm nehmend, querfeldein. 

Mein Vater jdildert die Großmutter als eine ungemein 
tätige Frau, deren lebhafter Geift ihr nie erlaubte, länger als eine 
halbe Diinute bei ein und derjelben Sache zu bleiben, und die auf 
ihn den CEindrud gemacht, als befähe fie die Fähigfeit die 
verjchiedenjten nge zu gleicher Zeit zu verrichten: „fie Ipann, 
fie ichrieb, fie ftricte und drudte mit einer fleinen Handdruderei 
ihren Namen auf die Titelblätter der Noebueihren „Neuen 
Schaufpiele.“ 

Die Vicheitigfeit und Negfamteit des Geiftes mag wohl von 
ihr auf den Enfel übergegangen fein, wie and) die Gabe bei den 
Veichäftigungen und Creigniffen dee praftifden Lebens immer 
aushelfen zu fünnen. ine Art Findigfeit von meinem Vater 
„Napportivität” genannt, kam ihm päter als praftiidem Arzt 
Häufig jehr zu Statten. Auch die Luft zu „fabuliren“ jtammte 
wohl von der Grofmama, — entichieden wurde er von diejer in 
feinem Hange dazu ermuthigt. -— Mehr als einmal hatte die 
Großmama ihrer Meberzeugung Ausdrud gegeben: „in Golly jei 
ein Schenie verborgen“ - oder fie nannte ihn ihren 
„Hauspoeten‘ 

Leider find feine dichteriichen Verfuce aus der Nnabenzeit 
meines Yaters aufjufinden. In fpäteren Jahren verging fein 
Geburtstag jeiner Mutter, überhaupt fein feitlicheo Greignih in 
der Familie, das nicht von ihm in Werfen gefeiert worden wäre, 
teils auf bumoriftiüche, theilo auf ernjte MWeife, im Mtetrum, 
Noytämus und Formen die größte Abwechjelung bietend. Er 
behandelte mit Leichtigkeit die verichiedenjien poetijhen Mietven. 

Das Pajtorat Torma liegt an der Poftjtrahe, die, wie cs 
in „Martha Marzibill” heißt, - „vom Anfenland nad Petero: 
burg“ führt. So geihah es, dah die Kinder, troß der 
Ländlichen Abgeichiedenbeit, in der fie lebten, zuweilen mit den 












8.3. 0. Schulg-Bertram. 177 





Ereigniffen der Außenwelt in Berührung famen, die ihre Wellen 
bis in die weltentlegene Propitei fchlugen. 

In den Aufzeichnungen der Schwejter meines Vaters, — 
feines beften Spiel: und Lernfameraden, finde ich folgende 
Reminiszenz aus dem Jahre 1812, die das Bild vervolltändigen, 
welches im legten Napitel der Baltiihen Stigzen aufgezeichnet ift 
„1812 gab es bier auf der Heerftrahe ein lebhaftes Getreibe. 
Die Menichen flüchteten alle vor Napoleon nad) Moskau. Groß: 
vater ging täglid mit uns Kindern auf die große Strafie fpazieren 
und unterhielt ic oft mit den Neifenden, die um allerlei Aus: 
funft baten. Weine Großmutter vergrub mit dem treuen Rutjcher 
Jürri alle Werthfaden im Garten. Mutter jollte mit uns 
Rindern in den Avinormicen Wald zu einem Bauern geididt 
werden, doc) Großvater wollte mit der Großmutter und einer 
Tante bei feiner Kirche bleiben, weil er es für feine Pflicht hielt. 
Da fam eines Tages eine Eftafette: „Rige’s Vorftädte brennen! -— 
Napoleon hat feinen Weg nad) Moskau genommen“ und fo 
blieben wir alle beifammen. Nach dem Brande von Mosfau 
zogen die Flüchtlinge auf diefer Strafe wieder in's Vaterland 
zurüd. Es waren Dentjche und Franzojen, abgezehrte, zerlumpte 
Jammergeftalten, die viel von dem Elend des Krieges erzählten. 
Vejonders hatte fd} meinem Vater, dem vierjährigen Anaben, die 
Geftalt einer ruffiihen Vettlerin eingeprägt md ihre Worte 
Blut in allen Gräben! Blut in allen Brunnen!’ einen unaus: 
föfhlichen Eindrud auf ihn gemadt. (Balt. St. I. 3.) 

Wir Kinder wurden mit tiefem Abfchen gegen den Urheber 
all diefer Greuel erfüllt und nannten ihn die „auittengelbe 
forfiiche Striegsgurgel” -— „den Attila des 19:ten Jahrhunderts,” - 
„die Geifel Gottes“. - Aber aud) dies it uns Nindern erinnerlich 
geblieben, wie der milde Großvater bei der Nachricht, die ihm die 
Flüchtlinge brachten, Napoleon habe die Inquifition abgeichafit 
auf der Yandjträße jtehen blieb, fein Käppchen zog und andächtig 
die Hände faltend, Gott dankte, dab er ihn „Lielen Tag 
erfeben lich.“ 

Im Jahre 1816 fahen die Ninder den König Friedrich 
Wilgelm II. von Preußen auf der Station Torma und mein 
Vater hatte fogar die Ehre von Sr. Vlajeftät bei Seite gejchoben 











178 S. 3. v. Schulp-Bertram. 


zu werden und ein fönigliches Lächeln hervorzurufen, als er, im 
Eifer fi) ein Paar Handiehube anzuziehen, mit feiner Meinen Perfon 






fi dem Könige in den Weg geitellt hatte. uch die reisende 
Grohfürftin Diaria Pawlorona, Erbgroßherzogin von Weimar, die 


mit ihrem Gemahl die Station Torma paffirte und in einer 
blagblauen Seidenrobe im Garten der Station promenirte, hatte 
im Gemüth der Kinder einen nachhaltigen Eindrud von Liebreiz 
und Freundlidfeit hinterlafie Für den Großvater hatte die 
Großherzogin die liebenswür Aufmerkjamteit ihm zu fi rufen 
zu laffen, um ihm perjönlid) die Grüße feines Bruders, der 
Geheimratb am Hofe zu Weimar war, auszurichten, und ihm 
durch ihren Sekretär Briefe vom Bruder überreichen zu lajien. 

Doch die fürjtliche Eriheinung, die alle andern überjtrahlte 
an hoheitsvoller Majeftät und engelgleicher Mitde, das war der 
Naifer Alerander I., von dem mein Vater (fiche „Balt. Skizzen“, 
1. Bd.) fagt: „Es war nicht die ungeheure, fait grengenloje 
Macht auf Erden, die ihm den Stempel eines erhabenen Wejens 
gab, jondern das rein Chrütlihe in jeiner Erfheinung, die unbe> 
grenze Liebe und Yumanität, mit der er alle Sorgen und Leiden 
der halben Welt getragen Hat, — jeden Einzelnen behandelte, - 
jeden jeiner Unterthanen und jeden feiner — Feinde.“ — Zum 
legten Dial fah mein Vater alo Domfchüler den Naifer Alerander 1. 
in Neval 1824. 

Doch ehe ich zu diefem Lebensabichnitt meines Vaters fomme, 
muß id) nod) einiges über feinen Unterricht uud feine erjten 
Lehrer jagen. 

Der erfte Unterricht der drei Gejcwifter wurde von der 
eigenen Mutter und vom Großvater geleitet, der, wie jchon 
erwähnt, mit Vorliebe fie im Lateiniihren unterwies. Im Jahre 
1817 fam ein Hauslehrer in’s Haus, ein Vetter der Großmutter, 
welcher aber nur ein Jahr, bis zum Tode des Großvaters 1818 
im Haufe blieb. 

Der Tod des alten Propftes war ein jeliger Heimgang. 
Am vorhergehenden Tage hatte er einen Brief, enthaltend die 
Todesnachricht feines einzigen Bruders in Weimar, erhalten. Als 
er den Brief gelefen, fiel er in eine Ofnmacht. Beim Erwachen 
fagte er lüchelnd: „Cs war nur die Freude des baldigen Wieder: 














©. 3. v. Scjulg-Bertram. 179 


fehens mit dem geliebten Bruder, welche mid übermannte.” 
Dann lieh er die Großkinder zu fi rufen, jagte ihnen, da er 
num bald bei jeinem Heilande fein werde, ermahnte fie und fegnete 
fie. Wenige Stunden vor feinem Tode traf der Dr. Lehmann 
aus Dorpat ein und brachte dem Sterbenden, der im Lehnjtuhle 
faß, die Freubenbotihaft, daß die Bauernfreigeit proklamirt jei. 
Der Großvater nahm fein Räppden ab und pad danfend: 
„Mein Chr hat es vernommen, docd meine Augen werden cs 
nicht mehr fehen.” — Er Hatte diefes in Iateinifher Spradje 
gelagt. — Mit den Worten: „Herr, in beine Hände befehle ich 
meinen Geift!* -- entichlief er. 

Diefes jchöne Ende hatte den Gejchwiitern für immer alle 
Furcht vor dem Tode genommen. ie fahen ihm nicht als ben 
Fürften des Schredens, fondern als einen Engel des Friedens an 
den frommen Großvater herantreten. 

Die alte Großmutter z0g fih nun mit ihrer Tochter und 
den Enfelfindern auf den von ihr gegründeten Wittwenfiß, 
Friedenthal, ganz in der Nähe des Patorates, zurüd, und 
der Nachfolger ihres Mannes, Pajtor E. Asmıth übernahm den 
Unterricht ber Kinder, den zum Theil au, wie icon gefagt, die 
Mutter derjelben feitete. 


Bisher habe ich faft nur von den Großeltern geiprocden 
amd es it Zeit der treuen, aufopfernden Liebe und Fürforge zur 
gebenfen, welhe die fo früh verwittwete Mutter den vaterlofen 
Waifen, jowohl den eigenen wie den Stieffindern zu Theil werden 
ließ. Innige Liebe und Dankbarkeit der Kinder (ohnten ihr dafür 
bis an ihr Lebensende. Ganz bejonders groß war ihr Einfluß 
auf den jüngiten Großfohn Georg, meinen Vater. Das Verhältnih 
zu feiner Dlutter war ein felten inniges und zeigte fi) in regem 
Gedankenaustaufch zwifchen Viutter und Sohn, welcher au in 
fpäteren Jahren über Raum und Zeit hinweg fortgeführt wurde, 
wovon eine umfangreiche Korrefpondenz Zeugniß ablegt. 

Nachdem die beiden Nnaben, Morig und Georg, nod) zwei 
Jahre in Penfion beim Propft in Luggenhufen gewefen, zog die 
verwittwete Oberpaftorin 1823 nad Neval, um die Anaben in 





180 3.0. SchulpVBertram. 


der Dom Schule unterrichten zu lafien*). Mein Water war 14 Jahre 
alt, als er mit dem älteren Bruder Morig zufammen in Die 
Sehunda tat, unter Leitung der Lehrer Vlaiche, Carlberg, 
Aydenius und Nikfers, von denen namentlich lebterer jein Interefie 
für Naturwifienihaften wedte. Näheres über diele Periode feines 
Lebens hat mein Vater in den „Neuen Baltischen Skizzen**)" auf 
gezeichnet. Der Wahrheit die Ehre gebend verichmweigt er aud) 
nicht die Nnabenftreiche, die er in Gemeinihaft mit feinem älteren 
friegerichen Bruder, zur Verzweiflung des Ralfaftors ausübte, ber 
da fagte: „Winf Rubelo mechte id jeben for Armens, wenn 
biefe Sfulze wefmechten aus Sjuhle.“ —- Nach vierjährigem 
Studium in der Dom:Schule erhielt mein Vater das Zeugnih der 
Neife und bezog die Univerfität Dorpat im Jahre 1827 Gerridh 
gab vor's erite 3 rubel S. für die Matridel“, notirt Urmama 
im Sparbüclein). 

„Was willit du werden?“ Hatte cin Vetter den angehenden 
Studenten gefragt. „Rosmopolit“ war die fchnelle Ant: 
wort. Mein Later wählte die Medizin zu feinem Stubium, 
„diejenige Wilfenfchaft, welche die meiften anderen Wiffenichaften 
in fid) vereinigt.” 

Dbgleic) fein Intereife, angeregt durd) die Vorträge der 
ausgezeichneten Profeiore, wie Cihorius, Ofann, Parrot u. a. 
fich verfdhiedenen Fächern zumwandte, namentlich) die Vlineralogie 
und Botanif ihn durch ihre wunderbaren Formen md Farben: 
pracht anzogen, jo ergriff mein Vater dad) gleich mit Vorliebe 
das Studium der Anatomie unter Zeitung des Krofefiors Wachter. 
In feinem eurrienlum vitae heißt co dann weiter: „Die ver: 
gleichende Anatomie ftudirte id unter dem berühmten Eihbolz, 
bejonders aber veranlahte das Zufammenarbeiten mit den Freunden 
Pirogoff und X da ich mich ganz dem Studium der Natur: 
wiffeufhaften zuwandte, denen id) mid, nad) Ablegung des pro: 
pöbdeutifchen Gramens 1829 widmete, bejonders aber den der 
Anatomie, welches id) gleicham vom Ci an — auf's Neue begann. 














**) Wafeniusiche Buchhandlung 1 


©. 3. v. Sdhulg-Bertram. 181 


Eingebenf jedod, dah ich einen gelehrten Grad und Titel 
erlangen mühe, wandte id) mich nun auch dem Studium der rein 
fchen Fächer zu und nahm nunmehr wahr, daß bei Unter: 
weifung und unter Führung folder Lehrer, wie Mloier und 
Sahmen jedes Studium interefjant und feilelnd werden fönne, 
felbft da, wo man demjelben weniger Neigung entgegenbringt.” 

Im Jahre 1830 mußte mein Vater fein Studium wegen 
Arantgeit umterbreden. Er machte eine Ichensgefährliche Unter: 
feibsentzündung durch, welche wohl den Grund fegte zu feiner jo 
ihmwachen Gejundheit. 

Nod) hatte mein Vater das Nigorofum nicht abgelegt, als 
er dur) den ihn jehr chrenden Belchluß der Wied. Fakultät, zum 
Gehiffen und Projektor am Anatomitum zu Dorpat (unter Brofeifor 
von Hucd) ernannt wurde (1834-36). Seine Präparate dienen 
noc heute zu Lehrzweden. 

Im Jahr 1833 machte mein Vater, in Gefellf—aft mehrerer 
Freunde, feine erjte Neife an die baltiiche stüfte umd bejuchte 
einige Injeln Finnlands, unter andern aucd Hogland, wm dieje, 
die damals wenig befannt, zu erforichen. Er brachte von dort 
viele Notizen, Sfiggen und Material zurüd, die er zu Hleineren 
Arbeiten benugte, welche jpäter in der St. Petersburger Zeitung 
eridjienen. 

Am 11. Teybr. 1834 machte mein Vater einen Tpeil jeines 
Doctor-Eramens, in den Fächern bei Erdmann, Nathke, Sahınen, 
Hued und Köhler; bei Walter und Moier erjt im folgenden 
Semejter. 1836 erfolgte auf Grund feiner Dijjertation: „Die 
Ahinoplafticn“ feine feierliche DoctorPromotion am 16. März, 
welde feine alte Großmutter noch die Freude hatte zu erleben. 

Auf einer Neife nad) Petersburg, die mein Vater 1833 
oder 1834 unternahm, unterließ er co nicht, die Nabinette der 
Naiferlihen Akademie zu bejuchen, immer eingedent deffen, „daß 
die praftiihen Dinge nur durch Erfahrung zu erlernen feien und 
unfere von uns jelbjt erfannten Jrrthümer mehr Werth für uns 
haben, als die Erfahrung Anderer, welche eben die Andern gemacht.” 

Während de, Studentenzeit (1826—3+) gehörte mein Vater 
der Norporation der „Ejtonia” an und befleidete in ihr eine zeit 
fang den Chargirtenpoften. Als Mitglied diefer Korporation, in 


2 











182 G. 3. v. Schul Bertram. 


welcher Boca: und Injtrumentalmnfit eifrig betrieben wurde, 
hatte mein Vater Gelegenheit feinen mufifaliihen Talenten und 
Liebhabereien nachzugehen. Schon als Kind trat bei ihm Neigung 
und Verftändnih für Mufit deutlich) zu Tage und diefe wurden 
anfänglich von einer „mufifaliichen Tante”, darauf in Luggenhufen 
zwedentfprechend gefördert. Mehr nad geidiah diefes in Reval 
und ganz befonders in Dorpat. 

Doc) ehe ich Näheres darüber mittheile, will ich wieder zum 
Domidüler zurüctkehren, da ich überzeugt bin, daf; die damals in 
Neval erhaltenen Eindrüce, den Grund gelegt haben, zu der 
fpäteren mufifalifchen Richtung meines Xaters. -— Cs war 
namentlic) im Haufe des Kapellmeitero der Oper Goebide*), der 
auch Gefangfehrer an der Dom-Schule war, wo mein Pater 
Leitung und Förderung in der Mufif erhielt. Hier lernte er die 
Hafjiiche Kammermufit fennen, der er jtets den Vorzug vor jeder 
anderen gab. Die Tochter des Haufes war eine gute Klavier 
jpieferin, aber vor allem galt jeine Begeifterung den Opern: 
vorjtellungen. „Don Juan, Freifhlig wurden gut, Preziofa, 
Gazza ladra und Zauberflöte fofo, lala gegeben.” -- Bald fannte 
der Rnabe jede Note des Don Juan und des Freiihüg aus: 
wendig. Zu Haufe mußte die Schweiter „Vieb mir die Hand, 
mein Leben“ mit ihm fingen und mimen, und, um ihrer Mit: 
wirkung fiher zu fein, band der Nnabe feine Zerline an den 
Stuhl vor dem Klavier feit. Der Freiihüg, welcher 60 Mal 
gegeben wurde — ein beifpiellofer Erfolg war und. blich 
nädjft Don Juan und Zauberflöte das Tpernideal meines Vaters. 
Alles jrömte in die Oper und die Strafen Neval’s Hangen wieder 
von dem bei Alt umd Jung zur größten Popularität gelangten: 
„Bir winden dir den Jungfernfrang 2.“ -- Glüclic), wer diefem 
mufifaliichen Dochgenuh nad Serzenofuft nachfommen fonnte. 
Aber Opernbillete fojten Geld und der Beutel des Domidülers 
war leer. Da jchaffte wieder die findige Großmutter Abhilfe. 
Der Teid) in Torma-Rajtorat lieferte viele Vlutegel, ein Artitel, 
der damals viel Nachfrage hatte. Sie wurden gefangen, nad) 
Neval gefandt, dort verfanft und die dadurd) erzielte Einnahme 

















heue Palt. Skizzen.” 





6.3. 0. Schulg Bertram. 183 


dem Theaterbubget der Enfel angewiefen. Namentlich gute Ab 
nehmer waren Sonntags die Nirhgänger und mit Spannung 
beobachtete diefe der junge Theaterfreund vom Fenfter aus: hing 
es dod) von ihrem Bedürfnife nad Blutegeln ab, ob er Abends 
die Donna Elvira bewundern, fi an dem vorzügliden Komiter 
Wirfo ergägen oder fid) an dem Gefange der „hümmliden” Agathe 
entzüden fonnte. 

Mein Vater, der ichen als Schüler im Chor der Nevalicen 
Domtficdhe mitgefungen, hatte, als er in die Ejtonia trat, eine 
idhöne Yarpton-Stimme und fein Vortrag Schuberticher Lieder üit 
noch vielen Zeitgenoffen unvergehlich. Die herrlichen Singftimmen, 
über welde dieje Rorporation damals verfügte, Hatten den Eitonen 
den Namen „Revalice Nachtigallen” eingetragen. Jm Jahre 
1828 wurde unter Direftion meines Vaters die „Glode“ von 
Nomberg, jpäter der 1. Akt des „Don Juan“ und dann nod mit 
Hilfe von Rnabenjtimmen der „Samfjon“ von Händel aufgeführt. 

In den 40er Jahren, als mein Vater in Petersburg viel 
im Nreife von Nünftlern und mufifaliihen Dilettanten verfehrte, 
gelang cs ihm dort eine Aufführung des Freiihüg zu infzeniven, 
noch ehe diefe Oper öffentlich aufgeführt wurde. Endlich gab er 
im Jahre 1866 bei Breitfopf und Härtel, unter Beihilfe feines 
Freundes Henjelt und der Kollaboration des Euperintendenten 
Richter, des Vijhofs Ullmann, des ruffiicen Dichters Maitow u. a. 
das Requiem von Mozart in jieben Spraden heraus (Iateiniich, 
rufe, dentich, fettifch, ejtnüüch, Finnisch und fhwediih). Zıved 
diefer Herausgabe war, durch) die Uebertragung in die Yandes- 
jpradjen und durd) einen Leicht ausführbaren Orgeljag diejes Wert 
des jo jehr von ihm gelichten Meifters auch Heineren Landfirchen 
zugänglid) zu machen und zu popularifiren. 

Zu größeren eigenen Nompofitionen fehlte es meinem Pater 
an gründlichen Kenntniffen in der Harmonielehre, doc trat jeine 
natürliche Begabung für die Mufit bisweilen in jeinen freien 
Phantafien zu Tage. Er fagte, in folchen Augenbliden fühle er 
fid) jelbjt enthoben; er wühte nicht, was er fpiele. Mic er auc) 
die Hände auf das SHavier fallen laffe, entftänden ganz ohne fein 
Zuthun Aftorde und Harmonienverbindungen, über die er felbit 
erjtaunt wäre, denn er fönne nicht jagen, wie fie hießen und was 








184 ©. I. v. Schult-Vertram, 


fie bedeuteten. Manche feiner Melodien find von feinem Freunde 
‚Henfelt für's Nlavier gefegt worden, jo das melobienfe „Ferne 
Land.” Zu feinen eigenen Gedichten fomponirte mein Vater 
zuweilen felbjt die Dielodie. 

Die Baltifhen Provinzen haben manche anerfennenswerthe 
Dilettanten:Talente aufzwwveiien, denen zur Einfluhnahme auf die 
Entwidelung der Mufit nur die nöthige Schulung fehlte und von 
deren Können uns das jüngft ericienene „I-te Heft des Valtifhen 
Liederalbums“ herausgegeben von Nobert von Zur-Mühlen, — 
mandje Hübfche und intereffante Probe liefert. 

Der Sinn für das Melodieufe, für den Wohlklang, findet 
fi in allen Iprüchen Gedichten meines Vaters. Jede projobiiche 
Härte war ihm peinlich und mit befonderer Vorficht feilte er Profa 
und Borfic, um jebe „Aafophonie” zu vermeiben. Seine Gebichte 
find fajt alle zum Somponiren geeignet und viele find in Mufik 
gelegt, u. X. von dem begabten Rheinländer Narl Bollweiler*) 
in Petersburg. 

Au) der berühmte Meifter des Hontrapunftes, Kühnftett 
in Eijenad, jeßte Lieder meines Vaters in Mufil, darunter das: 
„Ic joll dich erit am Abend fehen”. 

Eine befondere Gabe hatte mein Vater, feinen Heinen Kindern 
das Stlavierfpielen beizubringen. Er wandte dabei zwei Methoden 
an: erfiens eine dichteriiche Analyfe des Stüdes, dem er ein 
ganzes poctifches Programm zu Grunde legte und mit caraf- 
teriftiichen Namen die einzelnen Paffagen bezeichnete, welche das Aind 
nad) dem Gehör nacjipielen mußte. In Weber's „Aufforderung 
zum Tanz", 3. B.: die große Schlange -—- die Trommel — die 
Wiege 20... Sodann, indem er das fon bei den Grieden 
übliche Spftem der Dinemotechnit empiriich anwandte, auf die 
Gruppirung der Tajten die Yufmerfjamteit des Kindes lenkte und 
deshalb mit joldhen Stüden anfing, die viele Nreuze und Veen 
hatten, weil die fhmarzen Tajten leichter zu behalten waren. 











Autor fhöner Aammermufil und einer herrlichen vierhändigen Navier« 
fonate. Seine Werte, darunter auch, mehrere Hefte Yieder, auf Terte meines 
Waters, find auf Leranlaffung der Oro 
find in Rennerkreifen gelhäbt, Haben aber beim gröferen Publitum nicht fo viel 
Verbreitung gefunden, wie Diefe Perlen edler Mufit cs verdienten. 


. Sie 





®. 3. v. Schulg-Bertram. 185 


Wie anregend und Lefrreich wirkten feine Kommentare zu den 
Opern von Mozart — zu den Quartetten Beethovens; die frap- 
pivenden Benennungen und Taufnamen, die aud) der fangweiligiten 
Etude einen poetiichen Zauber verlich; jeine, auf liebevolljtes 
Studium der Vachichen Meifterwerfe bafirte Kenntni der Mufik 
umd fein Intereffe und feine Freude an jeder nenen, edlen Er: 
fcheinung auf diefem Gebiet. Und wie vielen jungen Talenten 
wurden durch die Bemühungen meines Vaters die Wege geöffnet 
amd geebnet, wie viele Entmuthigte danften ihm nene Schaffens: 
freubigfeit, neue Hoffnung. 

Land und Leute zu jtudiven, Volfsfitten und Gebräuche zu 
beobadhten, waren von größtem Jntereffe für meinen Vater. Sein 
Zeichentalent Fam hier feiner VBeobachtungsgabe zu Hülfe. Nicht 
nur die (andichaftlichen und die Volfstypen, mic die Wohnftätten, 
Koftüme, Hausgeräthe, bis in’s fleinjte Detail, finden fi) in 
feinen Notigbüchern darakteri wiedergegeben teils in Farben-, 
theils in Bleiftiftifiggen. So übte mein Vater jhon damals auf 
prattifche Weite, die jegt fo fehr in Auffchwung getommene Wiffen- 
haft des „Folflore*, - des Studiums des Volfsgeijtes in 
allen feinen verfchiedentlichen Aeuferungen, wie: Sprade, Sitten, 
Gebräuche, Liedern, Sagen ıc. 

Von jeinen Arbeiten in diefer Richtung finden fi in der 
„Transaction of the Jnternational Folk-Lore-Congress 1891, 
London“ —- eine ganze Neihe angegeben, unter denen ich folgende 
bervorhebe: 1)Wagien, Dorpat 1868; 2) Der Geijt Fin 
lands, oder Jenfeits der Scheeren, Leipig 1 
3) Sagen vom Yadogafee, Hell 
parneh oder die Sonnen 
5) JImatar. Komediadivina turaniea (ehitniid- 
deutih). 1. Womba Wida. 1. Manala. IM. Tuuletar. 
Dorpat:Niga. 6) I. Nalewipoeg, ehitnifche Legende, überjegt 
in’s Deutiche von E. Neinthal und Dr. Bertram, Dorpat 1857- 61. 
N. Der Streitüberdie Ehtheit der Nalewiden 
Tage, Inland 1885 und mehrere andere Aufläge in bdemjelben 
Blatt. MM. Die Ehfteniage vom Nalewipoeg in ihrer 
neuen Geftalt, Inland 18: IV. Die Ehitnijde 
Sage vom Kalewipoeg, Montagsblatt, St. bg. 1861, 




























186 6.3. v. Schulg-Bertram. 


Nr. 6. Inland 1861 Nr.6. 7) Ein paar Ehjtenmärden, 
PBief Dans und der Teufel, Inland 1852; 8) Der 
Thurm des Olaus, ein ehftnifher Runenfreis, 
Inland 1853; 9) Ueber das finnifhe National: 
ep068 in feiner neuen Gejtalt. St. Pbg. Ztg. 1849 
(anonym); 10) La po&sie et mythologie des 
Finnois. Traite en a l’institut historique & Pa 1842. 
Hier fei aud) des thätigen Antheils gedacht, den mein Water an 
dem Zuftandefommen der Veröffentlichung des Nationalepos der 
Ehjten, des „Nalemwipoeg“ genommen. Im Jahre 1838, in 
einer denfwürdigen Sigung der gefeheten Ehfinifchen Gefellichaft 
in Dorpat, machte mein Vater auf die Nothwendigfeit aufmerffam 
bie im Volfsmumde noch lebenden PBruchitüde diefes Epos ohne 
Auffhub zu fammeln, che die Ueberfieferung gänzlich erloichen. 
Auf feine Aufforderung hin wirde diefe Aufgabe dem Dr. Kreuz: 
wald, einem feiner Studiengenofjen übertragen. Wie biejer es in 
feinem Vorwort zum Salewipoeg fagt: „Fam diefes National: 
Unternehmen hauptjächlich dank der warmen Fürfprade und der 
sündenden Rede des Dr. ©. Sculg (Dr. Bertram) zu Stande, 
durch) die er feine Vegeifterung auf die Zuhörer übertrug.” 

In der Folge üjt mein Vater für die trenge Mitif, die er 
an dem Werfe reuzwald’s, feines Freundes und Studiengenoiien 
ausgeübt, ehr Icharf angegriffen worden. Cs ift hier nicht der 
Ort die Frage zu erörtern, ob meinem Vater, als einjtigem Urheber 
des Unternehmens, eine foldje Aritif nicht mehr zuftand, als einem 
Andern; ob in dem gegebenen Falle das fünftleriche Gewilfen den 
Vorrang haben mühe vor der Freunbichaft und in wie weit hier 
das Urtheil meines Vaters begründet war oder nicht — jedenfalls 
darf eine unparteiiiche Nritit es nicht aus den Augen lafjen, dak 
Dr. Bertram (Dr. G. Schulz) der geiftige Urheber diejes Wertes 
gewejen und dah eine foyale Ausiprache zwiichen ben beiden um 
die MWichtigfeit des Gegenjtandes gleid) ernjt bejorgten Männern — 
ftattgefunden und ihre Freundichaft ungetrübt fortdauerte bis an 
ihr Lebensende. Hierüber dürfte die voluminöfe Korreipondenz 
mit Dr. Kreuzwald, welche einem legten Wunfdhe meines Vater’s 
zufolge im der Gelehrten Ehjtnifchen Gefellihaft deponirt wurde, 

















9. I. v. Schulg-Bdrtram. 187 


um erft nad) 50 Jahren veröffentlichit zu werden —- vollftändiges 
Licht verbreiten. 

Nach Veendigung feiner Studien ging mein Later in’s 
Innere Nuflands und verblieb dort von 1836-39 als Hausarzt 
des Generalen Umwaroff, auf deifen pradhtvollem Gute Holm 
im Smolenstifchen Gouvernement. 

Es war das erfte Hinaustreten in's Leben, die erfte längere 
Trennung von der Mutter, mit der er bisher fait ununterbrochen 
in innigem und aufrichtigem Verfehr geftanden. Seine Univerfitäts: 
ferien hatte er bisher mit wenigen Ausnahmen bei ihr in Frieden- 
thal im Tormajchen zugebradht und es wäre hier wohl angebradht 
biefer bedeutenden und originellen Perfönlichfeit etwas näher 
zu treten. 

Die verwittwete Oberpaftorin hatte als Kind beim Propit 
Evers in Koddafer Lejen, Schreiben, die vier jies und ein 
wenig franzöfüidh gelernt —- mehr wurde damals für ein Mädchen 
nicht für nöthig eradtet. Sie hatte fih aber jeldft ipäter durd) 
viele und gute Lektüre, einen großen Schap an Kenntniffen erworben 
und ihren Geift durch den Umgang mit hervorragenden Männern 
gebildet. Ic) will hier zwei erwähnen: ben nachherigen Bifdof 
Walter und den Brofeifor Erdmann in Dorpat, deren 
Velanntichaft meine Großmutter gemacht, als fie fi) zu wieder- 
holten Malen längere Zeit bei ihrem Neffen in Dudershof bei 
Wolmar aufgehalten, der in zweiter Che ihre Tochter Jenny zur 
Frau hatte. Ferdinand Walter war damals Pajtor, Narl Erdmann 
Doktor in Wolmar und Hausarzt in Dudershof. Zu diefen beiden 
hervorragenden Männern jtand meine Großmutter in einem 
Freundfchaftsverhäftniß bis zu deren Tode. Diefe Veiden und vor 
allem ihr Sohn Georg verforgten fie in ihrer ländlichen Einfamteit 
mit dem Bejten, was auf dem Gebiet des Miffens uud ber 
Literatur erfchien und fie hatte für alles, bis in ihr Tpätetens 
Alter, das lebhafteite Intereiie. 

Als fie in ihrem 83jten Lebensjahre nad) Dorpat kommen 
mußte, um fid) einer Operation am Auge zu unterziehen, erregte 
fie dur) den Muth und die Standhaftigkeit, mit der fie die 
Schmerzen ertrug, die Yewunderung der fie operirenden Aerzte. 
Während der Refonvalescenz wurde fie von jo mandem bedeutenden 























188 9. I. v. Ecdhulg-Bertram. 


Wanne, ber fie in früherer Zeit fennen gelernt, wieder aufgefucht 
und er fand Vergnügen und Genuß im VBerfehr mit ihr. Auch 
meine Großmutter fühlte fi) ichr angeregt und erfreut, aber mit 
der ihr eignen Energie, brad) fie, ungeachtet der Witten ihrer 
Umgebung, den Aufentgalt in Dorpat ab, weil — „fie am Ende 
ein zu großes MWohlgefallen an diefem geiftigen erfehr fände 
und fie fi fpäter zu einfam auf dem Lande fühlen würde.“ 
Selbjtüberwindung bejah fie in hohem Viahe, verlangte diefe aber 
aud) von Andern, daher wohl der Eindrud der Strenge, den fie 
auf Jeden machte. 

Dod), jtets anf das Wohl Anderer bedacht, verjtand meine 
Großmutter immer fi die Liebe und Verehrung, das Zutrauen 
ihrer Umgebung zu gewinnen. Sie nahm fid) der Waijen im 
Gebiete an, erzog fie zu tüchtigen Dienftboten, wofür fie fid den 
Dank jo mancher Hausfrau erwarb. Meine Großmutter hielt es 
aber nicht für nöthig ihren „Mufzöglingen” aufer Lejen und ein 
wenig Necdnen auch das Schreiben zu lehren: „To wie fie zu 
ichreiben veriteen, fehreiben fie dody mur Yiebesbriefe” —— meinte 
fie. e lieh auf eigene Koften eine Frau aus der Gemeinde in 
der Frauenflinif zu Dorpat als Hebamme ausbilden und half 
dadurch einem großem Webeljtande unter ber bäuerlichen Yevölferung 
ab. Diefe fohnte ihr dafür mit der größten Dankbarkeit und 
Verehrung und „Wanna praua“ (die alte Frau) war ihr Math 
und ihre in allen Angelegenheiten des Leibes und ber Seele. 

Grofmama's Kenntniffe in der Medizin erfreuten fid) eines 
großen Mufes. Von Nah und Fern fauten die Hilfefuchenden 
Bauern zu ihr. Namentlich Sonntags war ihr Häuschen umlagert 
von Zolchen, die mit dem Gange zur Kirche, aud) den Gang zur 
„Wanna praua“ werbanden, um für fihh jelbjt ober für die 
franfen Angehörigen zu Yaufe die heilende Arjenei zu erbitten, 
und gar wunderbar find die Nuren, welhe der Großmama zuge: 
fchrieben werden. -- „IH Furire die Leute mit Senfteig und 
hinefischemm Thee und, Gott fei Dank, es Hilft jtets" — jagte fie. 
Was aber den Ceuten and) nod) Half, waren die Trojtes- oder 
Scheltworte, die fie ihnen, je nad) Bedürfnif, mit auf den Weg 
gab. Wie mandyes widerfpenjtige Weib hat fie zum Gehoriam 
gegen ihren Dann zurücgeführt, wie manden ungerathenen 











8. 3. v. Ecdulg-Bertram. 189 


Kindern in’s Gewilen gerebet, ihre alten Eltern in Liebe zu ver- 
pflegen. Wunderbar verjtand fie cs mit Jedem, weh Alters, 
Standes, Nationalität er auch war, zu verfehren. Adel, Bauer, 
Geijtlichfeit, alle waren willfommen und Jeder wurde mit der 
ihm zufommenden Gtiquette behandelt — Menfchenfurcht fannte 
die alte Frau nicht. 

Viele harakteriftiihe Einzelheiten könnte id) noch erzählen, 
dod) das würde mich zu weit führen. Nur Eines jei noch erwähnt: 
Eint fam ein armer Tifehler zu ihr, der auch die Giloden in der 
Kirche zu Läuten hatte, weshalb er fid) „Lautenfchläger” nannte, -— 
flagte ihr feine Armut und bat um Arbeit. „Lieber B...,” 
fagte meine Großmutter, „Möbel habe ich genug für die Furze 
Zeit, die ich noch zu leben habe, aber ein Möbel werde id) 
doc) mod branden und das ijt mein Nehmt mir das 
Viaaß und macht ihn mir, dann haben auch die Vieinigen nicht 
dafür zu forgen, wenn ich iterbe. Ih gebe euch 3 NbL., ihr 
fönnt davon mande Woche feben und ic) befomme meinen Sarg.” 
So geihah es aud. Fünfundzwanzig Jahre fand der Sarg, mit 
einem Tuche bebedt, in der Aleete, und alle diefe Jahre wurde 
die Rleete nicht erbrodhen, weil die Diebe fih) vor dem Earge 
fürchteten. 





Eine zärtliche, liebevolle Viutter ihren beiden Söhnen, war 
ihr Verhältni zu ihnen doc) ein verichiedenes. Zum älteren 
ohne jah fie auf, fie jtellte ihm über fih, während der jüngere 
ihr immer der Sohn blieb, an dem noch zu erziehen war und 
wenn fie and) jtol; war auf feine Nenntniffe, Gaben, feine jchrift: 
itelferifche Thätigfeit, jo wollte fie es ihn doc) nicht merken laffen. 
Ein fleines Beifpiel hiervon. Bei einem feiner Bejucdhe bei der 
Viutter wollte mein Vater ihr fein neuejtes Wert vorlefen. Er 
hatte dazu die Stunde nach Tifh gewählt, weil, wie er jagt: 
„eine Hausfrau vor dem Mittag, wie ein General vor der Schlacht 
fei, man darf ihr dann nicht in den Meg kommen.“ 


Mo mn diefer wichtige Aft des Tages abgemadht, das 
Tifchtuch fortgeräumt und die nöthige Ruhe eingetreten war, 
lehnte meine Großmutter fi in ihren Lehnjtuhl zurüd, dedte, 
wie fie zu thun pflegte, ihr Tajchentuch über ihr Gefihht und 


190 9. 3. v. Schulg-Bertram. 


fagte: „Zo, jegt lies, lieber Sohn, vielleicht ichlafe ih ein.” — 
Wenn mein Vater diefes erzähfte, jo lachte er oft bis zu Thränen. 
Die Erinnerung an meine Großmutter hat mid von dem 
Lebensgang meines Vaters abgeleitet und ich fehre wieder zu der 
Zeit zurüd, wo er Hausarzt beim General Umaroff in Holm war. 
In Holm hatte mein Vater eine ausgedehnte Praris, nicht 
allein unter der ländlichen Bevölferung, fondern aud) auf den 
benachbarten Gütern der Sogradsky, Zingjoft, Nadimoft, Schere 
metieff, Yesles und Panin. Insbejondere hatte der alte Graf 
‘PBanin auf Dougino eine herzliche Neigung und Zutrauen zu 
meinem Vater gefait. Al er jhwer erkrankte und den Tod 
herannahen fühlte, lie} er meinen Vater nicht von feiner 
und diefer war eö, der dem werthen Manne die Augen zudrüdte. 
Die Gelegenheit Land und Leute zu jtudiren lich mein 
Vater hier aud) nicht unbenügt vorübergehen. Davon zeugen 
zahfreiche Briefe an jeine Putter, die häufig von feinen Feder 
zeichnungen begleitet waren, um das Gejehene und Erlebte 
anfdaulider zu machen. Hier fand er aud) das Material zu den 
„Mediziniihen Dorfgeichichten“, zu den „Epijoden aus dem Leben 
Trifhta’s des Nasboinits“, in denen er feine eigenen Erlebnifle 
auf den jungen Arzt Eduard überträgt. Diele Erzählungen 
aus dem Innern Nuhlands, in denen er das „Wiflenichaftliche 
mit dem Spannenden” vereinigte (wie eine Nejenfion cs jagt), 
erichienen zwerit im Anlande und dann als Sonderabdrud in 
Dorpat 1 Aus jener Zeit frammen aud) die Berichte an die 
Aademie „über Folfile im Smolenstiihen Gouvernement.” 
Während feines Aufenthaltes in Holm fiel mein Vater in 
eine jehr jchwere Mranfheit (1839), die ihm an den Mand des 
Srabes brachte. Als er fi) jo weit erholt, mußte ev Holm ver- 
laffen und zur Stärtung eine Exholungsreife in’s Ausland machen 
im Jahre 1840. Mein Vater reifte in Begleitung feines älteren 
Bruders Morig, der im Naufafus jhwer verwundet worden war, 
hinaus. Jun Berlin wurde ein längerer Aufenthalt gemadıt. 
Mein Later lernte den berühmten Nugenoperateur Dieffendad) 
fennen und wurde von ihm zu vielen Operationen herangezogen. 
„3m „Strabismus” oder „Geidichten im Eilwagen“, die fpäter 











9.3. v. SchulgBertram. 191 


eridienen*), hat er an feine Erinnerungen aus biejer Zeit 
angefnüpft. 

Profeilor Dieffenbad) wollte meinen Vater bei fid) behalten, 
doch diefer zog es vor, feinen Bruder nad) Paris, London und 
Hamburg zu begleiten. Dann ging er allein über Leipzig, Jena, 
nad) Weimar, wo er die Verwandten großväterlicherjeits aufiuchte, 
bei Hof vorgeftellt wurde und eine Einladung zum Diner erhielt. 
Bei einem längern Aufenthalte in Wien befuchte er die Vorträge 
mehrerer berühmter Profeffore und arbeitete in feiner Wilfenichaft. 
Nebenbei fhrieb er für verihiedene Zeitihriften und dichtete zur 
Feier des Einzuges des Erzherzogs Friedrid) eine Kantate, die der 
befannte Gejanglehrer und Komponift Profi in Mufit jebte. 
Von Wien aus jollte mein Vater die Seimreije antreten, ohne 
feine geheime Schnfucht, Italien zu jehen, befriedigen zu können. 
Da wurde ihm ganz unerwartet von Seiten eines begüterten 
Dlannes, eines früheren Kommilitonen, der VBorichlag gemacht, ihn 
nad) Stalien zu begleiten. Mein Vater nahm das Amerbieten 
an, wenn aud dadurd) jein beabfichtigter Eintritt in den Staats 
dienjt verzögert wurde. 

Die Eindrüde der italienischen Reife hat mein Vater theils 
in Briefen in die Heimat), theils in Gedichten wiedergegeben. 
Legtere erjchienen zuerft 1842 unter dem Piendonym Levin in 
Hamburg und wurden jpäter, 1869 unter dem Titel: „Bilder aus 
dem Süden” in die „Sefammelten Werke” aufgenommen. (Dorpat, 
Gläfer’s Verlag, 1. Band). Unter diefen Gedichten befindet fich 
ein längeres philojophiiches, betitelt „Nömifche Oftern“, in 
weldem mein Vater die ihn damals bewegenden Gedanken über 
Religion und Kultur ausipricht. In den Iyrifchen Gedic)ten wird 
Halten wie eine Braut gefeiert und angefungen. 

Man reifte damals im Wagen, in ungezwungener Weife 
fich Ruhepaufen gönnend; Trieft, Venedig, Genua, Nom, Neapel 
wurden befucht. Dann ging es über Miarfeille, Pau und die Pyrenäen 
nad) Paris, wo mein Yater mit verihiedenen Xertretern der 
Miffenichaft in Verbindung trat und zum Mitglied des „Institut 
Historique“ ernannt wurde, dem er feine Schrift „Ueber finnische 








> Zu der „Et. Bıbg. Acad. Big.“ 


192 6. 3. v. Schulg-Bertram. 


Vipthologie und Pocfie“, betitelt: „Im poesie des Finnois“ 
eingefandt hatte. In demielben Jahre (1842) reichte mein Vater 
der „Soeiete Anatomique“ feine Abhandlung über Racen- 
verjhiedenheit ein: „Recherches sur des differences anato- 
miques chez plusieurs peuples.- 

In einem Brief an jeine Mutter berichtet mein Qater von 
dem großen Eifenbahnunglüd bei Dieudon auf der Linie Paris: 
vend feines Aufenthaltes in Paris jtattfand 
und dem er durch eine eigene Fügung entging. Cr war nad) 
Verjaille gefahren und wollte mit dem Abendzuge nad) Paris 
zurüd. Auf dem Wege zu Station begegnete ihm ein altes 
Weib — eine Zigemmerin. Mein Vater fonnte der Verjuhung 
nicht widerjtehen, fie nad) den Gebräucen, dem Aberglauben, den 
Zauberformeln ihres Volkes auszuforihen und lieh fid in ein 
Gejpräd) mit ihr ein. Die Abfahrt des verhängnifvollen Zuges 
wurde verfäumt und mein Vater mußte die Linie auf dev andern 
Seite der Seine zur Nücfahrt benupen. 

Ueber Nouen, die Nordiee, Skagen, Kopenhagen, Vornholm, 
Dagö wird die Nücreife in’s Vaterland endlich gemadt und zu 
Ende des Jahres 1842 tritt er in den GStaatsdienft unter Vaer 
und Pirogoff. 

Von 1842-1848 Konfervator bei der Kaijerlichen Afademie 
der Wiffenfchaften in St. Petersburg; von 1845 Profeftor 
des Anatomifchen Injtituts bei der neubegründeten Staiferlich-Mebico: 
Shirugiichen Afadentie; 1854 gleichzeitig zum Oxdinater am 2:ten 
Land-Militair-Holpital ernannt und nebenbei jeit 1843 alo Arzt 
bei der Viineralwafferanftalt in Petersburg, im Sommer beichäftigt, 
fand mein Vater dennod) Zeit zu fchriftftellerifcher IThätigfeit. Yon 
den, in diefem Zeitraum veröffentlichten Werfen, nenne id) folgende: 
Mejlungen an zwanzig verfhiedenen Nacen. 
(dm Bulletin der Akademie.) Weber den Bau der nor= 
malen Menihenichäderl nebiteiner Nadjlefe unbejchriebener 
Punkte des Schädelreliefs — (mit 10 auf Stein gravirten Tafeln). 
St. Petbrg.-Leipzig Brofpaus. 1 64€. Gratulations- 
jebrift zur 50-jährigen Jubelfeier der Univerfität Dorpat. Pyxo- 
voxerno u» Ipenaposaniw. (Nufl. Handbud) für anatomifches 
Präpariren.) Anweifungzum furgemäßen Gebraud 























6.3. v. Schulg-Bertram. 193 


der Mineralmwaifer, nebft mehreren auf die Minerals 
wajferanftalt in St. Petbrg. bezüglichen Anzeigen und Abhandlungen. 
St. Petersburg. 1 este im Nuffifchen:  Hacranenie 171 
iorpe@senim step Valneologiide 
Sfizzen am Ditjeeitrande 1848. Die Natur: 
toriherverfammlung in Thüringen. (Inland 1853.) 
Neber<hmwediihe B Pebg. (Akad. 
Ztichrft.) Auf fitteräriichem Gebiete war bereits die Auf 
mertjamfeit anf die dichteriiche Begabung meines Vaters gelenkt 
worden durd) eine Neihe von Eleineren Grzählungen — darunter 
der bereits erwähnte Strabismus, die Novelette der 
Wolfsritter (Akad. Ztg. 1850) und namentlich durch feine 
„Elsleriana“ betitelten Briefe (1848-50) die in der Ct. 
Petbrg. tg. erichienen und fehr anfpraden. 

Im Jahre 1819 erichten die erite Reihe dev Baltiiden 
Sfizzen, denen bald eine zweite Neihe folgte, unter dem 
Schriftitellernamen: Dr. Bertram, den mein Later in der 
Folge beibehielt. Diein Vater hatte fih lange nicht entichliehen 
tönnen, diefe Sfizjen zu veröffentlichen; er that es auf dringendes 
Zureden eines Freundes und ber Erfolg übertraf feine Erwartungen. 
Sie wurden im verschiedenen Ausgaben im In und Nuslande 
veröffentlicht und erlebten mehrere Auflagen*). 

In der Vorrede zu einer der fpätern Ausgaben der alt. 
Sfiggen, fagt mein Vater „Unbefannte hätten ihm öfters die Ver: 
fierung gegeben, daf fie in den Balt. tigen genau wieder: 
gefunden, was fie jelbft erlebt oder felbit beobachtet.” — Dieies 
erfreute ihm jehr als ein Beweis, dai feine Schilderungen Iebeno- 
wahr und allgemeine Siltigfeit hätten. — In der That ift in den 
Valt. Sfizen das Leben in Livland „vor 50 Jahren“ in einer 
Neihe von Bildern nad) der Natur feitgehalten und alle vor: 



















*) Dr. Windelmann in der BibL. Yivonia Hiftorica führt 
nde Ausgaben an: Waltiice Stiszen. Schul 6. 2. > pfeud. Bertram, 
Petbrg. 51; 2) Ermann Archiv XI. Heft 3. Berlin IN52; 
3) Juland 1852 (vollitändig); 4 I. Wändchen: 50 Jahre zurüd. Torpat 1. 
. Pebrg. 1853,.8% Zweite Heihe 1) Jnland 18: Dorpat u. 
Petbg. 1835, Yaltifche Stisgen. Berlin 1 hen N, 
Erftes Yändchen, Dorpat 1873. 9%, 



















19 ©. 3. v. Schulg- Bertram. 


fommenden Typen nad) dem Leben gezeichnet, — in einigen 
Figuren, wie derjenigen des Studenten Blau, mehrere Perz 
fönlichfeiten in eine verihmofzen. 

In den näcjitfolgenden Jahren erichienen die an anderer 
bereits angeführten größeren und fleineren Aufläge über 
he und finniiche Wolfopoefie, Sagen und Märden, aus 
welchen die erjte größere bilinguale (deutiche-ehitniidhe) Dichtung, 
die Epos: Jdylle Womba Wido*), jowie die Sammlung finnifher 
Xolfsmärhen md Sprichwörter, betitelt „Ienfeits der 
Scheeren“ hevorzuheben wäre. 

Die schwierige Aufgabe, Gribojädoff's Meifterwert, die 
unfterbliche dramatische ‚Vope orn yaax*") in's Deutihe 
metrifch zu übertragen, beichäftigte meinen Vater mehrere Jahre 
hindurch. Auch machte er felbjt einige dramatiche Verfuche (u. a. 
die drei Halsbänder. Yeipzig 1853). 

Ging Eleine Novelle: „Die Nire von Bargula” 
ein Traum — und — Sommermärden, eridien 1845 in ber 
St. Petbrg. Ztg. und zeigte eine phantajtiich melandoliiche Pociie. 
€ erichienen ferner die Elegie auf den Tod des Katfer’s Nicolaus 1. 
und die Schlaht von Sinope (a. d. Nufliihen 1855). In diefer 
Zeit entftanden aud mehrere Kinderichriften: die „Martba 
Marzibill“, das „Zaubertäftden", „Manfekap”, 
bie er in Friedenthal für jeine eigenen Kinder geichricben. 

Bereits im Jahre 1845 hatte fich mein Vater verheirathet 
mit Fräulein Theodora von Unger. Nirgends fühlte er fich 
wohler, als im eigenen Haufe, an der Seite jeiner mit hohen 
Geiftes: und Herzensgaben ausgeitatteten jungen und fcönen 
Frau, einer der beiten Schülerinnen Henjelts, inmitten feiner fünf 
Ninder, deren Aufblühen amd Entwidelung zu beobachten ihm, 
dem Ninderfreunde, die größte Freude bereitete. In feinem Haufe 
verfehrten auch gern Nüntler und Gelehrte. Yor Allen war cs 
der geniale Pianiit und Komponift Adolf Henfelt, der als lang: 























*) Zuerit ericienen in der „Balt. Monatsichrift” 
Seh. Schriften. Dorpat, Gläfers Verlag. 

“) Verftand fhafft x 
Werfen nach dem Huffifcien des Gribojüt 
Yaipyig 185 


fihe ud Jlmatar. 


I“ hauipiel in 4 Aften und im 
netrijch übertragen von Dr. Yertram. 








6.2. v. Schulg-VBertram. 195 





jähriger Freund des Haufes, diefem die mufifaliiche Weihe gab 
Reiner verjtand cs beiler als mein Vater mit dem veisbaren 
Sünftler umzugehen und diefer verihmähte es nicht, dem Nathe 
meines Vaters and in mufifaliihen Dingen Gehör zu icenfen, 
ihm feine Werke vor dem Erjcheinen mitzutheilen. Gerne erholte 
er fi) abends bei einer MWhiftpartdie und der Zigarre, an den 
launigen Einfällen meines Vaters von dem Aerger, den ihm 
tagsüber feine unzähligen Schüler bereitet, wogegen er wieder 
meinen Vater durch jein Töftliches Rlavierfpiel erquicte und zu 
neuen dichteriüchen Thaten begeijterte. 

Von einigen gemeinfamen Erlebniffen auf einer Ronzertreiie 
Henfelt's in den baltischen Provinzen, habe ich bei Gelegenheit 
des 50. Jahrestages des fetten Konzertes Henfelt'’s in Dorpat 
an diefer Stelle berichtet *). 

Neben Henjelt jei no des jchon erwähnten talentvollen 
Karl Vollweiler gedacht, der von den Iyrifcen Gedichten 
meines Vaters gegen dreiiig in Mufit gefegt hat, namentlic) 
Lieder aus der Bräutigamszeit und aus der Zeit der jungen Ehe; 
jo auch ein veisendes Miegenlied „Komme Sandmann leife“, dem 
eriten Ninde gewidmet. „Wenn ein Gedicht mufifaliidh gut it, 
fo muß gleih beim erjten Yejen die darin enthaltene Dielodie 
dem Wufifer vor der Seele jtehen,“ lautete ein Ausjpruc) 
diejes Künjtlers. 

Auch die in Petersburg Fonzertivenden Künftler aus dem 
Auslande waren gern gefehene Gäjte des Daufes, jo der Sänger 
Vario, Nara Schumann mit ihrem Gatten u. A. -- In ipäteren 
Jahren der Wiener Pianift Jofef Derffel, Komponijt der melo: 
difchen Steirifchen Yändler und „Valses brillantes“; NAlerander 
Dreyichod, der brillante Virtuos und Meifter des Oftavenipielo, 
einer der füchtigjien Profefioren am Petersburger Nonjervatorium; 
Anton Nubinftein, der titanifde Mlavierheros und veridhiedene 
andere Künjtler und Nünftlerinnen. 

Die bildenden Nünfte waren u. A. durd) den genialen, leider 
fo jung verftorbenen ruifiicen Maler N. Ulianoff vertreten, dem 








> Baltiiche Monatsfcrift 1891. Eine Komerttouenie in den bahifchen 
Provinzen v. Veriramin. 


196 6.3. v. Schulg-Bertram. 


die „Martha Marzibill* ihre veizenden Ylhrjtrationen verdanft. 
Au) lieferte er eine Reihe von Jluftrationen zu der geplanten 
Pradtausgabe der „Peterslieder” (Manufftipt) meines Yaters 
und mufterhafte Feberzeichnungen zum „Womba Wido”, die leider 
verloren gegangen find. ch nenne noch den holländijchen Maler 
Remy van Haancn, deifen Caurfortes jo gerühmt werden und 
den originellen Ardjiteften A. Pe Bold, Profeor der Akademie, 
der mit feinen Verfuchen den national-ruffiich-byzantiichen Yauftyl 
wieder aufleben zu lajien, feiner Zeit vorausgeeilt war und ebenjo 
brusque wie genial feiner Begeifterung und Ueberzeugung für 
diefe Nenaiffance Ausdrud gab. 

Aus der (elehrtemwelt wären zu nennen: Pirogoff, die 
Leibärzte Sr. Diajejtät des Kaifers Dr. v. Karel, Dr. Chermüller, 
Dr. v. Hirich, der Akademiker Wiedemann, die Bijhöfe Ullmann, 
5. Walter, der Generalfuperintendent Richter und einer jpäteren 
Periode vorgreifend, die rujliihen Schriftjteller und Poeten: 
Tutiheif, Apollon Maikfow Polonsky, Fürit 
Wiafemstyufm. 

Ih schliehe hier die Lifte, da bei den mannichfachen Be- 
siehungen meines Vaters zu den verichiedeniten Areifen, eine Auf: 
zählung aller Perfonen von Bebentung, mit denen er in mehr 
oder weniger nähere Berührung fam, den Nahmen einer Skige 
überfghreiten würde. 

Nach den Worten eines ehr guten Yausfreundes, beitand 
der Zauber im Umgange mit meinem Pater, in dem Interefie, 
mweld)es er an Andern und an den Veichäftigungen Anderer nahm. 
Er Hatte die Eigenichaft eines guten Gaujeurs, —- diejenigen, die 
mit ihm Iprachen, ihr „Weiteo“ reden zu machen und Jeder meinte 
dann von fi: „wie unterhaltend bin ic) geweien“. 

Daher erklärt fi auc die Anziehungskraft, die mein Yater 
bejonders auf junge Leute ausübte. Wie viele junge Talente 
wurden von ihm entdedt, auf die richtige Lebenobahn gewieien 
und erhielten din) feine Vemühungen die nöthigen Mittel fh 
für diefelbe vorzubereiten. (Schluß folgt.) 


0 



































Aunibrieie 


VI. 


Der Naturalismus in der Kunjt, in der Dichtkunft To gut 
wie in der plajtiihen, wird bald jhon ganz abgewirthihaftet 
haben. Zeit etwa einem halben Jahrzehnt tritt das auf jeder 
grohen Ausftellung immer mehr und mehr zu Tage. Aber wenn 
ich fage „abgewirthfchaftet”, jo foll in diefem Worte nicht das 
Mifachtende zum Ausdrud fommen, das meitens jeinen Neben 
finn bildet. Ich meine nur, daf er zurüczutreten beginnt, nachdem 
er eine große Miffton erfüllt hat. Die Miffion nämlid), dem 
Auge die Welt des Natürlichen zuüczuerobern, das Neid der 
Kumft von der Kuliffe, der Phrafe, der Pole, der ganzen geipreizten, 
durd) und durd) unwahren Theatralif zu jäubern. Er hat das 
gründficd) beforgt, fo gründlich, dah er auch gleid die blühende 
Phantafie und innige Empfindung verjagte und an ihre Stelle das 
protofollarifche Dokument jete. Das Alltagsleben nad feiner 
ausfchliehlid materiellen Seite Hin wurde zum herrihenden Motiv; 
das Alltagsleben und die Alltagsmenfchen zunächit aus den Nreifen 
der armen Leute, der „Erniedrigten und Vedrüdten“, jpäter aber 
in allen Scjihten der modernen Menfchen überhaupt. 

Doc) dann ward man allmählich der trorfenen Materie, des 
nüchternen Protokolls überbrüffig, md nicht bloß in Bezug auf 





198 Runjtbriefe. 


Armeleutmalerei und Hinterhauspoefie. Man jehnte fi heraus 
aus dem Bannfreife des rein Stofflichen, des Vanalen, des All- 
täglichen, man wollte ein Gegengewicht haben gegen Materialismus 
und jchroffe Tendenz und man wandte fi, dabei aber der neu 
erworbenen Ausdrudsmittel nicht vergejiend, Dingen und Jdeen 
zu, die zu Beginn unfereo Jahrhunderts und während feiner eriten 
fte als „romantisch“ bezeichnet wınden, die man heute jymbo: 
rich, moftiich, neuidealiftiich u. j. mw. nennt. Denn im Grunde 
genommen it's beide Dial daijelbe der gleiche Nultus des 
Gefühls, der Empfindung, der Phantajie. 

Es würde mid) Heute zu weit führen, bei dieler neueften 
Nchtung in der Kunft unferer Tage, die aber Übrigens auch jdon 
bald ihren Höhepunkt hinter fid) haben dürfte, eingehender zu ver: 
weilen. Dah fie eine berechtigte aus dem Zeitgeift und den Zeit: 
verhältnifien herausgeborene Neaktion bedeutet, das nachzumeiien 
hatte ich Gelegenheit im vorigen Herbit, wo id) die Fürchliche 
und refigiöfe Minferei auf der fepten großen Verfiner Ausjtellung 
von internationalem Charakter beiprad). 

Hier nur jo viel, daß die Eriheinung nicht bloi; berechtigt, 
fondern auch erfreulich ft, dah fie aber gleichzeitig verhängnißvolle 
Auswüchie und verderblihe Wucherungen zeigt, die gegenüber dem 
Viaterialionus rrengiter Obfervanz ein anderes Ertrem darftellen 
das einer ganz umd gar unfünjtteriichen Jdeen- und Gedanfen- 
malerei oder jormlojen Stimmungsmalerei. Zumal, wenn es fidh 
um Dialerei im engeren Sinne des Worts handelt, denn dah in 
der Nadirung, in der Lithographie, in der Kartonzeihmung tief 
finniger Jdeenausdrud mehr am Mage ift, das beweilt u. A. der 
Nudm eines Dar Klinger md in jüngfter Zeit das große Auf 
jehen der Zeichnungen Salcha Schneiders. Das Gefünjtelte und 
Sefuchte, das Gejpreizte und Gozierte, ein Nofettiren mit angeb 
licyemm Tieffinn nnd geheuchelter Geniafität begannen um fü 
greifen als ein willfommener Dechmantel für die Fünftle 
Impotenz und techniiche Unvollfommenheit... Publifum  jteht 
davor und weil; nicht, as es dazu jagen foll. Dit 0 unbefangen 
genug, To wendet cs fih wohl adhielzudend oder gar lachend ab; 
ichwört es aber auf gen , dinft eo fi 
geicbeuter, als die Maffe, dann verftummt es in jcheinbar ehrfurdits 







































Kunjtbriefe. 199 


vollem Staunen oder aber ruft laut fein „Dofiannah!” gerade, 
weil eo nichte verjtanden hat von all’ dem „Tieflinn“ und all 
der „Genialität“. Webrigens it diefer zweite Fall noch immer 
weitaus der jeltenere. N das Nivea des allgemeinen Nunjt- 
verjtändniifeo leider ziemlich niedrig —- im Ganzen fühlt die 
Maife doc) bald heraus, wo etwas nicht richtig Üt...- 

* * 

Nicht meine id) hier Nunftleiftungen, wie die eines Yudwig 
v. Hofmann, des Tichtermalers, und Walter Leiitifow'o*), 
des Träumers in Farben, zweier der Hauptführer des Berliner 
Scceffioniften-Vereins der „NI.*, zu dem auc) Alinger, Liebermann, 
Starbina gehören; und aud) folde nicht, wie die der meilten 9 
glieder der Eleinen internationalen „Yereinigung freie Nunft”, zu 
der aber freilih au der ertravagante Holländer M. Melchers 
aehört, der das Stedenpferd naivften Primitivismus reitet — 
denn das find immerhin dad Nunftleiftungen, wenngleich 
Mandjen befremdliche. Aber 65 giebt unter den Jüngiten heute 
einige gar fonderbare Näuze, die jene Betrachtungen dirchane 
nahe legen. 

Das find die Leute, die in ihrer techniichen Unfertigfeit auf 
den befannten Parifer Symboliften Fer, den Sar Peladan, den 
famojen „Sroßmeifter der Nofenkreuzer” jchwören md auf fein 
hilfobereites Ariom: „Nichts üt die Technik; Alles it der Gehalt, 
der Gedanke, der Stil.” 

Unter jolchen Umftänden fommt Einem leicht das Srufeln 
an, hört man von einem neuen „deen-” oder „Stimmungs 
maler.” Jung ift er natürlich fait immer, biutjung, und im 
Vebrigen der mephiftoliiche Ausipruc 

„Denn eben wo Begriffe fehlen, 

Ta ftellt ein Wort zur vechten Zeit Fich ein. 
Dit Worten Läht fich treflich ftreiten, 
Dit Worten ein Spitem bereiten“ 


























“Richt „Lentitau“, wie der Name im Januar-Vricf verftünmelt wurde 
von Trudfchlertenfel, der auch auch ans den befannten Pariter Impreifioniften 
Besnard einen Bernard machte, 





Di 


200 Runfibriefe. 


mit einer (eichten Veränderung Lüht er ih ja ud, duraus 
auf die Malerei anwenden, wie aud) die anderen Lerje: 
PR „ein Kerl, der ipefulirt, 
it wie ein Thier auf dürrer Haide, 
Yon einem böjen Geift im Kreis herumgeführt, 
Und rings umber fiegt fhöne grüne Weide.” 

Aber freilich man muß jie malen Fönnen, „Die Icöne 
grüne Weide“, fann man das nicht, dann begnügt man fi mit 
dem Spefuliren auf dürrer Paide md glaubt gar no Wunder 
was geleiftet zu haben. Doch nicht Alle teilen diefen Glauben 
und mancher geht ernftlic) böfe von dannen: er nimmt an, der 
Nünftler habe ihn regelrecht dupiren wollen. Melchers mit 
jeinen primitiven Vildern von der Injel Walchefen im Stile und 
der Manier eines Tertianers, der unbeholfene Zeichnungen in 
finder Manier kolorirt, hat 5. 3. diefe Erfahrung gemadt, 
obgleich Maeterlinf, der beigiihe Inmboliftische Dichter, ihn mit 
einem poetifchen Vorwort bei ums einführte und obgleid) unter 
feinen 25 Bildern einige fih befanden, die jener Tertianer nicht 
hätte malen können. Eben dadurd machte das Lcbrige den Ein- 
drud ganz bewuhter Rofetterie .... 

Iedod) Melhers — co läht Fich über ihn immerhin nod) 
eine Diofuifion aufnehmen. 


* * 








Dagegen giebt’s auf dem Berliner Runjimarkt auf diefem 
Gebiete and Anderes zu jehen, als diefe Melchers’ichen Bilder, 
die, wie geiagt, einen Theil der Austellung der „Wereinigung 
freie Nunft” ausmachten und jomit wenigtens nicht prätentiös 
auftraten. 

Jingit ging zünftigen Kritifern und unzünftigen Kunftfreunden 
die Einladung zu einer Sonderausftellung im eriten Stod eines 
Haufes unter den Linden zu. Worforglicherweie war der Karte 
ein Natalog mitgegeben worden. Cr war jehr intereijant, vielleicht 
das Interefianteite an der ganzen Ausjtellung. Faft jedes in ihm 
aufgeführte Bild war mit einem erläuternden Tert verfchen; es 
ab Gedichte in ihm, die den Maler zu feiner Arbeit begeiftert 
hatten u. fm. Das war Alles jehr bezeichnend. Alfo glaubte 





Kunftbriefe. 201 


er von vornherein, dab man ihn nicht verjtehen würde, aljo meinte 
er den Eindrud eines fhanderhaften Bildes abjhwäcen zu können, 
wenn er Elangvolfe Verje eines Iymboliftiihen Dichters daneben 
fegte. Aber das Alles war ihm nicht genug. Er zog gar mit 
unter die Dekoration des Ausftellungsraumes in den „Kommentar“ 
hinein. Da üt 5. B. ein bejonderes Kabinet, deijen Thür heraus: 
gehoben it. Ein roter Stoffitreifen mit allerlei fabbaliftiichen 
Schriftzeichen umgiebt den Thürrahmen, darüber prangt ein riefen 
großes Auge „als Spiegel der menfhlihen Seele.” Im Nabinet 
it der Thür gegenüber eine „Verfuhung“ aufgeftelft, ein roth- 
haariges Aft:Modell in Lebensgröße, das der Nahmen unterhalb 
Hüften abfehneibet, naturafijtiich behandelt und mit einem 
Apfel in der Hand, fo wenig verführerifc, daß man nicht begreift, 
worum die Thür durd) eine bunte Schnur abgefperrt ift. Daneben 
ein anderes Bild: „Femina.“ Cine unendliche, blaufchillernde 
Schlange windet fi unter blutrothem Himmel über einen gras: 
grünen Plan; im weit aufgeriifenen Maul des Ungeheuers, das 
zwei gewaltige Frauenbrüfte hat, zappelt ein nadtes Dännlein. 
Und diefe Symbolik ift num aud auf die Dekoration des Zimmers 
ausgedehnt worden: Vor dem Bilde „Femina“ ijt nämlich, eine 
Gouchette aufgeftellt, auf der ein Paar weile Handichuhe, ein 
zerfnüllter Napphut und eine Laute liegen! Vermuthlid eine 
Andeutung, daß der einjt glülihe Veliger diefer Dinge aud) von 
ber unheimlichen Schlange aufgefreifen worden. Das „ewig 
Weibliche” ipielt auf diefer Ausftellung überhaupt eine große 
Rolle, in Bildern und Entwürfen, in Stizjen und Studien; das 
Weib mit feiner verhängnifvollen Dadht, das Weib mit feinem 
tragischen Geidhid; bald als Verführerin, bald als Verführte. 
Das Allermeijte unfertig, roh, abjtohend häßlih in Farbe und 
Zeichnung. Auch religiöfe Motive find vielfad) vorhanden. Grofie, 
gewaltige Probleme behandeln fie mitunter. So 5. Bd. „Finis 
mundi“, wo in wilder alpiner Landichaft, zwiiden fi öffnenden 
Gräbern und Schaaren von Auferitandenen, Vertreter aller 
Glaubensehren, geführt von fingenden Engeln in langem Zuge 
auf uns zu pilgern. Sie meinen — die Jdee jei gar nicht übel? 
Gewih nit, nur die Malerei it's leider auch in diefem Fall. 
Oder eine Leinwand ift vom erjten Plan bis tief in den Hinter: 








202 KRunftbriefe. 


grund von einem dichtgebrängten vielhundertföpfigen Nnaul ichlecht 
gezeichneter nackter Menfchen, im Vordergrund bier und da in 
Yeter- oder Verzücungsftellung, gefüllt. Ueber diefem Yeibermeer 
taucht eine riefengrofe blutrothe Sonne auf. Bezeichnung: „Ein 
Gebet”; Kommentarbemerfung: „Die erjte veligiöje Empfindung.“ 
Haben ie jest verftanden?.... Wollen Sie nod ein Bild? Es 
it eine Elle hod. Quer laufen Streifen der Negenbogenfarben, 
nad unten zu breiter werdend, am breiteften das Tunfelblan und 
Violett. Auf diefem tiefdunflen Vordergrund, der die Hälfte des 
Vildes einnimmt, erhebt fih ein Icmwarzgrauces Poftament und 
auf diefem fteht, dem VBeichaner den Rüden zufehrend, ein itilifirter 
tief dumfefrott; gekleideter Engel, deiien braunichvarze Flügel weit 
bineinragen in die lichten gelben und lila Streifen... Bes 
zeichnung: „Siehe eo will Abend werden!”  Nommentarbemerkung: 
„Eine mufifaliihe Enpfindung . . .* 
Dod) genug. Sie find natürlich neugierig, wer der Maler 
it? Richtig -— auf der erten Seite des Katalogs befindet id, 
ein Porträt. Ein junger brünetter Mann im rad, mit modijc 
kurzem Haar und Spigbart. Erwas MWeltmüdes liegt in den 
Zügen des jchmalen GHefidts und etwas nad Innengefchrtes in 
den dunklen Yugen, die aljo des Pincenez's, das die Nafe trägt, 
eigentlich gar nicht bedürfen. Darunter fteht zu leien: „Adolf 
ommerfeld, geboren am 17. Juli ISTO zu Schroda, 
befuchte von feinem 17. bis 19. Jahre die Nımjtafademie zit 
Berlin. Cine zweijährige Studienreiie nach Italien war für feine 
malerifche Ausbildung, beionders für feinen inneren Beruf als 
Stimmungsmaler, von Wictigfeit. Nach feiner Nückler etliche 
Zeit Atelierihiler, begann er im Ofober 1893 feine felbftändige 
Toätigfeit.” 

Leider! Schule hätte dem übrigens unlengbaren Talent, 
das Herr Sommerfeld befibt, ficher noch genügt. Daher im 
Zuge war, was zu lernen, beweilen einige Aftzeichnungen aus 
der afademijchen Zeit, einige landicaftliche Studien aus Jtalien. 
Auch ein paar ganz gute Porträts find auf der über Hundert 
Nummern bietenden Ausftellung zu fehen. Dann aber erfannte 
er „feinen inneren Beruf als Stimmungsmaler“ und beichloh 
offenbar, mit Edvard Mund und Heinrid Puder zuiammen cin 




















Ktunftbriefe. 203 


Necblatt unverjtandener und unverjtändlicher iymboliftiichmpitiicher 
Sudelmalerei zu bilden. Hoffentlich) nicht auf zu lange Zeit 
damit man ihm diefe prätentiöfe Eonderausjtellung nod) vergeben 
fann und er nicht fang und Flanglos verf—iwindet, wie jene Beiden. 

Da man Symboliit jein fann und dabei dad) immerhin 
Annehmbares fcaffen darf, das beweilt der junge Berliner 
Martin Brandenburg. Wenn ber ji verlieren jollte, 
io thäte es Einem herzlid) leid. Cs jtedt ein wahrer Künjtler 
in ihm. Nur muß er, der jeiner Anlage nad) durdaus Lyriter 
öft, nicht allzujcehr dem Gedanken Raum geben, denn der würde 
feine Kunft tödten. Technic fertig ift auch er nicht, aber das 
wäre das Geringite. Vebentlicher hen ijt feine oft unichöne 
Farbengebung. 

Er jtellte mit einigen anderen der Jüngften, wie Edmund 
Edel und Hans Balnfdet im Februar bei Gurlitt eine Meihe 
großer Paftellgemälde aus, die viel von fid) reden machten, mehr 
wohl, als dem jungen Künftler gut fein mag. Was für Stoffe 
er wählt? Cie find ganz und gar romantijh im alten Sinn, 
nur mitunter noc) viel phantaftiicher. Aber die Ausdrudsmittel, 
die find neu, find modern und Fennen feine Tradition. „Der 
Frühling und der Neif”: vedhts unter Earblauem Himmel, auf 
blumiger Aue, von Amoretten umgaufelt, ein blondes Mädchen, 
jo ein rechtes Märchenfind, mit Blumen jpielend; und Links: eine 
rothhaarige alte Here, aus Waldesdunfel hervortretend, Herbit 
blätter von den Bäumen jcüttend und die Blumen hohnladend 
zertretend. „Der Nitter mit den Nojen“:; in den Dünen am 
braufenden dunklen Meer, deifen Brandung had oben das Bild 
abjchlieit, ein junger fterbender Nitter in grüngofdener Niftung, 
fteif dahingejtredt im Grafe umd zu ihm fich niederbeugend, 
ängjtlich wichernd fein Ihwarzer Gaul, und Roh umd Neiter 
Beide von roten Rofen umrankt.... Brandenburg’s Phantajtif 
verlockt ihn jogar dazu, die Mufif maleriid zu behandeln. Das 
heifjt natürlich nicht im ornamentalen und allegorifirenden Stil, 
fondern die Mlänge wandeln fich ihm zu Farben. Neu it's ja in 
der Theorie nicht. Warum follten wir uns jenes Lied und diefen 
Walzer nicht farbig vorstellen fönnen auf dem Wege der Stimmungs- 
aifozintion? Aber Brandenburg überiegt das ins Kraftiiche. Cr 





2 








204 KRumftbriefe. 


malt uns 5. B. eine Sonate: unten am ande des Bildes drei 
Herren, die im modiihen Anzuge ein Trio fpielen und über ihnen 
ein geifterhaft Verworrenes von Farben und Formen, Landfhaft 
halb und halb Phantafiegebilde, die einzelnen Farbenklänge oder 
Rlangfarben bald fi) weit ausbreitend, bald im Knäul zufammen- 
gedrängt, dann wieder Ichlangengleich fich Hinrollend oder jäh auf: 
ichiehend wie ein Waiferitrapl. U. |. w. Davon lieft fi fo 
ichwarz auf weil recht gut und cs nimmt fich vielleicht fehr inter- 
effant aus. Aber jteht man vor dem Bilde, jo fieht’s fich anders 
an. Das ijt bei jo vielen Symboliften der Fall, aud) bei joldhen, 
die. befier zeichnen, die mehr Perfpeftive fennen, richtiger modelliren 
und feinfühliger die Farbentöne wählen und abjtimmen, als 3. B. 
Martin Brandenburg. 

Das iit das Sefährliche bei diefer gedanten- und empfindungs- 
vollen, Gebanfen und Empfindungen anregenden Walerei, die für 
fi dabei das Prädikat der „Stimmungsmalerei” in Anfprud) 
nimmt, als ob es außerhalb ihrer feine folde gäbe... 


Berlin, im März 1896. 
3 Norden. 


_. 








Kitteräriihe Umjhan. 


Setbfibiographien haben den großen Vorzug, da fie den 
Lebensgang ihrer Lerfaifer, wenn fie mit Aufrichtigfeit und 
Wahrheitsliche geichrieben find, lebendiger und anfchaulicher vor 
Yugen jtellen, als jeder Bericht eines Andern es vermag. Die 
‚jäden der Entwidelung, der innere Zufammenhang zwifchen den 
verichiedenen Kebensftufen, die fördernden und hemmenden Momente 
des Dafeins find jedem Menden, der mit Bewuftjein durd) 
die Welt gegangen ijt und mit ernftem Nachdenken auf fein 
Leben zurüdblidt, naturgemäß jelbjt am beiten befannt und er 
vermag am leichtejten jelbit Aufklärung zu geben über das 
und Warum feines Werdens.  Andererjeits hafteı 
Selbjtbiographie Mängel an, die aud) dem zuverl 
wahrjten Dtenfchen zu vermeiden fait unmöglid) Wer am 
Ende feines Lebens oder in vorgerüdtem Alter auf jeine ver: 
gangenen Jahre zurückblidt, dem wird nicht num aud) beim treuejten 
Gedäcdhtnih fi im Einzelnen vieles verfchieben, fondern, was mehr 
bedeutet, die Auffajjung und Beleuchtung früherer Lebensabjchnitte 
wird ummillfürlich eine ganz andere werden, als fie einjt war, da 
man die Dinge erlebte; YLeidenfchaften und Empfindungen erideinen 
in der jpätern Betrachtung gedämpfter und abgeblahter, man fieht 
vieles in einem Zufammenhange, der in Wirklichfeit gar nicht 
wriftiet hat. Velonders die Sugendzeit gewinnt in der fpätern 
Beleuchtung fait immer eine von der Mirflichfeit abweichende 
Geftalt. Nie fie glüdlich gewejen, jo erideint fie dem durch 













206 Yitteräriiche Umfchan. 


ichmerzliche Lebenserfahrung gereiften Sinne wie ein verlorenes 
Paradies von goldenem Glanz umflolen; it fie aber jhwer md 
dunfel geweien, dann trägt der ältere Mann die Neflerion feiner 
fnäteren Jahre in die Seele des Nnaben und Jünglings hinein 
und cs ericheint ihm alles noc) viel trüber umd idhwerer als es 
in Wirflihfeit gewefen. Nur felten und ausnahmsweile gelingt 
5 einem Darjteller der eigenen Jugend die wirklichen Züge des 
Erfebten in voller Wahrheit feitzuhalten. Das it, wie es uns 
icheinen will, bei den in deuticher Ueberfegung von N. Türjtig 
uns vorliegenden Jugenderinnerungen des Rrofellors 
Alerander Jmanowitich Nikitenko*) der Jall. Nititento, 
ein Mleinruffe, war 1802 in einem Dorfe des Gouvernements 
Woroncih geboren und jtarb 1877 als Profeifor in Petersburg. 
Er jchildert im diefem Buche feine Kindheit und jeine Jünglings- 
jahre bis zum Oftober 1842, d. h. bis zu feiner lajinng aus 
der Leibeigenichaft. Nititento'o Jugenderinnerungen find ein höchft 
beachtenswerther Veitrag zur Nenntnif; der innern Verhältnijie 
Auhlande unter Alerander 1. und fulturgefchichtlih von dem 

ten Interejie. Der Gegenjas zwiihen Kleinruffen und Grob: 
tuflen, das Yeben der Fleinrufiihen Banern, der Drud der Yeib 
eigenichaft und der durd) fie verurfachten Zuftände, das Leben der 
Hutsbefiger in der Provinz, die Mebermacht des VBeamtenthums, 
die Schniucht nad) Freigeit und das Streben nad) Bildung bei 
manden Yeibeigenen -- alles dies tritt uns im größter Ans 
ichaulichfeit aus Nifitenfo's Darftellung entgegen. Und wie 
anziehend it die Schilderung der Familie des Exzählers, die 
ungebildete, aber fromme, geduldige, ftets arbeitiame liebevolle 
Winter, der Fuge, ungewöhnlich gebildete freiheitliebende Later, 
der überall nur die Geredtigfeit zur Geltung bringen will und 
dadurcd) immerfort in Not) und Vedrängni geräth, dabei Telbit 
von heftiger Leidenichaft fortgeriiien wird, endlid) der Erzähler 
jelbjt, dejien Seele von Nindheit an von dem TDrange nad 
Vildung erfüllt Üft, wie natwwahr, wie febendig find biefe 
Gharaktere geichildert! Dies Bud) giebt einen Einblid in das 


















) Vibtiorgel Muffiicer Tenfwürdigleiten. Derausgegeben von Tixader 
hiemann. VII. Band. Stuttgart, Verlag der \. ©, Cottaihen Buchhandlung. 








Litterärndhe Umjchau. 207 


Leben des Volkes im erjten Viertel diefes Jahrhunderts wie es 
wenige Schriften thun. Der große Krieg von 1812 berührt nur 
mit ganz leilen Schwingungen dieje entfernten Gegenden. Dejto 
größer it die Einwirkung, welde die aus den Freiheitofrieg 
zurüc£ehrenden Offiziere mit ihren in Deutjchland und Frankreich 
gewonnenen wefteuropäiihen Anfichten felbft auf die Bewohner des 
abgelegenen Otrogofht ausübten. Höchit anziehend find die Mit- 
i Yifitenfo’8 über die regelmäßigen Zufammenfünfte 
iere, ihre politiihen und litteräriichen Vejtrebungen, au 
denen au) er, obgleih nur ein armer Gfementarlehrer, Theil 
nehmen durfte: das gemeinfame Streben nad) Bildung lief jeden 
gefellichaftlihen Unteridhied zurücktreten.  Wichrere diefer auf: 
ftrebenden Offiziere haben fpäter, in die Verfchwörung der Defabriften 
verwidelt, ein trauriges Ende genommen, fo namentlich Nilejew, 
den Nifitenfo gut gefannt hat. Mit Mitgefühl und Bewunderung 
begleitet man den Verfafer auf feinem dornenvolle Wege zur 
Freiheit. Unabläifig arbeitet er an feiner Ausbildung, nod) ein 
Nnabe wird er jchon Lehrer und [ehrt und lernt zugleid, unver 
drofjen, um jogleid nadı dem frühen Tode des Vaters die Mutter 
und die Gejchwilter zu erhalten. Er hat dabei mit Schwierigfeiten 
genug zu fämpfen, aber es gelingt ihm fie alle zu überwinden. 
Durd) fein tebhates Intereffe für die damals in’s Leben gerufene 
ruifiiche Vibelgefellijaft Ienfte er die Aufmerfiamfeit des Haupt: 
förderers derjelben, des Fürjten N. A. Goligin, auf fih. Er 
eilt auf deifen Auf nad) Petersburg, mm durd) ihn das Ziel feiner 
Münfche und feines Etrebens zu erlangen: die Freiheit von der 
Xeibeigenfchaft und darauf den Zutritt zum Gymnafinm, das den 
Leibeigenen verichloffen war. Höchit anziehend ijt die Erzählung, 
welche Schwierigfeiten und welche Yinderniffe trog der Fürjprade 
der vornehmjten Perjonen fid Nifitenko’s Freilaifung entgenftellten, 
bis endlicd) halb gezwungen fein Herr, der Graf Scheremetjew, ie 
ihm ertheilte. Mande Schilderungen aus Nititenko's Kinderjahren 
find in ihrer ichlichten Ginfachheit von einem Hauce wahrer 
Roefie durchwet, fie erinnern bisweilen an die fötliche Erzählung 
Ulrich) Vräters, des armen Mannes im Todenburg, von feinem 
Fugendleben, wie verfdieden im Uebrigen die Menjcen, Zeiten 
und Gegenden aud) find. Nifitento’s Mufzeihnungen gehören zu 











208 Litterärifhe Unfchau. 





dem Bejten, was die Bibliothek rufiiher Dentwürdigfeiten bisher 
aebradht hat. Wir winnicen lebhaft, da auch von den Tage: 
büchern Nifitenfo's über jein Ipäteres Leben, die ebenfalls in der 
„Nufsfoja Starina“ veröffentlicht worden find, eine vollitändige 
oder wenigitens eine alles Wejentliche wiedergebende Weberjegung 
in einem der nächiten Wände der Vibliotdet ericheinen möge. Die 
eberfegung ft gut, nur an wenigen Stellen jiöht man auf 
Rufiismen. 

In eine völlig andere Welt verjept uns die Schilderung der 
Fugendzeit eines Vannes, deiien Name noch vor 30 Jahren jehr 
befannt und viel genannt war, wir meinen das Buch: Philipp 
Nathuiius Jugendjahre Nah Briefen und 
Tagebüdern unter Mitwirfung von D. Martin 
von Nathufius von Eleonore Fürfin Neuß’). 
Das von Pı. Nathufius herausgegebene Volfsblatt für Stadt und 
Yand war einft in Fonfervativen und drütlichen Streifen ein viel 
gelefenes und verbreitetes Mlatt. Des Herausgebers ftreng firhliche, 
mitunter fatholifierende Anfehanumgen, feine originelle Schreibweife, 
jein überall hervortretender Hals gegen Nationalismus und Libern- 
tismus, fein feiner Sinn für alles Poetiiche jo wie feine Neiaung 
zum Volfstpümlicen, die namentlic in jeinen gern gelejenen litte 
rürifchen Beiprechungen zum NAusdrud famen, verihafften dem 
Hatte eine angefehene Stellung. Im Volksblatt erichienen zuerjt 
die prächtigen Heinen Erzählungen von Marie Nathufius, der 
Gattin Philipps, und eifrig wurden von Freund und Feind die 
hichtlichen Monutsberichte gelefen, die der geniale Hiftorifer 
einvich Yeo 10 Jahre lang, bis 1860, für das Blatt chrieb. 
Es war ein echt voltsthümliches und zugleich alle wahrhaft Ge 
bitdeten befriedigendes Organ, von deifen Bedeutung ebenio die 
Anhänglichfeit und Verehrung der Freunde wie der Hafı und der 
Widerwille der Feinde Zeugnif; gaben. An feine Stelle ift jpüter 
die fonfervative Monatsichrift getreten, ohne doch je die Ver 
breitung und die Wirkung des Lolfsblattes zu erreichen; es fehlt 
ihr schon der einheitliche Charakter, den das Xolfsblatt unter 
Nathufius Yeitung bejah. AS Ph. Nathufins 1872 ftarb, war 





















=) Berlin. Verlag von Wilhelm Her (Vejferihe Buchhandlung). 4 W. 


Litterärifche Umidzau. 209 


die Glanzzeit des Volfoblattes jhon vorüber. So raich verdrängt 
in der Gegenwart eine Jichtung die andere, lölen jid) die geiftigen 
Strömungen ab, dah nad einem Menfchenalter einjt vielgenannte 
Namen verflungen und vergejjen find; jo ijt es aud) Ph. Nathufius 
ergangen, beijen in dem großen Sammelverke der allgemeinen 
deutichen Biographie nur beiläufig in dem feiner Gattin gewidmeten 
Artifel Erwähnung geihieht, ohne daf; feiner bedeutenden jour: 
naliftiichen Wirffamfeit auch nur gedacht wird. Und dad) hat es 
ber vieljeitige, ven echter Vaterlandsliebe erfüllte, poetiid begabte 
und von tiefer Schnjucht nach der Einheit der chriftlichen Kirche 
erfüllte Mann verdient, dah feiner auch von der Nachwelt nicht 
vergefien werde. Da it es denn jehr erfreulich, da in dem 
vorher erwähnten Buche die erfien 25 Iahre von Ph. Natyufius 
Leben eingehend geichildert werden, denen hoffentlich bald eine 
Daritellung jeines ipätern Lebens folgen wird. Das Bud) beruht 
weientlich auf Tagebuchaufzeihnungen und Briefen und hat 
dadurch den Charakter völliger Zuverläjigfeit. Co ift ein höchit 
anziehendes und Iehrreicheo Bild deuticher Geiftes: und Lebens: 
entwidelung aus den 20er und 30er Jahren unjeres Jahr 
hunderts, weiches uns hier geboten wird. Ju dem Haufe des 
Vaters Gottlob Nathufius, eines reihen Jabritanten und Guto- 
befigers in der Nähe von Magdeburg, berichte der nüchternjte 
und Fühffte Nationalismus, alles ipesifiich Epriftliche, alles Poetiüche, 
ja überhaupt alles, was an Phantafie erinnert, war daraus ver: 
bannt. In diefer Amojphäre erwächlt der junge Philipp mit 
einem inne, der von früh an auf alles Dichteriiche, Wınderbare, 
Bhantaftiiche gerichtet if. Seir leicht empfängliches, jedem Ein: 
drud offenftehendes Gemüth ergiebt fi bis zur völligen Zelbjt: 
täufhung großen Dichtern und pocetiihen Nichtungen, jo nad) 
einander Schiller, Homer, Goethe, den Nomantifern, der Volks: 
poefie, ja fogar Vorne; er jchreibt und denft immer ganz 
im Heft und Stil jeiner Vorbilder. Er jucht ftets nach dem 
Ipealen und das Aeithetiiche icheint ihm weit über dem Moraliichen 
zu ftehen; der Geift jener ganz in fitterärifchen und fünftleriichen 
Intereffen aufgehenden Zeit fpiegelt fi auf's anichaulichite in des 
Zünglings Tagebücern wieder. Dem Chriftenthum fteht er nad) 
ganz fern, wenn er auch veligiöfe Stimmungen und Empfindungen 



























210 Eitterärifche Umfchau. 


hat. So in den mannigfachiten geifligen Intereffen fd) bewegend, 
von innerem Drange zu Dichteriichen Produktionen getrieben, 
überallhin nad) ibenler Befriedigung des innern Sehnens tajtend, 
von praftijher THätigfeit in Anfpruch genommen und bazwilden 
teiumend und lebend liejt cv Goethes Briefwechiel mit einem 
Rinde und wird von ber wunderbaren Welt, die fih ihm in 
diefem Buche erichlieft, ganz hingeriffen und begeiftert. Er ichrieh 
in feinem Entzüden an Bettina, co begann ein lebhafter Brief 
wechjel und cs lieh ihm feine Nube, bis er die Herausgeberin und 
Verfafferin des Buches in Berlin perjönlich fennen gelernt. Da 
der Vater um diefe Zeit ftarb, begab fich Nathufins zu furzem 
Studium nad Berlin, vor allem aber um dort fo oft als möglich) 
mit Bettina zu verfehren. Die Mitteilungen über feinen Berliner 
Aufenthalt find jehr intereifant, ebenfo die pwiichen ipm und Bettina 
gewehielten Briefe. Diefe Hat ihre Norreipondenz mit Ph. Nathufins 
fpäter, alo beide fid) längjt entfremdet hatten, unter dem Titel: 
Nius Pamphilius und die Ambrofia heransgegeben. Man ver: 
mifit (eider in dem vorliegenden Buche eine Erklärung darüber, 
ob diefer Briefwechiel ganz authentiich ift oder ob Vettina in ihrer 
Weije denfelben verändert und umgemodelt hat. Nathufius unter: 
m dann eine große Neife nad) Jtalien, welche ihn bis nad 
Zizilien und dann aud) noch weiter nad) Griehenland führte. 
Gereift und innerlic beveichert Fehrte er zurüd, in vefigiöfer Ber 
jiehung war er aber nod) immer jchwanfend und unficher, wenn 
er fich auch allmählich immer mehr dem Evangelium zinvandte. 
Da lernte er Marie Scheele aus Vlagdeburg fennen, damit trat 
eine entjcheidende Wendung in feinem Leben ein. Beider Herzen 
begegneten ih bald und trog vieler fd entgegenjtellender 
Hemmnife und Schwierigfeiten fam es 1840 zur Verlobung. 
Die Liebesgedichte und die dann zwijchen den Verlobten gemedhfelten 
Briefe nehmen den zweiten gröfern Theil des VYuces ein. Die 
Lerfajferin Hat ganz Net, wenn fie bemerkt, in diefen Briefen 
trete dem Leler das Bild einer reinen wahrhaft idealen Liebe 
entgegen, wie die gegenwärtige Zeit fie garnicht mehr fenne, und 
darum wird man fie gewiß; gern lejen. Diefe Briefe bilden eine 
Ergänzung zu dem von Philipp fpäter veröffentlichten Lebensbilde 
von Marie Natyufins. Wir meinen übrigens doch, «s Hätten 





Litterärifche Umichau. 211 


ohne den Eindrud abzuichwächen mande Briefe fortgelafien und 
andere gefürzt werden Fönnen; es it bei der Veröffentlihhnng 
des Guten etwas zu viel gethan. Störend ift bei den Briefen wie 
auch fonft bisweilen der Mangel an genauen Zeitangaben. Taran 
erfennt man, daß eine Frau die Verfailerin diefes Yebensbildes 
if. Nathufius Verlobung führte zum Bruche mit Yettina; die 
darüber gewechielten Briefe find für die (eptere jehr darakterific). 
Mit der Hochzeit von Philipp und Marie am 4. März 1811 
fchließt das ehr leienswürdige, wohlgeichriebene Bud, Mir 
jehen der Fortiegung des Yebensbildes, bei der hoffentlich der 
Sohn des Verewigten oder jonjt eine jahfundige Berjönlichteit der 
Vefajferin nicht nur vathend, jondern aud mitarbeitend zur Seite 
ftehen wird, mit Verlangen entgegen; möge fie nicht allzulange 
auf fi warten lajien. 

6 ift für den Hitorifer wie für den Nenner menfchlicher 
Dinge jehr lehrreid und anzichend zu beobachten, welchem Mechiel 
ja oft völligen Umichwunge, die Wertbiägung und der Einfluh 
berühmter Schriftiteller im Yaufe der Zeit unterliegt. Tages- 
ftrönmngen und Tagesmeinungen, vorübergehende politische Ver: 
hältniffe, eine im Augenblict herrichende geiftige Nichtung ver: 
icjaffen oft einem Autor glänzenden Huhm bei den Zeitgenoifen, 
während die Folgezeit denielben immer mehr erblaiien (äht, ja 
nicht jelten mit Wergeffenheit bededt. Andere Geifter haben das 
entgegengeiegte Schietial. Während ihres Lebens dringen fie nur 
mühjam duch und werden faum oder nicht reht gewürdigt, erit 
die Nadnvelt erfennt ihre ganze Bedeutung und zoflt ihnen die 
verdiente volle Anerkennung. Diefe ipätere Ausgleihung it ein 
Troft für alle von ihrer Zeit verfannten Geifter, fie betätigt 
immer von Neuem die Wahrheit von Goethes Wort: „Das Echte 
bleibt der Nachwelt unverloren.“ In gewifien Sinne, wenn aud) 
nicht vollfommen, läht fid das Gelagte auf die beiden hervor: 
tagendften Gejcichtsichreiber und Politifer Englands in unferem 
Japrhundert anwenden, auf Macauılay und Gartyle. Vor 40 Jahren 
war Macaulay's Gejchichte von England eines der gelefenften und 
bewundertiten Bücher und auch feine Hleinern Eiiays und Aufläte 
fanden den größten Beifall. Macaulay'o Geidichte war das 
politiiche Evangelium der Liberalen, bejonders in Deutichland, die 





























212 Eitteräriiche Umschau. 


von ihm aus der Gefchichte gezogenen Lehren follten buchjtäblich 
verwirklicht werden, dev Parlamentarismus die idenle Negierungs: 
form fein, aus Macanlan's Munde jhien die Geichichte felbit zu 
ipreden und den Sieg des Liberalismus zu verfündigen. Nicht 
wenig trug zu diefem auferordentlichen Erfolge, zu diejer allgemeinen 
Venmmbderung der Zauber von Macaılay's Sprache, eine glänzende, 
bewunderungswürbige Daritellnngsgabe bei, der aud) jept noch 
fein Yejer fid entziehen Fann. Hente ift das Urtheil über Macaulan 
als Hiftorifer und Politiker ein wejentlid anderes geworden. Man 
hat erkannt, dai; feine Geichichte von jehr einfeitig wbigiftiichen 
Ztandpunfte aus geichvieben üt, man vermißt an ihm Weite und 
Tiefe der Auffaffung und beflagt feinen völligen Mangel ar 
Veritändnih für alleo Nichtenglifce; feine Yeurtheilung der Dinge 
vomreinen Nüglicteitsitandpunft, jeine freihändlerischen Anfchaunngen 
feine politifch beichränften Parteiuriheile finden aud) in Engla;.o 
jegt nur geteilten Beifall. Garkyle dagegen, der lange mır als 
ein Zonderling verfpottet oder unbeachtet 
zu immer größerer Anerfennung und der Einfluß jeiner Schriften 
und Lehren wächlt fortwährend. Niemand zweifelt mehr daran, 
weder in feinem Vaterlande nod) im Auslande, da er ein weit 
größerer und tieferer Geift it als Macaulay. In Deutichland 
hat Carkyle immer viel Anerfennung gefunden, wenn and) lange 
nur in einem befchänften Kreife. ine fleineren Schriften erfchtenen 
in 6 YBänden, ins Deutiche übericht, Idon vor 40 Jahren, jein 
herrliches Bud) über Helden und Heldenverchrung hat in Deutich: 
land viele Verbreitung gefunden und die Geidjichte Friedrido des 
Großen, höchit originell in Darftellung und Auffaffung. Hat jeinen 
Namen in Deutihland populär gemacht; weniger befannt geworden 
ift feine Gefchichte der franzöfiichen Revolution. Carlyles Schriften 
find Feine leichte Leltüre, fie verlangen ernjie Sammlung und 
aufmerffames Nachdenken. Auf die Form der Darftellung Cartyles 
hat ganz bejonders Jean Paul eingewirkt, derjenige deutiche Schrift- 
fteller, welder fonjt allen Fremden der unverftändfichite üit; es it 
das ein rechter Beweis dafür, wie tief Garlyle in das eigenjie 
Wejen deutfchen Geifteo eingedrungen if. Der Sumor des 
Dritten fühlte fi von der felbit vielen Deutjchen unverftändlichen 
Eigenart des großen deutihen Humorijten jympathiich berührt. 

















Litterariiche Umichau. 213 


Garlyles Stit ift höchjit originell, oft barod und manierirt, aber 
phrafenhaft wird er nie, er ill ganz der Ausdrud jeines außer: 
ordentlichen Geiftes. Schon in feinem Jugendwerfe, einem der 
nad) Form und Inhalt feltiamjten YWücher, die je geichrieben 
worben find, dem Sartor resartus zeigt fil) uns der ganze 
Carlyle. Die darin gegebene Lebensgeichichte des Ddeutichen 
Profeffors Diogenes Teufelsdroedh in Weißnichtwo, jowie die 
barin entwidelte ARleiderphilojophie blieben beim Erfdeinen des 
Buches fait allen Lejern und Aritifern völlig unverftänblid) 
und erregten nur Nopfidütteln und Unwillen. Grit allmählid) 
Hat man diefe merkwürdige Schrift veritehen gelernt und 
wer Garlyle vedt fennen will, muß fi mit dem  Sartor 
resartus vertraut machen. Am we ten befannt waren bisher 
in Denticland die jozialpolitiichen Schriften Garlyles, da fie 
ich zunächit auf engliide Verhältnifie bezichen und bisher ins 
Deutide nicht übertragen worden waren. Und bo find fie 
gegenwärtig, wo die joziale Frage in Dentichland die Geiter jo 
allgemein und fo lebhaft beicjäftigt, in hohem Maahe der Beachtung 
werth, da fie GCarlyles Gedanken über die fozialen Reformen, 
über die Neorganifation der Gejellihaft enthalten. Die vor hurzem 
erichienene Ueberjegung dieler Schriften des großen Engländer 
Hat folgenden Titel: „Socialpolitiifhe Schriften 
von Thomas Garlyle Aus dem Englifden 
überfegt von E. Pfannluhe Mit einer Ein 
leitung und Anmerfungen herausgegeben von 
Dr. 2. Henjel"*. 2. Henfel’s umfangreiche Einleitung, 
die Carlyleo Weltanidauung darlegt, üt ehr 
lejenswerth. Es wird darin nadıgewiefen, da; nicht mır Goethe, 
wie gewöhnlid) angenommen wird, beftimmenden Einfluß auf 
Garlyles geiftige Entwidelung gehabt, jondern cbenfo und nod) 
mehr die praftiiche Phitofophie Nant’s und vor allem Fichte. 
Die Verwandtigaft und das Gemeinfame zwiiden den An- 
ichamungen Ficytes und Garlyles vielfad) bis ins Einzelne, wird 
i—harffinnig und anziehend nachgewiejen. Ob der Verfafler in ber 
Ableitung der Garlyfejchen Gedanken aus Fichte nicht dod) mand)- 








=) Göttingen, Bandenhoed und Aupredt. 2 Bde. MM. 


214 Eitterärifche Umfchau. 


mal zu weit geht, ob zwei jo originelle Denfer nicht bisweilen 
auch unabhängig von einander zu denfelben Nefultaten gefommen 
find, das zu erörtern ift hier nicht der Ort. Die Ueberfegung it 
gut und die Anmerkungen enthalten alles für das Verjtändnik 
einzelner Stellen und Anipielungen Nothiwendige. Wenn wir 
etwas vermiffen, fo ift es eine zufammenfajjende Weberficht der 
fogialpofitifcen Gedanfen und Forderungen Garlyles im Ginzelnen; 
die allgemeinen GSefichtspunffte find allerdings in der Einleitung 
entwiefelt. Die Sammlung enthält außer der Schrift über den 
Shartismus, der Abhandlung über die Negerfrage und die 
Charakteriftit unferer Zeit, die berühmten ihrer Zeit jo viel Auf- 
jehen erregenben Flugichriften: „Ans elfter Stunde” und die 
leßte jehr bedeutende Wleinungsäußerung Garlyles über die foziale 
Frage: „Den Niagara hinunter — und dann?” Mit Bedauern 
vermiffen wir in der Sammlung die berühmte Schrift: „Der: 
gangenheit und Gegenwart”, in der er fo naddrüdlich den Vorzug 
der Lage ber Unfreien im Mittelalter vor den traurigen Zuftänden 
des freien Arbeitero in der Gegenwart jdjildert; doc) vielleicht it 
die Sammlung noch nicht abgeidhloffen und cs folgt nody ein 
dritter Yand. Vieles von Garlyles Ausführungen bezieht fi auf 
fpeziell englische Verhältnijie, andere feiner Reformgedanfen find 
in Deutfchland yon verwirklicht, wie die Altersverjorgung und 
die Unfallverficherung, aber nicht Weniges in diefen Schriften, vor 
allem die Grundgedanten, follten von allen, die fid für eine 
Löjung der fozialen Frage, jo weit eine folde überhaupt möglid) 
it, interefjiren, beherzigt und durchdacht werden. Garfyle hat das 
große Verdienft zuerft die auf den Egoismus gegründeten Lehren 
der englifchen Nationalökonomie nadjdrüdlic befämpft, die Fatich: 
heit des laissez faire gezeigt und für das Verhältniß von Fabrik: 
bern und Arbeitern wieder eine humane, fittlide . Grundlage 
gefordert zu haben. Er war in vielen politiichen Dingen feiner 
und auch unferer Zeit weit voraus. Er verabidhente die Demo 
fratie umd die Demofratifirung der Staaten, er verwarf das 
allgemeine Stinmredt, denn ex hatte erfannt, dal; aller wirkliche 
Fortfhritt nur von einer Heinen Minorität, ja, von Einzelnen 
ausgegangen äft, er war ein Feind des Parlamentarismus und 
des immer Höher jteigenden Cinfluffes der Preiie, er fah im der 








Litteräriiche Umichau. 215 


Aomifirung der Gefellihaft das größte Verberben. Gariyle jah 
die eigentliche Aufgabe bes MVenjhen in dev Pilihterfüllung und 
wurde nicht mübe zum Handeln, zum Thun auffordern. Er ver: 
langt eine neue Organijation der Arbeiter und, indem er die 
Forderung fozialer Gleichheit als Unfinn verwirft, fordert er joziale 
Gerechtigkeit. 

Als ein echter Prophet jah er trog jeiner Warnungen und 
Mahnungen die Dinge dem Verhängnif} weiter zutreiben und fein 
Trojt für die Zufunft war eine ihrer Pilichten bewuhte Ariitofratie 
und ein ftarfes Nönigthum. In veligiöfer Beziehung zeigt Garlyle 
deutlich die Nachwirkung der Eindrüce feines jtreng puritaniichen 
Elternhaufes. Er hatte ein Gefühl unbedingter Abhängigkeit von 
Gott und verlangte ein joldes von jedem Menden; er fteht 
gewiffermahen auf alttejtamentlicem Yoben, er ift nicht eigentlich, 
Eprift, aber er ijt ein Wegweijer zu Chriftus. Garlyle, der allezeit 
in den Helden die bewegenden Kräfte in der Gefchichte erblidt, 
Hat in feinem Alter nod) einen neuen gewaltigen Helden auf der 
Weltbühne ericheinen jehen und ihn mit Vegeifternng begrüht; 
er hat für Bismard das Wort: „Der eiferne Kanzler”, geprägt. 
Mögen feine fozialpofitiicen Schriften aud in Deutichland nicht 
ohne Wirkung bleiben und viele veranlaffen fid in die Sedanfen- 
welt diejes tiefen und mächtigen Geiftes zu verjenfen. 

Einer der eifrigiten und hervorragendften Mitarbeiter der 
„Övenzboten“ war jeit den erften Ser Jahren der alo füchtiger 
Jurift befannte Neichsgerichtsrat) Dtto Bachr aus Kajjel. Er 
Hat vor jeinem Tode noc) felbit eine Sammlung feiner Aufläge 
und Abhandlungen vorbereitet, welche jegt in zwei Bänden, unter 
dem Titel: „Sejammelte Aufiäße von Dr. ©. Baehr*) 
eridhienen ift. Der erjte Band, welder die juriftiichen Abhandlungen 
enthält, gehört nicht in deu Nahmen der fitteräriichen Umfchan, 
wohl aber der zweite, welcher die Aufjäge politischen, foziafen und 
wirthichaftlichen Inhalts umfaht. ©. Yacht gehörte der national: 
liberalen Partei an und hat als Mitglied des norddeutichen und 
dann des deutichen Neichstages an dem Ausban und der Befeitigung 
des deutichen Neidhes eifrig mitgenrbeitet. ls Mann von 











=) Yeipzig, Zr, Wild. Grumon, 


216 Litteräriiche Umjchau. 


jelbjtändigem Charakter, ijt er aber nicht immer mit dem Ver 
halten feiner Partei einverjtanden geweien und hat alle Zeit 
das Vaterland über die Partei geftellt. VBachr war ein echter 
Hefle, daher jtedte in ihm ein gutes Stüd fonjervativer Ge: 
finmung, die mit den Jahren immer mehr Gervortrat; nur in 
veligiös-firchlicher Yeziehung jtand er ganz auf dem Yoden des 
Liberalismus. In ihm verband fich mit der trenejten Anhänglichfeit 
an feine engere Heimat) warme Yiebe für das große Vaterland; 
er fann in diefer Beziehung als ein redhtes Viufter und Vorbild 
für die Vereinigung des berechligten febensträftigen Partilularismus 
mit entichiedenem, bewuhtem Nationalgefühl betrachtet werden. 
Ein entjehiedener Vertreter md Anhänger der Vormachiitellung 
Preußens war er dom feinesmegs ein Freund der preußiichen 
Yureaukratie und ihrer Nivellirungsfucht und beklagte bitter die 
Erjegung viele trefiliher Einrichtungen in feinem Heimathlande 
dich) weniger gute preufiice. In der vorliegenden Sammlung 
jeiner Heinen Aufjäge findet fi neben Yejenswürdigem umd 
Veachtenswertgem auch mandes Unbedeutende, vorübergehenden 
Tageointerefien Entiprungene. Aus dem mannigfaltigen Inhalte 
des Yandes jeien zunächit die Charafteriftiten Lasfers und Windt 
borits hervorgehoben. Die erite, die Verdienfte und die Schatten 
jeiten der parlamentarifchen IThätigfeit Laoters ale Führer der 
Nationalliberalen unparteiiih abwägend, ijt vorzüglich, vielleicht 
nn einige Nünncen zu günftig gehalten. Das Gegentheil gilt von 
der Charakteriftit Windhorits, fie ift um einige Aarbentöne zu 
dunfel ausgefallen; MWindtYorit it für Vachr der Mann des Un 
heils, in dem fid) der böfe Genino Deutjchlands verkörpert hat. 
Wenn dies Urtheil wohl etwas zu hart üt, To it eo doch jeden- 
falls zutreffender als die Landläufige Art der Preite ftete halb 
iherzpaft von der „einen Ercellenz“ zu ipreden. Windthorjts 
Thätigfeit und Aufireten fonnte man jtets nicht ernjt genug, 
nehmen. Beherzigenswerth it ferner der Auflap: „liberal und 
tonfervativ“, aud) der über „uniere Partei“ verdient geleien zu 
werden. In der fogialen Frage nimmt Bachr einen im MWejent 
lichen ablehnenden Standpunkt ein, ev findet viele Klagen und 
Befchwerden der Arbeiter unbegründet. Schr lefenswürdig it der 
in ganz fonfervativen Geifte gehaltene Auflag „zur Judenfrage* 























Yitten 


w 
3 


he Umichmn. 


in dem Vachr ich enticieden gegen die Uebermadht bes Juben- 
thums und gegen die Bekleidung von Nichterjtellen durd; Juden 
ausipricht. Weiter anf einzelne Auffäpe einzugehen, verbietet uns 
der beichränfte Raum; die Sammlung wird fiherlich dazu beitragen, 
das Andenfen eineo verdienten, füchtigen patriotiichen NWlannes 
zu erhalten. 

Jeder Yejer der „Örenzboten” erinnert fi mit Vergnügen 
der Ffötlihen Schildernngen „aus däniider Zeit“ von Charlotte 
Niefe.  Diefe Erinnerungen aus vergangenen Ninbdheitstagen, als 
Schleswig no unter jcher Herichaft jtand, verjegen in ein 
wahres Jöyll voll ungeftörten Friedens, über der ichlichten Er- 
zäblung findlicher Leiden und Freuden liegt ein Haudı edjter 
uriprünglicher Poeie. Später zu einem Buche vereinigt, haben 
die Schilderungen einen weiten Lejerfreis gefunden und viele 
Dienjchen erfreut und erquidt; diefe unbeftreitbare Thatfahe bemeijt 
in erfreuliher Weile, daß auch in der Zeit des gegenwärtig 
herrihenden Naturalismus das deutiche Gemüth nod) fortlebt. 
Ein neues Bud von Charlotte Nieje „Xidt und 
Schatten“ Eine Hamburger Sejhidhte* mufte 
tebhafte Erwartungen erregen. Nachdem wir es geleien, fönnen 
wir jagen, dal; fie nicht getäufcht worden find, wenn aud) „Licht 
und Schatten“ den Stfizgen aus dänifher Zeit an Werth und 
poetiichem Gehalt nicht gleich Fommt. Die Erzählung ipielt in 
der für Hamburg jo furdtbaren Cholerazeit von 1892 und 
behandelt die Greigniffe in einem angefehenen reihen Patrizier- 
haufe. Der Gang ber Erzählung ift ziemlid) einfad und grofie 
Erfindungsgabe zeigt die Verfafferin nicht, die von ihr verwendeten 
Motive find großen Theils ichon wohlbefannt. Der Schwerpunft 
des Yuches liegt in der Charafterichilderung, wie das aud in 
den Skizzen der Fall ijt. Nolfert Dierk, Tine Heuberg, die 
Doctorin Bardenjleth find mit einer Anfchaulichfeit, Lebendigkeit 
und jo fräftig individuell gezeichnet, daß man fie vor fid zu 
jehen meint; da offenbart ich wirkliche Geftaltungstraft. Auch 
Frau Valesfa Yardenfleth, die oberflächliche, leicht bejtimmbare 
Weltdame ift nicht übel darafterifirt und ebenfo ift der alte reiche 














=) Yeipsig, Wild. Grunow. 5 N. 





218 Litteräriiche Umjchau. 


Meier eine nelunge Geitalt. Die übrigen Perfonen find dagegen 
mehr verblait und jchattenhaft, wenngleih einzelne Züge an- 
iprechen. Wenn wir aljo aud das vorliegende Bud mit Ver- 
gnügen gelefen Haben und allen Freunden Charlotte Niefes 
empfehlen fönnen, jo mödjten wir ihr fünftig doch am. liebiten 
wieder in ihrem [ehlesiwigichen Heimathwinfel begegnen. 

Theodor Fontane, der die Mark Brandenburg nad) allen 
Nichtungen durdnwandert und jo anmuthig geihildert hat, it auch 
der einzige, welcher ald ein würbiger Nachfolger von Willibald 
Aleris in der dichterifchen Vergegenwärtigung ihrer Vergangeneit 
bezeichnet werden fann. Sein Roman: „Vor dem Sturm. 
Ans dem Winter von 1812 auf 13” jclieht fi 
unmittelbar an Aleris’ Legrimm an. Wenn aud) Fontane dem 
brandenburgiihen Walter Scott an Tiefe der Auffaffung und an 
Kraft in der Charafterzeichnung nicht gleichfommt, jo fann er fi 
ihm in der Durchführung der Yofalfärbung, in der Mannigfaltigkeit 
der Begebenheit, in der funjtvollen Entwidelung der Handlung, 
an die Seite jtellen und übertrifft ihn an Gewandtheit der Dar- 
ftellung. Der genannte hitoriihe Noman verdient c6 daher weit 
mehr gefannt und gelefen zu werden, alo cs bisher geichehen ilt. 
Daher ift es mit Dank zu begrüßen dab die Verlagsbuchhandlung 
jüngit eine billige Lolfsausgabe*) der Didytung veranitaltet hat; 
es läßt fih erwarten, daß das Buch nun aud in weitere Areie 
dringen wird. Schade, da Fontane in newerer Zeit jein jdönes 
Totent in den Dienft des Naturalismus gejtellt hat; was er in 
diefer Periode feiner dichteriichen Thätigfeit hevorgebradt, wird 
gewiß nicht auf die Nachwelt fommen. H. D. 


* 
* * 


Bei der Nedafrion der „Balt. Mon.“ find ferner naditehende Schriften 
zur Veipredjung eingegangen 
Fentich, €, Grundbegriffe und Grundfäne der Bolfswirtichaft 
(Leipzig, Ar. W. Orunow). 
Saar, Ferd. u, Schidjale. Trei Novellen. (Heidelberg, 
6. Weib Verlag). 
Novellen aus Dejterreich. 2. Aufl. (Ebende.) 





=) Berlin, Wilgehm Herb. 4 D. 


Litteräriiche Umjchan. 219 


Saar, Ferd. u, Biener Elegien. 3. Aufl. (Ebenda). 
— Die beiden de Wit. Trauerfpiel in 5 Alten, 2. Aufl. (Ebenda). 
- Gedichte. 2. Aufl. (Ebenda). 
Hansiakob, D. Ausgemählte Schriften. I. Band: Aus 
meiner Jugenpgeit. Erinnerungen. 3. Aufl. (Ebenda.) 
Seifteshelden, brag. v. A. Vettelbeim, 20. Bb.: 
Sorel, X, Montesquien. Deutid von N. Arehner. (Berlin, E. 
Hofmann u. Co.). 
Meyer, Dr. R, Hundert Jahre fonfervativer Politif uud 
Literatur. 1. Band: Litteratur, (Wien, Verlag „Nuftria” 











F Doll. 

Weihrenfels, R., Goethe im Sturm und Drang. I. Band. 
(Halle, DM. Niemeyer). 

Blätter, Biograpbifge, Zeirfcrift lebens: 
aelchiehrliche Kunit und Torkhung hrsg. von A. Vettelheim. I. Yand. 
1. 9. (Berlin, €, Hofmann u. Co.). 

Naumann, Piarrer Fr, Gotteshilfe. efammelte An: 
dachten aus den Jahre 1895. (Göttingen, Landenhocd u. Hupredt). 

Hebn, Victor, Xtafien. Anfichten und Streiflicter. 5. Aufl. 
Dit vebensnachricten über den Verfaffer. (Berlin, Gebr. Vornträger). 














— 


Heimathgrufl. 


65 rollt die Aa die blauen Wogen 
Durd) duntte Tannemwälder hin, 
Id} fomım’ daher des Alegs gejogen, 
Wir wird jo wunderjam zu Sinn. 
Mein Herz fchlägt Hoc zu dieler Stunde, 
Mein Ange bfigt in heifem Strahl, 
Ein Gruß entringt fich meinem Munde: 
„Dich grüh’ ich, Kivland, taufendmal.“ 

Ich hemm’ den Scritt in fel'gem Lauicen, 
Durch alle ‚weige fhmeichelnd yieht 
Ein märdenhaft melodiich Kaufen, 
Ein halboerklung'nes Jugendlicd. 
Wie mahnet mid) des Waldes Weife 
An altes Glüd, an alte Cual, 
Und meine Lippen flüftern feife: 
„Dich geüh' ich, Lioland, taufendmal.” 

Ich fehrte heim aus fernen Süden, 
Mein theurer Heimathgau u dir, 
Sieb meinen Herzen Glück und Arieden, 
Und jchenfe neue Yieder mir, 
Die Heil aus meiner Seele dringen 
Und fhweben über Verg und Thal... 
Mein erites Lied oll alio klingen 
„Did gräh' ic, Yivland, taufendmal.“ 

Hedda v. Hielemann. 

















Beilage 


zur 


Baltifchen Monatsfchrift. 


Mai 1896, 


Inhalt: Dr. ©. 3. v. Shulg-Bertram. Kitterärifch: 
diographiiche Skizze. (Schluf.) Bon €. v. Schul: 
Adaiematy. 
Runftbriefe. VII. Von 3. Norden. 
Litterärifde Streiflidter. Won H. D. 


Rahdrud verboten. 





Digiizedby Google 




















Dr. 6. 3. v. Sdulß-Pertram. 


Viographifcrlitterätiiche. Stizze von Ella». Shulu-Aparemiln. 
Shui. 








51 mufte mein Vater wegen eines Tuelles 
zwichen Baron Nojen und dem Grafen Hendrifoff, bei welchem 
er als Arzt fungirte, vierzehn Tage auf der Dauptwache zubringen. 
Die Erinnerung an dieje Epoche gehört jedoch zu den angenehmen. 
Er verlebte auf der Dauptwache eine jehr heitere Zeit im Verfehr 
mit feinen Freunden und Befannten, die ihn dort aufjuchten. An 
einem einzigen Tage zählte er nicht weniger als dreifiig Beluche. 

Die vielfahen Berufogeihäfte nahmen die Zeit meines 
Vaters wohl mehr in Anjpruc, ale es dem Echriftiteller recht 
fein mochte und mancher Zeufjer galt der beeinträchtigten Freiheit. 
Die präparivende und zergliedernde Anatomie, jo interefant fie 
an fi ift, jtellt an die Nerven und beionders an den Geruchsfinn 
oft allzugrofe Anforderungen. YAuc) griff die ärztliche Prario das 
weiche imprefjionable Gemüth meines Vaters jehr an. 

Eine gefährliche Rrankheit warf ihn in diejer Zeit angeftrengter 
Tätigkeit darnieder. Yon Pirogoff und Zdefauer behandelt, hörte 
er, wie die beiden Aerzte im Nebenzimmer fi über die Natur 
der Nrankheit written und der Eine zum Andern jagte: „Nun, 
morgen bei der Obduktion werden wir co ja jehen.”“ Zeine 

jtische Natur half ihm die Mranfpeit überwinden, aber jchwerer 
überwand er den Schmerz, den der Tod feines fiebenjährigen gelisbten 
I 


Im Jahre 1 


























224 8. I. v. Schulg- Bertram. 


Töchterhens Manja ihm bereitet: 






e (1855. Cs war der Anfang 









einer Neihe von fchweren Prüfungen durd Familienverhältnifie 
hervorgerufen. 
Zu wiienihaftlichen Zweden in’s Ansland beurlaubt, hatte 


mein Vater 1853 NAugoburg, München, Nivnberg, Leipzig, Magde- 
burg, Altona, Lübeek befuht und zujländigen Ortes über dieje 
Neije einen Vericht eingefandt. „Cine herrlide Neite” Heiht 
e5 in einem der Briefe aus damaliger Zeit an die Mutter. 
Einen zweiten Urlaub zu gleichem Zwede erhielt er im Jahre 1856. 
Diefem folgte ein Aufenthalt am Oftfeeitrande, wo er mit feiner 
Ramilie zufammentraf und den Entichluh fahte die Seinen dauernd 
in Deutichland zu etabliren und felbit aus dem Staatodienft zu 
treten, um fich von den Anftrengungen, die ihm feine vielen 
Verpflichtungen auferlegt hatten, zu erholen, feine Gefundheit 
wieder zu fräftigen und der fehriftftellerifchen Thätigfeit fid ganz zu 
widmen. So legte ex denn, inzwifchen zum Stanterath; befördert 
und zu vericiedenen Malen mit Orden und Belohnungen aus 
geseihmet —— alle feine Neinter nieder, um erit zehn Jahre fpäter 
wieder in den Staatedienit zu treten. 

Zuerit führten in Verlin die mit Merander Dunder ange 
fnüpften Beziehungen zu der Herausgabe der gefanmnten Yaltiichen 
Sfipgen (3 Bände), der Martha Marzibill mdder Betero- 
lieder, einer Charakteriftit Peters des Großen Mande 
diefer Erzählungen, welche in poetifhen Gewande einige ber 
bervorragenditen Züge und bedeutenditen Auoiprüche dieies Helden 
wiedergeben, eignen fh) durd) ihre fnappe fahliche Form für 
Vorträge in Schulen und id) vermuthe, da; dieles Ziel -— der 
Jugend das Bild des univerjell beanlagten, genialen Nailers 
pren -— meinem Later beim Lerfafien der Peterslicher 
vorgeichwebt haben mag. 

Dao Leben und die Neifen Peter's deo Großen waren 
damalo der Gegenjtand feiner Studien; viele Qorarbeiten, 
geographiiche Narten über die Neifen diejes und anderer Monarchen 
in Kufland das vorläufige Ergebnif derjelben. 

Ein glänzendes Anerbieten, als ärztlicher Begleiter und Vlentor 
eines jungen ruffiichen Fürften D..... durfte nicht ausgefchlagen 
werden und jo murden die Jahre 1858 - 60 wieder auf Neijen 




















9. 3. v. Schulg-Bertram. 225 





zugebraht. Der Weg ging über Paris nach Schottland, das 
Yand welches nächit Italien den tiefiten CEindrud auf meinen 
Voter madte. „Die gelehrten Anjtalten in Paris” (Inland 58) 
und „Reifebriefe aus Schottland“ (Wlontagsblatt, Betrshg) erzählen 
von diefer Neije. 

Nach Petersburg zurücgefehrt, 1860, übernahm mein Vater 
die Gründung und Nedaftion eines literäriichen Wocenblattes 
mit politiicher Beilage, in St. Petersburg, das eben genannte 
Diontagsblatt. Diejes hatte fih u. A. zur Aufgabe gejtellt, die 
jungen baftiihen Poeten und Schriftjteller befannt zu machen und 
veröffentlichte neben einigen größeren Nomanen ausländiicher 
Autoren eine nicht geringe Anzahl bemerfenswerther inländiicher 
Heifteserzeugnifie. Aus der Zahl eigener Gedichte und Ai 
welche in dem Wlontagsblatt veröffentlicht wurden, nenne id) 
folgende: An Dr. Kreuzmwald, den Neftaurator des Liedes 
vom Kalewipoeg (Zonett), Die ejtnifde Sage vom 
Nalemipoeg 1860, — Nordifde Sfisgen adt Er- 
zählungen, darunter: Am Saima-Sce; die Waldihenfe von Murom; 
Köftripappa; das Feitlager; Goethe's Fauft u. o. 1861. ©t. 
Petersburger Sagen, 61. Der NXeiter von Paris, 
61. — Torowa ober die Heine ruffihe Schweiz, außerdem 
viele vermifchte Aufläge: Ueber die Betteliudt, Salon 
berichte; Briefe an cine junge Tänzerin über die 
KRunft, (Neithetifche Briefe über die höhere Tanztunft); Briefe 
über Ardhitectur, (Rritif der vornehmlichiten Bebände in 
Paris und St. Petersburg); Ode an Alerander den 
Befreier, 1862. ı. 

Auch während diefer jo fchr im Anjpruch genommenen 
Zeit, Hatte mein Vater es doch möglid) gemacht feine alte Mutter 
in Friedenthal ab und zu zu befuchen. Bei diefen Gelegenheiten 
hatten die unter den Ehjten herrfhenden Augenfranfheiten jeine 
Aufmerffamfeit auf fi gezogen und in ihm den MWunjch mad) 
gerufen hier Abhilfe zu idarfen. Schon während feiner vorüber 
gehenden Bejuche bei der Mutter famen viele Kranke zu ihm 
und fo mande Angenoperation wurde ausgeführt. Unter freund- 
licher Beihilje einiger Gutsnadbarn gelang c8 meinem Vater auf 
eionem Grund und Boden durd Ausbau eines Nebengebäudes 






















226 9. 3. v. Sdulg-Vertram. 


fich eine Meine, jehr beicheidene Ainik einzurichten, in der immer 
einige Nrante zugleich umentgeldfich Aufnahme fanden, nur mußten 
die Angehörigen für Veföftigung Sorge tragen. Ein hinterlafjenes 
Namenregifter* weilt gegen taufend größere und fleinere Augen: 
operationen nad). 

Mit biefer Aufgabe die Franken Augen der Ehjten zu 
behandeln, — lich fi die andere Yieblingsbeichäftigung meines 
Vaters auf's Bote vereinigen, nämlich den Volfstraditionen 
nachzugehen ımd jo feine begonnenen Forihumgen auf ethnologüichem 
Gebiete weiter fortzujegen. ev auf dem Yande wucjen aud 
feine phyliichen Sträfte und ungejtraft fonnte er fih vedht große 
förperliche Anftvengungen auferlegen. Wie jein erhabenes Vorbild 
Peter der Große, war er überall jelbjt tätig und legte immer 
jelber Hand an: bejierte die Schäden des alten Haujes, damit es 
die Mutter warn halten follte; grub mit den Arbeitern um die 
Wette Gräben und Brunnen; pilanzte Yäune, Hobelte und zimmerte, 
wo 05 noth that, ftach dazwiichen einem alten Weibe den Ztaar, 
jchnitt und nähte einer andern die Augenfider zurecht, damit die 
jo Läftig nad innen wachfenben Wimpern das Auge unbejchädigt 
lichen, Halj die n Feldjteine bei Zeite heben, kurz 
arbeitete mit den Bauern in Feld, Wiefe und Wald und jchrieb 
dabei ihre poetichen Traditionen auf, id immer mehr in die Seele 
diejes Voltes hineinvertiefend, mit feiner Sprache immer engere 
Freundichaft ichliehend. 

So murde das Material gefammelt, weldes denjenigen 
Werfen meines XYnters zu Ormde fliegt, denen er jelbjt den 
weiten Werth beilegte und als feine Sauptwerfe neben den 
Valtiiihen Stiggen bezeichnete, wenn aud) dieje ihm mehr Popu 
lavität eingetragen. Ic meine das zweiipradige (ehjtnifch-deutich) 
Epos Almatar, Wagien und Warawatja, eine 
ebienifche Jauftiane. Inmitten diefer jegensreichen, fehr 
beicheidenen, aber ihn anjprebenden und in dichteriicher Beziehung 
aud) eripiehlihen IThätigfeit, erging an meinen Xater von 
Petersburg aus die Anfrage, ob er nicht wieder in den Staats 
























Ein Nahr bei Ehiten. Tphralmologide Beobachtungen ger 
macht wärend DS Jahres 1864464 in Yioland. 








3 0. Schulg Bertram. 


dienft treten wolle. Da er die Kamikie aus dem Auslande zurüd 
erwartete, begab fi mein Vater wieder nad Petersburg und 
übernahm proviforiich den Poften eines Sefretairs im Minifterium 
des Ntaiferlichen Hofes, Bis der ihm zugedachte Roften eines Jenjors 
vafant md jomit fein Wunjch erfüllt wurde in die Hauptpr: 
verwaltung und in das Minifterium des mern unter P. 
Walrjeif einzutreten. 

Im Verkehr und im Gedanfenaustaufd mit Männern wie 
Wakujeif, Tuticef,, A. Vaitow, Poloniky, Fürft Winfenity und 
andern Dichterfollegen, — inmitten einer jteto wechleinden Menge 
von Zeitichriften und Wücern aus aller Herren Länder, die ihm, 
dem Spracjfundigen, zur Zen eingefandt wurden, fand mein 
Vater endlich, Leider erjt zum Schlujle feines Yebens, diejenige 
Thätigfeit, die feiner Natur, feinem Temperamente und jeinem 
Geifte am meilten entiprad. Won feiner Studierfiube aus, die er 
zu feiner Melt gemacht, fonnte er, ohne direfte Berührung mit 
tegterer und doc im vegem Nontalt mit der Menichheit im 
höheren Sinn, - mit den bewegenden und erichütternden 
Fragen bleiben, dieje vor feinem geiftigen Auge Neue paifiven 
taffen, fie theilnepmenden Herzens erwägen, um dann perjönlich 
mit der Feder, diefem geiftigen Schwerte des Schriftitellers und 
Dichters, muthig für alles einzutreten, was ihm Ueberzeugung war 
und zum Wohle der Menichheit übergaupt, wie auch zu demjenigen 
feines weitern und engeren Waterlandes dienen fonnte. 

Der Wunfh ih von des „Lebens verworrenen Nreilen“, 

wie die Vieblingsredeweile feiner alten Mutter lautete, fern 
zu haften und fi unbeiert von der „Parteien Sunft und Hafı“ 
die freie Anfdamıng zu wahren, joweit jolhe Unparteilichteit 
dem Menfcen überhanpt möglich it, fefielte meinen Later an feine 
jtille Slauie; nicht weltflüchtige Stimmung oder verbitterter 
Pelfimismus; daher and während diefer Zeit Niemand, der Nath 
und Hilfe juchte, vergebens an jeine Thür Mopfte und ihn nicht 
jelten veranlafte aus feiner geliebten Studirftube, die feine Wett 
war, hinauszutreten. A, d. w. v. („ud diefes wird vor 
übergehen“) -- bieje magiihen Yuchiaben waren über feinem 
Schreibtiche angebraht. An jener Zeit, in welcher ihm Sorgen 
und Kränfungen aller Art nicht eripart waren, entjtanden mert- 






















228 9... v. Schul Bertram. 


würdigerweife die von heiteritem Kumor iprudelnden, drolligen 
Tigytungen im fivländiicen halbdeuticen Dialeft von F. 
Neuter’o „Länichen und Himelo” angeregt”). Die immer wieder 
nenen Auflagen diejes Werfciens zeigen, dab die dee eine glüc- 
ide zu nennen war md namentlich in Studentenfreifen, neben 
den „Baltischen Stizzen“ fich einen quten lag erobert. Nationalitäten: 
Hader und Junferthum, diefe Answüchje des wahren Patriotiomus 
md des echten Adels befämpfte er mit überrafchender Heftigfeit 
und juchte jtets ihre verhängnifvollen Folgen Har darzulegen, auf 
welcher Seite diefe Krantheitsericheinungen aud zu Tage treten 
mochten. „Nidt was die Lölfer, was die Mlajlen trennt, jondern 
was fie vereinigt, foll man hervorheben,“ -—- diefer Mahliprud) 
des Grafen P. Wahrjeff, entiprad) auch feiner eigenen inneriten 
Auffaffung der Dinge. Dieje Sfizje ift nicht der Ort, näher auf 
diefes Thema einzugehen, weldhes anzudenten ic) aber nicht umbin 
fonnte. Jedoch ift mein Water in diefer feiner guten Abficht, 
Frieden zu ftiften, arg verfannt und auf das Närteite ange: 
griffen worden. 

Nicht eine geringe Genugtuung und Freude war es meinem 
Xater, von feiner jegigen Stellung aus, auch zum Wohle feines 
engeren Yaterlandes beitragen zu fünnen, indem er auf die 
Proßverhältniife in demelben in günftiger Weile wirten fonnte. 

Wenn die Büceridau, die im Interefle des martenden 
Publikums rajc zu bewältigen meines Vaters ftete Sorge war, 
Augen und Geift übermüder hatten, dann wurde wieder der gelichte 
finnische Vieerbufen aufgelucht und in der Berührung mit dem 
Meer neue Belebung gefucht ud gefunden. Noch eine andere 
Anziehungskraft bot fich jet, „jenfeits der Scheren“ --- das neu- 
gegründete Hein einer feiner Töchter. Niere rwarteten ihn auch bald 
alle Freuden, die ein zärtlicher Grohpapa an feinen muntern Enteln 
erleben kann und er verlebte an der Zeite der licbenden Tochter 
und des vortrefffichen Schwiegerfohnes glüdliche Tage und Wochen. 

Im den Nenen Baltifchen Stiggen heiht 6: „Nerrliche 
Ditfee! Ih babe alle Meere Europas bejucht, aber ich gebe der 
jee entichieden den Preis. Nicht etwa weil fie das Affompagnement 



































>) Huflerlei unrrige Sichten und foterfleiden. Ad. Aufl. IN 








SI. v. Schul Bertram. 


zu meinen Miegenfiedern fomponirte, fondern weil fie etwas 
Nobeles, etwas Durhläuchtiges hat und feinerlei gefährliche Un: 
geheuer in ihrem Schoohe birgt. Es ijt eine jungfräulide See!” 

„Im Geifte jehe ih Deinen Vater,” jo fchreibt feine liebe- 
volle Schweiter Jenny an ihre in Smeaborg lebende Nichte, „auf 
Enng-Gora figend, feine Pfeife raudhend und das Meer vor jid, 
mit jo glüclichem Geficht anichauend, als hätte er es jelbit ge 
ichaffen.“ Hier in Sweaborg und auf Enng -Gora (eine Heine 
in's Meer hineinreichende Yandzunge, von meinen Pater fo benannt) 
entitanden die originellen „Enng’s Wintermärchen im Pelz“ mit 
dem Ausiprud Piragofis als Motto: „Den Frühlig befingt man 
am beiten im Winter, die Freiheit im Nerfer.“ Viele 
angenehme und anregende Veziehungen wurden von hier aus 
angefnüpft, jo zu dem greifen finniichen Nationaldichter Elias 
Yönnroth. 

Im Wafenius’schen Verlage zu Helfingfors erichienen im 
Jahre 1872 folgende Werke meines Laters: Die Neuen 
Baltifhen Skizzen, Erinnerungen an die DTomjcule ent- 
haltend; die Sagen vom Ladoga See, oder Erzählungen 
meiner Sijudamoifta, (Tellerwälcherin, Anfwärterin); 
Reivaich Parneh oder die Sonneniöhne, ein epidhes 
Gedicht nad) Bruchftüden einer Volksiage aus Lappland. — 

Auf einer feiner Fahrten nad) Finnland wurde mein Vater 
auf wunderbare MWeife, vor einem ernjten Unfall auf der Eifenbahn 
bewahrt. Dur) einen Fehltritt fiel er von der Plattform zwiihen 
die Schienen und blieb dort liegen. Vierzehn Waggons rollten 
über ihn hinweg ohme ihn zu beihädigen! Als er fid) wieder 
erhoben hatte, war feine erfte Sorge fi nad) feiner Brille 
umzujcauen, die jid aud) umverjehrt wieder fand. 

Die Lebensfonne meines Vaters neigte ih dem Untergange 
zu md die alte Viutter jollte noch den großen Schmerz erleben, 
ihren geliebten Sohn vor fid) hinicheiden zu jehen. 

Durd) die vielen heftigen Mranfpeiten erichüttert, durd, 
ichmerzliche Erfahrungen und Familienjorgen hart geprüft, durd) 
fortwährende geiftige Anftrengungen in Aniprud genommen, war 
feine Yebensfraft vor der Zeit erihöpft und obgleich erit ein 
Sedhiaer, machte er doch den Eindrud eines viel ältern Mannes. 














5.3. 0. Schul Bertram. 





sm Jahre 1875 entichloß fich mein Vater zu einer Neife 
nad W Er wollte dort die Zeinigen befuhen und damit 
eine Nun in der Anftalt des Dr. Hebra verbinden; auf ber Nüd: 
reife über Yeinzig gehen umd dort mit einem Verleger perjönlich 
Nüciprace nehmen über die Herausgabe feines legten Wertes, 
der ehimiihen Kauftiage, des Sanges von Waramatja. 
Er nahm einen Urlaub von drei Monaten ımd irat anfangs 
Januar in Begleitung feiner jüngiten Tochter die Neije an, mit 
ihwerem Herzen, als ob er ahnte, dafi er feine Heimat) nie 
wiederjehen würde. 

Tod bald wid die bevrüdte Stimmung vor einer durch 
die neuen, wechfelnden Gindrüce angeregten froheren Neifehuit. 
In Verfen md animirten Bejchreibungen der Neifeabentener 
eines groh den zwang nad) Nrafau 














hen Schneejturmes, der die Mi 
abzubiegen und dort zu übernachten  - mit Fleinen sederzeichnungen 
ibufteiet, gingen die brieflichen Verichte an die alte bejorate 
Mutter ab, um fie zu erheitern und zu beruhigen. 

Auch für fein lesteo Wert, das chitniich deutjche Epos 
arawatja*, sollte dieje Neite verhängnißvoll werden. Mein 
Vater übergab das Manuflript leider einem ihm nur 
oberjlächlicd bekannten Herrn, der > in Yeipzyig einem Verleger 
überbringen jollte. jer Derr ftarb plöglih und alle Nady 
forichungen nad) dem Manuitipt blieben erfolglos. Cs fei mir 
von diefer Stelle aus geitattet, die Bitte an alle Diejenigen zu 
richten, welche in der Yage dazu wären, auf die Spur diejer ver 
muthlich in Yeipzia irgendwo deponirten Dandidrift von Dr. Bertram 
zu verbe 

„Sb erlebe einen neuen Seiftesfrühling“, heift «5 in einen 
jeiner legten Yriefe am die Mutter, Wichrere Stunden werden 
am Zchreibtüihe verbradt. In den Wiener Tageblättern erichienen 
einige Heine Cijans und tigen, Heimathserinnerungen and Lieb 
fingsideen. Zo der Aufjag über „Eleftromagnetiiche und etbiihe 
Altotoide”; „Der fliegende Holländer”, eine nordiiche Ztixge; 
„Merhvirdige Sefchichten aus der Ninderfiube“ (eine Ninder 
verwechielung, die in Yivland jtattgefimden haben fol). Den 
Ibonen Aiemerinnen wird als poetiiche Suldigung ein lanniges 
Sedicht gewidmet und Unterricht im Ungariichen genommen, eine 
























6. 3. v. Schulg Bertram. 231 


Spracde, die er für die fchwierigite von allen erflärte. Mufita- 
Lücher Umgang md Bejud chöner Sirchenfonzerte, Towie des 
berühmten Nonzertes, welhes A. Wagner jelber dirigirte, wirkten 
anregend und befebend. 

Ganz bejondere Freude bereitete ihm die Velanntichaft mit 
Sunfalog, die er jeinem Buche Wagien verdanfte. Der 
berühmte Gelehrte bejah dies Werk in feiner Handbibfiotgef und 
hatte e8 --- jo verfiderte er meinem Vater öfters fonfultivt. 
Auf feine Empfehlung war es in der f. Ungariichen Bibliothef 
zu Pejt aufgenommen worden. Selten habe ic) meinen ater 
geiftig friiher und animirter gejehen, als in diejer zweiltündigen 
Nonferenz; mit dem berühmten Erforicer des turaniihen Spradı- 
gebictes. 

Die dreimonatliche Urlaubszeit ging zu Ende. Alle Bor: 
bereitungen zur Heimfehr waren getroffen, als mein Vater heftig 
erfranfte. Zu einem afuten Magenfatarrh trat zum Unglüd eine 
Art Donaufieber, welches er fih durd) eine Erfältung auf einer 
Donaufahrt zugezogen. Die Nunft der Wiener Aerzte, 1. A. der 
Profejjoren Bamberger, Duchel, Dumreuter, die zur tonfultation 
gerufen wurden und die jorgfältige Pilege der Seinigen halfen 
ihm nad einmal die Rrankeit überwinden und es trat eine 
entichiebene Veiferung ein. Aus diefer Zeit der Nonvalejcenz 
dativen mehrere Briefe an die Mutter. Hier einige Auszüge: 
Wien, 5. April... .. . Num danfe id Dir noch arme, alte 
Vama, da Du Dir die Mühe gegeben, zu fdreiben. Wozu? 
dietive doch! Mit der wärmern Witterung wirft Du Dein Rheuma 
108 werden. uuuen Sei do nicht jo ängjtlich. Was mn 
Deine beftändige Vorbereitung zum Sterben anbetrifft —- To fann 
davon noch nicht6 pailiren. Wenn Du nur energih wiltit, 
jo fannjt Du Did) zujammennehmen md Did raccoljiren. 
Id habe Dir allerlei nügliche Dinge gekauft und die mußt Du 
noch anfeben. 

Vedenke, da; Deine Söhne nun Sorgen haben und es um 
jo wichtiger üt, daß Tu am Yeben bleibjt, da diefes für uns der 
größte Trojt Am bedenfe, dah Tu Tir gar feine Bewegung 
madzen fannfl, aljo mußt Du das erjegen dur KNeibungen und 
Waihungen. Das ijt was man pafiive Gpmnaftif nennt 























6.5. v. Schulg-Bertram. 


und wodurd; alte Leute ihr Leben verlängern. Lah Branntwein, 
Eifig und Waffer zu gleichen Theilen miichen und etwas erwärmen, 
dann einen Schwamm eingetaucht, ausgebrüct und num gewaichen, 
zwei bis dreimal tüchtig, dann mit gewärmtem Handtuch abgerieben 
und warm zugedeckt, 
Natürlich it jedem Menfchen der Tod fiher, aber ungewih. 
Wir fönnen nod) Alle vor Dir fterben. Und was it denn 
Sterben? Dein Gott, man madt viel zu viel Wejens davon. 
Es ift nur eine andere Art zu iren und vielleicht eine 
angenehmere, als die in unjerm elenden Störper. Id) denke, id) 
fann weder lebendig nod) todt aus Gottes Hand herausfallen, 
allo ift es ganz einerlei ob Hier, od da, ob jo oder jo! Lab 
Tu Dir den Tod aljo nicht jhwarz malen, Du haft wahrhaftig 
Dein Lebenlang Deine Pilichten gethan und Taufenden Gutes 
erwiefen. Nie vergefle id, wie ein alter Vauer einft fagte: 
„Kubo meie lähme ab6i otfima, fui mitte wanna prauale? Dlge 
laps aege, cht Iujus, che muid murel*) Giebt Dir das nicht 
eine freudige Stimmung?“ 
.. Nein, Mama, Dir hajt wirflid nicht Unfadye betrübt 
zu fein: Tu äÄngjtigit Did wirklich unnüg Du bift ja doc 
nicht ein Charakter, der fi) für ganz ohme Fehler hält. Nun, 
jobald man jeine Promofs einficht und fich eingeiteht, jo folgt 
doch dann unfehlbar die Verföhnung mit dem alten Gott...... 
Ic) habe ein Nranfheitszeugnif eingeichiet und um adhtundzwanzig 
Tage weitern Urlaub gebeten. Dr. W..... meint, in vierzehn 
Tagen Fönne id) abreifen. Ih rathe Dir, fomm nad Wien, um 
zu fehen wie man Nranfe pflegt. Nein Nönig Tann es beiier 
DSH Sci ganz ruhig! Die Menjchheit verbeifert fih in 
Allem Man mu nur vergleiden, fo ficht man 
wie fie bis jeht immer gefitteter und gejunder wird. Ich habe 
geiehen, dab die Welt in den fechzehn Jahren, daf ich nicht im 
Auslande geweien, enorm vorwärts geidritten it. 
So werden die engen Straßen allmählid, niedergerifien und große 
Iuftige Häufer gebaut. Früher war das Trinfwailer fchledht, jept 


























» Wo follen wir Dilfe finden, wenm wicht bei der „alten Frant“ 
das Kind frant, oder ein anderrs Thier, oder mas «6 aud) jei. 


G.%. v. Schulg:dertram. 233 


fommt cs vom Gebirge. Ta nun die Vevölferung Luft, Licht 
und Wafier hat, jo ficht man gar feire jo abideuliche jerophur 
Löfe Fragen wie vor fünfunddreihig Jahren. Alle jehen jo gelund 
und fidel aus. Die frühern Zeiten wuhten ja nidhts von der 
Wichligeit von Luft, Licht md Waffer. Ic fage Dir 
aljo, gräme Did) nicht, dah die Welt zum Henker geht. Gott 
führt fie nnd co ijt jehr umdankbar, wenn wir an ber 
Weisheit feiner Führung zweifeln. Grüße Alle, die fih 
meiner in Licbe erinnern ..... 

Id) möchte mir amd allen meinen Lieben gern einen rofige 
helfen freundlichen Lebensabend veridaffen. Darüber fann nur 
Jeder mit fi jelbjt zu Nathe gehen. Mein Gewiflen fagt mir 
alles Haarklein, aber das Herz ift trogig und verjagt und man 
möchte fich jo gern vor fid) jelbjt entichulbigen. Sage mur, mo 
habe ich die Sucht zu fritifiren her? Etwas geerbt habe id) vom 
feligen Papa, der j. B. nie jdweigen fonnte, wenn bei Tiich 
etwas Vermuffeltes aufgetragen wurde. Etwas davon habe ich 
von Dir, denn wie oft mihfiel Div etwas — blos weil «6 neu 
war. Nachher warft Du immer ganz zuftieen damit. Co ift 
das wol ein allgemeines Erbtheil der Menfchen, rajch zu urtheilen, 
Ächnell zu tadem und darüber wollen wir Geduld üben. Am 
Ende ift die Tadelfucht nur der Wunid, daß es andern gut gehen 
möchte. Wir zweifeln an fremden Jdeen und beurtheilen fie 
zu ra... 

Vergleicht man mun Torma mit der Alpengegend 
et mit Städten, fruchtbar, reid), jo eviceint Torma 





bier, bei 








jtiefmüttertich bedacht, aber unjerer Herzen Fafern wurzeln immer 
dort! Es zieht ja den Grönländer in die Veimath. 
x 5 
r 


Der erite Gang meines Vaters, als er, mit fauım wieder: 
gewonnenen Rräften das Bett verlajfen Fonnte, war zum — Piano 
Die Cismollfuge von Bad) und die Ciomoll-Etude von Chopin, 
in denen er die Offenbarung jah einer Schnfucht, die nicht von 
diefer Welt, die nad einer andern Verlangen trug, erflangen 
unter feinen ihwaden Fingern. Das war die legte Diufit, die 
er bier auf Erden vernahm. 


234 ®. 3. v. Schulg Bertram. 


An 4.16. Mai, um 10 Uhr morgens, alo die Gloden das 
Piingitfeit einläuteten, entichlief mein Vater janft. Seine legten 
Worte waren: „Ih Hatte noh jo Vieles zu jagen...” 

Eine feiner legten Anordnungen betraf, wie jchon früher 
erwähnt, die Uebergabe der Briefe Dr. Nrenzwalds an die 
Ehftnische Gelehrte Gejellicaft, zum Zwed einer jpäteren Vers 
öffentlichung (50 Jahre nah feinem Tode). 

Der größte Nummer meines Vatero war, nädjt der Zorge 
um die Seinen, die er gern glüdlih und wohl zurüdgelaiien 
hätte, daß es ihm nicht vergönnt mehr war, auf heimathlicher 
Erde zu jterben und feine alte Mutter wiederzufchen; feine leßte 
Bitte, daf menigitens fein Herz im Familienbegräbnifi auf dem 
Friedhof zu Torma ruhen möchte. 


Die VBeifegung in Wien erfolgte in der Evang.-lutheriichen 





Dorotheentirche Augsb. Ronfeifion durch den Pfarrer Mip-Stöber 
im Beifein der anwejenden Mitglieder der Samilie, einiger greunde 
und Bekannten. 

Gin einfacher weijer Stein auf dem Friedhofe zu Mapleins- 
dorf bei Wien bezeichnet den Ort, wo einer der treueiten Zöhne 
der battiichen Lande zur legten Nuhe gebracht wurde, fern von 
der 





math, die er fo innig fiebte. 


ui 


Korrigende. 





5 u Zeile 4 von oben fies YoHbufu ftut Lohhula; 








3 10, unten ilma dohter ftalt Sitma vottor; 
a 122 00000 Di Rhbinoplastiea fat Die Nhino- 
piajtica; 


13.06 Pivko jtatt Pirlo; 
m Rühmitert ftatt Rühnitett; 
ER unten, Unger ftatt Unger. 























Annibrieje 


VL 

Wir find ja vom Sommer noch ziemlich weit entfernt. Wir 
Hatten jogar nad) einem jcönen Vorfrühling plöslich einen böfen 
Nachwinter, aber in der Teateratmoinhäre, da it fon lange 
Sommer, denn die Gintagsfliegen treiben dort auf der Bühne 
und auf den Zetteln ihr Furzathimiges Weien in großer Fülle. 

Die Theater rüften fi) zu der großen Ausjtellungszeit. 
Fajt feines macht Ferien und alle juchen fie nad) Treffern, die 
ihnen über den langen Sommer hinüberhelfen jollen. Manche 
verfallen dabei auf das befichte , ihre Tenppen anf Sat: 
fpiefrolten zu ichiden — in X andere borgen jich von 
einem folleginlen Theater immer derjelben Neichahauptitadt cin 
Der alte römijhe Sag: duo cum junt idem, non 
est idem fteht bei derartigen Abmadungen Sevatter. große 
Mebrzahl aber jucht md fucht und endet dabei eben die vielen 
Eintagsfliegen. 

Da war z.B. der Jaffe-Wolifiche Schwanf 
brüde” im f. Schaufpielhauie, eine dramatiiirte feichte er 
wechslungshumoresfe, deren Hauptreis die fdönen Tchweizeriichen 
Verglandichafts:-Deforationen und Schughütten Ausftattung bildeten; 
Da jtellte Hugo Yubliner, der eint jo glüdliche Verfafier 
der „rau ohne Geift“, im Deutfchen Theater feine „Lunge Kran 
Arne“ vor, mit der dauernd zu verkehren das Berliner Kublikum 
feine Lujt verfpüte, obgleich Agnes Sorma ihr ganzes liebene 
würdiges Talent aufbot, dieje junge an der Seite eines alternden 



















ie Höllen 














236 Aumftbriefe. 


Lebemannes fi) langweilende Arau für das zu geben, als mas 
Lubliner fie aufgefaht wifien wollte ale eine intereflante Be 
tanntichaft; da jchweihte Benno Jakobjon, der franzöfirende 
Plauderer und Theaterfeuiffetoniit des „Verliner Tageblatt” aus 
feiner beifällig aufgenommenen Künftler:Novelle „Das Modell“, 
unter deutlichen Erinnerungen an Dumas’ „Fall Clömenccau“ 
und Zudermann’s „Sobom’s Ende” einen Fünfatter „Fräulein 
Tizian“ zufammen, der im Lejling-Theater gründlich abgelehnt 
wurde; da erlebte im jelben Theater Wildenbrucd's fruct- 
bare patriotiihe Bühnendichterei einen jtarfen Witherfolg mit 
„Nungfer Immergrün“, einem hundert Jahre zu fpät gefommenen 
land Stüd umd einer um 50 Jahre veripäteten vaterländiichen 
Bofe, die fih wie die Dramatifirung einer Erzählung von Guftav 
Nierig auonahm: „Der Junge von Hennersdorf”, uriprünglid für 
das fommerlidhe Ausjtellungstheater „Alt:Berlin” beitimmt, für 
das aber die Sache zu lang wurde. Das Preitige Friedrich des 
Sroßen, der den deus ex machina in beiden Dichtungen machte 
und deiien Verherrlihung Diele gelten, vermochte nichto zu 











Velten... Eintagsfliegen, Eintagsfliegen aud) in dieiem Fall. 
Da — ob, ich fönnte die Lifte mod) lange fortiepen, begnüge 


mich aber nur noch mit einem legten Veiipiel — da alio ve 
ichwand im Deutiden Theater Morig Heimann'o Yuit 
ipiel „Weiberfchred“ gar gleich nad der erften Aufführung. Nicht 
bloi die Weiber, fonderu auch die Männer, die zünftigen ımd Pie 
freiwilligen Theaterbefucher, befamen diefem faden Zeug gegenüber 
einen heillofen Schred und damit natürlich auch gleich die Theater: 
leitung. Nidst viel befier erging eo Georg Biridfeld am 
felben Abend. Das heißt, was die Nritit betrifft, denn im 
Theater, wo fein Stük „gu Haufe” dem Heimannichen vorauo- 
ging, war feine Gemeinde ber Gläubigen im Namen der „Dodernen” 
ftarf gemug vertreten, um ihm einen äußeren Erfolg zu bereiten, 
der ad) nach einige Tage andielt. 

„gu Haufe” it äfter als „Die Mütter“, it aber ipäter 
zur Aufführung gelangt, jüngit in Münden, in einem Privat 
freife jener Gemeinde. Warum die Sache der Autor bezeichnet 
fie alo „Ein At“ -— durchaus in Berlin öffentlich auf die Bühne 
gebracht werden mußte, ift nicht recht einzufehen, denn das Talent 





Runjtbriefe. 237 


Hirfchfeld’s war durd) „Die Mütter“ glam erwiejen. Talent 
und weiter nichto, zeigt auch „un *, ein Talent auf Ab- 
wegen. Yan erichridt förmlich, wenn man hört, dal; der Verfailer 
diefen „A“ fchon als Neunzehnjähriger geihrieben Hat. Ein 
grauenvolles Wild wird vor uns entrollt, jozujagen eine Norrups 
tionsjtudie „nad dev Natur“, jo dah alte die Bezeichnung „AL“ 
doppelfinnig wird. Mit ichärfiter Beobachtungsgabe wird ein 
ichenfliches Familienmilien gefdildert, ganz im Stile Strindbergs. 
Ein abgeraderter Vater; eine Mutter, die fh einen gemeinen 
Liebhaber häl ein junger Sohn, Bummler und VBörfenfpieler, 
der, gleich dem Vater, um diefes Verhältnii weil und cnifd, 
dazu lat; eine junge gelähmte Tochter. In diefe nette Familie 
Fehrt der ältere Sohn zwüc, als friichgebadener Dotter, voll 
Lebensidealen und guten Srundfägen; und der Schmuß und die 
Verfommenheit im Elternhanfe efeln ihn jo an, daher, da er 
nicht. mitmachen will und nichts reiten fann, ihm den Nüchen 
fehrt. 





en 




















Ih branche wohl mm die Zache weiter Fein Wort zu ver 
fern .caa. Das ift mehr Schmeißiliege als Eintagsfliege. 


* « 





Ziemlich voribergehend auch mr war der Erfolg von 
Paul Lindan’s nenejtem Schawpiel im Yeifing Theater. 
„Die Erjte“ zeigt den Verfaifer von derielben Seite, wie ein 
frühereo Scjaufpiel: „Der Andere.” Nnifilige jwridiiche Kragen 
und Probleme für die Bühne zu bearbeiten in amerifanifch 
franzöfiicer ‚wicmanier bat er drüben, jenfeite des grofen 
Wajjers, gelernt md der gute Senfationserfolg des „Anderen“ 
ermuthigte ibn zu einem zweiten Veriuh. Die „Erjte“ it die 
erjte Fran des Nepierungsrathes Maine, die in Wahnfinm ver- 
fällt und geidieden wird. Er beivathet dann ihre Zchweiter. 
ad einer Neihe von Jahren fehrt die „Exfte” - geheilt zurüc. 
Ein furchtbarer Nonilift aljo. Aber Yindan hat nicht recht den 
Muth achabt, die Nonjeque zu ziehen, wie das wohl ein 
Goethe in dem ähnlichen Vorwurf feiner „Ztella” gethan bat. 
Ja, Yindan hat 05 jogar vermieden, die „seene A fnirer zu 
icpreiben, wie Sarcey jagen wide. Yiegt fie denm nicht in der 

1 




















238 Kunjtbriefe. 


Luft — die dramatiich gewaltig bewegende und erihütternde 
Begegnung zwücen den beiden Schweitern? Der Verfajfer läht 
aber die „yweite” mach Franzensbad wverreiit Tein, als bie 
„Erite” yurüdtehrt und diefe geht mit der freu zu ihr Haltenden 
Tochter und deren Bräutigam nad Umerika Tai das 
Drama technisch vortrefilich gemacht it, daf; eo viele finnige Züge 
und padende Zjenen aufweilt, verjteht Ti bei Lindau von 
jelbft. Tropdem erwies fid die Novität ad nicht dauernd 








zugfräftig. 
Wirte, ftarte Zugfraft haben bisher überhaupt nur die 
dii minorum gentium bethätigen Fönnen die Herren Poljen- 


und Jur-Fabrilanten, denen die Schneider, die die Männer vecht 
närrijd) leiden, die Damen vecht pifant entkleiden, die Deforations: 
maler und Miajhinenmeifter mit ihren Truco zu Hilfe kommen. 
Des Pariier Varney „Kleine Yämmer“, der Berliner 
Keller und Hermann „Sungerleider“ und ihrer Mitbürger 
Mannjtedt md Jafobjohn'o „Tolle Naht" —- ja, 
die bringen co im Laufe einer in auf hundert, zweihundert 
und mehr Vorjtellungen und illuftriren damit ein weitereo Mal, 
dab die Höhe der Tantiemen fein Sradmeijer für die dichterüche 
Höhe ihrer Empfänger Üt..... 

Dianches Theater, vor Allen gmund Yantenburg's 
fofetteo „Neues Theater” am hiffbauerdamım, verfuchts nicht 
ohne Glück mit GSajtipielen ausländischer Berühmtheiten. Zo 
feierte ja die Judie bei Yautenburg Triumphe, fo ipielte dort Di me 
Zegond- Weber. Nachdem der Wiener Bernhard Yaumei 
dann als Hans Yange, alo Nichter von Zalamca, als Erbföriter 
(von Yudwig), alo Werner in „Minna von Barnhelm” feine 
zahfreichen Berliner Freunde aufo Neue erfrent hatte, haben wir 
jegt dort jeinen berühmten Yandsmann Adolf Sonnenthal 
vom Hojburgtheater wieder einmal alo Year, Nathan den Meilen, 
Wallenftein, ja jogar als Philippe Derblay in - horribile dietu 
Ihnet’o „Hüttenbefiger“ bewundern fönnen; jelbjt diejeo fürdhter: 
liche Bourgeoisjtüct vermochte die grofie und edle Nunjt Sonnenthals, 
der in einziger Arı no) immer das Kadı des Licbhabers mit 
dem des Charakteripielers zu verbinden weiß, mundgerecht zu 
machen. Und num eben follte im „Neuen Theater“ das Gajtipiel 















































Runitbriefe. 239 


Guitavo Salvini’s beginnen, des hen berühmten 
Sohnes des ewig berühmt bleibenden Tommajo Safvini. Aber 
in der legten Stunde zerichlug fi) die ade... 


* 
* * 





Zwiichen den einzelnen Gajtipielen bietet dann das „Neue 
Theater” auch im Spielplan der eigenen Truppe ein recht bunt- 
ihediges Bild. Wander Zug in biefem Bilde bedeutet aber 
0 wars aud mit Mar Dreyer’s Schau: 
pie „Winteridlaf.“ 

Der liebenswürdige Verfafler, eine der inmpathiidejien Er: 
iheinungen in der Verliner Schriftfteller: und Journalijtenwelt, 
geht ruhig jeine Wege. Unbeirrt und abhold jeder Nellame, 
jeder Whraje und Pofe. Seit einer Heihe von Jahren Feuilleton: 
redaftenr der „Täglichen Nundichau“, deren Unterhaltungsbeilage 
fid) befanntlich eines weitverbreiteten bejten Nufs erfreut, findet 
er doch Zeit, ichöpferiihem Drange nachzugeben. Ein Band 
Novellen, dann vor einem Jahr das Schaujpiel „Drei“, das dem 
wigelnden Berliner für eine Woche das Wort in den Mund legte: 
„der dreiunddreifiigährige Dreyer hat einen Dreiafter „Drei“ 
geichrieben“ —- machten feinen Namen bald in weiten Mreifen 
befannt. Und zwar auf vortheilhafte Weile, jo dah man feinem 
jüngiten Schaufpiel mit einiger Spannung entgegenfah. 

Dreyer ift au einer von den Modernen, aber er jtcht bei 
ihnen auf dem redhten Flügel, jo dah er mit dem anderen Yager 
Fühlung Hat. Dah er als Dramatiker jtandinaviiden Spuren 
folgt, wird Kiemand leugnen, aber ex zeigt dabei doch felbftändigeo 
Gepräge, Er hält fi) von aller Symbolifterei meiitens frei, wie er 
andererjeits —- anders alo die Halbe und Hirschfeld ——- bemüht 
ift, eine abgeichloffene Handlung zu bieten, feinen blohen Lebens: 
ausfchnitt; auch begnügt er fi nicht, nüchterne, plumpe 
Wirklichfeitsbilder zu malen, jondern hat fie immer zu einem gemüth: 
vollen Stimmungsbilde von dichteriichem Gehalte vertieft. Fertig 
it er freilich noch nicht und mitunter hat man die Empfindung, 
als ob die Nonjtruftion an die Stelle echt dichterifcher Nonzeption 
getreten jei. Aber man gewinnt doc) immer die Ucberzengung, 
da Dregers’s großes Talent erfreulich ih weiter ausreift, da 

1° 

















240 Kunftbriefe. 


er nody fange nicht fein letes Wort geiagt hat und dah dieles 
einmal ein ehr gewichtiges fein wird. 

Das bewies auch der durdichlagende Erfolg von „Winter 
ichlaf.* Eine fehr tragische Geichichte, die der reizenden Förfters 
tochter Trude, die im tiefen Walde, im verichneiten Korjthaufe ein 
Yeben führt, das nur von der Welt draußen, von fruchtreichem 
Thun im Dienfte der Menfchheit träumt, und das, freudlos, 
unfenchtbar und umveritanden, gleichförmig fich abhaspelt von Tag 
zu Tag ywiicen einem braven, aber beihränften Vater, einer 
nichtswürdigen dummen und boohaften Tante und einem rohen, 
finnlichen, ungeliebten Bräutigam, der als Koritgehilfe im $ 
lebt. Da retten die Männer eines Abends einen im Si 
im Walde halb erfrorenen jungen Wann ins  Förjterheim 
und mit ihm zieht etwas, wie Krühlingsfonnenjchein in Trude's 
Yeben ein. Er zeigt ihr, wie jhön und aroß und weit die Welt 
drangen, in der er jelbjt als Schriftiteller im Dienfte des Volfs 
tätig it, ein Dienjt der ihm gar eine längere Gefängnifhaft 
eingetragen hat. Auch will mın Trude fort, nad) Verlin; aud) 
fie will ihr Yeben nüsen. Widerftrebend giebt der Vater feine 
Einwilligung; vajend eiferfüchtig aber wird der Bräutigam, der in 
feiner niedrigen Gefinmung and hinter des Mädcheno Entichluß 
nur Häßliches und Schmusiges vermutbet. Und da begeht er, 
um fich Trudes zu vergewiflern, von der Tante anfgereizt und 
angeftachelt, felbit etwas jo Sühliches und muBßiges, dal 
um, im nächtlichen tiefen Schlaf entebrt ev feine Braut! Zie 
aber, am Morgen, als der Jrennd den Wanderjtab weiter fort 
gelebt bat und das Gefühl der furctbaren Schmad), die ihr 
widerfahren, und das Elend des Alleinjeins fie ganz und gar 
zufammenbrechen Iaiien, fe wirft das zertrümmerte Yeben fort 
und erhängt fh... Was ich da To Zurz und fnapp erzählt 
habe, inmt fich natürlich noch weit brutaler aus, als in der 
Tichtung, wo die Charaktere und die Stimmungen fo etwas wie 
eine Art Votivirung für die Unthat des Zoritgehilfen zujammen 
weben. Aber jehr haltbar erweilt ji das Gewebe and dort 
nicht und co faflen fi mit dem Dichter hierüber gewiß jchr 
polemifche Crörterungen anftellen..... Dazu fehlt es bier an 
Ram. Nur vor einem Vorwurf möchte id) den jungen Dichter 




































Nunjtbriefe. 24 


bewahrt willen, vor dem, als fei jeine Handlung auf dem Boden 
frivoler Senfationshaicherei entftanden, etwa wie in Sudermann's 
„Zobom’s Ende” die Brutalität des Willy Janifow. Nein 
Dreyer meint es bitter ernjt mit dem Verlauf von Trude's Ge 
ichid und er ijt von feiner inneren Begründung feit überzeugt .... 
Ih nannte eben Sudermann und Sie baben auf 
diefen Namen wohl fdon längft gewartet. Wedeutet dor) eine 
Premiere feiner Stücke immer eine Senfation im Berliner Ge- 
jellihafts- und Aunjtleben. Diejes Dial wohl weniger, als jonit, 
wo eine jolche Komödie and) wirklich die erjte Erftaufführung war. 
„Das Glüd im Winkel” aber erlebte fie befanntlich in 
Wien md feitdem hat der Dreiafter die Runde über viele große, 
eine und ganz Heine Bühnen aud Teutichlands gemacht und 
Neklamepofaume md Lobherolde haben ihres Amts jchon jeit 
Vionaten gewaltet. Sudermann grollt Berlin, das ihn exit 
unmotivirter Weife zu einem gewaltigen (Genie beförderte und 
ihn dann fpäter ebenfo unmotivirter Weile unter die Dugendichreiber 
und Hungen Ztveber verjegte. Wan neidete ihm den großen Erfolg 
den man doc) jelbjt mit übertrieben hat und cben darum fonnte 
man fh nachher nicht Genüge thin, das Gögenbild wieder in 
den Staub zu ziehen, md, wie man Zudermann jo ganz ohne 
Grund anfänglich als eine großartige Offenbarung der „Diodernen” 
bejubelte, ihn num ebenjo grumdlos zu den Marlitt und Werner 
und jonftigen „Öeliebtejten“ Gryäglerinnen der „Sartenlaube” zu 
werfen. Ein intereffantes Kapitel aus der Pinhologie der Ge- 
jellichaft, aber heute nicht weiter zu verfolgen. Kurz und gut 
Sudermann wollte die Berliner jtrafen. Cie jollten zulegt dran 
tommen. Wielleiht dachte er dabei aud etwas ans Geidhäft, 
das ihm Berliner Mißgunft und Unverfiand, wie er meint, vor 
Jahr und Tag in Bezug auf die „Schmetterlingsichlacht” jtarf vers 
dorben hatten... Und jo war denn die Premiere am Ofter 
fonnabend im Yeifing-Theater eigentlich eine „Terniöre.” Die 
Berliner hatten aber inzwiichen die Ungnade Tudermanns jo 
vubig ertragen, dahı fie fich am betreffenden Tage einfanden, als 
wäre nichts geidehen. Vielleicht war man aud) etwas neugierig, 
füch felbjt davon zu überzeugen, ob denn das neue Echaufpiel 
wirklich jo außerordentlich gut, oder jo entjeplid ihleht, wie cs 








242 Rumftbriefe. 


in den hundertundein Berichten aus den anderen Städten, je 
nachdem, zu fein geitanden hatte. Und damı — nod vet 
immerhin der Name Eudermanns in Berlin trogalledem .. 
So hatte jih denn ein Theil von „Tout Berlin“ gnfammen- 
gefunden: SHoffreife umd die hohe Finanz, Litteratur und Runjt 
waren zahlreid vertreten... Wie die Vorftellung verlief 

en Sie ja. Mit Sudermannjchen Premieren pflegt fih ja 
ftets aud der Telegraph zu beicäftigen. Aud) das Schaufpiel 
jelbjt ift Ihnen wohl idon befannt. Zum mindejten aus Zeitungs 
berichten, möglicherweije gar jchon von ber Bühne her. Wir hier 
in Verlin hinfen eben diejes Mal nad). 

Tann werden Cie auch jelbjt icon fi davon überzeugt 
haben, daß gegenüber den leßten Nomanen, Novellen und den 
legten Drama „Tas G im Winfel“ ein Fortichritt ift, weil 
® ein Rüdicritt it. Denn es ift das neue Schaufpiel der 
„Heimath“ und wohl aud) „Frau Sorge” ebenbürtig. Cie werden 
aud) bemerft haben, dal die Nolle des Nöcnig, des Nraftmenichen, 
dem Alles glüct, zumal auf der Weiberjagd, ohne die er nicht 
leben zu fönnen erflärt, fo dankbar ift, dah Sudermann wahrlid 
nicht Direktor Blumenthal zu verpflichten brauchte, ertra Friedrid 
Mitterwurzer aus Wien zu engagiren, um dieje Rolle and) 
bier zu „freiren® und während eines Monats zu fpielen. Der 
Dichter Hatte von diefer feiner Ueberflugheit nur das, dab von 
gewiffer und jehr zahlreicher Seite aus der unleugbare Erfolg des 
Schaufpiels, namentlich des jtarfen zweiten Afts einfach dem 
Wiener Gajt gut geihrieben wurde. 

Jin Uebrigen liche fih aber über „Das Süd im Mintel“ 
und insbejondere über den in ihm mehr als fonft irgendwo in 
Sudermannjchen Werfen zu Tage tretenden Jbjenismus — richtiger 
Iofenfopie — fo viel jagen, dah ic) für diefes Mal darauf ver- 
sichten muß. 

Berlin, im April, 














3. Norden. 


ale 


























Kitterärishe Streitichter. 


Die Entwicelung der politischen Ideen in der nenern Zeit 
it eines der intereflanteften, aber auch jchwierigftien Probleme, 
mit dem fi Phitofophen, Hiftorifer und Stantsrechtslchrer 
wetteifernd beihäftigt haben. Die Aufeinanderfolge und das 
Vergältnif; der verichiedenen Stantsformen zu einander, die Cin- 
wirkung, welche hervorragende politiiche Schriftfteller auf die 
Gejtaltung des Stantslebens ausgeübt und umgefehrt der Einflufi, 
den die Verfafung beitimmter Staaten auf das politiiche Uxtheil 
und die politiichen Theorien der einzelnen Schriftjteller gehabt, die 
Nadjwirkungen einzelner Yehren und Anfhamngen aud auf eine 
ipätere Zeit - das find ragen, mit denen fd) viele hervor 
vagende Denker und Forjcer im neuerer Zeit beich 
Aber aud) nad) allen den ausgezeichneten Arbeiten, die wir auf 
diefem Gebiete befigen, bleibt mod) viel zu thun übrig, find nicht 
wenige duntle Punkte nod) aufzuhellen. Heutzutage fragt man 
nicht mehr wie zur Zeit der Herrichaft des vulgären Yiberaliomus, 
welches der beite Staat, die beite Werfaflung jei, jondern man 
unterfucht hiftorifch, welches die jedem einzelnen otfe nad) jeiner 
geidichtlichen Entwidlung am meijten entipredende Staatojorm 
it; an die einfache Webertragung der geicichtlich gewordenen 
Verfajjung eines Staates auf ein anderes Wolf denfen heute zur 
unreife Köpfe und vericrobene Doctrinäre. Cine Unteruhung 














24 Yitteräriiche Streiflichter. 


der Urfachen des Ucberganges des Abfolutismus zu der Demofratie, 
wie fie in der franzöfiicen Nevolntion zur Herrichaft gelangte, 
und dann der weiteren Entwiclung der Fonjtitutionellen Staats 
form in Europa ijt eine ebenfo fchwierige als danfenowerthe 
Aufgabe. Es mul daher Gottfried Nodo Bud: Beiträge 
sur Bejhichte der politiihen Sdeen und der 
Negierungspraris”), das ihre Yölung unternimmt, jehr 
willfonmen geheihen werden. Der Verfaifer hat ji das Ziel 
gejebt, den engen Zulammendang, in dem die Anfidhten der 
politiichen Schriftfteller mit den Zuftänden ihrer Yänder jtehen, 
darzulegen und zu zeigen, dafi jene meift nm beitinmter realer 
Intereffen willen ihre Schriften veröffentlicht haben.  |n der 
forgfältigen Nacweilung diefer Wechiehvirkung liegt das eigentliche 
Verdienft des Buches. Der erite Theil behandelt Abjolutismus 
und Parfamentarisus in Frankreich) und England von 1661 bis 
1718. Noch führt uns fogleih in medias res, indem er die 
Theorie des Abjolntismus unter Ludwig NIV, entwicelt und die 
Art jeiner Nenierung Äcildert ; er verfährt dabei aufs gründlichite 
und giebt eine bi ins Einzelne gehende, höchit (ehrreiche Meberficht 
über die Negierung und Verwaltung Frankreichs unter Andiwig NIV. 
Wir vermiffen aber doc) eine Einleitung über die Vorbereitung 
des Abfolutismus und die Gegenitrömungen in Franfreid) vor 
Yudwig XIV. Die Lehren Jean Bodins und anderer franzöfiicher 
Schriftiteller fowie andererfeits die jo tief eingreifende Verwaltung 
Nichelieus und die legte Erhebung des frangöfiidhen Adels in der 
Fronde Hätten in einem einfeitenden Kapitel überfichtlicd und in 
der gründlichen Art des Xerfalers zufammengefaßt dem Lefer 
eine fehr erwünfchte Orientirung geboten. Zept tritt uns jogleich 
der vollendete Ablolutismus Ludwigs XIV. in feiner ganzen 
Ungehenerlichfeit entgegen. Kod) behandelt dann weiter den Sturz 
Jacobs II und die Begründung des Parlamentarismus in England 
und die damit im engen Zufammenhang ftehende litterärifche Hecht- 
fertigung der „glorreichen Nevolution”. Wie vieles eriheint hier 
in ganz anderem Licht als in Piacaulays Darfiellung! Zum 
Theil beeinflußt durd) die englühen Verhältnifie und Autoren 




















= Bırlin. N. Gärtners Verlagsbudbandlung Bd. I und II, 10 M. 0. 





ihter. 245 


erhebt ih eine litterärifche Oppofition gegen den Abjolutismus 
in ranfreic, der dann mter ber Negenticaft die der Parlamente 
folgt. Am bedeutendften zeigt fi die tiefe Einwirkung der 
englüichen Verhältniiie bei Montesquien, dem großen politifchen 
Nlaffiker, der die erftie Periode der Oppofition gegen den Abjohutismus 
gewifiermahen abichlieht. Noch weit Iharfiinnig die Einwirfung 
des Jlalieners Gravina und des Engländers Algernen 
auf Montesquiens Anfihten und Lehren nad) und urtheilt 
haupt weniger günjtig über den berühmten Autor. In dem zweiten 
Bande, der den Titel: Demokratie und Nonftitution (1750— 1791) 
führt, zeigt Noch auf Grumd eingehender und jorgfältigiter Studien, 
wie wenig das engliihe Parlament noc unter Georg 11. eine 
wirkliche Vertretung des Volkes war und wie vückfichtslos die 
Wigharifiofratie ihre parlamentariiche Herrichaft zu felbitfüchtigen 
Zwecken, zu ihrer eigenen Bereicherung mißbrauchte und weiche 
Gewaltthaten je fi erlaubten. Schr amziehend it ferner der 
Nadweis, wie Montesquiens bewundernde Anerkennung der 
englfchen Verfaifung auf die Engländer zurüdwirkte und allmählich 
zu einer förmlichen Manonifirung derfelben führt. Mit Inte 
folgt man Node Tarlegung, wie Nouflenns berühmtem contra 
social die Verfaffung der Stadt Genf zu Grunde liegt und an 
eine Demokratie im modernen Sinne von Noufjenu garnicht 
gedacht wird. Die Verwaltung der engliichen Kolonien in Amerika, 
ihr Abfall und dann die Verfaifung der Vereinigten Staaten 
werden vom Xerfajier in lichtvoller, jehr belehrender Weije dar- 
geftellt. Den Schluß des Bandes bilden die Neformverjude und 
Neformideen unter Ludwig NV]. vor dem Ausbrud) ber franzöftichen 
Revolution, endlid) eine genaue Analyfe der Verfailung von 1791, 
bie trog ihres furzen Weitehens das Mufter für viele fpätere 
Gonftitutionen geweien it. Dem Verfaffer ift, wie er jelbft im 
Vorwort zum zweiten Bande befennt, jein Buch unter den Händen 
zu einer Gejdidte des Konjtitutionalismus geworden; man fann 
mit diefer Erweiterung und theilweiien Aenderung des urfprünglichen 
Manes nur zufrieden jein. Mit bewundernswürdigem Fleiß hat 
Rod das weitihichtige für feine Arbeit in VBetradt fommende 
fitterärifche Material durdigearbeitet, man wird felten einer jo 
umfafjenden Kenntniß der politiicen Xitteratur Frankreichs und 





















246 Litteräriiche Streiflichter. 


Englands begegnen, wie fie hier fat auf jeder Seite fich zeigt. 
65 ift eine Arbeit von echt deuticher Gründlichfeit, die Noch ae 
liefert hat und bei der er es am forgfältiger Aritit nicht hat 
fehlen laflen; man hat bei der Yeftüre jtets das angenehme Gefühl 
fich auf ganz ficherem Boden zu bewegen. Wenn wir etwas ver 
mijjen, jo ijt es dies, dah der Verfajer mit feinem Urtheit und 
feinen Anfichten gar zu jehr zurüdhält; nur bisweilen erfährt mar 
durch eine furge Bemerkung Kod)s Anficht. Wer aber jo gründlid) 
wie er den Stoff beherricht, der hat das volle Necht zu bejtimmter 
Veinungsäuferung. Nod)s Bud) ift feine leichte Leftüre, es will 
ftubirt jein; aber Niemand, der fid) für Politit und Gefchichte 
ernftlich intereffirt, wird es ofne reiche Belchrung aus der Dand 
fegen. Es follen noch ein dritter und vierter Theil folgen, die 
bis zur Gegenwart reichen werden; mögen fie nicht allzu fange 
auf fid) warten laifen. 

Eine Ergänzung zu dem Werte Node bildet das joeben 
in beuticher Ueberfegung von Adolf Nrefiner erfdienene Buch 
von Alfred Sorel über Montesguien). A. Corel 
ift einer der hervorragenditen franzöfiichen Hiltorifer der Gegen 
wart, er it auch mit der deutichen Yitteratur vertraut. In 
dem vorliegenden fleinen Buche hat er eine vortrefi 
tif Wiontesquieus, feiner Perfönlichteit wie feiner fch 
Thätigfeit geliefert; nur das an befondern Ereigniffen allerdings 
arme Leben Montesquieus wünschte man etwas eingehender dar- 
geftellt zu fehen. Echt franzöfiicher Eoprit erfüllt Eorels Bud), 
geiftreiche Wilder und Wendungen drängen fid), jcharf zugeipigte 
Antithejen feffeln die Aufmerkjamfeit des Lefers, die Darjtellung 
ift glängend, furz es it ein ausgejeichneter Schriftiteller, der zu 
uns fpridt; bei manchen feinen Wendungen hat man unwilltürtich 
das Gefühl, dah fie im Franzöfiihen fi doc) noch viel beijer 
ausnehmen miüifen als im Deutjcen. Zugleich aber haben wir 
bei der Lektüre jtets den Cindrud, dah das geiftwolle Buch auf 
umfajjender Sadhfenntniß und vollfommener Vertrautheit mit dem 
Gegenjtande beruht. orel analpfirt Wtontesguieus Charakter 
und Werfe ganz in ber je jeines Wieifters Taine; cs hat 























*) Berlin, Ernit Hofmann. 2 M. 40 Mi. 


18 
= 


Litteräriiche Streüllichter. 


troß der geiftreichen Behandlung etwas Grfältendes, eine Perfön 
tichfeit jo gleichlam vor feinen Augen jeziven, die geheimjten 
Falten ihrer Seele enthüllen zu jehen. Die vorzüglichften Partien 
des Buches find die Charafterentwicelung WVlontesquieus, die 
Analyje des Esprit des lois und die Darlegung der Nahwirfungen 
von Montesquieus großem Merfe bis in die neuere Zeit. Was 
Zorel über die Lettres Persanes ausführt, it geiitreid, aber 
hat uns von unferm Miderwillen gegen dieje frivole Satire nicht 
abgebracht und aud) den andern Jugendichriiten Vontesquieus 
wird heute jchwerlic Jemand Geihmad abgewinnen. Erjt in den 
Considerations sur les eauses de la grandeur et de la 
deeadenee des Romains erjcheint Montesquieu als der Mann, 
der Anipruch darauf maden fann, daß fein Name auf die Nad- 
welt fomınt. Zein gröjtes Hauptwert l’Esprit des lois wird von 
Sorel nad allen Seiten hin beleuchtet und fritiich gewürdigt. 
Der großen Anerkennung, welche er diejem berühmten Buche zollt, 
wird man im Ganzen beipflichten, bod) find Node fritiidhe Be- 
merfungen nicht zu überjehen und intereffant ift cs aud) mit 
Sorels Ausführungen die icharfe Kritit zu vergleichen, welche 
Theodor v. VBernhardi in feinen Aufzeichnungen an Montesquieus 
Wert geübt hat. Schr anziehend find Sorelo Ausführungen 
über Vlontesqniens Cinwirlung anf die franzöfiihe Nevohution 
und jehr fein der Nachweis, dal; ebenfo Guigot wie Aleris von 
Tocqueville in ihren Grundanfhauungen von Montesquien beein: 
fußt find. Sorels Bud) wird gewih; aud) in Deutihland viele 
Lejer finden. Die Ueberjegung ift gut. 

Die „diographiihen Blätter“ *) jchreiten rüftig fort. Das 
erite Heft des zweiten Wandes hat wieder einen mannigfad) 
interejanten Inhalt, aus dem hier das Wejentliche hervorgehoben 
fei: Theobald Ziegler hat einen anziehenden Auffag über Peitalozji 
geliefert, an dem uns nur der heftige Eifer gegen Die fonfeffionelle 
Schule, die. antiogial und antinational wirken joll, unangenehm 
aufgefallen ift, vom Standpunkt des Deismus ift die fonfeflionsloje 
Schule eine ganz verjtändliche Forderung, aber für den pofitiven 
Shriften it es völlig unmöglich fie zu accepiven. Weiter behandelt 














*) Berlin, Ernit Hofmann. 


248 Litteräriiche Streiflichter. 


A. Schönbady den Minnefänger Ulrich von YLiedhtenftein und CO. 
von Völderndorif bietet eine anziehende lauderei über Fü 
Chlodwig zu Dohenlohe, das bedeutendte im Heft find aber die 
von unjerm Landsmann Otto Harnad aus dem Nachlai Wilhelm 
von Humboldts mitgetheilten Yriefe, unter denen fich hödjt inter- 
effante vom Freiheren von Stein, von Altenftein, Karoline Wolzogen, 
Franz Vopp und %. ©. Wetter finden. Möge es au weiter 
der Zeitichrift nicht an anziehendem Stoffe und tüchtigen Wit: 
arbeitern fehlen! 

Die Soethelitteratur fteht gegenwärtig in üppiger Blütbe ; 
eine Anzahl umfarfender Werke über Goethes Leben und Dichtungen 
find fajt aleichjeitig oder bald nad) einander erichienen und über 
einzelne Werioden feines Yebens und feiner dichteriichen Thätigleit 
find ebenfalls mehrere Schriften von größerem oder geringerem 
Umfang in fester Zeit veröffentlicht worden, Jndem wir uns 
vorbehalten jene größeren Arbeiten fünftig einmal im Zulammen 
bange zu bejprechen, wollen wir für jegt uns mit ein paar Schriften 
beichäftigen, die weniger allgemein befannte Dichtungen Gocthes 
behandeln. Die erjte von Hermann Baumgart, Goethes 
„Sebeimmifie” und feine „indijdhen Kenenden“) 
unternimmt es den Anhalt und die Bedeutung diefer wunderfamen 
Dichtung, die leider Fragment geblieben ift, darzulegen und fie im 
Einzelnen zu deuten. Die „Öeheimnilfe” 1785, alio in ber 
Periode von Goethes friichefter Dichterfraft entjtanden, gehören in 
der Form zu dem vollendetiten, was der Dichter geihaffen; die 
herrliche „Zueignung“, die jedes für Pocfie empfänglide Gemüth, 
beim Lejen immer von Neuem ergreift, war ihnen urfprünglich 
als Einleitung vorangeftellt. Wäre die Dichtung, von der nur ein 
Meiner Theil ausgeführt vorliegt, in bderjelben Weile zu Ende 
geführt worden, jo mürbe fie eines der größten dichterifchen Merfe 
Goethes fein und über feine refigiöfen Jdeen und Anihauungen 
die tiefiten Wufichlüffe gewähren. Collte dodh darin -die Einheit 
alfer Religionen trog aller Verjdhiedenheit ihrer äußern Gejtaltung 
und Glaubensformen in bichterifch - inmbolifcher Form verfündet 
und in einer Neihe geheimnißvolfer Bilder dargefiellt werden. 


















uttgatt, Verlag der X ©. Cotta’ichen Puchhandlung. Nachfolger. 2 R. 





Litteräriihe Streiflichter. 249 


Es iit begreiflich, daf jebjt Goethes TDichtergeiit bei der Aus: 
führung diejes Manes, der ebenjo große Anipannung der poetifchen 
Nrafl wie des philofophiichen Denfens erforderte, erlahmt iit- Das 
Fragment, wie es vorliegt, ift bei wundervolfer Narheit der 
dem Inhalte nad) dunkel und rätbielhaft. Yaungarts Veriud) 
einer Erklärung desfelben und einer Begründung jeined inneren 
Zufammenhanges fowie der von ihm gegebene Nadmeis, dal; 
darin Goethes damalige religiöie Anichauungen ihren vollen Auo« 
drud finden, ift daher danfenowerth. Ueberhaupt ift die Schrift 
aedanfenvoll und anregend, nun bisweilen etwas ihwerfällig und 
dunfel im Ausdrud. Die tage nad) Goethes Stellung zur 
Neligion, insbejondere zum Chriftentium wird von Banıngart ein- 
gehend und jorgfältig erörtert. Er zeigt, dab nach Gocthes An 
faiiung alle pojitiven Neligionen nur verichiedene Spınbole der 
einen religiöfen Dee find, dal fie vergeben und wechieln und 
die ee allein bao Wahre und Enige ü enthum üit 
für Goethe die bio jegt volltommenite und hödjite Korn der 
Religion, aber das Kofitive desjelben ift doch aud) nur vergängliches 
Symbol, wie es denn überhaupt der Ergänzung din andere 
Keligionsformen bedarf. Cs iit danad) Elar, dal Gacthe feiner 
religiöfen Grundanihanng nad Chrift im Zinne des Evangeliums 
nicht war; im Einzelnen hat er oft eine alücliche Anfonfenuenz 
bewiejen. Wenn Baumgart meint, Goetpehabe den weientlichen Anhalt 
des Chriftenthums in feiner Auffallung der modernen Menschheit 
erhalten, jo jtellt er jih ganz auf Goethes religiöfen Standpunt. 
Air müffen dagegen bemerfen, dal; das MWeientliche des Chriften 
thums eben das “Politive im ihm it md dal es nicht eine oder 
die höchfte Korn der Neligion, jondern die Netigion jchlechthin üt. 
Wenn Bamgart meint, Goethes Stellung zum Chriitenthum fei 
jeit jeiner Erklärung gegen Yavater bio zu feinem Tode ftets die 
gleiche geweien, jo Fönnen wir dem nicht zuftimmen; jwifchen dem 
deeidieten Yichtehriften, alo welchen er fi 1782 erklärt, und jeinem 
wahrhaft „ulianiichen Hal gegen das Chriitenthum, wie er Teit 
1788 zur Eriheinung fommt, endlich jeiner gemähigten Stimmung 
und Haltung, wie fie feit 1812 uns entgegentritt, ift dad) ein 
großer Unterihied. Yon den indiichen Legenden zeigt Yaumgart, 
da fie denfelden religionsphilojophtichen Anfchamungen entiprungen 



































250 Litteräriiche Streiflichter. 





find, in welchen aud) die Geheimnifje wurzeln. Man icheidet von 
Yaumgarts Schrift mit dem Gefühl lebhafter Anregung, wenn 
man ihm auch durchaus nicht immer zuftimmen Fann. 

Mit einem ganz anderen Eyflus von Gedichten beichäftigt 
ih Auno Fiidher in feiner Schrift: Goethes Sonetten 
kranz*). Go it die viel erörterte Frage, auf wen die 17 Sonette 
des Dichters fi beziehen, die darin behandelt und zu endgültiger 
Enticheidung zu bringen unternommen wird, Kuno Ficher fommt 
zu dem Nejultate, da fie fänmtlid; Minna Herzlieb gelten und 
giebt dabei eine Schilderung der fpätern traurigen Yebenoicjidiate 
diefes jchönen Mädchens, zu dem Goethe eine Zeit lang cine 
teidenichaftliche Zuneigung empfand; fie ift das Urbild der Ottilie 
in den Wahlverwandticaften. Bemerkt jei beiläufig, dab fie eine 
tiefe Neigung für einen Herrn von Manteuffel Bi Livland, der 
in Iena ftudirte, längere Zeit gehegt hat. Bettinas Anfprüche 
auf die Sonette werden entichieden zurücgewieien und nebenbei 
ihre Goethe:Religion treffend charakterifirt. Fücher jucht dann in 
geiftreicher Weile jämmtliche Sonette als in innerem Zufammen- 
ange jtehend zu erflären und dao Ganze als einen jhönen Dlinna 
Herzlich gewidimeten Nranz zu erweilen. Xieles in Fiüchers Aus: 
führungen erideint durdaus einleuchtend, Vtandhes dagegen 
zweifelhaft und bedenklich, wie er denn and jelbt jolhe Gin: 
wendungen vorausgejcehen und bereits zu entfräften gejucht hat. 
Hedenfallo ift die Schrift ein beachtenswerther Beitrag zum er: 
ftändni der Sonette und zur Nenntniß von Mina SHerzlicbs 
Leben und Charakter; dah fie mit Geilt und Gefchmad geichrieben 
üt, verfteht fid bei Nuno Fiicher von felbit. 

Wir iehliehen hier eine Heine Schrift an, die jidh mit einem 
der jchwierigiten Probleme der Mejthetit beihäftigt: Iofef 
Müller, dao Weien des Dumors**). Der Verfailer, 
ein Nenner und Verehrer Jean Paulo, über den er aud) ein ums 
fangreidies Wert veröffentlicht hat, it durd) die cindringende 
Veihäftigung mit diefem großen humoriftiichen Dichter zu feiner 
Schrift veranlaßt worden. Sie zerfällt in zwei Theile, einen 

















>) Heidelberg, Carl Winters Lerlagsbuchhandlung. 
+) München, Verlag von Dr. 9. Yüncburg. 1 M. 





Litterariiche Streiflichter. 251 


Rritüchen und einen thetiichen oder pofitiven ; in bem erjten werden 
alle bisherigen Erklärungsverfuche des Humors aufgeführt und 
fritifirt, in dem zweitnn legt Müller feine eigenen Anfichten über 
Wefen und Charafter desjelben dar. Wie das zu geichehen pilegt, 
find die Schwächen der bioherigen Definitionen mit mehr Glüd 
nadhgewiejen als die neue eigene Erklärung begründet ift. Merk: 
würdig üt, dal; der Verfajfer Jean Pauls Darjtellung des Humors 
fo jehr befümpft; man follte meinen, diefer Dichter wäre doc) vor 
Anderen dazu berufen geweien den Charakter der Dichtungsart, 
in ber er jo Servorragendes geihaffen, zu erfaifen umd zu ent- 
wideln. Dijchers Definition des Humors und des Kummorijten 
icheint uno Müller nicht vecht zu würdigen, fie ift unferer Meinung 
mad) noch immer das Treffendjte, was darüber gelagt worden ilt. 
Die eigenen Anfihten des Berfafiers jdeinen uns troß vieles 
Wahren und Richtigen, das fie enthalten, doc) nicht iharf und 
formulivt zu fein, Manches, was er als Kennzeichen 
chen Dichtung anführt, gilt von der Poefie überhaupt. 
Seinem Sape: Optimiomus ift der hervorftedendite Charakter des 
Humoriften, fönnen wir durchaus nicht beipflichten. Für Jean 
Paul hat er allerdings Geltung, aber im Ganzen j—hen nicht für 
Didiens, vollends nicht für Swift oder gar für Nabelais, auch für 
Gervantes im Grunde nicht. Wir möchten mngefehrt behaupten, 
da ein gemifier Pefimisimms zum Welen des Humoro gehört 
und fait allen großen Sumoriften eigen it. Weitere Ginwendungen 
gegen Cinzelmes zu erheben, würde bier zu weit führen. Wir 
haben trog unjereo Widerfpruchs die Schrift mit Vergnügen gelefen 
amd jtnmen im Cinzelnen dem Verfaler vielfadh zu. Ueberhaupt 
üt eo in der Gegenwart f—on an und für fd) erfreulid) einem 
ideal gefiunten Schriftiteller zu begegnen und die verftändnihvolle 
Anertennung, welche Müller Claudius, Hamann und Bippel zollt, 
hat uns mit wahrer Befriedigung erfüllt; wir würden cs mit 
Genugthuung begrüßen, wenn er fid) einmal eingehend mit Hippel 
beichäftigen und ımo die Nefultate jeines Foriheno und Nad): 
denfens über diejen großen Humoriften mittheilen wollte. 

Eine neue Eriheinung auf dem Gebiete der erzählenden 
Dichtung, it ©. Verbed, von dem eine Sammlung von drei 
Erzählungen uno vorliegt: der erite Veite, die Nenenhofer 















352 Sitterärüiche Streiflichtet: 





Nude, Maria Neander”). ie jind fämmtlich zuerit in 
ben „Grengboten“ veröffentlicht worden, die legte eridheint bier 
im einen zweiten Theil vermehrt: Es ib eigentlich mur zwei 
wirkliche Erzählungen, die nz geboten werden, dritt be Nenen- 
bofer Rinde it mr cine Sfige, die in ihrem Zulammenhange 
wenig molivirt und am Schluß; mehr abgebroden als wirklich zu 


















Ende geführt erichelnt. uch dev Zweck und der Grundgedante 
di „serienerinnerung” jmd its bitifel id unklar geblichen, 





Zoll jie einen neuen Beleg zu dem alten Worte: Undauk bit der 
Welt Lohn liefern? TDeifen bebürfte es doch ichwerlid und was 
hier uns erzählt wird, it auch nicht originell genug. Oder joll 
fie mo fchren, dafı bei den Ninbern eineo Tagelöhnerdorfes die 
Undantbarfeit ganz beionders heimijd) Mf das wäre doch gewil; 
ungereht. Man Fann jchr peflimiitiich von den Venfchen denfen 
und cs doch unnatürfich finden, da fein einziges der Ninder, 
welchen die Nlude jo viel remmdlichfeit und foviet Wohltaten 
erzeigt hat, ihr and mur die geringite Spur von Dankbarkeit 
bewahrt Haben joll. Auch der Charakter der Nude ift durchaus 
nicht Far und einfeuchtend entwickelt. Yan deu beiden gr 
Erzählungen it Maria Neander am meijten ausgeführt und zu 
bejriedigendem Abichluife gebracht. Die Perfönligfeit und der 
Charakter der Heldin ift Scharf und anihaulich gezeichnet mud ihr 
Banden wohl motiwirt; dah fie uns inmpathiich it, fönnen wir 
freitich nicht jageı Viefes weibliche Welen, das in der Sejell 
ichaft eines leichtjinnigen Waters aufwächit ud in jugendlicher 
Unerfahrenheit das Opfer eines gewifienloien Lerführeo wird, den 
batd darauf ein plöglicher Tod creilt, das nun ihr Mind halt 
und von fi entfernt, weil es fie an ihren Verderber erinnert, 
das dann einen pilidhttrenen wadern Wann liebt und von ihm 
wiedergeliebt wird, ganz nahe dem höchjten Glücte aber durd) das 
Seftändniß, wie fie gegen ihr eigenes Mind gehandelt, den Ge: 
liebten verliert, da er fie danadı nicht zur Mutter feiner Ninder 
machen zu fönnen erflärt ein folhes Weien hat etwas Ab 
Ntohendes. Die Diutterliebe ift bei einer ran etwas fo Nriprüngliches 
und Naturgemäßes, fei cs auc gegen ein Mind der Schuld, da; 
























>» Yeipsig. Fr. With, Grumow. 6 M. 


Kitteräriiche Streiflichter. 253 


ihr Fehlen oder ihre Verlengnung und mit Abneigung und Wider: 
willen erfüllt. Und wenn Varia Neander darauf ihr Kind, das 
fie verftoßen, mit vieler Mühe auffucht und zu fid) nimmt, jo 
bewegt fie dazu nicht das erwachte Mutterherz, fondern die unaus 
töfhlihe Liebe zu dem Panne, der fid) von ihr gewandt; erit 
ganz zufegt fommt das Vuttergefühl zu vollem Ausbrud). Auch 
der feichtfinnige egoiftiiche Vater Profeffor ift Feine fehr ipmpathiiche 
Eridjeinung, aber jein Charakter ift wirklich vortrefflic, gezeichnet. 
Wir fehen den eitfen, frivolen, feine "Bequemlichkeit über Alles 
ftellenden, nad Genuß tradhtenden Lebemann, der über den Ernjt 
des Lebens mit einigen leichten Wigworten hinwegzufommen jucht 
und den Nummer ber Tochter mit ein paar mehr oder weniger 
geiftreihen Bonmots zu beihwichtigen bejtrebt ift, in voller Xeben 
digkeit vor uns. Diefe Charatterfigur it eine meifterhafte Leiftung 
und der Verfailer hat in ihr gezeigt, welche Feinheit piychologiicher 
DVeobahtung md Darjtellung, welche Kraft der Veranicaulicung 
ihm zu Gebote jtehen. Ganz vortreiflid) ijt weiter bie Entwicelung, 
wie in dem Herzen des Profeijors durd das ihm anfangs jo 
widerwärtige Kind allmählich wirkliche Liebe, die feinen tiefge 
wurzelten Egoismus überwindet, erwedt wird. Nod) mehr Ber 
friebigung als Maria Neander hat uns die Erzählung : der erite 
Beite gewährt, wenn fie aud (ange nicht jo durchgearbeitet und 
gleihmäßig ausgeführt it wie jene. Die groß angelegte Erzählung 
ift überhaupt nicht zu befriedigendem Abfchlu gebracht, fie hätte 
zu einem Nomane ausgejtaltet werden jollen, dann würde fie den 
Erwartungen entiprodyen haben, weld)e die breit angelegte Erpofition 
erwect. Das Thema der Gejcichte ift ein altes, wohlbefanntes: 
ein junges Mädchen in ihrer eriten tiefen Herzensneigung, beren 
Gegenitand hier ein bewunderter Dichter it, ber ihr aber verhehlt, 
daß er icon verheirathet, getäujcht, reicht in dem fie ganz be 
herrichenden Gefühle bitterer ränfung ohne jede Liebe einem 
Manne die Hand, der ihr die märnıfte Zuneigung entgegenbringt. 
Diejer Frig Hellborn ift eine prächtige Geftalt, uriprünglid, früch, 
warmherzig, einfah, in hohem Grade jelbitlos, dabei aber ein 
Vlann von Kraft und Energie. Wie er mm die Sleichgiltigfeit, 
ja die Abneigung feiner Jrau durch die zartefte, rüdjichtsvollite 
Liebe und imendlihe Geduld überwindet und ihre Zuneigung 





254 Litteräriiche Streiflichter. 


gewinnt, ift der Gegenitand ber Erzählung. Auch unter den 
Nebenperfonen find einige vortrefflich gezeichnet wie Mamfelling, 
auch der Bruder Hans. Der eigentliche Umfchwung foll durch 
das Aufammentreffen Vlargarethes mit dem Dichter und feiner 
Frau bei einem Nachbarn herbeigeführt werden, man fann aber 
nicht Tagen, dah die Entwidelung der num folgenden Scenen ge; 
lungen it; Frig pielt dem wortgewandten, boshaften Dichter 
gegenüber eine wenig befriedigende Nolle. Der glückliche Abichluß 
wird dann vecht überftürzt herbeigeführt. Wie viel befriedigender 
wäre eine langjamer fortichreitende Darftellung geweien bei der 
dann auch die jest ziemlich zwedlos auftretenden Nebenfiguren 
Hans und der Pajtor hätten eingreifen fünnen. Ungeachtet dieier 
Mängel steht die Erzählung dur ihren warmen Ton, die An 
ichautichfeit der Schilderungen und die trefflihe Charatterzeihnung 
fehr an. Es ift ohne Frage ein wirkliches Talent, das uns in 
diefen Erzähmgen entgegentritt, cs bedarf aber noch der Turd) 
Bildung, der Reife und der Selbftfritif, um Beibendes zu ihaffen. 
Das Studium großer Vieifter der Erzählungskunit alter und neuer 
Zeit würde dem Verfafjer fchr nüglic) fein, viel mehr als das Nadı- 
ftreben auf den Wegen A. Wilbrandts, dem das Buch gewidmet 
it. Noch eins ift uns in dem Bude aufgefallen: der Heift, der 
in dem Buche weht, ift ganz terreitriidh, nirgends Ipürt man den 
Hand) eines höheren Lebens; un einmal ift jpöttiüch von „paftoraler 
Gottietigfeit“ die Nede. Nun find wir zwar durdaus feine 
Freunde der ungehörigen Ginmifcjung frommer Nedenendungen 
und jalbungsvoller Phrajen in Erzählungen und Romanen, aber 
eine, wenn and) mod) fo leife Andeutung des tiefen Grundes, auf 
dem alles Mienjchendafein ruht, euwarten wir dod) von dem, der 
uns die Jrrgänge des Lebens und die Wedrelfälle der menichlichen 
Scietjole in einer nicht num die Oberfläche berührenden poctiichen 
Darftellung vorzuführen unternimmt. Wir möchten wohl auch 
fragen, ob eine bloß vom Geifte des Jrdiüchen beherrichte Natur 
fo zu Handeln im Stande wäre, mie Fri Hellborn es thut? 
Wir hoffen O. Werbed im nicht allzu ferner Zeit wieder zu be 
geguen, wünfchen aber vor allem, dah er jein Talent reifen lafle 
und nicht durd) rajche Produftion |hädigen möge. H. D. 


























Beilage 


zur 


Baltifchen Monatsschrift. 


Juni 1896, 


Inhalt: Um ein Stüdhen Sammt. Littauihe Cr- 
sählung von Herbert Nivulet (Baronin Gabriele von 
Schlippenbadh)). 

Nunjtbriefe. IN. Von 3. Norden. 
Citteräriihe Streiflidter. Xon H. D. 
Die Vier-tleurvon Transvaal. National 
bymne der Buren. Ueberfegt von Guido Edardt. 


Nachdrnd verboten. 























ek 
„Im ein Stühen Sammt“. 
Yiauiche Erzählung 
Herbert Hionlet. «Baronin Gabriele von Schlippenbad.) 





Nachdem ich mein legles, jurütiicheo Eramen als Nandivat 
nemacht, führte mich mein Schitjal weit fort von der freundlichen 
Ztadt am Embach, ich wurde als Angejtellter beim riedensrichter 
nach dem littanjchen Städtchen N. verichlagen, welches unweit 
Nowno's an der Eifenbahnitation gleichen Nameno liegt. 

Ih fam früh morgens an md fragte, ob eo ein einiger 
maben brauchbares Fuhrwert gäbe, das mich weiter befürdern 
fönnte, denn der Ort meiner Beftimmung lag nicht nahe von der 
Station, vielmehr zwei Werft davon entfernt. Ein littaufches 
Vanernwägelchen mit einem wohlgenährten Braunen fand fi) als 
bald ein und nachdem mein Mianteljad zu dem Nuticher auf den 
Vorderfib gehoben umd ich felbjt auf dem Zad hinter ihm Pat 
genommen, ging co in jchlanfem Trabe dem Städtchen zu. 

Mir, der in Livland groß geworden, fiel die hählide Tracht 
meines Kofelenfero auf. Er trug großfarirte, bunte Beintleider 
aus grobem Stoff, einen hellen Nod aus grauem Wand, der an 
der Taille anschloi, und eine blaue, abgetragene Tuchmüge, um 
den Halo einen gelb und vothen, langen Shawl. Das Gejidht 
des Viannes war ebenfo unjchön, wie jeine Nleidung, Ichlichtes, 
blondes Haar hing ihm bio auf den ragen hinunter, die hellblauen 
Augen und Fnochigen Züge verriethen auf den erjten Blic feine 
Herfunft. Nur vor N. drehte er fi um md fragte mich in 

l 




















„Um ein ZStüdtchen Sammt.” 


einer breiten, unmelodiihen Sprade etwas, wobei er mit dem 
Stiel jeiner Peitiche auf das Städtchen deutete. 

Id) verftand feine Silbe nnd fhüttelte den Nopf, erfundigte 
mich darauf in rufiicher Sprache, was er jagen wollte. Er begriff 
5 und wiederholte num in entjeglichem Nuffücdy noch ein Dial die 
vorhin geitellte Frage, aus der hervorging, dah er willen wollte, 
mo ich abzuiteigen gebenfe. 

„Biebt es ein Gajthans in N.“, lautete meine Erfundigung, 
„dann bringe mich dorthin“. 

Er nichte umd rief ftolg: „Na, Pan, Hotel de (GEurope*. 
Tas Wort war jo entftellt, da ich einige Mühe Hatte co zu 
erfennen. Bei der zweiten Wiedergabe deofelben begriff ich eo erit. 
‚Nun gut, jo bringe mic dorthin“, befahl ich und mit 
Dalsbrechender Eile raifelte mein Fuhrwerf über das holperine 
Stvahenpflafter, dich die noch stille Stadt. Sie bejtand ans 
Holzbänfern md ziemlich ärmlichen Hütten. Ich habe im Kauf 
der Zeit viele Orte und Streden Yittauens fennengelernt, fie 
gleichen fich alle in ihr ichfeit, Unfauberfeit und Einfachheit. 
Weitgedehnt liegen fie da, von Gärten md Nartoffelädern umgeben, 
viele Strahen find ungepilajtert, im Sommer herricht ein wider: 
icher Staub, im Herbft und Frühling fuhhoher Schmug auf 
ihnen. Schweine, Federvich, Hunde, Naten md jerlumpte Ninder 
treiben fich auf ihnen wnher und ftieben auseinander, wenn man 
naht. N. zählt indei; noch zu den beiferen Städtchen deo Landes 
und hat jet ungefähr 10,000 Einwohner, die meijt aus Juden 
bejteben. 

Im 17. Jahrhundert gehörten Schloß und leden den 
Krften Nadziwill; ein herrlicher, alter Part umgiebt das Schlo, 
das in den DVelit des befannten Grafen N. übergegangen it, 
deifen Wittwe co in den Sommermonaten bewohnt. „SNotel de 
V’Enrope”, la id) vor dem Haufe, an dem mein eleganteo Nuhr 
wert nach etwa halbftündiger Fahrt hielt. v hodhtrabende 
Name pahte wenig zu dem Gebäude ımd der jüdiiche Wirth, der 
mir mit friehender Höflichfeit entgegenkam, fah nicht eben cin 
ladend aus. 
err Baraın“, redete er mid) mit tiefen Büclingen an, 
„Zie finden bei mir ein feines Yogis, die Her Offiziern von 









































„Um ein Stücken Sammt." 257 


ber reitenden Artillerie und die Herrin vom Gericht fpeilen oft 
bier. Sind lanter nobele Vtenichen, die etwas davon veritehen, 
Herr Baraun“. (Herr Baron). Er warf fich jtolz in die Bruit. 
Nad) einigem Hin» und Herreden wies man mir ein Zimmer an, 
in dem ich die erjte Nacht in erbittertenm Nampf mit allem mögliden 
Ungeziefer verbradhte; ich 509 co vor das „Hotel de ('Curope* 
in Zukunft zu vermeiden und mir eine Privatwohnung zu miethen. 

Id) gehe über die erfte Zeit meines Aufenthaltes in R. 
hinweg, nur jo viel will ich bemerfen, dah id) mic) eifrig mit 
dem Erlernen der littaufhen Sprache beichäftigte, die mir von 
Augen fein muhte. —— In meinen Vuheftunden jtreifte ih durd) 
das Städtchen umd jeine Umgebung, es Hat mic, immer angezogen, 
Land und Leute Fennen zu lernen, den alten Sagen und 
Traditionen nachzuforichen, deren volkothümliche Yocjie einen 
eigenen Zauber für mich, hat. 

Der Teiche Park ftand eben im bunten Herbjtichmud, ich 
fand ihn überraichend j—hön und gepilegt. 

Gteih in den eriten Tagen fiel mir eine Nirche in R. auf, 
die geichloffen Htand. Bei näherer Erfundigung erfuhr ich, co 
jei eine veformirte Kirche, die Fürtt Nadziwill erbaut, als er mit 
feiner Familie vom Katholizismus zu diefer Neligion übergetreten 
war. Er jelbjt liege mit den Gliedern jeines Haufes einbalfamirt 
im Gewölbe und da die Särge nicht geichlofien fein, fönne man 
die Dedkel leicht abheben und die Todten jehen. 

Eine rajtloje Neugier trieb mid) dorthin und eines Tages 
richtete ich wieder meine Schritte zu dem einfamen Gotteshaufe, 
über dem ein geheimnifjvolles Dumfel für mich zu berricen idhien. 

Die Kirche jteht innerhalb deo Städtdhens, vielleicht 
taufend Schritt vom Ufer des Flußeo Newjajcha entfernt; der Stil 
it Halb gothiih, halb Nenaitiance, fie Hat feinen Glodenthurm; 
derjelbe jteht getvennt nebenbei. Die Kanzel, überhaupt alles 
Holz, ift von Ejden, mit eingelaifenem Golde verziert, die Wände 
find fchlicht weil getündht. Am Ende der Mirche befinden fd) 
große Stühle mit dem Wappen der Fürjten Nadziwill, und 
an der einen Wand Hängt eine Tafel aus Stein, auf der in 
fateinicher Spradie die Einführung der Neformation und die 
Erbauung der Kirche verzeichnet find. Man erzählte mir päter, 

1 











„Um ein Stücdchen Sammt.” 





dah nur noch wenige Neformirte in N. leben und nur einige 
Mat im Jahr ein Prediger hier Gottesdienft abhält. 

Ein alter Plann, der in der Nähe wohnte, folgte mir und 
meinem Führer, er Humpelte an einem tod hinter uns her und 
vedete mid an. 

„Na, Sie bejehen dem Nadziwill feine Kirche, it ein Schönes 
Ting, jhade, daf; hier feine Meffe gelejen wird“. 

„Wann lebte Fürft Nadziwill?” fragte ic. 

„LO, das it lange her, jeher lange“, ermiderte mein Be- 
gleiter, „er wurde am Anfang des fiebjehnten Nahrhunderts er 
ichlagen, jo um das Jahr 1615 herum“, 

2 “ fragte ich „wer hat das gethan ?* 
in Diener, der Anton, der hat cs ihm heimgezahlt, dal; 
ev den Neperglauben annahın“. 

„Es geichah ihm Net“, murmelte der alte Fittauer, „er 
war doch als guter, Eatholifcher Chrift geboren und getauft“. 

Der Alte befreuzigte fh und fuhr ichwashaft fort: „Es 
heißt, feine Verwandten hätten den Anton bejtochen, er war ein 
ftrenger Herr und bei den Feten verhaft, da hat er co abbefommmen“. 

„Sie können den Nadziwill jehen, Herr“, warf nein Kührer 
ein, „er liegt drunten im Gewölbe, die Wunde ift deutlic) zu jehen, 
die ihm tödtete. Allerdings fieht ev etwas braun und verichrumpft 
aus nach mehr als 200 Jahren, ift aber jonit wohlerhalten“. 

um regte fid) meine Neugier erft vecht und id) beichlof, mich 
durch den Augenfchein zu überzeugen, deshalb bat ich den Mann 
mir das Grabgemölbe zu erichliehen. 

Ein tiefer Schauer durdrieielte mich, als ich mit meinen 
beiden Vegleitern die Steinftufen Hinabftieg. Cine dumpfe Luft 
Ihlug uns entgegen, duch ein Fleineo Fenfter fiel dao Tageslicht 
Ühräge hinein. Co genügte Fam, um mid) die Gegenjtände 
erfennen zu laffen. 

In der Mitte ftand deo Fürjten Sarg, mehrere Heine und 
aroße befanden fid) in den Nifchen und Mänden. 

„Das it dem Nadzüpill fein fettes Dans“, fagte mein 
Führer, „wollen Sie ihn jehen 

3 ich dejahte, hob er mit dem alten Yittaner den Dertel 
ab, dann entzimdete er cin Lichtitümpfchen und befejtigte co im 
































„Am ein Stücchen Sammt.“ 259 


dem Leuchter, der zu Hänpten des Todten jtand. Mit leicht 
begreiflihem Grauen ruhten meine Vice auf der Geitalt, die 
lang gejtredt balag. 

Aljo das war der Fürt Nadziwill geweien, diefer To 
friedlich Schlummernde, mit den noch wohlerhattenen Zügen ! 
Die mächtige Hafennafe trat jharf aus dem verwitterten Geficht 
hervor; über die Fahle Stirn lief ein Haffender Spalt, der von 
dem Todesjtreich des eigenen Dieners herrührte, der zum Mord 
gedungen ward. Diefer beimtüdiiche Streich hatte den ftolzen 
Mann darniedergeftredt, wie der Bis die königliche, jtarke Eiche. — 
Die Leiche war mit jchwarziammtenen Nniehofen und jeidenen 
ümpfen befleidet, ein Rod mit reicher Stiderei war von demjelben 
Stoff und derjelben Farbe wie die Beinkleider. Die wachsbleiden 
de (agen auf der Bruft gefaltet. Ein herrlicher tief violetter 
Sammtmantel umbüllte den Todten. Ic) jtand lange in Betrachtung 
der fürftlichen Leiche, die merkwürdig friih und gut erhalten war. 
Das jeltiame Gebahren des alten Littaners weckte mich aus 
meinem Zinnen. Er fauerte auf den Flieien des Gewölbes und 
betrahtete aufmerfiam den Mantel des Fürften, dann hob er ihm 
am Fußende auf und zog etwas heraus. 

„Ss ült alles in Ordnung“, jlüfterte er mir zu. 

„de, Alter, thut Eure Häude weg!“ vief mein Führer rau, 
„laht den Nadziwill in Nuhe*. 

„Zehen Sie, Ban“, juhr der Geicoltene geheimnihvoll fort, 
„bier fehlt ein Stüd Sammt, und hier das zweite”. 

Er bob die Dede ımd zeigte fie mir. In der That, zwei 
Stüde waren aus ihr geicnitten, fie mochten etwa eine halbe 
Elle fang und etwas breiter jein. 

„Wer hat das getan?” fragte ich geinannt. 

„Der Tifip Stanfeitis weil; es, der © Ztanfeitis weil 
5“, ficperte der Yittauer, „ihm hat es die Großmutter erzählt, eo 
it eine alte, alte Gefcichte und alles um ein Stücchen Sammt, 
lieber Pan”, 4 

„Er ift nicht vecht bei Sinnen“, vamte mir mein anderer 
Vegleiter zu. „Na, Alter, was Tut Jbr denn da wieder an?“ 

„Zeht her, das ijt das Demblein, das die fromme Yarbara 
dem Nadziwill heimlich geitit bat,” jagte der Yauer. 




































200 „Am ein Stücchen Sommt.“ 


Er hielt ein grob geftridtes Gewebe in der Hand. 

Der ergürnte Führer nahm es ihm heftig fort und legte cs 
in den Sarg hinein. 

„Schweigt, Dummtopf“, herrichte er ihn an, „helft mir lieber 
den Dedet schliehen. Eo, num fann der Kürjt wieder 
ungejtört ichlafen”. 

Id) trat in die ftille Kirche zurüc. Das Abendroth fiel durch 
die buntgemalten Fenfter, 6 lieh no ein Mat die fchlichte Aus: 
ftattung des reformirten Gotteshaufes vor meinen Augen auflenchten. 
Eine tiefe Schwermuth lag auf der Kanzel, auf dem Altar und 
den Stühlen der fürjtlihen Familie, deren Oberhaupt erichlagen 
drunten ruhte. 

Draußen dumfelte es icon, als id durch das hohe Portal 
ichritt, ih jog gierig die feiiche Herbitluft ein. Mir war jeltiam 
erregt zu Muth, die Majefiät des Todes hatte mich tief erichüttert, 
mir das Wichtige umieres Erdendafeins vor Augen aeführt. 
Meber den Glodenthum zog eine Schaar Nrähen, weich und leife 
fanf die milde, dunfele Nacht, die Erde wie in einen Sammt- 
mantel einhülfend. 

Wie ein Sammtmantel! — — Mir fiel plöglic dev Vorgang 
in der Nirdhe cin, die beiden fehlenden Stüce in dem Leihenichmu 
des Nadziwill, das jeltjame, wollene Hemdlein zu feinen Führen 
und de5 alten Yittauers geheimnihvoll gemurmelte Worte, „um 
ein Stücdchen Samnt“. Was mochten fie wohl bedeuten? 
Wer hatte den Naub begangen, wer das grobe Hemplein 
gearbeitet ? 

Die beiden Andern hatten gleichfalls die Nirdhe verlaften, ich 
drückte dem Führer ein Trinfgeld in die Hand und entlich ihn. 
Tann folgte ich dem alten Banern in feine niedere Hütte, in der 
Abficht von ihm die Gejchichte zu hören, die meine Neugier errent 
hatte. Alle meine Pitten vermodhten ihn nicht, den Schleier zu 
heben, er lachte höhniich und fagte nur: „Veritehe nichts“. 

Dabei blieb er verjtorft. In der That war meine Kenntniß 
der littanichen Sprade damals ned) jo mangelhaft, da; id) eine 
längere Unterhaltung cher beherrfchen Tonnte. ch nahın mir 
daher vor, mei udien weiter fortzujegen und die Freundicaft 
des Ciiip Stanfeitis gu aewinnen. 


















„Um ein Stüdchen Zammt.” 261 


Die num folgenden Wochen benugte ic dazu, die Sprade 
des Volkes mir anzueignen und da id) ichnelle Fortichritte machte, 
veritand ich bald alles, wenn mir jelbjt auch noch oft Worte fehlten, 
um die eigenen Gedanken auszudrüden. Co zog mich häufig zu 
der ftillen Kirche hin, deren verichlofiene Thür jest fetten geöffnet 
wurde, wenn der reformirte Prediger die Heine Gemeinde um 
fich. verfammelte, 

Einjt hatten die Flügel ihres Portales weit offen geftanden, 
die buntgemalten Scheiben hatten ihr Licht auf die allionntäglic, 
ericjeinenden Glieder der fürftlichen Familie geworfen, von dem 
Slodenthurm rief die helle Stimme der Glode weit über Land, 
damals als der Nadziwill noch Vefiger N.’ geweien md den 
Negerglauben angenommen mit feiner Familie. Und mn lag 
er in dem Gewölbe und das Gotteshaus war neichlofen, eine 
düjtere Poelie breitete fih darüber, die Jahre zogen dahin, ihre 
Spur auf den verwitterten Mauern zurüdfaffend! 

Durd) kleine Geld: und Tabadjpenden machte ic den alten 
Yittauer zutraulih; nad und nad erzählte er mir, was id zu 
erfahren tradptete. Ic will hier furz zufammenfafien, was er mir 
mit vielen Abjchweifungen mittheilte und ergänze die Yücten, die 
in deo Halbfindiichen Erzählung fih einfanden. Da die Haupt 
thattahen ihm friich im Gedächtniß erhalten geblieben, werde ich 
woHL den richtigen Jujanmenhang zwildren den einzelnen Begeben- 
heiten ziemlich genau erraten haben. Ich will die einfache Do 
aeihichte, die halb Sage, halb Wirklichfeit jein mag, hier nieder: 
schreiben und um ein Stüdchen Sammt“ benennen. 

„Das Städtchen K. warzun Zeit meiner Großmutter nod) ein 
elendes Ding“, fing Stanfeitis an, „eigentlich nur ein großes Dorf, 
das fern von dem Verfehr der arofien Städte lag und fchwer zu er 
veichen war. Weine Ahne, die Groimutter der meinigen, lebte 
zu der Zeit des Nadziwill um 1620 in N. weldes damals ein 
Fürftenthum war, nebjt Yobti und Datnoff, zwei Beligungen, die 
25 Werft entfernt liegen. Wenn der Nadziwill zu den Jagden 
jeine vornehmen Gäfte empfing, dann herrihte buntes Leben im 
Sleden, die reichen Navaliere zogen mit Nojlen und Gefolge auf's 
Schloß, fchöne Damen begleiteten fie und das Hifthorn tönte in 
den Wäldern, dev Schwarm der jürtlihen freunde und Jagd: 

















262 „Um ein Stüdcden Zammt.” 





genoffen vitt durch die Strafen, von den Nauen bewundert 
und begafit. 

Meine Ayne lebte mit ihrer alten Wiutter etwas außerhalb 
N.’5, in einem armjeligen Kehmbüttcien. Die beiden Frauen ernährten 
fich fünmerlich aber vehtichaften, und während die ältere Frau 
ipann und webte, jtreifte ihre Tochter durch Wald umd Feld, 
janmelte Beeren und Kräuter, Pilze md gefallenes Holz. Aus 
den Kräutern kochte die Martha Jurkichuh heilträftige Arzneien 
und Zalben, welche die Bauern ihr abfanften. Die Beeren und 
File brachte Yarbara, jo hieh meine Ahne, in den leden zu 
den reihen Yohgerbern, von denen um bieje Zeit gegen dreihundert 
in dem Xlecfen lebten. Das Yeder wurde jpäter nach Deutjchland 
aebradht und dort für fchweres Geld eingetanfcht. 

Zie joll jepe Hübih geweien fein, die Barbara, und fromm 
und arbeitfam war jie aud. Neben dem Häuschen der beiden 
armen Frauen ag die Wiefe des wohlhabenden Wirthes Peter 
Aufchkinis. Zein Sohn war der Spielgefährte der Heinen Yittanerin, 
damals, als fie noch die Sänje des Nachbarn hütete. Oft ichlich 
der quitberzige zwölfjährige Junge zu dem acbtjährigen Mädchen 
hinaus, das hungrig und frierend ihren Dienjt verrichtete, er jtedte 
ihr zuweilen einen Apfel oder ein Stück Brod in die Hand oder 
jagte fh mit ihr umher. Cr qnälte fie aber aud), rih fie an 
den blonden Zöpjen oder jhlug fie, wenn fie ihm nicht folgte und 
die ihr anvertrauten Gänfe nicht im Stid) lich, um mit ihm zu 
ipiefen. Tropdem waren fie die beiten Freunde. 

Als Barbara dreizehn Jahre zählte, jtarb ihre Diutter. Die 
Waile zog fort, weit nad dem Wilnajchen Gouvernement und 
lange hörte man nichts von ihr im heimathlichen Dorf. — Der 
Nadziwill erbaute ingwüichen die Kirche und trat mit großem Komp 
zur reformirten Neligton über, Sein Diener, der Anton erichlug 
ihn umd er wurde in dem Gewölbe beigeieht, nachdem er funjt- 
voll einbaliamirt war. N. war wenig verändert, alo meine Ahne 
nad fieben Jahren den Ort wieder jah. Sie fniete am Grabe 
ihrer Eltern und betete andähtig ihren Noienkranz, dann ging 
fie ihr Häuschen aujjuden. Zie fand co nicht mehr, der Nachbar, 
Peter Aujchfinis, Hatte eo niedergeriiien, als er das Heine Grund: 
jtüd faujte. 























„Um ein Stücchen Sammt.“ 3 





Der Littauer Hegt eine zähe Anhänglichfeit für die Scholle, 
die ihm geboren umd groß gezogen hat, und fo wünichte Yarbara 
jehnlichit in N. einen Dienft zu finden. Sie verdingte fih bei 
einem Wirth in der nädjjten Nähe des Xledens, dejien todtfranfes 
Weib der Pilege bedurfte. Die drei Fleinen Kinder des Ehepaares 
bingen bald mit Liebe an der nenen Diagd, die fie freundlich 
wartete und den Hausitand trefflich beforgte. 

Oft hörte fie von ihrem früheren Kindheitsgeipielen, dent 
“Beter Aujchfinis, iprechen. Er war jeit dem Tode feines Vaters 
Herr in dem Gefinde, das er won dem Füriten AMadiflaw 
adziwill in Erbpacht hatte. Der Sohn deo erichlagenen Nadgiwill 
war ein gütiger Herr, der feine Yeibeigenen liebte und Gutes 
that. Er lebte fait immer in Warihau md fan jelten nad N.; 
fürzlih Hatte er fi) mit Anın von Treiden verlobt, einer Yiv 
länderin von altem Adel. 

Barbara erfuhr, da Peter auf Freierofühen jtand; es bie, 
daher zwiichen zwei jungen Wrädcen ihwanfte, der Tochter des 
reichen Lohgerbers Michael Viedigfi, der Vierenza, und der Hübichen 
Jofefa, deren Vater ein freier Mann war und das Amt eines 
Neltejten in X. vertrat. Veide. jowohl Vierenza, wie and) Jofefa 
wollten dem jiattlichen Yurjcen wohl und wetteiferten darin, wer 
von ihnen fich am fchönften jhmücten werde, um jeine Aufmertjamfeit 
anf fi zu ziehen, Peter war jehr wetterwendiich in feiner Gunft, 
bald zeichnete er Jolefn beim Tanz im Nruge aus, bald reichte 
Vierenza das Meihmaffer beim Ausgang aus der Nirdhe und 
geleitete fie nad) Hauie. Die Nebenbuhlerinnen Halten fich ehrlich 
und feine lieh der Andern ein gutes Haar. 

Bisher hatte Yarbara Peter Aujhfinis nur von Meitem 
aeleben; fie war jo vielbefchäftigt, dad fie nicht Zeit hatte, ih an 
den Zuiammenfünften der Jugend md an ihren Vergnügungen 
zu beteiligen. 

„ten Abend, Barbara“, jagte eine männliche Stimme, als 
fie mit den drei fleinen Mindern des Yauern auf der MWieje 
hinter dem Daufe war md eben im Begriff fand die Kühe 
zu melfen. 

Zie blifte auf und trat an den Zaun aus Straucgejlecht, 
der das Anweien ihres Brodherrn von dem des Nachbarn trennte. 




















264 „Um ein Stücchen Samımt.” 


Peter jtand dort und jah zu ihr hinüber, die furze Pfeife im 
Munde, die Hände in den Nodtajchen. 

„Büt alio wieder nach N. zurücgefommen“, fagte er, „wo 
warjt du denn fo lange?” 

Sie deutete mit der Hand nad) rechts. 
rüben im Wilnajchen“, gab fie zur Antwort. 
Die Unterhaltung ftodte, der Burice tauchte gemächlic, und 
fie Hob das jüngjte Nindehen auf den Arm, das zu ihr hinanjtrebte, 
einen fläglich bittenden Laut ausftofiend. 

„Daft du 86 gut bei dem Meichninfus?" fragte er in 
jeiner furzen Art. 

Barbara nidte. 

„Die Bänerin {ft Franf“, erwiederte fie, „mic dauern die 
drei feinen Rinder“. 

„Er fann did) heivathen, wenn fie tobt ift“, verjebte 
Reter troden. 

"Tas fönnte ichon jein“, aab fie ebenjo zurüd. 
? der Kopf des jungen Yittauers fuhr heftig auf. 

„Bit wohl deshalb bei ihm?” Höhnte er, „na, ich hab’ 
nichts dagegen“. 

Er wandte fi ab und Barbara ging wieder an ihre Arbeit. 
Zie jang dabei leife ein altes, littaujches Volfolied : 

„Sing auf der Wieje, Blumen zu pflüden, 

„Nam da mein Liebfter und kannte mich nicht. 

„Wollte den Etrauf; wilder Blüthen ihm reichen, 

„Er aber blidte mir fremd in’s Geficht 

„Sing am den Fluh, m Wafler zu i 

„Rufet der boshafte Nir mir dort zu: 

„Yiebe und Treue find eitele Worte, 

„Nom zu mir nieder, hier findet Tu Ruh!“ 


E ” 


Am näcjten Sonntag ging Barbara zur Meile und fniete 
wieder in der fehlichten Kirche, wo fie jo oft als Kind neben ihrer 
Mutter gebetet hatte. 

Sie blieb nicht mit den Lebrigen nad Schluß des Gottes 
dienftes vor der Nirche jtehen, um ji die Tiihe zu betradıten, 























„Um ein Ztüdchen Sammt.” 


auf denen Nofenkränze, Heiligenbilder, Kruzifire und Weihmahler- 
feilelhen feilgeboten wurden. Der Bauer trieb zur Eile, jeine 
Frau war fränfer geworden in ben leßten Tagen und Barbara 
jeden Augenblick nöthig. 

„Die werden gewiß ein Paar, wenn die Meichninkus erit 
eftorben ift”, bie es überall; „Hübid) ift die Dirne und fleihig 
ud geichickt“, 

„Aber biutarın“, warf Jofefa ipig darein, „fie kann froh 
jein, wenn fie fid) in jold” warmes Neit jeßt”. 

„50, fie verjteht mehr als du“, höhnte Vierenza giftig, „du 
vugeft dich nur; alle Sonntage ein neues, feidenes Kopftud). 
Aber ich fage dir, ich werde dich doch noch übertreffen, zum 
Frohnfeihnamgfeit, da it die große Proeifion um die Kirche, 
na, ich will nichts weiter jagen“. 

„Ton nur nicht jo vornehm!* vief Iofefa, „man weih, dai 
«5 deinem Vater jeit einiger Zeit nicht befonders gut gebt; id) 
möchte willen, wo du immer die jhönen Sachen herbefommit?“ 

Beide Mädchen jahen fich gereizt an. 

Peter jtand dabei und jdhmunzelte. Umvillfürlich dadyte er 
an ein anderes Geficht, das janft und freundlich zu dm aufgeichaut. 
Dort drüben auf der Miefe des Meichninfus hatte fie geftanden, 
ein fleines Mind in den Armen. „Wie die Madonna am 
Hochaltar“, meinte er. Heute begleitete er feine feiner beiden 
Verehrerinnen, er nicte ihnen frz zu und trat an einen Tiid. 
Dort wählte er lange unter den umberliegenden Gegenjtänden, 
kaufte etwas und barg es in der weiten Taiche feines Rodeo. 

Am Nachmittag tand er wieder am Zaum und wartete auf 
Barbara, aber fie fam nicht nnd enttäuicht ging er in den Krug, 
trank mehr, als gut war und iprad) febhaft mit Jofefa, Vierenza 
garnicht beachtend, welche fidh vergeblid) mühte jeine Aufmerkjamkeit 
zu feileln, 

Auch an den folgenden Tagen fehlte Yarbara beim Melten der 
Mühe. Die Fran des Meihnintus lag im Sterben, am Donnerfiag 
fündete die grelle Stimme des Todtenglöcleins ihr Ableben. 

Bei der Beerdigung fah Peter die Seimlichgeliebte wieder. 
ie bediente die Gäfte, die nadı der Zitte des Yandeo veiclic) 
bewirthet wurden. 














266 „Am ein Stücdchen Sammt.” 


„Sie Aut Äcon, als jei fie hier die Hausfrau“, Haticten 
die alten Meiber, „und dad (egt die Martha Veihnintus mod 
in ihrem Sarge drüben in der Kammer“. 

Peter hörte cs und ergrimmte innerlich. Warum? — Er 
fragte eo fh. Was ging ihn die arme Yarbara an. Sie jhien 
ihm gar nicht zu beachten und ein Wal, als cr fic anredete, that 
fie, als 0b fie eo nicht hörte. Am andern Morgen iprad)- Peter 
fie aber doc). 

Diefes Mal trafen fie ih am Fluß, wo die Yittauerin 
Wälhe ipülte. Er zog mit feinem Piluge bedächtig die Furche 
im Ader zu Ende, dam trat er auf fie ju. 

„Da“, jagte er, „das hab’ ich dir gefauft, Barbara”. 

Er hielt ihr einen Heinen Gegenjtand hin. Cs war eins 
jener bunten Bildchen, wie die Bauern fie gern haben und jtellte 
die Heilige Yarbara vor. 

„Far mich!“ rief fie erfreut, „o, Peter wie gut du bifl”. 

Sie wilhte ihre nafe Hand ab und reichte fie ihm. 

„Ich danfe dir, mir hat nod) nie Jemand etwas geichenft”. 

„Ich möchte bald eine Frau nehmen“, jagte Peter bepächtig, 
welche meinft du joll id) wählen, die Jofefa oder die Lierenza?“ 

Die Finger des Mäddens löften fid) aus denen des Burchen. 

„Die, welde du fiebjt“, erwiderte fie cinfad). 

Er tadte, „das ijt Nebenfadhe, die welche am veicjiten üt, 
ich“. 

Sie jdüttelte den Nopf. 

„Du dent nicht jo? um, wirft Du den Mejchninfus aud) 
micht wählen, wenn du ihn nicht mai?” fragte er lauernd. 

„ein“, Fam 06 über ihre Lippen, dann jagte fie haftig : 

„Dh mu in's Haus, die Ninder rufen gewil; idon nad) 
ihrer Morgenfuppe*. 

Eitig verfhwand fie hinter dem Weidengebüfc), Peter fand und 
jah ihr nad. Der Wind trug das alte Volfslied zu ihm hinüber: 

„Bing auf der Wicje, Blumen zu pflüden“ ... 

Er faufchte dem immer weiter verhallenden Gefang. Bei 
der Stvophe: „Liebe md Treue find eitele Worte”, jchlug er 
bejtig mit der Zauft af einen umgejtürzten Yaum und vief: 
„Und ich werde did) dod) nod) heirather, Barbara Jurtihuj!” — 











meine 




















„Am ein Stüdchen Sammt.“ 


Der junge Fürjt Radzivill war nad N. gefommen mit 
feiner jhönen Braut. Die veformirte Kirche wurde gereinigt und 
geihmüdt, denn jeine Hochzeit jollte bald gefeiert werden. 

Eines Abends ging Barbara an der Nirche vorbei. Die Heine 
Thür, die zu der Sakriftei führte, fand geöfinet und fie jchlüpfte 
hinein. Sie wollte das Gewölbe fehen, in dem der erichlagene 
Nadziwill lag. Der Aberglaube des Volkes behauptete, er gehe 
als Seift um, wenn eo wieder Vollmond fei und der Tag feines 
Todes fid) nahe. Es war jet September, und Ende des Monates 
war es gewefen, als fein Diener ihn mordete. Unbenerft gelangte die 
Littauerin hinein. Xaft ichrie fie laut auf, denn der Sarg jtand 
offen da. Kürft Aladislam wünjchte, dal; co To jei, bio er ver 
mählt worden. Als fromme Natholifin verabicheute fie den Neker, 
als gute Chriftin aber Iniete fie nieder und betete ein Paternofter 
v den Todten. - - Umd nocd) etwas Anderes, Pi liches bewegte 
ihre Pippen: das heihe Flehen, die inbrünfiige Bitte, fie mit Peter 
Anfchkinis zu nigen, denn die Liebe zu dem Gefpielen ihrer 
Jugend war mächtig in ihrem Herzen erwacht. Möblid) fuhr fie 
heftig auf, - Schritte mäherten fi dem Grabgewölbe. — -- 
Sie ducte fd) Ängitlih hinter den Sarg der verftorbenen Tochter 
deo Fürften, der im SHintergrunde ftand. Die nur leicht angelehnte 
Thür öffnete fih, ein Mädchen trat hinei es war Jofefa. 
Schen blidte fie fih um, dann büctte fie fich über des Nadziwill 
Leiche -— und, - Barbara hätte fajt aufgeichrieen, als fie 
fah, was die Yittauerin that. 

Sir Hatte elwas Vlanfes in der Hand und fhnitt ein Stüct 
Zammt aus dem Mantel deo Ericlagenen. 

Schnell entfernte fie ih alodann mit ihrem Naube, 
Barbara war wie gefähmt, fie Fonnte Fein einziges Glied bewegen 
und zitterte am ganzen Nörper; jtill fauerte jie am Voden und 
wagte nicht aufzuitehen. Wie lange mochte diefer Zuftand gedauert 
haben? Waren es Dinuten, waren es Stunden? 

Zulegt ermannte fie fid) und wollte fort, — fort von dem 
Ort, wo fie jo Schredliches hatte jchauen mühlen. Tod da, 
abermals fhlich es behutjam herbei, wieder ging die Thür: eine 
zweite weibliche Geftalt zeigte fid). 




































268 „Um ein Stücchen Sammt.” 


War co die Diebin Jolefa, die wiederfehrte, von Gewillens: 
n gepeinigt? Brachte fie ihren Naub zurüd, das entwendete 
Stüihen Sammt? s 

Nein, fie war € nicht, diefeo Dal war co Vierena. — — 
Yarbara glaubte zu träumen, als fi genau derjelbe Torgang 
wiederholte und ein zweites Süd Sammt herausgeihnitten 
minde, — — — 

As jie wieder allein war, erhob fie fih. Sie büdte fid) und 
jah, da zwei ziemlich gleihe Stellen in dem Mantel des Habzimill 
fehlten. Sorglich ordnete jie die ichweren Falten, jo da man 
den Frevel nicht fab. 

„Neemer Fürft“, dachte das fromme Mädchen, „man hat 
dich betohlen, ich will dir als Cühne ein wolleneo Hemdlein 
Äriden und es Dir in deinen Sarg legen, aber feiner lebenden 
Seele will ich eo erzählen, eo it zu entieglid I" 
befrenjigte ih und eilte hinaus, von abergläubiicher 
Furcht geichüttelt, denn eo war ihr, alo verfolge fie der Todte, 
defen Cigenthum geichändet worden war. 

Der Diebftahl wurde nicht bemerkt, danf der Kürforge 
Yarbara's. Die Hochzeit des jungen Kadziwill wırde glänzend 
gefeiert und als dao Paar fpäter am Zarge des Vaters fnicte, 
ahnte cs nicht, was hier vor einigen Tagen gefchehen war. 

Yarbara war dagegen Tag und Nacht mit dieem Gedanfen 
beichäftigt. Sie fand feine Auhe, bis fie das dem Todten ver 
iprodpene Hemblein beendet, und da fie wenig freie Zeit Hatte, jai; 
fie des Nachts in ihrer Nammer und arbeitete vajtloo, mit fliegenden 
Händen und Elopfenden Yulien. Der volle Viond dien heil zu 
ihr hinein und fie blicte dazwiidhen furchtiam hinaus. Nam der 
Radziwill nicht dahergeichritten, Hopfte er nicht an ihr Kenjter, 
forderte er fie nicht auf, alo Anklägerin aufzutreten, ihm Hecht 
zu Ihaften, die Schuldigen anzugeben? 

„Dir fichlt Frank ano, Varbara”, jagte der Miltwer, 
„aubeiteit Du nicht zu viel?“ 

Und als fie verneinte, fuhr er fort: „Um Michaelis 
ein halbes Jahr, daf die Yänerin todt it, mas meinft du, willt 
dur mich dann nehmen? die Ninder brauchen eine Mutter und 
das Haus eine Frau“. 




















„Um ein Stüdchen Sammt.“ 269 


Nicht jet, 6 it noch zu feih“, ftotterte fie’ verlegen, 
dann eilte fie davon. 

Sie jtand wieder auf der Wieje und begoh das Yinnen, das 
zur Vleiche gelegt war. - dr Nopf i—hmerzte, die Glieder waren 
ihr fchwer wie Blei, und das Herz erjt vet, das lag ihr wie 
ein Stein in der Bruft, denn es hieß, dah Peter Aufchfinis fc 
mm bald mit einer jeiner Verehrerinnen verloben werde. Yarbara 
wollte dann fort, N. verlajfen, einen Siem weit von dem geliebten 
Geburtsort juden, -- denn nz 
ol ich dir Waifer ans dem zu holen ?" unterbrad) 
mme ihre traurigen Gebanfen. 

e wurde glühend rot und jagte Murz: „Nann’s ja aud) 
jelber beforgen, Bauer“. 

„2a, fiehit nicht zum Bejten aus“, brummte ev, „gieb nur her!“ 

Er rih ihre fait den Cimer ans der Dand, füllte ihn am 
nahen Xluf und ftellte ihn neben fie, dann fah er zu, wie fie das 
derbe Gewebe begof. 

„Warum Lommt du nie zum Nruge wie die anderen Mädchen, 
bift wohl zu fein dazu, he?“ 

„Was joll ic) dort?” gab fie zurüc, „willft du mit mir tanzen?” 

„a. - - Sonntag wird's had) hergeben, alle die Radıbarn 
fommen zum Frohnleihnamefeite nach N." 
„Much die Jofefa und die Vierenza werden wohl bei der 
Prozeifion zugegen fein? Die böfen Dirnen, die* 

„Bift wohl eiferfüchtig?” Lachte er. 

Barbara erbleichte, fait wäre ihr das fireng gehütete Ge: 


















eine 

















„Zind ein Paar Mädchen alle beide” verfepte 
Peter, „welche meinft du q bejier?"  - „Die Jojefa wahr: 
icheinlic, die Hat es allen Burfchen in N. angethan“. 
ein, die nicht“. 

„Zo üft eo Vierenja“, fam cs fait unhörbar über Yarbaras 
Lippen. 

„Nein, and) die meine ich nicht. Weift du es denn nicht?“ 

Er fanerte neben ihr und wollte den Arm um fie legen, 
da jtürmten die beiden Buben des Mefchninfus über die Wiele, 
nad) ihrer Pilegerin rufend. 








270 „Um ein Ztüddien Zammt." 


Sie taujchten nur einen flüchtigen Häntetind, che die 
Knaben fie erreichten. 

„io Sonntag“, jagte Peter beveutungsvolt und die junge 
Yittanerin nidte, 

„Wie lege ich dem Nadziwill das Hemdlein in feinen Sarg?“ 
dachte fie und arbeitete eifrig Nacıt für Nacht an dem frommen 
Yiebeswert, obgleich; fie fh ichr Trank fühlte. 

Die Frohnleihnameprogeiiien fand itatt, Yarbara folgte 
ihr andächtig. Sie ihaute vergeblid) nad) den beiden Kivalinnen 
um Peters Gunjt aus, erblidte fie aber nicht in der Menfchenmenge. 

An Nachmittage zog ie ihren Sonntagsitaat an, den groß 
farivten, faltigen Mod der Weiber ihres Stammes, die derben 
Lederichuhe und die heilgraue Jade aus felbitgewebten Wand. 
Zie betrachtete Fopfichüttelnd die Einfaiung derfelben aus ver 
Ächoffenem Sammt, aud) das Nopftuch beitand nur aus einem 
einfachen, wollenen, grohgeblumten Stoff. 

„Wird Peter mit mir tanzen, wird er jid meiner nicht 
ichämen“, dachte fie, „ich bin To äumtich gekleidet”. 

Sie fühlte fich eigentlich vecht unwohl, hatte fie doch die ganze 
Nacht an dem Hemde gearbeitet; mun war co fertig und lag in 
dem roll und blau bemalten KHolzfaften, in dem fie ihre geringe 
Habe barg. Sie preßte die Hand an die hämmernde Schläfe, 
der Nopf brannte, ein Schwindel padte fie, fait bemuhtlos Ichnte 
fie einen Augenblid gegen den Pfoiten ihres Vetteo. 

- Xm Nruge auiefte bereits die Fiedel des lahmen Stat 
und der Va, den der Schmied No. jpielte, brummte darein, ala 
Yarbara in den Nrug trat. Duo erjte, große Zummer war mit 
Bauern gefüllt, die vaudend und trinfend anf den langen Bänfen 
an den Wänden jahen. Ein dider Tabadoqualın jhlug der Ein 
fretenden entgegen und raubte ihr den Ahem. 

„Ob Peter schon da ift?“ dachte fie und jepte fd beicheiden 
in eine Ede, „und ob Noiefa und Vierenza fommen werden?“ 
Zie hob die Augen und fah wie beide Drädchen ans dem Neben 
zimmer famen, fie waren in heftigitem Wortweciel. 

„Beide waren jehr gepugt und obgleich fie die Landeoübliche 
Aleidung trugen, war diejelbe aus feineren Stoffen. Ein großes, 














„Um ein Stüdhen Sammt.” 271 


buntieidenes Tuch lag um ihre Schultern und die Jade, — die 
Iade " 

Yarbara jlarrte mit weit aufgeriffenen Nugen hin. Das 
alio war der Zweck des Naubes an dem Nadziwill. Mit einem 
Streifen des föftlichen, violetten Sammt waren fowohl Xofefa's 
wie auch Vierenza’s Sonntagsjadte bejegt. 

„Du bildeft Dir wohl ein, dah du heute alle Möpfe ver- 
drehen wirft“, Rreiichte Jofefa, auf ihre Feindin eindringenb, 
„barum hajt du dich jo aufgedonnert“. 

„Mein Vater fann 6“, gab Vierenza giftig zurüc, „während 
man bei dir jtaunt, wo dei at herfommt 

Peter jtand dabei und hörte phlegmatiich zu. Seine Augen 
ierten juchend umher, endlich fand er YBarbara und jehritt auf 
die dumfele Ede zu, in der fie fai. 

Die Streitenden jahen ihm verblüfft nach, folgten aber doc) 
der Aufrorderung zweier jungen Vurjhen, die mit ihnen tanzen 
wollten. 

Als fie bei Barbara vorbeifamen, ertönte ein jhriller Schrei: 
„ber Radziwill, der Nadziwill! Sie haben den Sammt von feinem 
Viantel geftohlen, ich fah es. Jept tanzt ex hinter ihnen her und 
will fie erdrofieln, da —— er tredt den Arm nad) ihnen aus, 
er padt fie am Salie, — o weht o weh!“ — 

Alle bitten voll Entiegen zu der Kufenden hinüber, die 
bemufitlos zufammenbrad. Die Mufit verftummte, die Menichen 
drängten ih herzu, Peter Hob Barbara auf die Arme und trug 
fie in fein Haus, das ganz nahe lag; die beiden Schuldigen aber 
ftanden bleid) und zitternd da und jahen wie das böfe Gewillen 
jelbjt aus. 

Und jest fiel es den Bauern auf, wie föltlih die Borte an 
den Jaden der Mädchen war. Zolden Sammt gab 5 weit und 
breit nicht, das war ächter Fürftenjammt, wie ihn der Nadzünill 
alo Leicenihmud trug. -- Schnell liefen einige neugierig jur 
Nirhe und unterjuchten den Mantel des Todten, es fehlten 
richtig zwei Stüde darane. Da wurden die beiden Diebinnen 
eingefperrt und der junge Fürft A adiolam von dem jeltfamen 
Vorfall unterrichtet. Barbaras Fieberreden jdilderten den Dergang 
genau, fie bat immer wieder, das von ihr geitichte Hemdlein dem 

u 

















272 „Um ein Stüdchen Samt.“ 


Nadziwill in den Sarg zu legen, alo Erjas für den Naub, der 
an ihm begangen war. 

Dan fand Jofefa in ihrem Nerfer erhängt, ba jagten bie 
aberglänbiichen Yittaner: „das hat der Geift des Erichlagenen 
gethan, er hat fi gerädht.” 

Noch ichlimmer erging «6 Xierenza. Die Angit vor der 
harten Strafe zerrüttete ihren Geift, fie war wahnfinnig geworden. 

Das Hemdlein der frommen Yarbara hat der junge Fürjt 
eigenhändig in des Laters Sarg gelegt, dort Fönnt Ahr eo nod 
heutigen Tages jeben, Ichloß der Yittauer, co liegt zu feinen 
hühen. - Der Peter Auichlinio heirathete Yarbara Surtihuh, 
die reichlich von der Nadzuwillichen Familie ausgejteuert wurde 
und das Gefinde geichenft erhielt. So lautet die wunderbare Ge- 
ihichte, fieber Pan“. 

Ih dankte ihm umd Habe mich jnäter überzeugt, daß der 
frommen Barbara Yiebeswert in dem Zarge liegt. Ich betrachtete 
co voller Intereie, deogleichen die beiden fehlenden Yüden in dem 
viofetten Mantel. „Um ein Ztüdden Zammt“, hatten Die beiden 
Mädchen jich vergangen, war Yarbara reich und angeiehen qe 
worden. Was Wahrheit, ao Dichtung fein mag, wer Tann es 
fagen? 

Die alte, tille Wire fteht da im Wechjel der Jahre. Es 
beißt, daß fie dem orthodoren Nultus geöfinet werden joll. Der 
Aodziwill vuht in feinen Gewölbe von feinem bewegten Yeben 
aus. nd die Wolfen eilen über das Dach des von ihm erbauten 
Hotteshaufes, die Zonne spiegelt fih in den bunten enitern, 
Mond und chen darüber hin, wenn die Nacht friedlich 
über die jehlunmmernde Erde niederfinft. 























Annibriefe. 


IX. 

Nicht blof die jebigen „ältejten Leute“, jondern aud die 
demnächit darauf Anjprud) erhebenden Yewohner der dentichen 
Heihohauptitadt erinnern fid) oder werden jid) erinnern Fönnen, je 
eine derartige erite Maihälfte ertebt zu haben. Jene nicht, weil 
hier zur Abwechjelung einmal dieje erften Viaiwochen einem nordijchen 
Oktober glihen; dieje nicht — num diefe deswegen nicht, weil jic, 
wofern Stand und Veruf dazu Anlap gab, faum jemalo jonjt 
joviel Fejt: und Zwedeifen mitgemacht, joviel jtolze jelbjtbewunte 
Neden und begeifterte Trinfiprüce gehört, gelejen, vielleicht and) 
jelbjt gehalten Haben. 

Ein eifenfeiter Magen, ein nervenftarfer Nopf, eine geihmeidige 
Kehle gehörten dazu, um das auszuhalten, für alle diejenigen, die 
Alles mitmachen muhten. 

Am 1. Mai fing eo an mit der Gröffnung der unfertigen 
Gewerbe: Ausjtellung, am 2. Mai erfolgte die Fortjegung mit der 
200jährigen Jubelfeier der Akademie der Nünfte und am 3. Mai 
war es mit der Eröffnung der großen Internationalen Ausftellung 
noch nicht zu Ende. Vei Leibe nicht. Denn jedes einzelne diejer 
Daten war mir der Ansgangspunft einer ganzen Neihe von 
Selten in den betreffenden „Interefjenten-streifen“, wie der herrliche 
Berliner Ausdrud hierfür lautet. 














I 


a7 Runftbriefe. 


Dei allen drei Gelegenheiten war auch Haifer Wilhelm IT. 
dabei. Pit ganzem Herzen vielleicht nur am 2. Mai. MWenigfiens 
ergrüif er felbjt das Wort mur an diefem Tage. Man fonnte fo 
drei Tage nad) der Neihe einen guten Theil der Hofgelellihaft 
und der Höchiten Negierungsbeamten bejternt amd goldgeitict bei 
einander jehen: unter ber riefigen, ungemein jtilvoll ausgeitatteten 
Niejenkuppel des Haupt-Induftriegebäudes im Treptower Aus 
jtellungopark; im herrlich geichmüchten Nundjaal des Alten Mu 
feums; im prunfvollen Ehrenjaal des Nuntpalajteo beim Lehrter 
Bahnbof 

Natürlich fällt es mir nicht ein, Jhnen alle dieie Feitlichfeiten 
zu Ächildern. Ich Fann wohl jagen — Gott jei Dank it das 
nicht meine Aufgabe. Wahriceinlich haben Zie aud icon bis 
zum Ueberdruß davon geleien . \ 


* * 
* 








er bei der Feier, oder beim Gegenjtand der Feier vom 
2. Mai, dem Jubiläum derKönigliden Alademie 
der Künste md der bei ihr beftehenden Hocicdhule für bildende 
Künite ein Jubiläum, das genau eine Woche hindurd gefeiert 
wurde muß ih fopufagen ex officio verweilen. Gern gäbe 
ic) Ihnen einen furzen biftoricen Ueberblid über die Entwicelung 
diejer Afademie, von den Tagen des pradtlicbenden Königs 
Friedrich I. an, der, dem Vorbilde des Noi Soleil in Verjailles 
folgend, für jeine Hnuptitadt eine Nunjtafademie für nothwendig 
eradjtete, bis in umfere Tage hinein, wo Kaifer Wilhelm II. 
foeben in feiner Keitanfprache auf ihre Funjterzieheriiche Bedeutung 
binwies und mit großem Nachdruc gegen die modernen Richtungen 
Stellung nahm. Yedoch das würde mid) heute viel zu 
ühren. 

Kar joviel: glüclihe Tage hat die zwei Iabrhunderte alte 
Afademie im Ganzen nme herzlich wenige geichen: im vorigen 
Jahrhundert eigentlich nur unter ihrem Stifter und allenfalls 
wieder erit in dem festen Nahrzehnt; in diefem vorübergehend 
unter Kriedricd) Wilyeln IM. und dann feit 20 Jahren, wo fie 
im %. 1875 einer gründlichen Neorganifation unterworfen wurde 
und an die Zpige der Dochichule als Tireftor Anton v. Werner 

















Kunji 





trat. Und doch erhielt fie fi und doch jtanden mitunter Männer 
an ihrer Spipe, wie Johann Gottfried Schadom md Daniel 
Chodowiedi .... Eine wirklich führende und leitende Nolle hat 
fie allerdings nur fehe felten geipielt. Darin ging es ihr nicht 
anders, als den meiften Afademieen. Die Nunjt will Freiheit zur 
vollen Entwicelung und aucd das liberaljte afademiihe Statut 
fann fie nur behindern. Much heute noch vollzieht fich in Preußen, 
vollzieht Fih im ganzen dentichen Reich das mafigebendjte fünit- 
lerifche eben außerhalb der Afademieen und ihrer reife, wenngleich 
erite Kräfte für das MWirfen an ihmen fat überall gewonnen 
werben fonnten. 

Faljch wäre es jedoch, wollte man deswegen die Bedeutung 
der Berliner Afademie herabjegen, ihre Yeiltungen unteridägen. 
Nicht die vielen Anipraden und Neden, die wir während der 
Feittage vernommen, wären dafür maßgebend, jondern das find 
Ausjtellungen, die aus diefem Anlaß veranftaltet werden. 

* N * 

Nicht nur Feite zu feiern galt co für die ehrmürdige Nubi 
larin, deren Gebnrtstag nad) hinter dem des Nönigreids Prenfen 
zurüdliegt und deren Gedenffeier jegt in datielbe Nahr fiel, wo 
das meugeeinte Deutiche Neih das Vierteljahrhundert jeines 
Bejtehens feftlih begehen Fonnte. Sie wollte eben gleichzeitig 
aud zeigen, was fie im diefem langen Zeitraum geleijtet und 
wirkt hat. And wenn wir in diefen Tagen viel von ihrer 
äußeren GSejchichte gehört und geleien haben -— den Alluftrationen 
zu ihrer inneren Geicichte begennen wir auf zwei Ausftellungen: 
auf der von Werfen früherer und jegiger Yehrer und Schüler der 
Atademijchen Hocichule in dem Gebäude der K. Akademie U. d. 
Kinden und in der Siftoriiden Abtbeilung der 
Internationalen Kunjtansitellung am  Xehrter 
Yahnbof. Zwei ftattliche Ausjtellungen: 14 Säle nimmt jene ein, 
dieje und — ungerechnet die zahlreichen Klaifen-Atelierarbeiten — 
begegnen wir auf der einen über 600, über 400 Natalognummern 
auf der anderen. 

Dah jolche Ausjtellungen jehr danfenswerth, weil umgemein 
fehrreidh find, braucht wohl nicht erit nadjgewiejen zu werden. 





















276 Numitbriefe. 


Zu bedauern ift blof, dal fie nicht beide zu einer einzigen großen 
zufammengegogen wurden. Die Theilung ift überhaupt nicht ganz 
veritändlich. Hüben wie drüben giebts Arbeiten aus drei Jahr 
hunderten, finden wir diefelben Namen, fünnen wir den gleichen 
Entwidelungsgang verfolgen. Nur daß im Numjıpalajt am Lehrter 
Bahnhof der Sejammteindrud mehr ein jolcher der Neprült 
it, in dem alten Afademiebau dagegen einen Charakter des Antimen 
trägt, daf man bier mitunter einen Bid hinter die Nulifien thun 
fann. gu bedauern ijt ferner, daii wenn man jdon einen hito- 
rüchen Neberbfid bieten wollte, nicht jyiiematiicher in der Ans 
orduumg vorging, die Anordnung der ausgeitellten Kunftwerfe und 
der Kataloge nicht der Entwidelungoperiode entipredend- ausführte. 
hne Mühe Hätte das geichehen Fönnen, jelbit bei der rämnlichen 
Zweitheilung; dem Munfthiftorifer und dem funjtfreudigen Yaien 
hätte man in gleicher Weije dann zu Danf gehandelt; jenem die 
Sache erleichtert, in Bezug auf diejen aber den Zwei überhaupt 
erit erreicht.  Beonders draußen im Munftpalaft hängt Alles 
funterbunt durcheinander, Modernes und Altes, Unmejentlicdes 
und Bedeutende... . 














* 


Nicht blok intimer it die Ausftellung der Akademie, jondern 
ihre Grenzen find aud enger gezogen. Denn auf jener anderen, 
da begegnen wir auch den Werten joldher Nünjtler, die mit der 
Verliner Afodemie nichts weiter verbindet, als ein chrendes 
Mitgliedodiplom. Zo erklärt eo füh, dafı mir dort, in der „Site 
riichen Abtheilung“ der internationalen \umjtansjtellung, auf 
Namen jtohen, wie Pradilla und De Vriendt, Viuntaczy und 
Alma ITadema, Angeli md Naulbad, Gallait und Antatolsti, 
Tefrenger und Gebhard, v. Ude und Bödlin, u. j. m. Viele 
von dieien Chrengäften finden wir im Saal 9, dem gröften der 
ganzen Auojtellung. Rrächtige Pilanyenarrangemente beleben ihn 
mit freundlichem Grim md Vlumenzier, und inmitten dieies 
Gartens erhebt fih eine Naiferbüfte. Das Ganze beherricht aber 
das im Größenverhältniß von 1:25 trefflich ausgeführte blüthen 
weiße Modell des Werliner Dome, au dem fie jo rüftig arbeiten 
und den wir i. X. 1900 in jeiner nansen itolen Pradıt vollendet 























Nunjtbriefe. 277 





dafichen jehen jellen, Un der großen Sinterwand 
befannter Entwurf zum Fries der Ziegeofäule, jenes Fünftl 
jo jchön, patriotücd jo warın empfundene Werk, dao jeinen 
Schöpfer jo viel Ehre eintung. Und wo wir jonjt hinichen 

überall Altbefanntes: Menzel’ „Krönung Wilhelm 1“, v, Werners 
Nongreßbild“ und „Eröffnung des Neichstages durch Naifer 
Wilhelm 11.”, Angeli’s VBildnifie Kaifer Friedrich IN. und jeiner 
Gemahlin, Defregger’s „Veimfehrender Tiroler Yandjturm“, 
Scholg's „sreiwillige von 1513%, Miarr’s „Deutjchland 1509”, 
Schaper's Ehriftus für die Gedädhtnißfirche, Antafoloti's „Diepbijlo“, 
6. Richter‘ {bjtporträt mit dem Bildnife feines Kindes u. j. w. 
Au in den nebenanliegenden Zälen ftohen wir auf viele Ve 
fannte, auf zu viele, als dah man an ein Anfzählen denfen 
fönnte. IL will daher lieber garnicht anfangen. Die National 
gollerie, das Natbhaus, die Schlöfien, die Privatgallerieen Berliner 
und auswärtiger Runjtiammter, die Winfeen funjtjinniger Städte 


























des Dentjchen Neiches md jogar des Auslandes wie denn 
3 B. Hugo Vogel's fchöneo Gemälde „die Nefugics vor dem 
Großen Kurfürjien“ aus ‘Prag  bergeichaiit wurde die 





Zormmfungen verjdiedener Vereine alle lieben die fojt 
baren Werte her, um ein möglichit volltändiges Bild zufammen 
zjuftellen von dem Nunjtichaffen, das die Berliner Afademie jelbjt 
übte und das fie fürderte und pilegte Ten Spuren des Noccoco 
und des Zopfes, des Mlaffizismus in Nompofition und Ausführung, 
zu Beginn unjeres Jahrhunderts, dem Ansdrud der jentimentalen 
over theatraliihen Nomantit, dem afademiichen, obichon mit großem 
Apparat arbeitenden Gejcichtsbilde, der Wahrheit anjtrebenden 
naturaliftiiben Studie, der Allegorie und der Anetdote, höfiicher 
bmeichelei und troßigen Wolfogeijte dem ganzen bunt 
ibedigen Inhalt des fünjtleriichen Entwicelungsganges der legten 
zwei Jahrhunderte begegnen wir an den Winden biejer Eäle.... 


E . 












Quantitativ nod mehr bietet die Austellung indem 
Afademiegebäude jelbil. Sie nimmt 14 Säle in Aniprud, 
von denen die Hälfte mit Alajien: md lelierarbeiten angefüllt 
it — Alteihnungen und = Wialereien, deforativer Architektur und 





278 Runitbriefe. 


Trnamentit, Sandiehaftsitubien, Kompofitionnufgaben, Entwürfen 
u. f. ., aus der Gegenwart und ans den ehemaligen afademiichen 
Heichenklaffen. Wie fehr die Berliner „Schule“, zum mindeiten 
in unierem Jahrhundert, auf forrefte Zeichnung und möglichjt 
naturwahre einfadhe Farbengebung ohne alles Experimentiren ben 
Hauptnadjdrud gelegt hat -— davon überzeugt ein Numdgang 
durch die Säle und Kabinete 8-14 den, der früher nicht darauf 
geachtet. Anziehender für dns Publikum aber gewil der 
übrige Theil der Ausftellung, der zudem einigermaßen foftematijch 
geordnet und niit dem Katalog in Uebereinftimmung gebracht it, 
der gleichzeitig furze Angaben über Geburts:, veip. Todesjahr 
des Nünftlers und die Dauer feines Studiums an der Afademie 
bietet. 

Viel Vefannten, aus Salerieen, Minfeen, Privatfanmlungen 
und von früheren Ausjtellungen her Befannten begegnen wir 
natürlich bier, wie and im Nimftpalaft. Schr verlodend wäre 
8, näher auf beide Ausitellungen einzugehen. Denn trog mancher 
Lücen md Unvollfommenheiten, bieten fie des Anregenden jo viel, 
da man immer wicber fi verucht fühlt, bei den einzelnen der 
dur fie gefennzeichneten Perioden finnend und prüfend, ber- 
gleihhend und analyfirend längere Zeit zu verweilen. 

In dem engen Rahmen diefes Vriefes muß ich mir aber 
das verjagen. Ah fann nur diejenigen meiner Xejer, die dem 
nächit etwa auf ihrer Sommerreiie Berlin berühren, auf diefe 
beiden Ausftellungen ansbrüdlid aufmerfam machen. 

Und and über die internationale Ausjtellung 
heute nur ein paar Worte. ‘m Serbit wird fich Gelegenheit 
bieten ihr eingehendere Anfmerfiamfeit an biefer Stelle zu widmen. 

Es ift die dritte internationale Runftausitellung, die Berlin 
veranftaltet. Die erite fand gerade vor 10 Jahren jtatt, anlählich 
der Süfnlarjeier der eriten afabemiiden Jahresausitellung, die 
damals der Winifter von Heinig ins Leben rief; die zweite 1891 
zur Feier des 50jähr. Vejtehens des Berliner Künftlerdereins. 
Diefe dritte ift dem 200jähr. Jubiläum der K. Afademie gewidmet. 

Numeriich md in Bezug auf die Ausitattung ift mod feine 
fo alänzeud ausgefallen. In den zu dielem ‚Jwedt theilweiie ganz 
bedeutend umgebauten ca. 70 Zälen md Kabineten find — die 















Runftbriefe. 








Abteilung natürlich nicht mitgerehnet -- genen 
3400 Gemälde, Stiche, Nadirungen, Zeichnungen, Vildwerfe und 
architeftonifche Entwürfe zulammengetragen worden. Sie ver, 
treten jo ziemlich alle Kunjtitätten der heutigen Rulturwelt. Nur 
Japan fehlt und dann —- das ift geradezu unerhört — die 
MVündener Seceifion! ie, die unjtreitig an der Spibe deo 
deutichen Kunjtlebens unferer Zeit jteht, fie, die allzeit im Stande, 
den Wettbewerb mit den beiten Leiftungen des Anslandes aufzu- 
nehmen — fie hat fih an diefer Jubel: und Feftausftellung nicht 
betheiligt. Frappanter läßt fh die Stellung wahrhaft freier 
Kunjt gegenüber geichloffenen Stotericen und afademiihen Zentren 
faum fennzeichnen. Nicht als ob fie fi von vornherein von der 
Sache ausgefchloffen Hätte. Neineswegs. Aber das Nomitö ver: 
fagte der Seceffion die Verüctfihtigung ihrer folgen, aber ficer 
berechtigten Aniprüce auf bevorzugte Näume. Und jo zogen fd) 
Diejenigen insgefammt zurüd, die ja heute von allen Einfidhts- 
vollen als die berufenjten und ehrenreihten Vertreter deuticher 
Kunft anerfannt werden... 

Ein häflicher Mifton in dem fonft fo farbenleuchtenden und 
gabenreichen Nunftfrübling, den diefes Jahr die beutiche Neichs: 
bhauptitadt gebracht hat. 


Berlin, im Diai. 





I Norden. 


. 








Kitteräriihe Streiflihter. 


Wie wir fchon früher einmal bemerft haben, macht fich 
menerdings in Frankreich eine günjtigere Auffaffung und Be 
urtheilung Napoleon 1. bemerkbar, alo deren Sauptvertreter 
Fr. Maifon betradhtet werden fann. Natürlich fehlt es aud nicht 
an Gegenjtimmen, die in mannigfacher Weile die früheren An 
flagen gegen den corfiichen Jımperator wiederholen oder neue 
formulien. Yon Anhängern und Gegnern Napoleon 1. werden 
dann aud in mehr oder weniger eingehenden Schilderungen die 
einzelnen Angehörigen des zahlreihen Bonapartiichen Zamilien 
freifes behandelt und in ihren Beziehungen zu dem alle über 
vagenden großen FJamilienhaupte dargejtellt. Mit der erjten 
Gemahlin Napoleon I beichäftigt ih das Bud von Jofjeph 
Turguan: Tie WSeneralin Bonaparte, übertragen 
und bearbeitet von Tofar Diarjchall von VBiberftein.”)  Turguan 
ift von einer für Joephine - Jehr ungünjtigen Gefinnung erfüllt, 
während er in der Beurtheilung. Bonapartes große Mähigung 
und Unparteilichleit zeigt. Er ertlärt, er wolle die volle Wahr: 
heit über Jojephine, rüdhaltlos alles jagen und nad) diefem Grund 
laß verjährt er denn and in jeinem Buche; mit rüdjichtoloier 
Sfienbeit fchildert er Jofephinens moratiche Jehltritte und Schwächen, 
ihre Liebjchaften, ihren Yeichtfinn, ihre Gitelfeit, ihre Tberjlächlich: 
feit und ihre Unbitdung und bricht erbarmungslos über jie den 































=) Yeipyig. Verlag vom Schmidt n. Günther. IM. 60 Pi. 





Yitteräriiche eiflichter. 281 





Stab. Dazwiichen fann der Autor aber dod) nicht umbin, manche 
auten Seiten an der Angeklagten hervorzuheben, jo ihre Nlugbeit, 
ihre Yicbenswürdigfeit, ihr wohlwollendes Herz. Ein Mangel 
des Buches it jedenfalls, da darin nicht, wenigitens einleitunge: 
weile, die Jugendgeidichte Dofephinens, ihre Heirath mit dem 
General Beanharnais und ihre Scjiiale nad) deiien Dinrichtung 
dargejtellt werben, denn zu einer gerechten Veurtheilung ihres 
Eharafters und ihres Verhaltens als Gemahlin Bonapartes it 
die Nenntnih ihres früheren Lebens durchaus unentbehrlich. Au) 
in Torguans Buche tritt dem Yejer die leidenschaftliche Liebe 
apoleons zu Juephine febendig entgegen; man jollte es Fam 
für möglid) halten, daj; es eine Zeit gegeben, in der das Ipäter 
in hartem Egoismus erjtarrte Herz des Gorjen jo heißer Zunei- 
neigung fähig geweien er hat ofephinen viel vergeben und 
nachgejeben, mehr als irgend einem andern Menden. Neue, bis- 
her unbefannte Quellen hat Turguan für feine Darjtellung nicht 
benugt und eine fritiiche Prüfung der von ihm verwendeten 
Diemoiren und Berichte hat er nicht vorgenommen; es liehen fc 
gegen mandjes von ihm Erzählte begründete Einwendungen er: 
heben. Aber wenn auch alles Mitgetheilte vollfommen richtig 
und jiher beglaubigt wäre, fein Urtheil über Jofephine würde 
doc) hart und ungerecht jein. Wlan darf niemals vergeileu, dal 
fie eine Greofin war, mit allen Eigenfchaften und Fehlern diefer 
Wiiichrace, dah fie ohne jede moraliiche Erziehung aufwuchs, dah 
fie daher ohne jeden innern und äußern fttlichen Halt war und 
daß fie, To geavtet, mitten in die, durch die Nevolution in fitt- 
licher Vezichung völlig anfgelöfte franzöfiiche Sejellihaft hineintrat, 
eine Geiellichaft, welche von der Heiligkeit der Ehe garnichts mehr 
wußte und die chranfenlofe Freiheit des Jndividunns als oberiten 
Grumdjas proflamirte. Wie hätte fie bei ihrem Naturell fi da 
von den fittlichen Verirrungen der Zeit freizubalten vermocht ? 
6s ift nicht gerecht, den ichwachen Einzelnen da nad) der Strenge 
des Zittengefees zu beurtheilen, wo vielmehr eine ganze Zeit 
und Gefellichaft zu verurtheilen ift, und hijtoriid) ift es auch nicht. 
Auch hat es etwas Graufames un Unritterliches, die Fehltrittte 
einer Frau, die niemals auf die Verhältniffe des Stantes einen 
Einfluß ausgeübt, rüdjichtslos ans Licht zu zieben und ihr Privat: 





























282 Litteräriiche Streiflichter. 


{eben zum Zwede der Anklage zu durdhforichen ; bei einer mächtigen 
Herricherin ließe fi das allenfallo rechtfertigen. Im Uebrigen 
enthält Turquans Buch viel interejiantes Material zur Kenntniß 
der Familienverhältnifje Napoleons und feiner Geidwilter. Ein 
zweiter Theil jol Jofephinens Leben als Naiferin behandeln. 

Ein Gegenftüc zu den unlängit von uns beiprodenen Jugend: 
erinnerungen des Profefiors Nifitenfo ijt das foeben in einer 
Volfsausgabe erihienene Buch von Heinrid Dansjafob: 
Aus meiner Jugendzeit. Erinnerungen‘) Der 
Verfajfer, tathofiicher Seiflicher in Freiburg im Breisgau, chi 
dert in diefem Wuche feine Kinder- und Nünglingsjahre bis zum 
Abgange auf die Univerjität. Angeregt it er zur Aufzeichnung 
feiner Erinnerungen durd) Frib Neuters Schilderung : meine Vater‘ 
ftadt Stavenhagen und durd Yogumil Golg’ ud) der Kindheit, 
aber was er bietet, it ganz originell und jelbjtändig. Dansjatobs 
Schilderungen find friich, febendig und anichaulid, er hat die 
Natur des Nindesalters fo tief erfaßt und zur Darftellung gebradıt 
wie faım ein anderer jeit 3. Golg. Auf deiien herrliches, ebenio 
tieffinniges wie poefievolles Bud, das heute leider jo gut wie 
vergeffen ift, jei bei diefer Gelegenheit mit allem Nacdrud hin 
gewiejen ; jeder, der noch irgend ein Gefühl aus der Paradiejes 
zeit des Lebens fich bewahrt hat, wird es mit Freude und Be: 
wegung lefen. 

Hansjafob hat die Erinnerimgen an das Paradies der Rind 
heit als fojtbaren Schab in feinem Innern bewahrt md mit 
warmer und fchmerzliher Sehnfucht denkt er an die verihwundene 
Kindheit und Jugend zurüc. Er ift ein Mann von lebendiger 
Phantafie, jonjt hätte er alle die fleinen Erlebnifle jeiner Kindheit 
nicht jo treu im Gedäcdtnif behalten und fo lebenswahr zu Idil- 
dern vermocht, er befist dabei cine große Friiche der Anffaflung. 
€s find durdans feine auergewöhnlichen Begebenheiten, eo find 
vielmehr ganz alltägliche und gewöhnliche Verhältnifie uud Jugend: 
erlebniife, welche er erzählt, und doch hört man ihm mit wahren 
Vergnügen zu und gedenft dabei wehmüthig der eigenen Jugend 
zeit. Aus dem Buche jpricht ein warmes Gemüth und ein föft: 








=) Heidelberg. Georg Weih' Berlag. 1 M. 80 Bi. 


Eitterärifche Streiffichter. 283 


licher Humor, man jpürt es überall, da der Verfaller eine 
uriprüngliche Natur ft. And wie der Inhalt ift and die Form 
funjtlos, einfach, volfoihümlich und aniprudolos.  SHansjafobs 
Schilderung jeiner Vateritadt Haslac ii Föitlich, die verichiebenen 
Bewohner derfelben treten uns (eibhaftig vor Augen; die Dar- 
ftellung des revolutionären QTaumels, der 1849 au die Hasladher 
ergeifi, ift ein Meifterftüc echten Yumors. Sich jelbft jchildert 
ber Autor durdaus nicht in idenfem Lichte, er berichtet getreulich 
von feinen Unarten und dummen Streichen, wie er denn über 
Haupt fich von jeder Sentimentalität und Ueberihwänglichfeit völlig 
fernhält. Ein Yud) wie das vorliegende it eine wahre Erquidung, 
bejonders in einer Zeit, wo in der Literatur das Unnatürliche, 
Geipreizte, Verichrobene und Unwahre vorherricht. Nur in ein paar 
unnügen Ausfällen auf die Frauen macht fih der fatholiihe 
Priejter geltend, im Uebrigen tritt weder Stand nod) Confeifion 
des Verfahlers irgendwie auffallend oder gar jt 





jtörend hervor. So 
fei denn das prächtige Ych allen, die der eigenen Jugendjeit mit 
Liebe gedenfen, aufs wärnite empfohlen. 

Einer der eifrigiten Deitarbeiter der „Grenzboten” ijt ber 
frühere altfatholiichhe Pfarrer ob er es noch il, willen wir 
nicht -- Garl Jentich in N Die meiften jeiner in der Yeip: 
iger Zeitichrift veröffentlichten Aufläe find dann jpäter gelammelt 
und vermehrt in Yuchform erfchienen, jo feine gei@ichtsphilofophiichen 
Gedanten, fein nationalötonomiiches Werk: Weder Communiomus 
no Gapitaliomus und einige Hleinere Arbeiten. Jebt num il 
Carl Jentich mit einer populären Bolkswirthieaftstchre : 
Grundbegriffe und Grundgeiebe der Wolke: 
wirthiaft*) hervorgetreten. Gr beitimmt feine Arbeit zu- 
nächjit für Voltsjcpulfehrer, für höhere Schulen, aud) für Studirende, 
überhaupt und ‚Jedermann aus dem Wolke. Für eine willen 
Ähaftlidie Mritit des Buches it hier nicht der Ort, aud) iit das 
nicht unieres Berufes; hier foll nur der Eindrud wiedergegeben 
werden, den es auf ben willenichaftlid; gebildeten Yaien macht. 
Ientich zeigt eine bemwunderswerthe Nenntniß der cinichlägigen 
Fachliteratur und veriteht co ausgezeichnet, die jchmierigften Pro; 











*) Keipig. ör. Wil. Ormom. 2 3. 50 Pi. 


264 Litterärüüiche Streiflichter. 


bleme der Nationalöfonomie Kar nnd fahlich darzuitellen. Er hält 
niemals mit jeiner Anficht zurüd und fritifirt ohne Nüdlicht auf 
Parteien und Antoritäten. Co it der Standpunft des gefunden 
Denichenverftandeo, den der Xerfaffer durchweg vertritt, eine 
gerwife Nüchternheit der Auffaifung tritt uns überall entgegen; 
von Noichers Tiefe findet fid bier nichts. Aber feine Aufgabe, 
eine populäre Wolfowirthichaftelehre zu liefern, Löft Dentich in jehr 
befriebigender Weite, ex giebt dem Yaien eine wirflid vertändliche 
Yelchrung über alle wichtigen Fragen der Nationalöfonomie. Cine 
ganz andere Frage it 9, ob alle feine Anfihten und Urtheile 
richtig und wohlbegründet find, ob fie nicht vielfad) berechtigten 
Wideripruc) hewworrufen mühjen. Bei den politiihen Parteien, 
namentlich denen der Kedhten, wird Jentih wohl wenig Zujtum- 
mung finden. Er it ein entichiedener Gegner der Agrarier und 
der nationalen Wirthichaftspolitit, er ift and) Gegner der Schub: 
zollpolitit des Kürten Viomard und jteht im Wejentlichen auf frei 
bändleriichem Standpunkt, er ift ein Anhänger der Goldwährung 
und entichiedener Widerjacher des Bimetalliomus, auch der Staats 
jocialismus hat an ihm feinen Anhänger; den jest gewöhnlichen 
heftigen Angriffen auf die Börie jtimmt er feineswego zu, it 
t5 auch Fein unbedingter Vertheidiger des Gapita- 
liomus A la Stumm. Man wird in allen diefen ragen viel- 
fach) ganz anderer Anficht fein alo „Jentich und fann doc geru 
feine Maren Auseinanderjepungen zu erneuter Prüfung anhören. 
Eines jcheint uno jedenfallo fiher: den begründeten Forderungen 
md Sagen der Yandıvirthe wird er nicht gerecht. Ob bei der 
jegigen Parteizerrifiengeit und Parteiherrihaft in Deutichland ein 
jo leibenidjaftslojes und einen ganz beflimmten individuellen Ztand- 
purft vertretendes Bud) wie dao vorliegende auf weitere Nreif 
Einfluß ausüben wird, das miüllen wir dahingejtellt jein lafen. 
Getejen zu werden verdient eo von Allen, die, ohne fahmännifc 
gebildet zu fein, fich über die wichtigiten Wunfte der National- 
öfonömie zu unterrichten wünichen, aber co muß mit jelbjtändigem 
Urtyeit umd eigenem ernten Nachdenken geichehen. 

Einen Beitrag zur politifchen Yitteratur liefert Nudolpb 
Meyer in feinem Wuche: Dundert Jahre conjers 
vativer Politik und Yitteratur, von dem zunäct 




















Litteräriiche Streiflichter. 285 


der erite Band: Literatur vorliegt.‘) N. Meyer war ein in 
der erjten Hälfte der jiebziger Jahre jehr befannter agrar-pofitiiher 
Schriftfteller, er nahm unter den gegen die liberale Wirtbichnfts 
und Kirchenpolitif des Fürften Viomard frondirenden Coniervativen 
eine hervorragende Stellung ein; namentlich jein Werk: der 
Smanzipationsfampf des vierten Standes madjte vieles Aufichen, 
wurde viel gelefen und viel befämpft. Us ex wegen Beleidigung 
des Fürften Biomard zu einer Gefängnihitcafe verurteilt wurde, 
floh er nach Tefterreich und wurde hier dur) feine Beziehungen 
zu dem Grafen E, Veleredi und andern Fendal-Arijtofraten dev 
geiitige Bater der öterreihiichen Agrarconfervativen. Später ging 
N. Meyer nach Amı 
wieder nad Tejterreich zu 
valivem Standpunkt im Geifte der Nreuzzeitung zur Zeit D. Wagners, 
hat aber im Einzelnen viele eigenthümliche und abjonderliche Ans 
ichauungen. Einen Wann folder Art über das vergangene Jahr: 
hundert conjervativer Politif fi äußern zu hören it immerhin 
von Jnterefie. Der vorliegende erfte Band enttäujcht aber einiger- 
mahen die Erwartungen, wenn man ihn in die Hand nimmt. 
Dan jollte nad) dem Titel vorausjegen, daß darin eine zufammen- 
fajiende Ueberficht über die conjervative Yitteratur geboten werden 
oder eine Fritiiche Würdigung der bedentendjten conjervativen 
Schriftjteller und ihren Theorien gegeben werden würde. Allein 
das it nicht der Fall, der Verfafjer jtellt vielmehr eine bedeutende 
Anzahl von Yejefrüghten aus früheren confervativen Schriftitellern 
zum Beweife di zujanımen, da er in jeinen politüchen Ans 
fühten und Schriften garnicıts Neues gelehrt und vertreten, jon- 
dern ganz auf dem Standpunft der alten Gonjervativen jtehe. 
Unter den von Vieyer gegebenen Auszügen aus älteren Autoren 
findet ji ja mandyes Interefiante, leider aber find fie nicht in 
chronologüicher Neihenfolge zulommengeftellt, darauf aber wäre cs 
vor Allem doc angefommen. Das Interefjantejte an dem Buche 
find die anhangoweiie beigefügten politichen Briefe und Aufläpe 
von 9. Wagner. Sie lajen es wieder einmal erfennen, was für 
ein fluger und hervorragend begabter Politifer Wagner war, 














ifa, fehrte von da nad) einigen Jahren aber 
id. Er jteht noch heute auf altconier- 

















9) Wien und Yeipzig, Verlag ia“ Franz Toll in Wien. 5. 30 $. 


286 Litteräriiche Streiflichter. 


beweilen aber zugleich auch, weld ein feiter und ehrenwerther 
Eharakter diefer Mann geweien it, den einit Laster im Partei- 
intereffe jo fe möde und ungerecht angegriffen und moralifch zu 
vernichten geucht hat. Der zweite Band von N. Meyers Werk, 
der die Politit behandeln foll, wird uns wohl mit den Anfchanungen 
amd den Nefultaten der Inngjährigen politiühen Erfahrung des 





Verfaffers eingehender befannt machen. 
&s it uns eine Freude daranf Dinweilen zu Fönnen, bak 


foeben von Victor Hehns Italien eine neue, die fünfte 
Auflage erichienen it, die an der Spihe des Buches: Kebensnach- 
richten über den Verfafler aus der geder Profeilor ©. Dehios 
bringt.*) Die neue Yuflage beweiit, dah das vortreffliche Buch 
auch nad dem Tode jeineo Verfaers der Werthichägung der 
wahrhaft Gebilbeten fi zu erfrenen fortfährt. Unter den drei 
hervorragenden Werfen Hehns hat „Ntalien“ ohne Frage bie weitefte 
Verbreitung gefunden und feines Verfaifers Namen am meiften 
befannt gemacht. In dieiem Yuche vereinigen fi Seit, Nennt- 
ni, feine Veobahtung, ftarfe Subjectivität mit einer fo voll- 
endeten Form, dab das Ganze ein wirkliches Numfhwert ift oder, 
wie ©. Hirzel es treffend bejeichnet, das Werf eines Nlaiiifers. 
66 wäre eine höchit anziehende und beiehrende Aufgabe die 
25 Jahre früher geichriebenen, jeht veröffentlichten „Neifebilder 
aus alien“ nad Muffaitung und Darjtellung mit dem Werfe 
aus Hehns reifem Alter zu vergleichen, co würden fi, dabei die 
interefjantejten Veobachtungen madjen und tiefe Ginblide in die 
geiftige Entwidelung Sehne hun Laien. Sehr richtig bemerft 
Dehio, daß and) die Jugendaufeichnungen eine bewundernewürdige 
Formvollendung zeigen. Im den Lebensnadjrichten giebt Dehio 
eine bei aller Nürze und Gehrängtheit vorzügliche biographiiche 
Stizje und Charakteritit von B. Hehn; fie it and) in der Korm 
des Meilters würdig, deifen Bud) fie einleitet. Wie fonnte dem 
Verfaifer aber die häfliche Wortform „Schriftftellerwert” S 
aus der Feder fliehen? Die wefentlichen Züge von Hehns Charatter 
hat Dehio vollfommen richtig erfaht und formulirt, richtiger in 
mancher Beiehung als cs in der ausführlichen Biographie Hehna 














*) Verlin, Gebrüder Yornträger. 


Yitteräriiche Ztreiflicter. 287 


aeiheben üt. In einem umfaifenden Charatterbilde 9%. Helms 
würde natinlih Manches zu ergänzen, Anderes eingehender zit 
begründen fein. Wenn Dehio Sehn als echten Aritotraten charat 
terifiet, fo it das gewih zutreffend, aber 09 wird damit dor nicht 
ade alle me 


etwas ihm Ipesifiich Cigeneo ausgeingt, da im 
bitveten Balten ar ch denten und fühlen; daf die Ginen 
thünichteit bei Sehn in dem demofratiichen Berlin bejondero her 
vortrat, it begreiflich. Nicht nenug betont wird in allen bis 
berigen Darstellungen, dab 2. Hehn im tiefften Grunde Nosno 
polit war und im Weientlichen bis an jein Ende aeblicben it. 
eine internationale Stellung hat ihre Wınzeln in feiner 
thetiichen Weltanffallung, mit der er aany auf dem Boden der 
Nlaffiter jtand; er empfand umd dachte deunich, fühlte fich fetbit 
aber als Weltbirger und daneben alo Yiplinder. Tao bier Se 
fante gilt dunhans für die zeit bio zu feiner Meberfiedlung nad) 
Berlin, ob auch für die ipätere, vorman ich wicht zu enticheiden, 
alanbe aber, da Hehm feinen Standpunft im Weientlichen nicht 
verändert Hat. Den beiten md umviderlenlichlten Yeweis dafür, 
dab Hehn feine entichieden nationale Stellung eimmahm, bietet 
alfein fon das Napitel: pro populo italico in dem Wuch über 
Italien; fein teltener, fein Avanzole oder Engländer hätte in 
der Art fein eigenes Volf zur Verherrlichung eines fremden herab 
aefegt, wie Hehn es bier thut. Kr. Nüicher bat it feiner 
Zeit. Feineswens unbegründete Vorwürfe darüber gemacht und was 
er gegen Hchns nationale Stellung bemerkt, it aröhtentbeils jehr 
treffend. Ferner mühte entichiedener als bisher betont werden, 
dal; Hehn eine überwiegend pafive Natur war, er fieh die Dinge 
an fic heranfommen und hatte wenig Neigung fie nach feinem Willen 
zu zwingen. Endlich ift nach nicht fharf nemug ein Zua an ihm 
hervorgehoben worden, der dab zu den charafterifiicitien Ligen 
thümlihteiten feines Meieno gehört: die Neigung zur ronie und 
zum Sarkasmus, die fich mit den Jahren Tteinerte und ibn, 
namentlh in Briefen, auch über gute Aremmde und Belannte 
manche Aenferung tun fie, die im Grunde nicht To fchlimm 
gemeint, nur darans Fich erflären fafie, daß er dieler Neinung 
die Zügel Äciehen lieh. Ned mande andere bisher wicht nenit 
gend hervorgchobene Charaklerzüge zu Lerwolltändigun, des 
Ir 


















































u Vitteröriiche Ztveiflichter. 


Bildes von V. Debns geiftiger Perfönlichteit müflen wir an 
diefer Stelle leiver übergeben. Eos wird immer zu beflagen ein, 
dal Helm jeine arafe Snethebiographie, inobeiondere feine umz 
faifenne Darfteltung der Sootheihen Poclie, nicht zu Ausführung 
gebracht hat. Tie Sedanten über Goethe find dafür dad fein 
vollgiltiger Eriag,, fie zeigen vielfad Spuren des Alters und 
entbehren zum Theil der Feiiche, weldhe eine Ausführung des 
früheren anes gezeigt hätte; auch find fie ja leider unvollendet 
gehlieben. Was er neleiftet hätte, davon giebt der ausaezeich- 
nete Nommentar zu Hermann und Dorothea, der aus dem Nach 
lab veröffentlicht worden it, eine deutliche Vorftellung.  Nehns 
machgelaftene Arbeiten auf dem Gebiete der Yitteratur verdienten 
6 durchaus, mag auch Cinzelnes darin veraltet, Anderes nur 
fücenhaft erhalten fein, veröffentlicht zu werden. Dagegen jünnen 
wir Dehio ganz bei, dah eine andere Veröffentlichung aus Hehns 
Naclah beiier unterblieben wäre; er jelbjt wäre mit der Deraus- 
gabe jeiner Kolleftancen, zumal wenn jie ohne alle Sichtung geichieht, 
fichertich übel zufrieden geweien. Veiläufig jei ein Heiner Jrrthum 
in Bezug auf die ans der Petersburger Zeit jtammenden in dem 
Nachlafe erhaitenen Worträne über verfciedene willenichaftlice 
Segentände berichtigt. Ad Tebio jagt, fie jeien in der Afa 
denie der MWienichaften gehalten worden. Tas it ımrichtig. 
Hehn war garnicht Mitalied der Akademie, wie hätte er alle in 
ihr Vorträge halten fünnen, and wäre die Atadenrie gewih nicht 
der Trt für den Vortrag populär wilfenjcaftlicher Abhandlungen 
geweien.  Diefe Vorträge find vielmehr in einem privaten Ntreile 
von elehrten, zu denen allerdings auch mehrere hervorragende 
Aodemifer achörten, in dem and) 6. Werthalz Wehreres vor: 
getragen hat, gehalten worden.  Bertholz' geichieht and) bei Dehio 
anerfennende Erwähnung, aber doc nicht To, daß aus dem über 
ihn Giefagten die ganze Bedeutung des jeltenen Mannes den 
Fernerjichenden erfichtlih wäre. Ju allen bisherigen Charatteri- 
ftiten md Biographien %. Debns ericeint ©. Bertholz als 
als eine, wenn auch bemerfenswertbe, Nebenfigur, er dient ge 
wifjermaßen zur Kolie für die glänzende jchriftitelleriiche ‘Perjön: 
licyfeit des renndes. Dahei kommt er aber gar nicht zu jeinen 
vollen Nedte; er war ein Gejtien mit eigener Bahn, nicht bloß, 

















Citteräriiche Stveiflichter. 29 


wie e> icheinen fonnte, der Trabant eines anderen Simmelstörpers. 
An Geil und genialer Begabung wie an gelebrten Nenntni 
Hand Berthotz Hehn gleich, in manchen anderen Eigenihaften 
überragte er ihm, wenn ev dem Areunde auch in jchriftitelleriichem 
Talente nachjtand. Wenn Tebio unter den „baar ausgemünzten 
Leitungen” gelehrte Werke, in Büchern niedergelegte Aoricumgen 
verfteht, To trifft das von ihm auogeiprochene Urtbeil im Wejent- 
lichen zu. Aber bei uno Valten giebt es noch eine Art werth 
voller Yeiftungen und tief eingreifender Wirkungen : der bedei- 
tende geiftige Einfluß, der hervorragende Perjönlichteiten auf die 
Stadt in der fie leben, auf dies baktiiche Yand überhaupt ausüben. 
Cine jolhe erfolgreiche Wirfiamteit hat Berkholz fait 25 ahre 
hindurch im Niga und weit darüber hinans ansneübt und es it 
die rage, ob eine foldhe Yebensverwendung nicht doch höher zu 
veranfchlagen it, zumal unter unferen Verhältniifen, als ein noch 
fo gelehrtes Werk mit neuen Korichungoreinliaten. Dah ein Dann 
wie (5. Berkbotz in Niga nicht mehr vorhanden it, Das macht 
fh direct und indireet iumer wieder fühlbar. Doc wir brecen 
ab, da wir mo schon allzuweit von dem (Segenftande 1mnierer 
Veipredung entfernt haben. (ewundert hat es uns, dal Tehio 
den Yejer nicht, wenn and mr in einer Anmerlung, zu weiterer 
Belehrung auf die Schriften von Schrader ımd Zchiemann ver 
welt. Möge dem B. Hehns Hlaifiicheo Buch weiter binansnchen 
in die Nreife aller Gebildeten, möge ever, der co noch nicht 
fennt, fich zu herrlichem Genuß; darin vertiefen, möge «9 enplicd 
in einer Zeit mangelnden Zpracgefühls und jprachlicher Yerwil- 
derung der jebigen eneration zum Bewußtfein bringen, ans 
Reinheit und Schönheit der Zprace if. 

Bon nennen beilewriftüichen Ericheimimgen heben wir zunächit 
STolvdenurz Ktalieniiche Erzählungen") berver. 
Tie Verfaiferin, eine Tochter des weiflichen, noch immer nicht 
wübijchen Tichtero mm Erzühlers 
Dichten, 





























nad Gebühr gewürdinten fd 
Hermann Nurz, bat fich fehon durch eine Zummlung von © 
durch Märchen und Novellen belannt gemacht. Die vorliegenden 
Erzüblungen fin Novellen im alten, uriprüngfichen Zinne, d.h. 











wort. 05. 3. Göhhen’che Nerkagsbuahhanahung. + M. 





ur 


I Litteräriiche Streiflichter. 





fie deganveln meit mmaewöhntihe, Teltlame Begebenheiten. Aus 
dem Bar wit ums ein bedentendes Talent entgegen, das mit 
fait männlicher Meajt die Gharaftere zeichnet, Mir ftohen anf 
nichts Schwantendes oder Phrafenbaftes, die Zchilverungen find 
Hay, jeit und aufchanlih. Dazu font eine ungewöhnliche Be 
hevriebung der Korn, man bemerkt, dab die Berfaferin mit Erfolg 
Yaul Hape und andere Meilter der Erzübkungsfunit fudirt hut. 
Nurz zeigt ein fie einoringendes Verfiändnih Deo italienischen 
Aranenchavaflers, namentlich in Teinen Schwächen, das erfennt 
man beionders in der Erzählung „die Glücsmmmmer.“ Neben 
diefen Vorzigen machen ih auch einzelne Mängel bemerkbar: 
die Perfalorin hat eine Neigung für das Orelle amd Geipenftiihe, 
kberhanpt für das Phantajtiiche, Nie führt die Erzählungen mehr 
fucb nicht zu einem harnoniichen Abfchtuf, jondern endigt mit einer 
giellen Diiionam. Das gilt bejowders von den Erzählungen 
„Mittagszanber“ und „ein Mäthiel.“ Das bejte Stüd der ganzen 
Zammlmg it „Penia“, die Geichichte eines armen unmillenden 
Yandmidchens, das unerwidert einen jungen Arzt liebt und, um 
ieine Zuneigung zu gewinnen, Die größten Thorheiten, ja zulebt 
Tiebitaht begeht; hier it der tragiiche Nrsgang wohl motivirt. 
tn wenigiten befriediat die erfte Erzählung „Zchuiter und Schneider“, 
der darin auftretende Baron zeigt directen Einfluß Paul Senfes, 
ja fäht fh noch weiter auf Yudwig Tier zurücjühren. Dieje 
dentiche Yodia, die in Kolye des Vertuites eines feit Jahren 
gemeinfam  zufannmengeiparten Napitalo amd aus Kurt vor 
tünfiger materieller Roth Dem geliebten Yräntigam entjagt und 
einen anderen zu beirathen beiihlicht, ijt eine Fehr unfpmpathiiche 
Wiejial ad steht die arme Benja über ihr! Wenn . Nur 
das Srelle md Abfonderlihe mehr meidel, wenn fie in ihren 
1 nach voller und reiner Harmonie firebt und fc vor 
einem allzu herben Nealisins der Darfteltung bütet, dann wird 
Nie eine der erflen Ziellen unter den deutichen Grzählern Der 
Gegenwart einnehmen; Ihr bedeutendes Talent äht bei firenger 
Zelöittritit Dervorragendes von ihr erwarten. 

San anderer Art it das Buch von Johannes Nena 
tus: Nudolf von Varpnla, der @henfgu Zaa 














































Litteräriihe Streiflichter. 291 
Led. Ein thüringer Yebensbild aus dem dreizehnten Jahrhundert.*) 
Wie jchon der Titel tert, ijt co ein hiltorifcher Noman, der uns 
darin geboten wird; an die Kerion Nudotf von Yargulas wird 
eine Neihe von Fulturgeichichtlichen Bildern gefnüpft, in denen die 
glänzende Zeit Thüringens in der eriten Hälfte des dreisehnten 
Jahrhunderts dem Leier vorgeführt wird. Yandgraf Hermann und 
der ihm umgebende Kreis von Zängern auf der Wartburg wird 
geichildert, namentlich die inmpathiiche Gejtalt MWalthers von der 
Vogelweide und jeine unglüclihe Yiebe, die heilige Clifabeth, ihr 
Veichtvater, der furchtbare Fanatifer, Nonrad von Marburg, ber 
Gegenfönig Heinrich Naspe und viele andere Nitter und Geiftliche 
ziehen an uns vorüber. Visweilen wird uns mehr gefchichtliche 
Erzählung als Noman geboten und in dem Streben vet viel 
biitoriiche Momente zu verwerthen, ijt es dem Berfafler nicht immer 
gelungen, fie dichteriich zu geitalten. Das Quellenverzeihnih; in 
der Worrede, das doc nur vedht uneigentlich jo genannt werben 
kann, hätte ruhig fortbleiben Fönnen, ein bifterifcher Noman- it 
doch feine Gefchichte. Tas Unternehmen des Verfajlers foweit 
abliegende Zeiten und Menfhen der Gegenwart in dichteriicher 
Leranichanlichung und Verförperung vorzuführen, verdient gewih; 
alle Anerkennung; manches it nur ftart modernifirt und die Dar: 
ftellung etwas zu weich, für die Schilderung fo Fraftvoller Perfön- 
lichleiten und wild bewegter Zeiten. Immerhin it das Bud) zu 
empfehlen, insbejondere Frauen und der Jugend wird es eine 
anfpredende und beichrende Yeltüre gewähren. H. D. 




















+ 


Bei Der Nodahiton der „Balt. Mon.“ find ferner naditehende Schriften 
zur Beprebung eingegangen : 

Turgnan, Kofeph, Die Mailerin Lofephine. Mcbere 
ragen umd bearbeitet von slar Marfchall von Bieberitein. Leipsin, 
Schmidt und Günther. 

Wilbramdt, Wd., Bater amd 
ichten. igart, ©. Cotta’fche Aınchh. 

Filer, Kuno, sritiihe Seräfüge gegen die Mnfeiif. 
(Nleine Schriften 4. Bo. Heidelberg, C. Winter. 





andere Ger 














A. Deihert'iae Berlagsbnchhandlung Rachi. (Georg Vöhme) 





4 





Litteräriiche Streiflichter. 


Dalton, B. Der allyemeine enang-iic-protejtantiiche I 
fions:erein. Ein Wort der Ahrvehr. Gütersioh, C. Vertelamann. 

Gernet, X. ©. Aorkhungen zur Geihichte des baltiichen 
Woels. Yweites Si ie Anfänge der linlänpüihen Nitterichaften. 
Aeval, Fr. Auge. 

Gallwit, 9, Eine heilige allgemeine drftliche Sirche, 
Göttingen, Tandenhaed und Nupeedht. 

Aleiihmann. ©, Wie fommt der Kleinbauernjtand zu 
wirthihafelich tüchtigen Hansfenuen ? Göttingen, Bandenbod und 
Rupreit. 

Carey. PR, Merles Arenzug oder genen den Strom. 
Autorificte Weberfetung. Gotha, ©. Schlochmann. 

Yonge, M, jede sffen. Ans dem Englifhen v. 
Eleonore Aürjtin Neu. Gotta, 6. Schlochmann. 

Lamprecht, N, Alle und neue Nhtungen in der Geichichtes 
wifenfchaft. Berlin, N. Garrtner's Verlag. 

Münd, Dr. RW, Vermichte Aufläse 
und Unterrichtsfunit in höberen Schulen. Berlin, N. Gneriner's 

MonatsihriitfürGortespienitund firdlihe 
uni. I Aaheg. Re 2. Deian, Hch, Nable's Berl 

Höhne, Heinrich, Warum gute Goncerie in Mina jo 
Fehwach befucht werden ı. Ein Wahmmort. Niga, Yädr. 


























































Die Vier-Klenr von Transvaal. 
Nationalhymne der Burn. 





Aus dm Burendialeft übertragen von Guido Edardt. 


Hod wallt nun wieder über'm Sand 
Das Banner viergeitreit, 

Und weh” der gomvergeiinen and, 
Die fich an ihm vergreiit! 

Wir trafen fie mit figrem Schlag, 
Der Feinde mächtige Zahl — 

Rum biaut der Areiheit ichter Tag 
Uns rider von Transvaal! 











Mandy böfer Sturm hat Did) zerzauft 
Du chrenfeit Panier! 
Doc) wie die Weiter and) gebrauft, 
Wir hielten treu zu Tir. 
Wie Tehpten fie nad) unfrem Blut 
Und fanmen jeig auf Naub 
Der Britten, Yöwen, Hafen Brut — 
Ku Kegen fie im Staub! 

















Wir traten vor den Dritten bin 
Friedlichend Jahr um Jahr: 
Ricdhts Vöfes Haben wir im Sinn, 


Yalt uns, was unjer war.‘ 
Tod) geois und gröfer wuds die Schuld, 


ie jchmägten Hecht und Ehr', 
Worüber war's mit der Geduld, 
Wir griffen zum Gewehr. 





294 





Die Hilfe Gottes brad) das Joch, 
Und England Ing befiegt -- 

Seht wie die Alagge jtol; umd box 
Zip mm in Yühlen wiegt! 

Manch braver Held ward hingerafft 
Euch traf 8 doppelt bei — 

Der Herr verlieh uns jolde Kraft, 
Ihm fein Dant und Preis! 








Hoch wolle wieder über'm Yand 
Du Banner viergeitreit 
Und weh" der gottvergefinen Hand, 
Die fin an Dir vergreift! 
Wir trafen fie mit fih'rem Schlag. 
Der Feinde mächt'ge Jah 
Kum bfaut der Freiheit ichter Tag 
Uns Brübern von Transaal! 
































Ans 8. v. Pitmar’s Reijebriejen an jeine Gltern, 


(1815—1818) 
von 


8 0. Schroeder. 





Unter den hinterlajienen Papieren Woldemar von Ditmar’s 
nehmen jeine Briefe an die Eltern aus den Jahren 1815—1818 
eine wichtige Stelle ein. Einem Tagebuch ähnlich führt uns die 
wohlerhaltene Neihe diefer Briefe (im Ganzen 27 an der Zahl) 
die Erfebniffe des jungen Yivländers während feines Aufenthaltes 
in Deutichland vor. Wir jehen den lebhaft empfindenden, für 
alles Große, Gute und Schöne begeifterten jungen Dann mit 
einer nicht unbedeutenden Anzahl mehr oder minder befannter und 
hervorragender Perfönlichfeiten in Beziehungen treten, die fi) bald 
zu herzlich:freundichaftlichen geitalten. In der eriten, der Berliner 
Zeit, tritt dabei die berühmte Nurländerin Elifa von der Nede, 
jpäter Jean Paul hervor. Daneben wird der Verkehr mit den 
zahlreichen jungen Yandsleuten, die Ditmar in Berlin, Jena, 
Würzburg und Heidelberg antrifft, gepflegt. Wie gro; 
Ditmar’s Velanntenkreis war, wie lebhaft jein Verfehr mit 
denjelben, das jicht man nod) deutlicher, alo aus den Briefen, aus 
den Einzeichnungen in jeinen Nafender, wo er täglich alle die 
Perfonen aufführt, die ihn befucht haben und bei denen er Befuche 
gemacht hat, reip. denen er Briefe geichrieben und von denen er 
welche erhalten -- meijt eine ganz jtattliche Heihe von Namen. 

1 








Aus MW. v. Ditmar's Neifebriefen. 





Wie man fih denken Tann, füllt in den Briefen manches 
Schlaglicht in das elterliche Sans zu Fennern, wo die beiden 
guten, von dem Sohne innigjt verehrten Eltern, umgeben von 
einer zahlreichen Minderichaar, im ichönfen, echt-alttivländiichen 
tilleden haufen. Cs it ein harmaniich - glückliches Familien 
verhältniß, in weldes wir da hineinbliden. Der um den Eohn 
in der Fremde zärtlich beforgte Vater Ditmar’s it, wie fo viele 
damalige Gutobefiper der Citfeeprovinzen, früher im Militairdienit 
gewejen und als Wajor verabidiedet; die Mutter eine lebhafte, 
Fuge, herzensgute Frau, die ein munteres, anregendeo Gefprä 
liebt, wo Jeder feine Anficht tapfer vertheidigt; fie pflegte, wie 
mir der Enkel erzähft, zu jagen: 

Vei immer Ja und immer Nein 
Schläft man vor langer Weile ein. 

Die jüngeren Ninder find der Obhut eines Hauslehrers, des 
mit Woldemar innig befreundeten trefflien Schwark, nachmals 
langjährigen Paitors in Kölwe, anvertraut. Er vertobte fich in 
der Rolge mit der älteften Tochter des Haufe, Annette von 
Ditwar, und heirathete fie 

Woldemar it der ältı Sohn des Daufes, der, ins „ferne 
Anstand” ausgeflogen, mm feine Berichte über alles Erlebte 
freilich den geliebten Eltern zuiendet, die voll Stolz und Freude 
auf den Sohn bliden, dem co in furzer Zeit gelingt, fich To viel 
Liebe und Anerfenmung zu erwerben, zum Theil bei Perfonen, 
deren Namen zu den beiten jener Zeit gehörten. Yeider jollten 
die trefilichen Eltern den Schmerz erleben, daß; dieier Sohn, auf 
den fie fo viel Hoffnungen fegten und fegen durften, als etwa 
Dreifigjähriger vor ihnen dahinichied. 

Aus den Briefen Woldemar von Ditmar's an feine Eltern 
lege ich hier dem baltischen Publitum wmfängliche Auszüge vor. 
Vieles von dem vein Perfönlichen mußte aus nabeliegenden 
Srimden weggelaffen werden, desgleihen manches Andre, was 
von geringerem Intereffe |hien. Wlan halte fich beim Lefen diejer 
Briefe immer vor Aigen, dal der Verfafler ein junger Mann 
von 21 Jahren it, der zum eriten Wal aus dem liwvländiichen 
Ztilleben in die große Welt hinausfommt. in bisweilen etwas 
überichwwänglider Entbufinsmus findet in feiner Jugendlichteit 












































Aus W. v. Ditmar's Reifebriefen. 297 


ebenso wie in der Richtung der damaligen Zeit genügende Erflärung 
und, wenn es nöthig wäre, Entichuldigung. Diefer Enthufiasmus 
trägt aber fo durdhweg den Stempel der Neinheit und Wahrheit, 
it in feinem innerjten Nerne jo durdaus gelund und gut, daf; er 
auch dort, wo er für uns ehvas zu weit geht, doch nicht unfpm- 
vathüüc, berühren fann. Im Uebrigen will ic den Briefen feine 
fange Erläuterungen vorausichieen, fondern lieber den Nerfaifer 
felbit reden laifen. 


Nitau, den 6. September 1815. 


Geliebte Eltern ! 

Am 1. September Nachmittags um 2 Uhr fam ich hier in 
Miten an. Auf meiner Fahrt hierher begegnete ich meinem Reife 
gefährten Napp, der nad) ige fuhr, um nad) einiges für fid) zu 
beiorgen, umd mac) denfelben Abend wieder zurüd fam. — Die 
Stadt gefällt mir wicht, denn fie ift Hein und jchledht gebaut; 
dejto beifer gefallen mir aber die Bewohner berfelben. Wahrlich, 
ich Habe noch nie Wienichen von fo zuvorfommender Gefälligfeit 
und *iberalität gefunden, alo in Mitan. od) habe id) feinen 
Tag zu Haufe geipeift, denn bald bin ich bei den Nauffeuten Rapp, 
die recht gut leben, bald‘ bei der Vidder oder Körber. Uebernll 
wird man mit Herzlichfeit aufgenommen und fühlt fich in jeder 
Familie nach einigen Mugenblicten jo gemüthlich, als wäre man 
zu Haufe. — Von hiefigen Gelehrten Habe ich zwei fenmen gelernt, 
nämlich) Rede und den Profeiior Lieban. Exfterer ift noch sehr 
betrübt durch den Tod feiner einzigen Tochter, und daher ungenich- 
barer als er eo jonit jenn mag; legterer hingegen iit ein 
Dann von einer folden Liebenswürdigfeit, wie ih) nod) feinen 
gefunden habe. — Durch Rede erfuhr er eo, daf ich hier ange: 
fommen und ein Freund von Straudling fen — für ben braven 
Dann Grumd genug mic zu fid) zu bitten. Ih ging bin und 
werde mich immer darüber herzlich freuen, mit jo herrlichen 
Menfcjen, alo er und jeine Frau ift, befannt geworden zu fenn. 

Dr 





298 Aus M. v. Titmar’s Reifebriefen. 


Im feinen Porfefungen muß; id) hospitiren, Mittags bei ihm fpeiien, 
Abends bei ihm The trinken, — furz ich muß täglich mehrere 
Dial bei ihm jegn. Plan Fann zu ihm ebenjo leicht Vertrauen 
faften, als zu unjerm alten wadern Berg’). Ale Mertwürdig: 
feiten Viitans fehe id durch ihm und Nede. An einer halben 
Stunde gehe ih wieder zu Liebau, bleibe zu Vittag bei ihm und 
bejehe nach dem Cifen die Bibliothek deo Gpmnafiums. — — — 
Und nun gute Eltern, Geichtwifter und Freund Schwars, Iebt wohl. 


Ewig Ener Euch aufrihtig lebender 
Woldemar. 





Memel, den 10/22. September 1815. 


Ich benuge die Gelegenheit, die fihh mir burd) den zurüd- 
gehenden Mitaner Fuhrmann darbietet, um an Eud) zu ichreiben. 
- Mitau verliehen wir den 7. September und Famen hier, nad) 
einer glüclic zurücgelegten Fahrt, am 10. September an. — 
Die Gegenden, burd) die wir auf unjerer Neife paflirten, erfrenten 
uns eben nicht durch ihre Schönheit, ausgenommen die von Amboten 
in Surland. Unfer Weg führte uns hier durch maleriich-ihöne 
Baumgruppen, in denen häufig ehrwürdige Eichen ihr ftolzes Haupt 
erbliden ließen. — Hohe Verge und tiefe Thäler, dur) die meijten- 
teils ein Fluß bahinitrömt, verichönern Diele Gegend noch um 
febr vieles. —— Der ganze übrige Theil des Weges war flach, 
fandig und waldig. — — — Was mir das für ein Gefühl war, 
als ich über die Nufiiche Grenze fuhr, fann id Euch nicht 
beichreiben. Nur fo viel jage id) Guch, da id mich in der 
Vritjehfa aufrichtete und noch jo lange in Ruhland Hineinjah, als 
«8 mir mur möglid) war; dod) als aud) die fhmale Gränze meinem 
fehnenden Blide entichwand, nepte mandje Thräne meine Wangen. — 
Waprlich, 6 ift ein ganz eigenen Wand, weldes uns an unier 
Vaterland fejlelt! 

Werdet ihr mein Bild wohl erkennen, wenn ih Euch das 
Signalement von mir, das mir die biefige Polizei auf meinen 








*) &s it Probit Yerg in Yallit gemeint, 


Aus MW. v. Diimar’s Neifebriefen. 299 


Pa geichrieben Hat, herfehe? Hier ift cs wörtlich: „Ein und 
zwanzig Jahr alt; fünf Fuß acht Zoll groß; blondes Haar; bebeiite 
Stien; blonde Augenbraum; blane Augen; dide Rafe; gewöhnlicher 
und; wenig blonder Bart; rundes Kinn; ovales Geficht; gejunde 
Gefichtsfarbe; mittler Statur.“ 

Meinen Brief aus Vitau vom 6. September habt Ihr dad 
ichon erhalten? Jh) habe mic) in diefer Stadt fehr gut amüfirt. 
— Die Nörbern tranf, als ich den Mittag bei ihr fpeifte, auf Euer 
aller Wohlieyn. Sie ift eine harmante Frau. — 

Allen Lieben herzliche Grühe; den alten Onfel Brömfen 
und die Seinigen, jo wie auch die gute Tante Dettingen nicht 
zu vergeffen. Theilt ihmen meine Briefe mit. — Id habe lange 
mit feinem Menichen fo gut harmonirt und ihn in furzer Zeit fo 
lieb gewonnen als Rapp. — 










Königsberg, den 14/20. September 1815. 


Ich jege jegt gleich unfere Neifebeichreibung von Memel 
dis Königsberg fort. — Am vorigen Eonnabend fdifften wir uns 
ein, um über das Saft zu jegeln. Ter Wind war conträr und 
wir mußten daher unfer Schafener Schiff ungefähr eine halbe 
Dieile ziehen lajfen. Trauf nahmen wir eine andre Richtung und 
fuhren mit halbem Winde weiter. Wir mochten ungefähr eine 
Meile abgefahren haben, als wir bas häfliche Schiejal Hatten, auf 
den Strand zu laufen und zwar mit einer folden Gewalt, da 
wir das Schiff nicht wieder herabbringen fonnten, jondern die 
Anfer auswerfer und bis zum andern Morgen auf einem Fleck 
fiegen bleiben mußten. Was wir in diefer Nacht alles ertragen 
muhten, mag ic Euch garnicht erzählen ; Ihr werdet es Eud) aber 
felbjt jehr leicht denfen können, wenn id) Eudy je da wir nichts 
weniger als intereiiante Denfchen zu unfern Neifegefährten hatten 
und da jelbjt biefe meiftens feefranf wurden. Auch Napp befiel 
fran und num war ich, der ich auf der ganzen Reife gefund blieb, 
in einer peinigenden Lage. Ich verjuchte es, zu ichlafen, dod) 
«8 war mir nicht möglich; drauf ging ich aus der Ntajüte auf 






300 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


das Verde, aber and hier fonnte ich nicht lange bleiben, denn 
die Nacht war jehr falt; bald unterhielt ich mich dann aber audı 
wieder mit einem Bekannten aus Dorpat, dem Studiojus Adolphi, 
den wir ganz unvermuthet am Bord des Schijfes fanden, und auf 
diefe Art fuchte ich mir die Zeit bio zum nädhiten Morgen um 
5 Uhr zu vertreiben, um welche Zeit wir unfere Neife weiter 
fortjegten. Die Fahrt über das Hafi madjten wir in 11 Stunden 
vedht glüdlich, mußten aber, da es jchon ziemlich ipät war, in 
dem Dorje Schafen übernachten. Kaum waren wir aus bein 
Schiffe geitiegen, jo fing es an zu finfen und wäre fait gang ver: 
funfen, wenn nicht 10 - 12 Mienfchen bemüht gewejen wären, es 
zu retten. Cs hatte den Abend vorher durd) das Stranden einen 
To ftarfen Lest erhalten, da das Waifer unanfhörlid hineinftrömte 
und es wundert mic, daß wir unfere Fahrt jo gut zurüclegten, 
da bie Wellen jehr had gingen und c& den ganzen Tag recht 
fürmifh war. Wie jehr wir uns freuten diefes elende fleine 
Fahrzeng verfaflen zu haben, fann id) ud) nicht beidhreiben; 
wäre es früher als am Ufer des Hafis geiunfen, jo wären wir 
alle verloren gewejen; denn wir hatten nicht einmal ein Woot 
mit, auf welches wir uns hätten retten fönnen. — Schafen ver- 
fießen wir am andern Vorgen auf einem großen, fchlechten Yeiter: 
wagen, iu Gejellichaft einer Haushälterin, einer Köchin und eines 
Knoten. Die Köchin lachte über alles und die Haushälterin hörte 
garnicht auf, über die Nippenftöhe zu lagen, die fie erhielt. — 
Bei dem Nönigsberger Thor follten unfere Saden vifitirt werden. 
Der Bejucer jagte uns, wir müßten unfere Saden alle durd): 
fuchen fajien. Ich idhiefte mic) aljo dazu an, meinen Dianteliad 
aufsuichniwen; doch er lieh mich garnicht dazu fommen, jondern 
hielt mir immer feine Hand Hin. cd bemerkte es bald, was er 
wollte, und jtete ihm einen halben Gulden in die Hand. Drauf 
fagte er mir, „wir beide haben mit einander nichts mehr zu thun, 
machen Sie Ihren Manteliat nur garnicht auf“, umd lieh; uns 
zum Thor hineinfahren. Wir jtiegen in einem Wirthshaufe, die 
goldene Noje genannt, ab und id) begab mich num gleich zum 
Decan der Philos. Facultät, Confiorialrath Wald. Plein Eramen 
fegte er auf den andern Morgen fell. Mit einiger Angit ging 
id) hin, freute mid) aber nicht wenig, als ich Tab, daß fie fehr 










Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 301 





bhonnet zu Merfe gingen ımd mir jagten, dai eine ntliche 
Disputation jegt umnöthig fey, da jept Ferien wären. Meine 
Eraminateren waren die Profefforen Wald, Wrede, Hüllmann, 
Hagen, Herbart, Gaspari, Yobed und Later. -—- Das Eramen 
dauerte doch Länger ımd war jehwerer als ich glaubte; allein es 
ging doc alles recht aut und am andern Tage erhielt ich mein 
Tiplom, das ehr ehrenvoll für mich abgefaht it. -- — Genauere 
Vefanntichaft habe ich Hier mit folgenden Profeiioren gemad 
Bırdac, Later, Gaspari und Wald. Jeder von ihnen fieh mich 
zu fid) einladen. Es ift mir fehr erfreulich geweien von diefen 
Männern mit jo vieler Herzlichfeit und auferordentficher Zuvor: 
tommenheit behandelt zu werden. Worzüglid muß id) YBurdadı, 
Saspari und Vater loben. Zie haben mir jo manches Merk 
würdige hier gezeigt und wollen durchaus noch feinen Abichied 
von mir nehmen; ich joll durchaus immer noch einmal zu ihnen 
gehen. — ud) den alten Siruve habe ich bejucht und ihn ganz 
fo, wie er in Dorpat war, wiederfunden. Sch muß fait jeden 
Mittag und jeden Abend bei ihm fpeifen, mit ihm umberlaufen 
und alles, was fid hier nur einigermahen auszeichnet, jehen. 
Seine Frau, eine Lioländerin, freute fi außerordentlich, wieder 
einen Yandsmann zu Äprechen  Unaujbörlich muß ich ihr erzählen, 
bald etwas von den Weniden in Yivland, bald etwas von der 
diehjährigen Yernte u. dal. 























Berlin, den 2 1sı 





September a. St. 





So wäre ich denn num endlich in Berlin angefommen! 
wo id) jo viele thenre Areunde vorgefunden Habe, die mid mit 
derielen Herzlichteit und Kreundichaft, wie einft in Dorpat 
behandeln: Nraudling, Hartung, Toltien, Hartmann und Körber. 
Dit Araudling wohne ic Zimmer an Zimmer, bei der Profeiiorin 
hlofjer. Wir führen ein für mich hödhft inierefianteo Leben, 
denn jeden rgen find wir zufammen md jprechen über Boefic 
und Literatur überhaupt, oder wir machen aud) wohl einen Spazier 
gang und freuen uns dann nicht wenig über die jchönen Pläge 








302 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


und Gebäude Berlins. - Die Stadt it groß und geräumig, 
die Gaffen find breit und die Käufer in einem einfadhen, aber fehr 
geichmactvollen Styl gebaut. Vorzüglich anziehend find für mid) 
der Wilhelmsplag und die Yinden, die von dem Univerfitätsgebäube 
anfangen und fid bis zu dem einfach-ihönen Brandenburger Thor 
eritveden. Gleich aus diejem Ihore fommt man in eine redt 
hübjche Anlage, den Thiergarten, durch den man in die Zelte 
weht. Auf dem ganzen Wege bis zu den Zelten trifft man überall 
eine guoie Denge von Spazierluftigen und feinen Jungen, von 
denen der eine Cigaros, der zweie Früchte, ein dritter jeine 
erde zu Yuftfahrten umd nod) ein vierter Xolslieder (größten: 
teils Zpottgedichte auf Napoleon) zum Verkauf anbietet, oder fie 
and für ein Paar Grojchen in dem Berliner TDialeft mit lauter 
Stimme abiingt. In den Zelten findet man neben Duft, Speiie 
und Getränf auch immer viele der berühmteften Schriftiteller, 
namentlich habe id) bier den befannten Franz Horn und den 
berühmten Juden Beng David fennen gelernt. — — Geitern 
wurde ich von dem berühmten Schleiermacher immatrieufirt. 
Den vorigen Sonntag habe id) diejen großen anzelredner predigen 
wehört und habe ihn anftaunen mülfen; denn eine foldhe Predigt, 
ohne Concept, und ein joldher Vortrag ift mir nad) nie vorgefommen. 
Leider find aber die Predigten diefes Mannes nichts weniger als 
für dus Herz, jondern bloß für den Verftand; fie find treiiliche 
vhitofophiiche Abhandkungen. Bon Yandslenten, die ich fenne, 
find aufer den früher genannten hier folgende: Gujtav Engelhardt, 
Grünewaldt, Fod, ZSeraphim, Wagner, Adolphi und Meiife, mit 
welchem lepteren ich wahricheinlid mod) vor dem Anfang der Bor: 
leiungen eine Neile nad) Dresden, Halle und Leipzig made. 
To ich muß jchliehen, denn eo find jchon wieder mehrere meiner 
rende bei mir, die gewaltig ipectafeln. In einigen Tagen ziehe 
id mit Hartung zufammen. 














EN 





in, den 6.18. Oft. 1815. 


och nie habe ic mit einer foldhen Vegeifterung die Feder 
ergriffen, um am Eud zu Ichreiben, als gerade heute. — Wie 


Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 303 


tommt das? werdet ihr fragen und id) antworte Euch freudig, 
dah ich heute früh die Vefanntichaft eines unferer genialiten 
deutihen Schriftiteller, des allgemein gefeierten Yaron be la Motte: 
Fonque gemacht habe. Schon gejtern lernte ic) diefen ausgezeichneten 
Mann von Anfehen im Theater fennen, wo zum erjten Male 
fein dramatijcdhes Gedicht „die Heimkehr des großen Kurfürften“ 
aufgeführt wurde. Hödjt interejlant war es mir, ihn während 
der Vorftelung zu beobadhten und bei jeder militäriihen Scene 
feine febhafte Freude zu bemerken. Fouque war mit Nußlauds 
und Preußens tapferen Kriegern in dem vorlegten Nriege gegen 
das ruchloje Heer der Franzofen gezogen umd fehlte in feiner 
Schladt, in feinem Gefechte, und Gott jdügte ihn wunderbar 
in taufenbfältiger Tobesgefahr und führte ihn durch die Tage von 
Lügen, von Yauzen, von Haynau u. |. w. ohne Vermundung als 
eine unbedeutende, durch den Sturz eines ihm in der Schlacht 
bei Lügen unter dem Leibe ericofjenen Pferdes. Auch in der 
Schlacht bei Leipzig focht unjer Held und Dichter noch rühmlicht 
mit, forderte dann aber, feiner durchaus geichwächten Gejundheit 
wegen, ben Abichied, und erhielt ihn vou dem Könige, für fein 
friegeriiches Verdienft mit dem Charafter eines Majors von der 
Kavallerie und Nitters des St. Johanniter-Ordens begnabigt. 
Seitdem lebt er auf feinem jüillen Yandfige feiner Wiederherjtellung 
und feiner Kunfl. — Diefen Dann, den ich ihon als Dichter und 
Dienschen, che id) ihm nod) gefehen hatte, innig liebte und adhtete, 
ich ich jest und ward für ihm jo eingenommen, baß id) ben Ent- 
Ihluß fahte, ihn am andern Tage zu befuchen. Meinen Vorfag 
vealifirte id und werde nie aufhören, mid) darüber herzlich zu 
freuen. Treuherzig trat ih zu ihm in feine Stube und fagte 
ihm grade heraus, daß ic) gefommen jey, um ihm fennen zu 
fernen. Diefe Aufrichtigfeit fehien ihm zu gefallen, denn er 
nöthigte mic zum Zigen, jegte mir ein Gläschen Wein vor und 
unterhielt fi mit mir eine ganze Stunde auf das Lebhaftefte. 
Im der Mitte der Unterhaltung ergriff er einmal meine Hand, 
drüdte fie herzlid und jagte mir, „es freut mich herzlich, daß Sie 
mich bejucht haben; fo fiebe ich die Menihen; — Sie müjlen 
mich bald wieder bejucen.“ —- Ueber diefe Worte, die der treffliche 
geiitvolle Mann in jo biederem deutfchen Tone zu mir fprad), freute 













304 Ans MW. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


ich mic) in dem Ghrade, da; ich aufitand und freudig einen Sprung 
machte, wobei mir die Thränen in die Augen traten. Er bemerfte 
mein Entzüden und fagte: „Wir müfen näher bekannt werden.” 
Drauf ermiderte ich ihm noch freudiger, dal diefe Stunde m 
zu den jchönften, aenufreichjten meines Lebens gehöre und mir 
festen uns wieder umd fpraden nod) ein halbes Stündcen über 
die tapfern Nuffen und Preußen, drauf über Nlinger und feine 
Schriften und endlich Über die Vorftellung feines vorhin erwähnten 
dramatifchen Gedichts, wobei er manche jchr intereifante Bemerkung 
machte und ich mich wieder innig freute, daß wir in unferm 
Urtheile ganz zuammentrafen. Während dieies Gefprächs äußerte 
ich einmal ganz naiv, dal cs mir leid thäte, daher, ein Dann, 
der in feinen Schriften jo deutic it, einen franzöfichen Nanıen 
hat. IE mm, fjagte er freundlich, man mul; mich, worüber ich 
mid) immer anfrichtig freue, mit Zeume den neuen Wolfer 
nennen. Unter foldien Gejpräcen entfloh mir die Zeit jcneller, 
als id) es gewünicht hätte. Ic empfahl mid) ihm, er aber reichte 
mir noch einmal jeine Hand, drücte die meinige herzlich und 
fagte mir: „Ach mehme von Ahnen nur auf furze Zeit Abichied, 
dein ich baffe auf ein freudiges recht baldiges Wiederiehn; Lie 
werden mich doch wohl bald wieder beinden. ch bleibe noch 
14 Tage in Berlin.“ Und id) gebe wieder zu diefem trefilichen 
Mienfchen und follte and die Kölle mit allen ihren qrinzenden 
Ungehenern mir den Gang zu diefem wahrhaften Helden und 
Dichter erfhweren. Um old föftlices Gut muß man auch 
känpfen Eönnen. 

Seht, qute theure Eltern, o glüdlich geht es mir bier in 
der Fremde. ch glaube, der Zenen meiner Eltern ruht auf mir, 
und ich werde in diefem fchönen Slauben immer mehr beitärtt, 
wenn ich noch an manches andere glückliche Ereignif denfe, weldes 
mir Hier in Verlin begegnet ift. So wurde ich vor einigen Tagen 
mit dem alten Scheimen Natb Schmalz befannt. ab munte zu 
ihm gehen, denn ich hatte ein Eeines Pädcen von dem alten, 
würdigen Gonfijtorial Math Wald in Königeb meinem Promotor, 
abzugeben. Wo Schmalz den Brief von Mald geleien hatte, 
unterhielt er fihh nod einige Zeit mit mir fehr freundlich und ats 
ih weggehen wollte, bat er mich ehr angelegentlich, ihn redht oft 





































Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 305 


zu bejuchen. Zugleich jagte er mir, af er jeden Abend von 
7 Uhr an zu Haufe wäre, und da; ich ihm, wenn ic mit einer 
Taffe Thee, einem Yutterbrod, ein wenig Zleifh) und einem 
freundlichen Geficht vorlicb nehmen wollte, immer ein fehr will- 
fommener Gajt wäre. cd werde diefe Aufforderung nicht unbe 
mußt (ajfen, denn id) veripredie mir in dem Unmgange mit diefem 
geiftwollen Manne nicht nur vielen Genuf, jondern zugleidh aud) 
Belehrung für mich als Juriften, da Schmalz befanntfich zu den 
größten jegt lebenden Nechtsgelehrten gehört. Er it ein Kleiner 
itarfer Dann mit marfirten Gefichtszügen; in feinem Benehmen 
bofartig; in der Unterhaltung Iebhaft. Auch in dem alten Beller- 
mann, an den id) von Hezel empfohlen war, habe id) einen redt 
ichaffenen, braven Mann fennen gelernt. Er hat in feinem Wejen 
viele Aehnlichfeit von Hegel, dod) mit dem Unterichiede, dal er 
männlicer, aber auch zugleich fülter als jener Zwei Mal 
habe id) ihn icon bejucht und bei meinem erjten Vejuche eine 
fleine Schrift über Phönicifhe und Puniiche Münzen, die der 
Alte neulid) herausgegeben Hat, von ihm zum Gejcyenfe erhalten. 
ud) er hat mic) aufgefordert, ihm vedht oft zu bejuden, und jo 
hoffe ich denn, im Umgange mit diefen Diännern umd meinen 
lieben Freunden ein recht glüdliches halbes Jahr in Verlin zu 
verfeben. Nur schade, dal es Dier jo unmenichlic) theuer ift. 
Für Quartier, mit Heizung, Bedienung und Naffe muh man bier 
monatlich, wenn man fi auch nad) jo färglid) einvichtet, 20 Nbtr. 
Gourant, alio 20 Rl. Sild. nad) unjerem Gelde zahlen. Für 
Eiien fann man monatlich 5 Nhlr. Conr., für Wälde und andere 
Kleinigkeiten gewiß; eben jo viel, wo nicht noch mehr rechnen. 
Auch die Vorlefungen mu man hier jehr thener bezahlen; id) 
höre 3 und die fommen etwas über 30 Ahle. zu ftehn. 

Aber es ijt mir nicht vergönnt, Euch heute mehr zu Ichreiben, 
denn der Nigiihe Kaufmann Vergengrün, der biejen Brief 
mitnimmmt, reift chen morgen früh ab und jet it es chen 
12 Uhr in der Nacht. Nur das Cine muf; ich Euch noch melden, 
daß ich den alten Greis Körner im Theater aefehen habe. nf 
feinem Gefidhte ruht tiefer Ernjt und in jeinem ganzen Mejen 
fpricht fid) der tiefe Schmerz, der an feiner Crele nagt, deutlich 
aus. Neulich hat er das ichredlihe Schicjal gehabt, feine einzige 














306 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


Tochter (fein legtes Kind) zu verlieren. Sie unterlag dem Gram 
über den Tod ihres Bruders, nachdem fie furz vorher das Porträt 
defjelben und feine Srabftätte gemalt hatte. Lebt wohl! Gott 
erhalte Euch bis zu meiner Nüdfehr alle immer redht wohl. 

Den 23. Oft. n. St. trifft bejtimmt unjer Kaijer hier 
auf feiner Reife nad) Rußland ein. 





Verlin, den 11. November a. St. 1815. 


6s war doc) ein jhöner Tag, der 13. Oftober a. St. Noch, 
ift fein Herbjttag mir in meinem Leben fo heiter, jo flar vor- 
gefommen; feine feuchte Nebefwolfe durdzog an biefem herrlichen 
Tage bie Luft; alles war jill und ruhig; — in jtiller Majejtät 
ftrahfte die Sonne von ihrem fernen, erhabenen Throne auf die Erde 
herab und ihr ihöpferiiches Licht gof neues Leben in die ganze 
Natur. Nad) einer langen, intern Naht athmete and) id) wieber 
freier, €8 ahnen, welch grofie Freude mir an diefem Tage bevor: 
fände und 5 war mir unbefhreiblih wohl. Dody wohler noch, 
als 06 mir am ganzen Tage gewejen war, ward c6 mir am 
Abend, als nicht amerwartet, wohl aber für den Augenblid unver: 
muthet, der Poftillon in meine Stube trat und mir einen Brief 
von Eudy bradhte. Bei dem Anblid der wohlbefannten, theuren 
Schriftzüge jtürzten mir die Tränen aus den Augen umd ich 
fchwelgte in namenlojem Entzüden. ud alle grüßte ich) aus der 
Entfernung wieder, — hr alle, Vater, Mutter und Gefcdwilter, 
Intel, Tante und die lieben einen, und du, mein Bruder 
Schwarg, Ihr alle umgabt mid) wieber nad) langer Zeit und viele 
viele Schöne Tage verlebte ih durch Euch mit Eud. Nie fann 
id) meinen Schranf öffnen, ohne zugleid Guren theuren Brief 
immer wieder herauszulangen und ihn mit manden Freuden: 
thränen zu benegen. Den 8. Oftober a. St. wohnte 
id) zum erften Male den Turnübungen auf der Hafenheide, etwa 
3 Werft von Verlin, bei. Cs ift unglaublich mit wie großer 
Geihwindigfeit hier die jungen Leute Springen umd flettern. An 
der Spige diejer Schaar von Jünglingen erblictte id) einen ziemlich 


Aus MW. v. Ditmar’s Reifebriefen. 307 


großen, jtarfen, ältlihen Mann, der mir in feiner Kleidung von 
Segeltuch jehr auffiel. Id erfundigte mid) nad) jeinem Namen. 
Dan fagte mir c6 fen der Dr. Jahn, der Verfaiier des deutichen 
Voltsthums. Wie unendlich id) mic freute, diejen wadern Dentichen 
fo findlich heiter und froh zu fehen, fann ich Euch) wahrlich nicht 
fagen. — Die Leibesübungen werden hier auf einem großen, um: 
zäunten, mit Bäumen bepflanzten Plag angeitellt, den der König 
dem Dr. Jahn zum Behuf derfelben geichenft hat. Ueber die 
Bäume ragen die Gerüfte zum Niettern und Springen hervor. 
Kein Seil hängt müflig da; an einem jeden ficht man einen 
Knaben von Carlos Größe und Alter hängen und jid) beitreben, 
ben höchjten erflimmbaren Punkt zu erreicen. Während ein Theil 
fo beichäftigt ijt, Ipringt der andere mit, der dritte ohne Stangen. 
Einige fchwenfen ih um jtarfe Stäbe, die an zwei in die Erde 
gerammelte Balten befejligt find; andere ipringen über ein grobes, 
höfgernes Pferd, oder aud) über ihre Commilitonen und nod) andere 
laufen um die Wette. — Cs war ein fcöner genufreiher Tag 
für mic, aber nicht minder genufreih; war mir der folgende, an 
welchem dem Volke, zur Feier des Zieges bei Yeipjig, ein großes 
Volfsfeit gegeben wurde. Jeder, der aud nur einen gefunden 
Fuß hatte, lief zu dem Ende in den Thiergarten umd ergößte fidh 
an den Gelagen der Harmlos fröhliden Lente. Der große vier: 
edige Pas, auf weldem diefer Tag gefeiert wurde, war Abends 
ihuminivt, wobei zugleich ein Feuerwerf abgebrannt wurde. Che 
«5 aber dumfel geworben war, lieh man alle halbe Stunde ein 
Luftballon jteigen, bald in Gejtalt eines Vienihen, bald in ber 
eines vierfühigen Thiereo oder eines Vogels; oder man ergögte 
fi) auch zuzufehen, wie immer eine große Vienge von Mleniden 
fic) bejtrebte, die aufgerichteten, jehr hohen Balken zu erflettern, um 
bie an der Spige derielben hängenden Uhren, Löffel u. dgl. mehr, 
als Preis ihrer Anjtrengungen, herabzuholen. Ein confujes Freuden 
geidjrei wirbelte durch die Luft; jeder hatte etwas, das ihn 
entzücte und worüber er fdjreien muhte, und wer über nichts 
anderes zu jchreien hatte, rief doch wenigitens mit lauter, Ereiichender 
Stimme: „Der König von Preufen fol regieren; der Kater 
Napoleon foll Trepiven; Wivat (v wie f ausgeiproden), es Iebe 
das Preußiiche Haus.“ So jubelte das unter der jehr lobens- 








308 Aus W. v. Ditmar’s Heifebriefen. 





würdigen Negierung höchit glücliche Volt bis in bie tiefe ipäte 
Nacht und fehrte erit heim, als jchon das Frühroth die Morgen- 
wolfen vörhete. -— 

Den 8. Oftober a. &t. machte id) der berühmten Dichterin 
Gräfin Elia von der Nede meine Aufwartung. Ihr findet: eine 
Sammlung ihrer Gedichte unter den von mir Euch zurücgelafienen 
Büchern. Einige Tage früher, als ich zu ihr ging, hatte Nraudling 
mit ihr von mir geiprochen und fie, dur) bieies Geipräd, ver- 
anlaft, den Munich geäußert, mid fennen zu lernen. Freudig 
ging ich zu ihr, lieh mich durd den Diener bei ihr melden und 
wurde nad) einigen Augenbliden hineingebeten. Ad) trat in eine 
einfad) aber jauber möblirte Stube, in welcher die geütreiche Fran 
auf einem Zoffa jah. Yei meinem Eintritt: in diefelbe jtand fie 
freundlich auf, fam mir entgegen und reichte mir die Hand, mich 
herzlich bewillfommend. In den erjten Angenbfiden war ich ein 
wenig verlegen, aber bald wieder Muth und jagte ihr, dat; 
ich mich jehr glüclic ihäpte, die Velanntihaft einer Frau zu 
machen, die ic aus ihren Schriften jhon früher Fennen und innig 
lieben und hodichägen gelernt hätte. —- Hierauf erwiderte jie mir: 
„Zenn fie mir herzlich willtommen, mein lieber junger freund 
und Yandomann. Co ift mir außerordentlich lieb, dab grade Zie, 
ein ivländer, mic befunden, deswegen jchon fehr lieb, weil 
gewöhnlich eine Heine Feindichaft zwilchen Liv: und Aurländern 
angetroffen wird. Doc, da Zie feinen Yandsmannidaftofinn haben, 
und wir überdem Unterthanen eines großen Neicheo find, die fi 
lieben jollen und müfen, jo wollen denn aud wir uns berjlic, 
und innig lieben. Bejuchen Zie mid) mır reht oft; auch werden 
Sie bei mir den Herrn Tiedge Fennen lernen." Nadıdem Sie 
diefes gefagt hatte, reichte fie mir ihre Hand und führte mid) zum 
Soffa, danit id) mich jegen möchte. Noch che id) mich aber nieder 
feste, fagte id) ihr einige Verbindlichfeiten und Fühte mit Innigfeit 
ihre Hand. Drauf Mnüpfte fie ein höcjt interefiantes Geipräd) 
über ihre Neiien durd) Deutjehland und Jtalien an und unterhielt 
mid 4 Stunden auf die angenehmjte Weile. Während des 
(d)5 jagte jie mir einmal ö 
Ir offenes Gefiht fpriht mir dafür, da; fie ein guter Menich, 
find, und eo freut mich unendlich, daf; Zie die Jurisprudenz 




















Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen. 309 





ftudiren, denn c& ich, wenn edle junge Männer die 
Richter in einem Lande find. Und Zie find ein edler junger 
Dann (dieß find alles ihre eigenen Worte). Zchen fie mid wie 
Ihre Mutter an. Durd) meine Erfahrungen werde id hnen 
vielleicht mandes Mal nügen fönnen.“ Bei diefen Worten traten 
ihr die Thränen in die Augen. Auch mir gings nicht bejjer, nod) 
einmal fühle ic) dankbar die Hand der edlen Frau und empfahl 
mid) ihr. Doch che ich wegging muhte id) ihr nod) meinen voll: 
jtändigen Namen und meine Wohnung anfichreiben und ihr nad) 
einmal veripredhen, ie öfters zu befuhen. Mittags ipeife ih um 
2 und Thee trinke ich Abends um 7, rief fie mir noch nad. — 
Bis jest bin ich aber noch nicht wieder bei ihr geweien; doch in 
diefen Tagen will id) wieder hingehen; denn erjt ganz neulich) 
ichiette fie ihren Diener zu inir und lieh mich auffordern, fie dod) 
wieder einmal zu bejuchen. Aljo mehr über die edle Elifa (fo 
wird fie allgemein genannt) in meinem näcjten Briefe. 

An 12. Oktober a. St. fam der Nailer Alerander hier an. 
Alle Einwohner Berlins cilten dem wahrhaft grofien Nriegohelden 
entgegen, um ihn zu jehen. Dah aud id, Aheure Ettern, bei 
diefem Auflauf nicht fehlte, Tnnt Ihr Euch leicht denken. Gtüd: 
licher Weife fand ich einen Plab, von dem aus ich alles jehr gut 
überjehen fonnte und daher eben wird co mir jegt and) möglich, 
Euch jo mandyes über den Einzug unjeres trefjlichen Naijers in 
Berlin zu melden. — Die gefammte Garnifon der hiefigen Nefidenz 
war außerhalb des Frankfurter Thores anf dem Wege nad) 
Friedrichsfelde (ein etwa eine Meile von Berlin entlegeneo Fü 
liches Luitichloi) in großer Yarade dergejtalt aufgeitellt, dal der 
vedhte Flügel (die Infanterie) fi) an das Thor anfchnte, der infe 
Flügel (die Cavallerie) bio auf die Hälfte deo Weges nad) Kriedriche- 
felde hin ftand. Bei der Annäherung des Wagens fan demjelben, 
auf taufend Schritte weit, ein Gocadron Garde du Corps entgegen 
und bildete die Escorte in der Art, dah ein Zug vor und drei 
Züge hinter dem Wagen deo Naifero titten. — Als er nun jo 
bei dem linken Flügel angefommen war, wurde er aus 20 bei 
der Windinühle von Ariedrichsfelde aufgepflanzten Nanonen mit 
101 Schuh begrüßt. Von hier an nun ritten der Kalle, der 
König, die Prinzen (aud unfere beiden Grohfürften) und die 























310 Aus MW. v. Ditmar’s Reiebriefen. 


gejammte Suite die Fronte herunter, wobei ihnen von den Truppen 
die Honnens gemacht und Hurrah gerufen. warb. — Als ber 
Naifer das Ende des redhten Flügels erreicht hatte, hielten beide 
Mojeftäten innerhalb des Thores jtille und lichen die Truppen 
in Gefchwindidritt en Parade defiliren und als die Heihe an 
das Neferve:Bataillon des Genadierregiments des Raijers Alerander 
fam, febte er jih an die Spike des Yataillons und führte das- 
felbe, indem er dem Nönige die militairiichen Sonneurs machte, 
jelbjt vorbei und nahm dann wieber feinen Plag bei dem Könige 
ein. Jept begann unter dem Geläute aller Gloden und dem 
Donner des Gefchüges, der feierliche Zug, in welchem die Ravallerie 
vorausritt, duch die Frankfurter, Raifer- und Rönigsftraße, über 
die (ange Vrüde bei der Schlohfreiheit vorbei, zu dem nach dem 
Luftgarten führenden Schloßportale, unter betändigem Vivat des 
Volls und bem Hurrah ber, nebit der Vürgergarde, nun zu beiden 
Seiten der genannten Strajen aufmaridirten Infanterie. — Unfer 
Kaifer Hatte die Prenfiihe Uniform an und trug and) nur den 
Preufifchen fchwarzen Abler-Orden ; der König und die jämmtlichen 
Prinzen aber den Aufiihen St. Andreas-Trden. — Im Heinen 
Schlohhofe, wo der Naifer vom Pferde jtieg, hatten fich die Nönig- 
lichen Bagen, Kammerheren und die Hof-Chargen zu feinem Empfange 
verfammelt und auf der Treppe Famen ihm die Prinzeffinnen des 
Nöniglichen Hauies nebit ihrem Hofflaate entgegen. Der Hafer 
führte die Pringep Wilhelm, der Großfürfi Nicolai die Prinzeflin 
Charlotte und Michael die Prinzeflin Friederike. — So viel, innigit- 
geliebte Eltern, habe id) von dem Einzuge und Enpfange unieres 
Haifers gefehen; was mun aber in den geheiligten Hallen des 
Schlojfes weiter vorgefallen ift, weil; ich nicht. Mit dem Einbruch 
der Nacht war die ganze Stadt prachtvoll erleuchtet, wobei fid 
mehrere König. Gebäude theilo dur Transparente, theils durd) 
bie architektonifche Art ihrer Erleuchtung auszeichneten, j. B. die 
Münze. Weber der Ihüre derjelben jah man ein allegoriiches 
Bild, auf weldem Jupiter in feinem Wiergeipann vorgejtellt war, 
Blige auf ein Ungehener (Napoleon) fjleudernd und unter dem: 
jelben jtanden folgende Worte, die Cud) Schwarg überjegen mag: 
„Typhone altero. eum e entenis prorupisset. nune penitus 
prostrato alma pax redit cum eaque Plutus et Moneta. — 


Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 311 


Von Hier veijte der Nailer, wie man fagt, nad) Warfchau, um jic) 
frönen zu lajfen und in einigen Tagen wird ihm die Naiferin, die 
hier am 6. November a, St. mit ähnlichen Feierlichkeiten wie der 
Raifer empfangen wurde, dahin folgen, um ebenfallo gekrönt zu 
werden. Noch einige Worte über die Feier des Verlobungs: 
tages des GSroßfürften Nicolai mit der Prinzejfin Charlotte. — 
An diefem für Preußen und Nuhland gewih; hödit erfreulichen 
Tage wurden die hier anwelenden Kuffifchen Truppen für Nechnung 
des önigs im Zeughaufe geipeift und am Abend ward ihnen in 
eben demfelben Gebäude ein Ball gegeben. Aber erfreulicher als 
dief war mir noch, 5 deutlich gemahr zu werden, dah; aud, die 
gefrönten Häupter die Wichtigkeit diefes Tages To jehr erfannten. 
In diefer Muthmafng ward ich fchr beitärkt, als ich am Abend 
die einfache, aber gewiß ehr finnreiche Erleuchtung der Linden 
jah. In einiger Entfernung von einander jtanden nämlich ab: 
weclelnd bald ein Nufliiher bald ein Preuhiiher Adler von Gnps 
und zwiichem jedem Paar Adler foderte neben einer hohen weißen 
Fahne eine Opferflamme body in die Luft auf. Ein Bild der 
Vereinigung PBrenfens mit Nufland und des Danfopfers dafür, 
das man dem alhvaltenden Gotte brachte. Auch hatten an diefem 
Tage, als eine befondere Ehrenbezeugung, die man dem Naifer 
erwies, die Nuffifchen Truppen alle Wachen bejegen müflen. Ich 
fann wohl jagen, dal; id darüber entzüdt war, wieder einmal, 
wenn gleich auch erjt nad) jo fehr furzer Zeit meiner Ent: 
fernung von Hufland, Nuffiiche Soldaten auf die Wade ziehen 
zu fehen. 

Den 21. Oftober a. St. bradjte ich eine Heine 
Albanıs in Niga und eine andere von dem Nanzelleirath Elevogt 
in Vitan zu dem alten berühmten Dufeland, dem Verfaier der 
Viatrobiotit. Ich lie mic, durd den Diener bei ihm melden, 
mute aber eine ziemliche Zeit warten, che er erichien. Co war 
an einem Donnerftage; ungefähr um 11 Uhr Morgens. Nach 
einer halben Stunde fam eine ziemlich lange Geftalt aus einer 
Scitenthüre zum Vorihein, verbeugte fich jehr jteif gegen mich 
und erwartete jehweigend mein Anliegen. Ich trat zu ihm mb 
überreichte ihm die beiden Schriften, die er bejah und drauf zu 
mir jagte: „Werzeipen Sie, dal; id) Sie jegt nicht länger unter: 

u 




























2 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 


halten fan, denn ich mu gleich zu einen Patienten fahren. 
mic) aber von jet an bis zum März jeden Donnerstag 
bejuchen, jo wird e> mir lieb fenn; Sie werden hier mit manchen 
intereffanten Vianne befannt werden. Heute Abend z.B. fönnten 
Sie herfommen.“ Diejfe Einladung nahm id) danfbar an und 
werde nie aufhören, mich darüber innig zu freuen, daß es mir 
bier fo glüclicd) geht. Schon ein Paar höchft unterhaltende Abende 
Habe ich in dem Haufe dieies größten jept Lebenden Arztes ver: 
lebt; beionders interefjant war mir glei) an dem eriten Abende 
ein Urtheit über den thieriichen Viagnetismus, das der würdige 
alte Sufeland füllte. Er erzählte nämlich, da eine Frau, die 
früher geblendet geweien war, zu ihm gefommen fey und ihn um 
jeine Hütfe gebeten Habe. Vergebens hätte ex ein halbes Jahr 
alfe num erdenfbaren Vittel angewandt, um fie wieder Herzuftellen. 
aber feines rechte Wirkung gethan habe, fey er in einer Nacht 
auf den Gedanfen gefomsten, fie zu magnetifiren, und nur durch 
den Magneliomus wäre er im Stande gewefen, fie von ihrem 
Uebel zu befreien. Sonderbar genug, fehle er hinzu, evt vor 
furzer Zeit hatte ich gegen diejeo Heilmittel geichrieben und nun 
wurde id) plöslich won der Anwendbarkeit besielben ganz über: 
zeugt; jeit diejer Zeit glaube id) aber num and) fieif und feit an 
die beinahe übernatürlichen Wirfinigen deo Vlagnetiomus. Wirklich 
bört man hier aucd von merkwürdigen Nuren, die der Hiefige 
‘PBrofejjor Wolfart machen joll; leider fällt eo aber einem Nicht: 
mebdieiner jehr jhwer denfelben beiswmvohnen. Dennod) glaube ich 
jest aber an alle Heifungen durch den Vagnetismns, obgleich ich 
jetbjt noch nichts neiehen habe, weil mich der alte treffliche Hufe: 
land, der König unter den Herzten, vericherte, daf; er Durdaus 
micht zu verwerfen jey. — Vielleicht wirft aud Du, guter Vater, 
jet nicht mehr dem arnıen Schwarg jo Hartnäig opponiren, wenn 
er über den heiffamen Cinftuß; des Magnetismus auf die nerven: 
ichwachen Patienten spricht. — — Der Ton in dem Hufelandihen 
Haufe ift Fehr ungewungen. Um "37 Uhr geht man zum Thee 
bin, begrüßt bei feiner Ankunft den Wirt) und die Wirthin, 
unterhält fach dann mit den dort verfammelten geiftwollen und 
berühmten Männern fo lange man Xujt hat, und verläit die 
Gejellichaft wieder, wenn man glaubt, dal co Zeit it nad) Haufe 


Sollen Si 





























Aus W. v. Ditmar's Reifebriefen. 313 


zu gehen. Don berühmten Männern habe ich bort geiehen den 
groen, genialen Componiiten Zelter, den Botaniker int und den 
Philojophen Kiefewetter; befannt geworden bin id) mit dem 
Chemiker Tourte, dem Medieiner Ofann, dem erjten jegt lebenden 
Ajtronomen Bode und dem rühmlid; befannten Chemiter Hermb- 
ftädt. Die beiden zulegt genannten Männer haben mid) aud) ein: 
geladen, fie zu befuchen. Mit dem eriten bin id) jchon recht genau 
befannt, denn id) höre bei ihm ein Collegium über Ajtronomie 
und bfeibe oft no) reiht lange nad) ber Stunde bei ihm. Bei 
dem fepteren bin id aber nod) nicht gewefen. — — An eben 
dem Tage, an welchem ic das Glüd hatte in dem Hufelandichen 
Haufe befannt zu werden, machte id) aud) noch einen Befud) bei 
dem berühmten griediihen Spradhforfcher Yuttmann und bem 
Staatsrath Nicolovius. Lepterer forderte mich auf, ihn fo oft zu 
bejuden, als es meine Zeit erlaubt, und erjterer, ber bei der 
Hiefigen Vibliothek angeftellt it, Hat mirs erlaubt, immer in 
diefelbe zu gehen, wenn id) jtubiren will. An beide Männer 
hatte id) Briefe von meinem alten Struve in Königoberg 
abzugeben. — 

Einige Tage ipäter lud mid) der Geheimrath Schmalz ein, 
im zu befuchen. Es war der Geburtstag feiner älteiten Tochter. 
Der Abend, den ich dort verlebte, gehört mit zu den genufceidjiten 
hier in Verlin. Die ift denn aud) der erfte Ort, wo id) hier 
zum Abendejlen geweien bin. Ich erzähle Eud) die, weil mir 
die Reihenfolge der Speifen jehr auffallend war. Juerjt wurde 
Schjenzunge umbergereicht; drauf Faltes Salzfleiih, dann Neun: 
augen, hierauf Sülz, Pflaumen, Kuchen und dann endlich Räfe. — 
Schmalz ift ein Mann, der außerordentlid; viele Feinde hat, mir 
aber feiner bedeutenden Nenntniffe und feines Geifteo wegen, 
fo wie aud durd) jeine außerordentliche Güte gegen mid) fehr 
lieb und theuer ft. 

Am 26. Oft. a. St. erhielt id) folgenden Brief, als id 
eben im Gollegio bei ‘Burgold war: „Lieber Ditmar! Lies diefen 
Brief ja nicht laut und tee ihn gleid) nad) dem Lefen zu Dir, 
aber vorfichtig! — Du bijt um 6 Uhr zu — — (ja, zu wem? 
Das magjt Du errathen, wenn Du fannjt —) — beidhieden. 
Kommft Du aud ein halbes Stündhen fpäter, jo madt es nicht 

ur 


314 Aus W. v. Titmar's Neijebriefen. 





viel aus. Aber eile, womöglicd. -— Entichuldige Dich bei Hrn. Nath 
Furgotd mit einem notbwendigen Gange, der nicht anfzuichieben 
öl. Yebe wohl und auch hen etwas Injtig, vorahnend, bis zum 
baldigen Wicderfehen, das Dich befecligen joll md wird. -- Das 
Dpjterimm  Löft Dir Tonleih Dein Frennd Narl Nonftantin 
strankling.” 39, md das Winfterium löfte fich fo herrlich und 
{weiilih, wie manches unerflärbar fdeinende Problem dur den 
Scharfiinn eines Mannes gelöft wird. Der gute Nraudling hatte 
nänlid dem eriten jest Lebenden Mritifer unter den Deutjchen, 
Krauz Horn, erzählt, dah ich zu feinen wärmfien Werehrern 
nehörte, wodurch er veranlaft mmrde, mich zu fh zu bitten. 
Zugleich fich er mir fagen, da Tiedge den Abend bei ihm 
zubringen würde. Neinen Angenbli jäumte ich, mich gleich in 
meine elegante j—hwarze Mleidung zu werfen und in die Gefellichaft 
ausgezeichneter Männer zu eilen. Schr freundlich nahm mid der 
von mir jhon längit jo jehr verehrte Franz Horn auf amd freute 
fich, mich gleich in feinen Aamilienkreis einführen zu fönnen, 
Meine Freude über diefe abermalige interefiante Belanntichaft 
itieg fo Dach, dal; ich Horn jagte: „ic wünfhte, dal Zie co ahnen 
fönnten, wie glüdtich ich mich fühle.” Drauf jepten wir alle 
uns am den Theetiüch und ich verlebte in der Gefellichaft der 
beiden Tichter Horn und Tiedge einen fo göttlihen Abend, als 
man nur in dem Arche der gelichten Seinigen verleben fann. 
Die Unterhaltung war seht lebhaft ud anziehend; viele fehr 
schöne Züge erzählte Tiedge bejonders von Karl Graf, Engel, 
Goethe, Herder, Hamann und einigen andern und, als wir zum 
zweiten Male dort eingeladen waren, von Yafontaines jchrift 
ftellerifchem Yeben md dem Echter Tiedges, Theodor Körner. 
Einmal traten fogar dem 6ljährigen Sr die Thränen in die 
Augen, als KHorn’s Schwägerin, Yaura Gedife, Körner's Gebet 
während der Schlacht fang, nämlich bei dem Lerfe: „'s it ja 
kein Nampf für die Güter der Erde“ Tiedges Geftalt ijt fo, 
dai; man im ihr ganz gewih nicht die Seele eines Dichters von 
fo hohem ange ahmdet, Er it ein Fleiner, jtarf aebauter, 
bagerer Mann. In feinem Geficdht it nichts bübiches, bis auf 
v ge; diefes ift aber auch jehr geiftwoll, groh und lebhaft, 
um 25 mit einem Worte zu Tagen, ch fchön. Das Geficht 






















































fur; 


Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen. 315 


jelbft iit podennarbig, bejonders die große, die Yabichtsnaie. 
In feinem ganzen Wejen jpricht fid aber fein reines, refigiöies 
Gemüt jehr deutlich aus. 

Am 31, Oft. a. St. fernte ich den rühmlichit befannten 
deutichen Sprachforiher Wolfe fennen. Diefer würdige T5jährige 
Geis gehört zu den liebenswitrdigiten Menjcen, mit denen. ich 
befannt bin. Noch nie habe ich einen Mann gejehen, der bei jo 
ausgebreiteter Gelebrität jo aninruchstos und indlich üit, als or. 
Denn er ift 08, durch den das ganze Schulwelen eine beifere, 
höhere Nicytung gewonnen hat, indem cr den Pbilonthropionms 
mit Bafedow jtiftete, er, der befonders durch feine Kinder 
schriften jo jehr nüßlich geworden fit, er, der die dentiche 
Sprache jo jehr bereichert und vervoflfommnet hat. Von allen 
biefen grohen Werdienften fcheint diefer biedere Greis and nicht 
die entferntefte Ahnung zu haben, eben jo wenig wie von feinem 
hohen moraliichen Werth, indem er jelbit jagt: „Manches Gute, 
das an mir ift und das ic gewirkt habe, it von mir fhon Längft 
wergejjen worden.” — Auch um Nufland hat diefer geitvolle und 
geniale Mann große Verdienfte, indem er 15 Jahre mit dem 
raittofeftem Gifer auf die Verbefierung der Echufen hingearbeitet 
bat, die ihm wenigitens in Petersburg gelungen it, weft er 
denn auch jebt noch eine Wenfion erhält und zum Anil. Safrath 
erhoben worden ill. Belonders merkwürdig it mir an dielem 
alten Biedermann auch das geweien, daf er, obaleih er in feinen 
früheren Jahren feine Anlage zum Dichten gehabt hat, wie er 
jelbft erzähft, jest mit der gröhten Yeichtigfeit Berie machen fan, 
die wunderichön find. *). 

Gen als ich meinen großen Brief an Euch, there Eit 
abjdjieen will, erhalte id) einen Brief von der bimmlifchen Ein, 
der mich daran erinnert, dab ich mod) eine Eurer Fragen 
beantworten muß. Wenn Tu nämlich, gute Mutter, an fie and) 
noch jehreiben willft, jo richte einen und denielben Brief 
auch an Tiedge, denn er erweilt mir ebenfo, wie Elija, die innigfte 
Yiebe. Die beiden edlen 6Hjöhrigen Freunde wohnen in einem 
reinen, entzücenden Verhältnifi zu einander zufammen md nehmen 















































=) Ugl. „Balt. Mon.“ von diejem Jahr &. 140 f. 





316 Aus DW. v. Ditmar’s Reifebriefen. 


es daher, weil fie innige Freunde find, nicht übel, wenn man 
einen Brief an fie beide richtet. Thue es aljo, geliebter Engel, 
Du meine gute Mutter. Auf Deinen wahrlich) fhönen Brief, Du 
alter trefflicher Water, habe id) von der guten Elifa noch feine 
Antwort. — Wahrfcheinlic wird fie Dir jelbft antworten. Lebt 
herzlich wohl! 
Eifigjt 
Euer Woldemar. 


(Zortfegung folgt.) 


up 











Nanibrieje 


X 

Noch immer fteht die „Berliner Gewerbe-Ausjtellung“ im 
Vordergrimd des Iuterefies. Als Schmerzenstind, als Netlame 
Unternehmen, als jtolz nerittenes Sterienpferd lofalpatriotiicher 
Papigfeit, als Prügelnabe - je nachdem -- aber immer wieder 
stoßen wir auf diefelbe Austellung. Freilich -- cs ftedt ja auch 
eine Dlafie Geld darin. 

Op fie mehr zum Klagen als zum Loben Anlaii giebt 
das joll hier nicht weiter unterfucht werden. Was meine perfönliche 
Anjhauung von der Sache und da ich mehr zum Klagen Uriache 
finde — dürfte Ihnen wohl jo ziemlich einerlei j 
überhaupt der Ausftellung Erwähnung the, jo nur, weil fie 
eigentlich die Löfung meiner Anfgabe unmöglich madıt. 
ift ein Brief über die Vühnenfunjt und das Thenterleben Berlins 
umd der eben Läht fh fan fchreiben. lieber 
die Kunjt it aus dem Berliner Theaterleben jo aut wie aus 
fogirt in den Tagen und Wachen diefer eriten Ausftellungszeit, 
auslogirt zu Gunften der Amitfements. Wie die Ansitellung im 
Treptower Park jelbit fi nur als ein Appendir, als ein unver: 
meidlihes Anhängjel an dem Gefammtrummel der zahllofen Ver 
gnügungsunternehmungen präfentirt, jo ijt überhaupt das ganze 
Leben bier zur Zeit allein auf dieien Nammerton des „Du joltit 
Did) amüfiven” abgejtimmt. Und daß heute das „Amüjement“ 












318 Kuntbriefe. 


nicht unbedingt mit der Nunft was zu Ahum hat, häufig wohl aud) 
ihr geflüfentlich aus dem Wege geht — hier jo gut, wie fonjt 
wo -— braucht das erit nach bewiefen zu werden? Aber jo 
frappant pflegt’ Einem nicht immer in die Augen zu fpringen, 
wie eben jeßt. 

Schlagen wir 'mal den Spielplan der Berliner 
Theater an einem diefer Tage auf. Celbjt das „Schauipiel- 
Baus“ begnügt fid) mit (Nrronge's „Doftor Nas“, dad) bot die 
Oper dafür „Lohengrin“; Sommeroper (bei Kroll) — das Ballet 
„Ruppenfee”; —- „Deutices Theater” — „Lumpacivagabundus“ ; 
„Berliner Theater” — „Der lepte Brief“ (von Sardon); „Lelling- 
Theater“ Strauf’ neuejte Operette „Waldmeifter”; „Neues 
Theater" — „Tuta-Tato”, Schwant von Villaud und Garre; 
„Nefidenz: Theater” —- „Hals über Kopf”, Schwanf von Alerandre 
Villen; „Ihenter unter den Linden“ — „Orpheus in der Unter: 
welt“, Operette von Offenbad); „Schiller- Theater“ — „Vergnügte 
Flitterwochen“, Schwant von ,. Keller und Frik Brentano; 
„Belle-Alliance-Theater” — „Die Kinder des Capitän Grant“, 
goes Ausftattungsftüt mit Ballet; „Adolph;Ernft-Theater“ 
„Das flotte Berlin“, von Treptow und Jakobjon; „Apollo:Thenter“ 

„Sprecamazone“, Schwanf von X. Sennjeldt, u. |. m. Ju 
Summa aljo: franzöjiidre und deutiche Wollen und Operetten 
beherrichen den Spielplan abfolut. Wie foll und fann man da 
einen Theaterbrief ichreiben, der id mit Kumjt beihäftigt? Und 
der Fremde, der nad) der Deutjhen Neichshauptitadt Fommt, 
erwartungsvoll welchen Eindrud vom Berliner Theaterwefen 
wird er mit fi nehmen? Denn ähnlid) fieht der Spielplan jegt 
immer aus .... 











ee 

Doc) als gemiffenhafter Chronift mu; id verzeichnen, dal 
zwei neue Theater entflanden find, beide zumächft für die Zeit der 
Austellung. Das eine it das „Olnmpia-Thenter“, ein 
englijchamerifaniiches Unternehmen. Der riefige, aber nicht hähliche 
Holzbau auf dem Terrain des ehemaligen Fonrage- Magazins, Cite 
Aerander- und Viagazinfirahe belegen, faht 4000 Perionen in 
einem in gerader Richtung ampbitheatraliich auflteigenden Zufchauer- 





Kunftbriefe. 319 


vanın. Von dem großen Orcheter ift diefer durch einen breiten 
Kanal getrennt, der aud Schanftellungszwedten dient. Alles üjt 
gewaltig in diefem Niefentheater, vor Allem natürlich aud die 
Bühne, die etwa die Gröfe des Viarftplapes einer mittelgroßen 
Stadt hat; vieljundertföpfige Schaaren, darunter allein 300 Valle: 
rinen, fnnen fi) gleichzeitig auf ihr tummeln; zu Fu und zu 
Werde, auf Dromedaren und Elephanten treiben bie verichiedenften 
Typen des modernen Orients neben enropäfchen Geftalten des 
Vittelalters und des Alterthums ihr farbenfunfelndes, augen: 
blendendes Weien im Nahmen des großartigen Ausitellungsftüces 
„The Orient.” Da 05 engliichen Ariprungs üft, fehlt es natürlid) 
and nicht an allerlei „Spezialitäten“, deren Kunftleiftungen mehr 
oder weniger mit der Handlung verknüpft nd... Die Sade 
hat natürlich ungeheuer viel Geld gefoftet, aber fie bringt audy 
viel ein umd Direktor Kiralfy und feine Finanzfräfte erleben all- 
abendlich ein ansverfauftes Haus. 

Das andere Theater liegt im Ausjtellungspark, dicht bei 
„At Berlin”, nad) dem co fd) auch nennt. Im Stile des Grofen 
Kurfürften hat es Meifter Sehring erbaut und vorgeichwebt 
haben mag ihm bei der maleriichen Ausihmücung der Facaden 
das alte Daritallgebände am Schlohplage. Es it and) ein grofies 
enter, denn «6 hat über 1800 läge, mehr aljo, als das 
Königliche Tperahaus. An der Spige des Unternehmens jteht der 
Schriftiteller Paul Blumenreid), nunmehr „Direktor“ Blumen- 
veich, der auch das große Theater des Meftens leiten wird. Sein 
berregiffenr ift der einftige Direktor des Lobe-Theaters in Breslau, 
Herr Wite- Wild. Dbfchen ein Ausjtellungstheater, erhebt fid) jein 
Programm über Pole, Schwanf, Feerie, Ballet beträchtlich empor. 
Diefes Genre ift überhaupt jo ziemlich ganz ausgeichloifen, wenn: 
gleich auf Ausjtattung natilich viel Nacydrud gelegt wird. Di 
Idee des Spielplans ift recht finnig. Die Direktion bejtellte bereits 
im Winter bei einer Neihe von Schriftitellern zehn dramatiiche 
Vilder oder, Einakter aus der Gefchichte Berlins während der 
Jahre 1050 bis zum großen Ausftellungsjahre 1896. Diefe Schrift 
fteller find Karl Bleibtren („Die Wendentaufe”), Ernit v. Wolzogen 
(„Die schwere Roth"), Nonrad Alberti („Die Büherin“), rich 
v. Hartınann („Der Meijter von Berlin”), Adalbert u. Hantein 














320 KRunfibriefe. 


(„Öopfowshy”), Arel Delmar („An mein Voll”), A. €. Etrahl 
(„Unfere Viktoria“), A. Baron Roberts („Heimkehr“), Iulins 
Keller ımd Lowis Herrmann („Fiddide und Sohn“) —- bis auf 
das legte Diosfurenpaar der falauerdurchiegten Poljenfabrifation 
lauter mehr ober weniger ernt zu nchmende dichteriic veranlagte 
Yühnenichriftiteller. Doch das find nur neun Stüde. Cie ver- 
miffen den zehnten Autor und gleichzeitig wohl au den Namen 
des offiziellften Vertreters berlineriicer patriotiicher Dramatit — 
Ernjt v. Wildenbruh. Nun, er fehlte aud nicht. Aber 
„unge von Hennerödorf” wucherte über den Rahmen eines Ein- 
akters hinaus und fam, wie id) feinerzeit berichtet Habe, im Leifing- 
Theater zur Aufführung, mit nur mäßigem Erfolge übrigens. 
Statt dejien wurde als zehnte Nummer ein reines Schauftüd dem 
Spielplan eingefügt: „Märkiiches Ningelftechen.“ Außerdem ver- 
anftaltet das Theater hiftorische Umzüge durd) Alt:Berlin, mittel 
alterliche Jagdzüge u. dal. 

Vleibtren, Wolzogen, Aberti, Hanftein und Delmar haben 
ihre Fenerprobe fchon beftanden. Oper aud) nicht — wie man’ 
nehmen will. Sonderlic gefiel feine der von ihnen gebotenen 
Dichtungen. Dod darf man nicht allzu jtreng mit ihnen ins 
Gericht gehen: ein hiftoriiches Zeitbild und eine padende drama- 
the Handlung in den Rahmen blof eines Einafters hineinzı: 
jrängen, ift gar fhwer und es erfcheint unausbleiblid, entweder, daß 
eine ordentliche Entwidelung dem Sprungbaften und Unvermittelten 
Plap macht, oder daf die Handlung in Schaugepränge und Szenen: 
malerei fid) verflüchtigt. Und von hifterischen Geist ift meiftens 
ebenjo wenig zu Ipüren, wie in ben jogenannten hijtoriichen 
Dichtungen eines Viftor Hugo und Alerander Dumas pere, oder 
aber in den geidichtlichen Ausitattungsjtüden eines Wictorien 
Sardou. Aber an hübfden Hiftoriichen Bildchen ift fein Dlangel. 
Bleibtreu führt uns mit der Dramatifirung der Niederlage 
und Taufe des Wendenfürften Japto bei Schildhorn an der Havel 
am tiefiten in die Vergangenheit hinein. Im 14. Jahrhundert 
fvielt v. Wolzogens „Die fdwere Not“, eine Fulturhiftoriihe 
Anefdote, ein gejdieft fojtümirtes Lebenobild aus der 
dem falihen Waldemar. Alberti hat fid in feiner „Büherin“ 
die Jugendtage Johann Georg’s, des Sohnes Joahims IL. 











Kunjtbriefe. 321 


gewählt, und die Heldin des Traueripiels ift Anna Sypdow, jene 
Freundin des Kurfürften Joadim, die die Volksjage zur „weißen 
Frau“ gemaht hat. In das Zeitalter Friedrichs des Grofen und 
in die Tage des Einzuges ber Nuffen ımter Tottleben in Berlin 
im 3. 1760 verjegt uns v. Hanftein, der die jo miferjtandene 
Opferthat des Kaufmanns Gogfowsti dramatiic zu verwerten 
gefucht Hat. Und dramatifch it gewiß das Gejchict Diefes Patrioten, 
der fein ganzes Vermögen opfert, um Berlin, das die Kontri- 
bution nicht aufbringen fann, vor Brand und Plünderung zu 
bewahren und zum Dank dafür von den Landeleuten der Ver- 
vätherei bejchuldigt wird. Dramatiich liehe fich diejer Vorwurf 
gewiß geitalten, nur nicht im Nahmen eines Einafters. Delmar 
endlicd) bietet in „An mein Volt” eine Neihe von Genrebildern, 
die die Volfsjtimmung an jenem Tage des 9. 1813 jdildern, 
wo Friedrich Wilhelm III. feinen berühmten Aufruf erlieh. 

Was die übrigen nod ausftehenden vier Dichtungen bringen 
werden — weiß man im Augenblid nicht. Wohl aber glaubt 
man zu wifjen, baf ber Worrath der zehn Arbeiten nicht für bie 
ganze Ansftellungszeit ausreichen wird — ihre Zugkraft üjt eben 
nicht ausgiebig genug und jehs Nummern (das „Ningeljtechen” 
ift die jechjte) gelangten allein im Diai zur Aufführung .... 

Mit der Thenterhronit wäre ich hiermit fo ziemlich zu Ende. 
Ich bin e6 ganz, wenn id) nod) hinzufüge, da bie am meijten 
bejprochene Premiere” die von Johann Strauß’ jüngiter, in 
den Melodien Einen oft recht befannt „itrauhifch” anmuthenden, 
in Handlung und Tert unfäglich jchalen und abgeihmadten und 
bis zur Unmöglichleit unwahrideinlichen Operette „Waldmeifter” 
war, die die Ferenezyfche Truppe vom Hamburger Narl:Theater - 
am erjten Abend unter Leitung des Wiener Maejtro felbjt — feit 
vier Wochen hier allabendlich zur Aufführung bringt. 

* “ * 

Noch ein wenig von den bildenden Künften. Nicht von ber 
großen „Internationalen Kunft-Ausftellung“, die fi nur aus- 
führlicer und im Zufammenhang beipreden läht, was mir für 
fpäter vorbehalten bleiben möge — fondern von zivei interefianten 
Eingelausjtellungen. 





Kunfibriefe. 


Die eine finden wir im Nımftjalon von Schulte. Sie it 
ganz flein. Sie bejteht nur aus einer Tafel mit einer Neihe 
von farbigen Zeichnungen und folorirten — Notenblättern. Cs 
find die Originale zu dem joeben im Verlag von Stargardt 
ericheinenden eigenartigen Werfe des genialen Zeichners und 
Nadirers Jojef Sattler „Meine Harmonie“ Er hat 
es dem Andenfen Battifia Alberti's gewidmet, jenes Venetianers, 
der durch fein encnflopädiiches Wien und feine vieljeitige Numjt- 
begabung im 15. Jahrhundert glänzt. Alberti hatte fih u. A 
aud) vielfah mit dem Problem von der Verwandticaft der muji 
falifchen und der maleriichen Tonwerthe beihäftigt, vielmehr cs 
erjt eingehender bearbeitet. Beilä bemerkt, ijt alfo dieje heute 
wieder modern gewordene und von verichiedenen Nünjtlern praftiic) 
verwirflichte Anjhauung icon über 500 Jahre alt. Im Grunde 
genommen nur eine Spielerei, wenngleid) eine recht geiftreiche. 
Eine Spielerei infofern, als ja in der Muffaffung der Farben- 
werthe und der Alangfarbe ganz und gar das individuelle Empfinden 
den Ansichlag giebt, wenngleich natürlich Jedermann 5. B. das 
Schwarz düfter md ernjt, das Noth; prädhtig und glänzend ericheinen 
wird. Und cbenjo ift's in der Viufit mit mancherlei Aktorden 
und Eingeltönen. Wie verjdjieden aber zudem biefe Verwandtichafts- 
Ichre verwertget werden fann, das beweifen befonders frappant bie 
Bilder des jungen Viartin Brandenburg, die id vor ein paar 
Vionaten eingehender beiprad) und mun das Sattler’ihe Album, 
das bei Schulte ausgeitellt it. 

Der tieffinnige Zeichner und Nadirer geht in diefem Falle 
fogufagen wifjenihaftlier vor als der romantifch empfindfame und 
träumeriihe Maler. Zu der Tat hat Sattler ih ein ganzes 
Syftem für feine „Harmonie” fonftwwirt, mit dem er mn das 
Purblitum befannt mat. Entiprediend den vier Elementen Luft 
(Himmel), Erde, Wahfer, Feuer nimmt er vier Grundfarben an: 
das Blau, Grau, Grün, Noth, und diefe Elemente und Farben 
find ihm gleichzeitig die Spmbole für Yofimng und Werden 
(Blau), Leben und Stoff (Grau), Vergehen md Tod (Grün), Liebe 
und Geift (Noth). Die Miichung von Grau und Grün ijt der 
Farbenausdrud des Elends, des Truds, der Yajt und Sorge; die 
Midung von Noth und Blau der der Freude, des Glüds; Gelb 














Kunjtbriefe. 323 


bedeuten ihm Gift, Galle, Zweifel. Dieje Begriffe und Empfin- 
dungen werden andererjeits durch bejtimmte mufifaliihe Klänge 
gekennzeichnet, und fo ergiebt fid) für Sattler eine Harmonie der 
Farben: und Mufiftöne. Um das mn Har zu madjen, fegt er 
befannte Tonfiguren in Farben um und illuitrirt er ferner durch 
einige meifterhafte, leicht getönte Zeichnungen die Uebereinftimmung 
zwiichen Farbenton und Gegenftand der Darjiellung. Ta haben 
wir z. DB. die „Duntle Lajt“ und „Das arme Mädchen”, bort 
einen finjteren Barfenfchlepper, hier eine verfümmerte Fabrif: 
arbeiterin, beide Bilder durchweg in Grau md Grün in ver: 
ichiedenen Nünncen gehalten; in den „beiden Stimmen“ follen 
Not) und Wlan den Eindrud eines anmuthigen Duetts hervor: 
rufen, u. j. w. Aber — wirken Ilje Nepin's „Bnrlafi“ („Barfen- 
fchlepper“), die den damals jo jungen Maler mit einem chlage 
befannt machten, nicht ebenjo düjter und beflemmend, bei aller 
Farbenbuntheit, wie Sattler's „Dunkle Laft“? Und ift jegt nicht 
in demfelben Schulte/ihen Salon Vödlins „Nuine am Vleer“ 
ausgeftelft, die top ihrer dunfelblauen und röthlihen Töne 
einen tiefernften, ihwermuthovollen Eindrud macht und jomit die 
Sattler'iche „Harmonie” ebenfalle in Schwanfen bringt? Wit 
einem vollftändigen Spjtem der Harmonie von Farben und Klängen 
dürfte es daher wohl immer ein wenig Dapern.... 

Wenige Worte mur darf id) über die andere Nusjlellung 
jagen, da der Kaum zu Ende geht. Aber aufmerkiam machen 
muß; id) auf fie zum mindeften diejenigen meiner Lefer, die im 
Sommer vielleicht Berlin berühren. Denn die abermals höchit 
eigenartige und großes Intereffe beanipruchende Austellung wirh 
bio in den Derbit hinein fortwähren. 

Es ift eine Sammlung von neun Chriftusbildern 
moderner deuljcher Maler. IHre Entjtehung verdanfte fie jenem 
idealiftiichen Zuge der Neaktion gegen den Materialismus unjeres 
Zeitalters, der fid unverfennbar immer mehr hervordrängt. Der 
Spmbolismius und Mojtigiemns in der Dichtkunt und Malerei 
find zwei der hauptiächlichtten Ansdrudsformen diejer Neaktion. 
Sie bewegt fd) alfo feineswege vornehmlid —- ja eigentlich nur 
jelten -- auf dem Boden deo pofitiven Chriftenthums oder auc) 
nur der Religion. 















324 KRunjebriefe. 


Der Aunithändfer Bierd zu Münden war e6, ber auf 
den Gedanfen fam, eine Neihe namhafter Nünjtler aufzufordern, 
ein Vildnih des HEren zu malen, fosgelöjt von aller perjonen- 
reihen und handlungbewegten Kompofition, und das ber „Vor: 
ftellung jedes gläubigen Chriften entipricht.” Neun Maler unter: 
zogen fih, jeder ohne von der Arbeit des Anderen zu willen, der 
Ichweren Aufgabe. Um jo jchwerer war fie, als die meijten von 
ihnen, zum mindejten fünftleriich, fid) nicht in dielem Jdeen- und 
Empfindungskreife zu bewegen pflegen. Es find das der Berliner 
Starbina, bie Düfeldorfer Brütt und Kampf, die Mündjener 
Marı, Mar, Stud, Uhde, Zimmermann, der Frant- 
furter Thoma, beiläufig der Einzige unter den Neun, der nicht 
Profeifor ift. Auch Ihnen find die meijten diefer Nünftler befannt; 
ihre Hauptbilder find ja oft gemig vervielfältigt worden. Wie 
verjchieden fie in ihrer Auffalfungs- und NAusdrudsweile find, 
willen Cie daher. Und ebenfo verihieden geartet zeigen fie fich 
aud) hier. Ih ann, wie gelagt, mid) jegt auf eine Einzel: 
befpredung ber neun im alten Neichstagsgebäude auf der Leipziger 
Straße ebenfo würdig, als ftimmungsvoll ausgeitellten Gemälde 
nicht einlafien. Nur joviel — dem nentejtamentlichen Heiland 
finden wir in diefen jo veridiedenartig vermenichlichten Gejtalten 
jedenfalls nicht, ebenjo wenig aber natürlich Anklänge an den 
traditionellen Chritustypus unferer Tage, wie er dod) immerhin 
fich herausgearbeitet hat. Aber cben darum it das Sichverjenfen 
in diefe Ausftellung um fo intereffanter. Webrigens werden die 
Bilder gewii in photographiider Vervielfältigung als Album 
herausgegeben werden, zujammen mit dem Kommentar der Maler 
felojt, der fi jet aud) im Natalog jchoen findet. Lohnend wäre 
das gewiß, 

Berlin, im Juni. 

I Norden. 














Mittagszauber. 





1 


Am Waldesrande, bei den Tannen dort, 
Wo in der Gluth der So€mmermittagsjonne 
Das Haidefraut, dem Sand entwachien, duftet, 
Da ruht ich oft und dämmee für mid) Gi 
In wohl'gem Träumen, ofne viel zu denfen. 

Die leinen blauen alter flattern hier 

In Menge her und Hin, in muntrem Spiel 

Sic, fucend und fich fliehend, bald in Lüften, 
Bald wieder fi auf Gras und Blumen wiegend. 
Ein Wespden fommt geflogen, faugt fi jet 

Am dufe'gen Ylüthenteldh, im Sonnenitrahle 

Sich wärmend und den jchlanfen Hinterleib 

Wie wollujtatgmend cin und aus bewegend. 

ex im metalfijciem Gewand 

Dufcht übern Boden hin mit eil’gen Fühen; 

Die jitlernd grüne Cieindele tommt 

In rajcpem Flug geflogen, wo der Sand, 

Der fonnenwwere, fie zur Najt einladet, 

Um augenblidlich wieder fort zu cilen, 

Sic, wieder fegend, wieder auf zu fliegen, 

Unjtät und doch voll fihtlichen Vchagens. 

Die Vögel jhweigen, ab und zu nur fhwirrt cs 
Durdy das Seäjt, cs narrt ein Baum, es rafchelt, 
I weil; nicht welch Gethier, im Unterholz. 

Des Habigis Schrei tönt plöglic, durd) die Luft, — 
Dann wieder Stile, — jurrend mır erfüllen 
Heufchredenfänge, unfictbaren Urjprungs, 

US wär's des Sommers Stimme jelbit, die Luft. — 

















“ 
fe} 


& 





Wos it 8, dus an diefen Fleck mic banıt? 

Der Mitagszanber? Ja, -- doc, jener nicht, 

Ten als ein Schrednik fhon die Alten Ähilvern, 

°S üt cin Gefühl, als ob die ganze Welt 

Tid) auf des Lebens Mittagshöh befindet, 
Durdwrmt, durchleuchtet, munjchlos, voll Behagen, 
Der Aub, fih freute und der Sonnenwän 
Vis die Gedanken all, die Wilder jetbit, 
Die bunten Bilder all im Schlaf verdämmern, 

Fan Schlaf, die, ll ad warm, und one Träume! 














1. 


A Grabenrande, dort, am Walvesjaum, 
Wo dur) den moor'gen Grund das Waler leile, 
Unmerklich in dem engen Veite binzieht, 
Dort, wo die Sum) ia jich erhebt 
Und Yafdriam mit blafjen Dolden duftet 
Dort, dort entfaltet fih an Sommertagen 
Der Mittagszauber, wenn die Sonne glüht, 
Umfängt mir feis geheimnitwoll die Seele 
Und Hält gebamut mich an dem jtillen Ort, 
Der Moorgeruc, vom heihen Sonnenbrand 
Hervorgelodt, erfüllt die Luft und milcht fi, 
Mit dem betänbenden Geruch des Poric, 
Der auf des Waldes Boden fih dahin sicht. 
Die fleinen Falter fliegen her und hin, 

Fu Schanren fi, der Sonnenwärme freucnd, 
Und auf den Elternbürchen jchinmmern Heil 
Tie grünen Käfer mit merallnen Olanze. 
Libelte Tommt geflogen, fhwirrt under, 
Seit Gier fich Hin und dort, —- Die Flügel zittern 
Umd glänzen wie Veipinft von Feenhand, 

Iideh fie mit den grofen grünen Augen 

Hinaus ftarrt in die fonnemwarme Welt. — 

Im Graben aber, wo die Wafferlinfen 

Und Scyilf und Nalmus wachjen, im dem Hafer, 
Dem weichen warmen Wafier waltet ftll 

Gang millionenfaden Yebens: 

Die Wafferipinne läuft darüber Hin, 

Die Fröflplein tauchen huftig auf und unter, 

Die Heinen fhwarzen Wafferläfer tummeln 

In Schaaren fid), die großen rmmen tauchen 
Visweilen auf, un wieder zu verichwinden. 
Ungählig Hein Getbier von allen Arten, 
































Auf allen Stufen der Entwicehung, 

Haut hier und wird und febt umd freut fi, 
Schwinnmt in dem Wafier munter hin und ber, 
Wärmt bald fich oben an durchfonnter läche 
And Fühte fidh wieder unten auf dem Orund, 
Mir aber üt, als ob ich all dies Leben 

Mitlebte, mitempfände das Behagen 

Des Golpmbetes, der im Waffer auftaucht, 

Des Fufters, der Durch Luft und Duft ich fchwi 
Des Nalmus jelbft, der fich der Sonmenwärme, 
Des moor'gen Grundes und des Waffers freut 
Ein Sommermittogstraum — vielleicht nur Thorbeit, 
Und doch das Gerz mit tiefem Glücsgefühl 
Erfüttend, gleich als ob de8 Lebens Cuellen, 

Ten tiefverborgenen, näher wir gerüct 

in Mittagszauber an dem Grabenrande. 











& v. Schroeder. 





TT 

















Litteräriühe Streiflinter. 


Schilderungen der großen europäiichen Multurländer, ihrer 
Yandihaften, Städte und Bevölterung Find heutzutage unmodern. 
Die auferordentliche Erweiterung und Ausbildung der Verfehrs 
mittel erleichtert dem Europäer den Bejuc ferner Weittheile, jo 
dal; eine Neife nad) Amerika oder Afrifa, zum Theil md nad) 
Ajten als eine Spazierfahrt betrachtet wird, die man zum Ler- 
gnügen oder zur Erholung unternimmt. Neifefchilderungen müjlen 
daher gegenwärtig Fon jehr entfernte oder von den gewöhnlichen 
Verteprotraien weit abliegende Gegenden und Xölferihaften 
behandeln, wenn fie Juterejfe und Aufmerfamfeit erregen jollen. 
Die Wölter Europas ftehen in jo unmterbrocenem vegem Verfehr 
inter einander, die frühere Trennung dur die Entfernung des 
Raumes ericheint gegenwärtig jo jchr aufachoben, daf, wohin in 
Europa jest der Neifende auch jih wendet, er dod) nur in einem 
anderen Theile deijelben großen Wohnhaufes fi zu befinden 
meint. Die Völker unferes Welttheils iheinen fi) To genau zu 
kennen und find fi durch die fortichreitende Nultur jo ähnlich 
geworden, da Beobachtungen umd Cchilderungen ihrer Eigen“ 
thümlichteit als etwas völlig überflüfjiges angefehen werden 
fönnten. Vetrachtet man blof; die Tberfläde des Völferlebens, 
inobejondere die gebildete Gefellichaft, jo hat die nivellivende 
Macht der Kultur und der herrichenden Zeitideen überall große 
Gteichförmigteit der Yebensanfhammgen und Lebensformen, der 
Interefien, Vergnügungen md Zitten bei den höheren Ständen 


































Litteräriihe Streiflichter. 329 
bewirkt. Wer aber jchärfer zuficht, bemerft bald, daß die Völfer 
Europas in ihren Weien fich jeit einem Jahrhundert nur wenig 
verändert haben, dai; fie fi) im Ganzen nicht viel bejier und 
tiefer verjtehen gelernt haben alo früher, dal endlich politiiche 
Mb: und Zimeigung die gegenteitige Yeurtheitung in hohem Grade 
trübt. Ein fremder Beobachter, der mit offenem Auge und 
unbefangenem Zinn in ein Yand fommt, wird daher auch heute 
no viel Stoff zu neuen Entdedungen und intereijanten Wahr- 
nehmungen finden. Unter den allgemeinen europätfchen Nultur 
formen, die oft nur Tündye find, Lebt die wiprüngliche Eigenart 
der Völfer ununterbrochen fort und tritt oft in voller Yebendigfeit 
hervor. 

Am meiten von allen Völtern unferes Exdtyeils leiften 
mod) immer die Engländer dem mivellirenden Zuge der zeit 
Wiverftand. Man mag jie anklagen «der bewundern die 
Engländer find auch heute noch durchweg in fid) abaeichloffene 
Naturen, die ohne Nüdicht auf die Meinungen Anderer ihren 
eigenen Weg gehen und fich felbft über alle anderen Wölfer 
stellen. An die Uneigennügigfeit und Sumanitätstenden; der 
englüüchen Politit glaubt heute Niemand mehr, der englifche Parla 
mentarismus ericheint nur noch unverbefierliden politiihen Doftri 
nären als ideale Staatoverfaflung, die engliiche Yitteratur nimmt 
(ängit nicht mehr die hervorragende Stellung im europäiiben 
Geifteofeben ein wie chemalo, die einit alo wnübertrefilich be 
trachteten engliichen Fabrifate halten faum noch die Nonkurrenz 
mit denen des eitlandes aus aber das Yand, die Zitten, der 
Charakter des Volkes, die vielen originellen, eigenartigen PBerfön- 
licpfeiten feijeln nod) immer das Antereiie und regen immer wieder 
zu vergleichender völferpip—hologiicher Betradhtung an. Der einit 
viel gelejene und gefeierte, jegt jehr mit Unrecht völlig vergeiiene 
3. ©. Kohl, einer der hervorragenditen Schriftiteller und feinjten 
Wölferbeobachter Deutichlands, hat vor 50 Jahren in mehreren 
Werfen Land und Yeute, jowie das Yeben und die Sitten in 
England vortrefflich gefcildert. In anmutbiger Darfiellung bieten 
diefe Bücher eine Fülle von feinen Beobachtungen und beiehrenden 
Vittheitungen; fie find, wenn auc Einzelnes darin veraltet üt, 
dod) noch immer jehr lefenowerth. Diefelde Aufgabe, nie Kohl 

a 






































330 he Streiflichter. 

für jeine eit, Hat fih für die Gegenwart der Schwede Guitan 
3. Steffen geftellt in jeinem Buche: Aus dem modernen Eng 
land. Eine Auswahl Bilder und Eindrüde, die mit einer großen 
Anzahl von Jlhftrationen ausgejtattet it. Eine verfürzte Ausgabe des 
größeren Werkes führt den Titel: In der Fünfmilionen: 
Stadt. Nulturbilder ans dem heutigen England. Ans dem 
Schwediichen überfegt von Dr. Tofar Neyher *); fie liegt uns vor. 
Es it eine Neihe von Bildern aus dem engliihen Leben, vor 
mehmlich in Yondon, welhe uns Steffen vorführt. Er beginnt 
mit einer geiftreichen Gegenüberjtellung von London und Paris 
in ihren wejentlichen Werfchiedeneiten und führt uns dann durch 
die dunkle Nebelatmoiphäre des gewöhnlichen Londoner Tages, auf 
die Straßen und die City mit ihrem Neichtpum und der häßlichen 
Enge ihrer Gebäude, in die großen Verfaufoläden mit ihrer Pracht 
und Herrlichleit und dann wieder in die Quartiere der Armen 
und Elenden. Er fchildert uns anichaulich die herrlichen Paläfte 
der engliihen Großen, führt uns in die prächtigen fchattigen Parts, 
er geleitet uns zu den großen chrwürdigen Nirhen und weilt am 
längiten im PBoetenwinfel der Weftminfterabtei; bier wird feine 
Schilderung flimmungsvoll und ergreifend. Dann lüht er uns 
dns häusliche und das Seiellihaftsleben tennen lernen, urtheilt 
aber über beides nicht jehr günfig, wie ihm denn überhaupt in 
geielliger Beziehung die Engländer fteif und bölzern und jehr 
umgelent und ungeichieft in der Unterhaltung fcheinen. Dagegen 
ift er voll Lob und Verunderung für die Töchter Aldions, die er 
in Anmut), Schönheit, gefeltichaftlichen Takt und geiftiger Bildung 
über alle andern Krauen Europas jtellt. Die Schilderung des 
Weitminfterpalaftes und der parlamentariichen Zeremonien giebt 
Stefien den Anlab zu Tuzen, aber anfchaulichen Chavatterijtiten 
der bedeutendjten englüchen Stantsmänner der Gegenwart, von 
Gtadjtone bis auf Chamberlain. Vetrachlungen über die engliche 
Preffe, Literatur und das Leben in den Klubs bilden den Schluf 
des intereffanten Buches. Steffen Fchreibt geiftreih und anzichend, 
er weil; zu beobachten und wenn ev auch bisweilen nur die Ober 
fläche treift, wie in dem Kapitel: Soziale Wolfenbildungen, hört 























j, Peter Hobbing, 2 M. Tas größere Werk Foftet geb, IM. 





gitteräriihe Streiflichter. 331 
man ihm auch da 'gern zu. Im Ganzen mrtheilt er nicht. allyır 
günftig über die Engländer; das durd Zitte und Neberlieferung 
gebundene Leben der Engländer, das nur zu oft den Heuchlerichen 
Schein, den Cant ftatt des Wefens aufrecht erhält, Tage dem an 
völlig freie Bewegung des Jndividinms gewöhnten Sfandinavier 
micht zu. Steffens Buch gewährt einen fehrreichen Einblid in 
das engliihe Feben unferer Tage, es verdient von Allen, die fi 
dafür inteveffiven, gelefen zu werben. 

Das ;eitalter der Aufklärung findet gegenwärtig eine ge 
techtere und unbefangenere Würdigung, alo co noch) em vor 
einem Menichenatter der Fall war. Die Einfeitigfeiten und 
pwächen jener Epoche, ihre Vefchränftheit, ihr mangelnder Zinn 
für alleo Wrfprüngliche, oltothünnliche, Hitorifchgewordene, ihre 
Flachheit und Verftändnißlofigfeit in religiöfen Dingen werden 
nicht verfannt, dagegen aber au) die humanen Veitrebungen der 
Menichen jener Zeit, ihr eifriges und thatfräftiges Streben nach 
Beiferung und Fäuterung des eigenen MWefens wie der Gefammt 
uftände, ihre begeifterte Hingabe an die Neon des Guten, der 
Tugend, der Vervolltonmmung des Menjchengefchlechts mit Necht 
anerkannt. Ein unverwültlicher Optimiomms erfüllte damalo die 
Menfchen, der Glaube an die unendliche Vervollfommnungsfäbigfeit 
der Menjchheit lebte mnerichütterlich in den Herzen der Velten: 
dab durch beifere Erziehung, durch Verbreitung intelleftueller 
Bildung die Menjchen immer mehr zu ihrer wahren Vejtimmung 
reif gemacht werden fönnten, war die allgemein berrfchende feite 
Ucberzeugung. in der pei hen, materialiftiichen, allen idealen 
Anschauungen und Beitrebungen jteptüch gegenüberftchenden Gegen 
wart ericheinen einen jene Männer mit ihrem warnen Herzen 
und ihrem zuverfichtlihen Glauben an die Verwirklichung der fie 
erfüllenden Ndeen wahrhaft ehrwürdig, denn fie fannten doch ein 
höheres über den indifden Yebensgenuf Hinausgebendes Daiein. 
Einer der charattı ichiten Vertreter der Aufklärungszeit nad) ihren 
Vorzügen cbenfo wie nad ihren Schattenfeiten hat jüngit eine bio 
graphiiche Daritellung erhalten in dem Huch von %. Burbadı: 
Nudolph Jabarias Beder. Ein Veitrag zur Vildungs 
geichichte unferes Volfes*), Wer wei; heute nad) etwas von 












































) Borha, GE, imma. dd Zu Er 





332 Litterärifche Streiflichter. 


N. 3. Beer? umd doch war jein Name vor 75 Jahren allgemein 
befannt und hochgeachtet. zur einen äußern Anlah, das humdert- 
jährige Beitehen der von N. 3. Berker begründeten Buchhandlung, 
hervorgerufen, giebt das Heine Buch) einen Ucberblid über das 
Yeben md die litteräriiche Wirfiamfeit des nach veridiedenen 
Nichtungen hin unermüdlich thätigen Mannes. Beder war Pädagog, 
DYonrnalift, Buchhändler, Volkoicriftiteller, überall und allezeit ver- 
folgte er das eine Ziel: Beförderung der Aufflärung. Burbad's 
Schilderung trägt einen etwas panegyriichen Charakter, die 
Schwächen und Mängel Veder’s und feiner Beftrebungen werden 
nicht genug hervorgehoben. Auherdem wünfchte man mehr indi- 
viduelle Züge in der Daritellung hervorheben zu sehen; follten ih 
nicht zahlreiche Briefe von Veder erhalten haben? [5 Volt: 
Ähriftiteller hat fh Veder durch fein Noth: und Hilfobüchlein 
für Vanersfente gewiß mande Verdienfte erworben, aber fein 
Mildheimifches Liederbuch, durch weldes er beim Volke die pöb 
haften Yieder, d. h. die alten Volfslieder verdrängen wollte, it 
der Gipfel der Geihmadlofigkeit. Schon dafs eine ganz unpoetifche 
Natur wie Berker, co unternahm, 518 Yieder für das Volk zu 
verfertigen, ijt feltfam genug und die Beihaffenheit diefer Lieder 
wirft geradezu erheiternd.  Berer läht den Bauern und Handwerks: 
mann jeine Verufethätigfeit in langen Liedern befingen, ex liefert 
dem Vauer Lieder auch für das Schweineichladhten und Ptift 
führen, alo ob dao Wolf jid) in feinen Yiedern nicht grade über 
die tägliche nüchterne Arbeit hinaus in eine höhere Sphäre erheben 
wollte. Aber zu jolhen Werfehrtheiten führte die Nücternheit 
der Auftlärungstendenzen. Much über Yedero deutjchen a 
triotismus, namentlich zu Heit der Napoleoniihen Herrichait, 
urteilt Burbad) zu gnitig, wie hätte aud) ein Journaliit in einem 
Meinen Npeinbundjtaate einen jolden bethätigen und hervortreten 
lafien Fönnen? Die wahren Yatrioten jener Zeit wiheilten benn 
au, Feineowegs anerfeunend über feine journalitiiche Thätigleit. 
Dafı ihn trogdem das Mihgeichiet traf, auf Befehl Napoleons ver 
haftet und 14 Wonate fang gefangen gehalten zu werden, ift eine 
wonie des Schicjals. Schr richtig hebt Burbach hervor, dah 
Berker durd jeine Nationalzeitung vor allem für die Verbreitung 
des religiöfen und politischen Yiberaliomus in dem Bürgerftande 
































Litteräriiche Streiflichter. 333 


ieh bedeutend gewirkt hat. Beder war fein eigentliher Gelehrter 
und fein Mann von hervorragender Begabung, aber geiheit, 
praftüch, thätig, Dat er dad) ein Einfluß auf bie Zeitgenofien 
gehabt, er lebte ganz in feiner Zeit und ift mit ihr vergangen, 
aber aud) folder Männer Gedächtniß, in denen das Durchichnitts- 
maß; des geifligen Pebens einer Epoche fidh verkörpert, aufjufriichen 
und der Nachwelt zu erneuern, it verdienftlich. 

Die biographiihen Blätter?) nehmen ihren ununter> 
brocenen Fortgang. Das jocben erichienene dritte Heft des zweiten 
Bandes enthält wieder mehrere anzichende Artikel. Dahin gehört 
vor alleın der preisgefrönte Auflag von Siegmund Günther über 
Heinvid) Bart, den Erforicher des dunften Kontinents, der ebenjo 
fachfundig wie pietätvoll geicheieben ift, ferner Georg Stamper’s 
Erinnerung an Ume Jens Yornfen, die nur eine furze Stigge it, 
aber als Hinweis auf den hachverdienten unglüdlichen Batrioten 
der Beachtung werth ift. Wilhelm Golther giebt einen warmen 
Nachruf auf den treflichen, zu früh aus dem Leben geichiedenen 
idwäbiichen Dichter und Foricher Ludwig Laifiner, 9. Hüffer 
bietet eine Charafteriftit Erzherzog Karls bis zum Jahre 1796, 
von Jofef Nauf werden Erinnerungen an DB. Auerbach und X. 
Anzengruber veröffentlicht. Yon befonderem Antereije endlich 
6. Freptags Abichiedsrede an Treitichfe vom 11. Auqujt 1863; 
man wird fie grade jest, da ganz Dentichland um den edlen 
Todten trauert, mit wehmüthiger Theilnahme lejen. Möge es 
den weitern Heften nicht an anziehendem Stoffe gebrechen, mögen 
namentlich recht häufig Veittheilungen aus dem Briefwecjlel bes 
rühmter Männer zur Veröffentlichung gelangen. 

Vor einiger Zeit haben wir an diefer Stelle Wilhelm 
ünc’s Anmerkungen zum Tert des Lebens beiprodhen, heute 
liegt uns eine and hrift von demielben Verfaffer vor: Ver 
miidhte Aufjäge über Unterrichtsziele und Unter- 
richtsfunit*). Das Buch wendet fih, wie der Titel zeigt, 
zunächjt an Schulmänner und Pädagogen, «5 enthält aber des 
Lehrreichen und Beachtenswerthen auch für weitere Areife, nament- 


















*) Yerlin. Ernit Hofmann. 
**) Berlin, N. Gaertner's Verlagsbughhandlung. 2. vermehrte Aufl. 5 M. 





Litteräriiche Streiflichter. 


lich folche, die fich für Erziehung und Unterricht interefficen, fo 
viel, dab wir ihm einige Worte zu widınen uns nicht verfa 
fünmen. Wan fpürt «6 auf jeder 
exjahrumgsreicher, den Gegenftand volltemmen beherrichender, alle 
in Betracht kommenden Momente for abwägender Man 
von umfaffender und tiefer Bildung feine wohldurddadhten An 
fichten hier ausfpricht, und worüber er fi auch äußert, man folgt 
gern und mit Aufmerfamfeit feinen Auseinanderjegungen. Wit 
der Pilege der Mutteripradie beiehäftigen fid) mehrere jehr beher- 
sigenswerthe Auffäge, jo vor allem der „ein Vlie in die Mutter: 
iprache” betitefte und ein anderer die Pflege des mündlichen 
deuticen Ausdruds behandelnder, beide find nad) Anhalt und 
Form vorzüglich. Lortrefflich handelt Münd) dann weiter über 
rachgefühl und Spradunterricht und gibt ferner Fehr beherzigens- 
werthe Bemerkungen über die Pflege der deutichen Ausipradhe als 
licht der Schule. Ad) was Münd über das Verhältnih der 
alten und neueren Sprachen auseinanderfegt, verdient Beachtung; 
doc) fcheint der Werfaffer uns hier fi) nicht ganz von der 
leider heutzutage immer allgemeiner werdenden Geringihägung 
der alten Spraden in ihrer Bedeutung für die Fugendbildung 
freisugatten. No mehr unter dem Ginflufi moderner An 
icjanung fteht der Aufiag: Einige Fragen des evangelifchen Neligions 
untervichts. Man kann mit dem Lerfailer darin einverfianden 
fein, dai; die eigentliche Dogmatif nicht in den Neligionsmterricht 
und nicht auf die Schule gehört und doc) an der Ucberzeugung 
feithalten, daß die Schüler auf der oberfien Stufe in den Yehr- 
begriff ihrer Nirdhe und die Unterfheidungslehren der Gonfeilionen 
eingeführt werden müjjen. Cs wird dabei allerdings von dem 
Tate des Lehrers abhängen, dab er das righlige Mah in der 
Behandlung diefer Frage einhätt. Mit dem Wunfce Münds, 
die bibfiüche Gefchichte in einer mehr modernifirten Form den 
Schülern mitgetheift zu jehen, find wir ebenjo wenig einveritanden 
als mit feiner Anficht, der Nömerbrief eigne fid) wegen jener 
Schwierigkeit und Dimfelpeit nicht zur Behandlung auf der Schule. 
Ueberhaupt legt Münch der jest herrichenden Nichtung in der 
Püdagogit nadgebend zu viel Gewicht darauf, dal; der Nnabe 
alles verftehe, was ev lernt, und ift in Folge deifen ein Gegner 


































Litteräriihe Streiflichter. 335 


des Einprägens zahlreicher Kirchenfieder und bibliiher Sprüche. 
Wir jind dagegen der Meimmg, dab der Schüler damit einen 
Scjat für das Yeben erhält, den er auf der augenblidlichen Ent: 
widelungsfiufe zwar mod) nicht zu würdigen weiß, der aber in 
ipäteren Jahren von ihm mach feinem unvergänglichen Werthe 
erfannt werden wird, Ein wirkliches Verftändnif der Schriftworte 
erhält auch der gereifte Mann erit durd die Prüfungen und 
mannigfaltigen Erfahrungen des Yebens md wer fann audı am 
Ende feines Dajeins behaupten, dah er die Worte der göttlichen 
Tifenbarung völlig verfiehe? Das allerdings ericheint zweifellos, 
da der Meligionsunterricht, wie er meift ertheilt wird, auf die 
bevamwacjiende Jugend ohne Wirhung bleibt; wie wäre 6 jonit 
erflären, dafi der Mangel an Verftändnik für alles Chriftliche, 
ja die ansgeiprodhene Abneigung dagegen unter den Gebildeten 
fo allgemein verbreitet ijt? Eigene Gedanfen erwect der Nufiak, 
in dem Münch die Erziehung zur Yaterlandsliche behandelt. Cine 
folce Anseinanderjegung it doc nur in Deutichland und bei den 
Deutichen möglich, Angehörige einer anderen Nation würde ein 
foldhes Thema fremdartig anmuthen. Wie, it denn die Vater: 
landstiebe nicht etwas Zelbjtverjtändliches, Naturgemähes, Uriprüngs 
liches, bedarf fie exit der Erziehung und Heranbildung? Aber die 
jahrhundertiange Zeripaltung und Zerklüftung des deutichen Voltes, 
jein jahrtaufendatter Entwidelungogang bat das Nefultat gehabt, 
daß dieje Frage feineswegs jo einfach zu beantworten ift wie bei 
anderen Nationen. Heimat und Stammesgefühl fennt und 
empfindet jeder Deutihe ohne weiteres, dazu bedarf er Feiner 
Erziehung, aber die Yicbe zum großen, allgemeinen Verbande 
muß die Mehrzahl fih erfi aneignen md vermitteln. So it & 
noch heute in Dentichland und jo wird c6 wohl mod) Lange fein, 
dis die Zeitfommt, wo der Deutjche zur Vaterlandsliebe nicht erit 
erzogen zu werden braucht, weil er jie als alles behervichende Kraft 
in feinem Herzen empfindet. 

Xon Nuno Kiihers fleinen Schriften füht der vierte, 
unlängft ericienene Theil, den Titel: Eritiihe Streifzüge 
gegen die Unfritit”. Aücher wendet fid darin gegen vers 
































=) Heidelberg. Karl Winters Univerjitätsbuchhandlung 3 M. 20 Fi. 
iv 


336 Kitteräriche Streiflichter. 


icjiebene Angriffe, welche jeine Arbeiten über Lefiing und Goethe 
erfahren haben und unternimmt, e6 feine Widerfacher der Untogit 
zu überführen; er bedient ich Dabei meiit der Ironie und des ihm 
eigenen geiftreichen Wipes. Ein nanzes Yuc voll Polemik hat 
aber immer etwas Müslihes, weil das Negative notwendig darin 
vorherricht und den Yefer auch bei geiitreiher Behandlung, wenn 
88 fi) nicht um große hodwichtige Dinge handelt, leicht ermüdet. 
Dazu fommt, daii e6 fi in dem vorliegenden Falle fait nur um 
&. Fücher wenig ebenbürtige Gegner handelt, mit denen der chlag: 
fertige geiftwolle Antor leicht fertig wird. Indeiien fann es 
Niemand . Fiider verdenfen, dah er feine wohldurddadhten und 
Har dargelegten Anfichten gegen umbegründete Einreden vertheibigt. 
Am bedeutendjlen find die An Ein Nathanerflärer und ein 
litterärifcher Findling als Yeifinge Fauft, dann die ergößlidy 
derbe Abfertigung des abenteuerlichen Buches von Louvier über 
Goethes Fauft und die vortrefflihe Charakteriitit: Herr Dünker 
als Kritiker, worin diefer unermüdlich thätige, aber höchjt geichmad: 
und fritiflofe Nommentator des Fauft und anderer Goetheider 
Dichtungen mit den Waffen der Jronie umd Satire jowie ber 
ftrengen Lögit ad absurdum In dem fegten Auf 
jag: zwei Taijoerflärer begr per nochmals jeine Anficht, 
dah; Antonio von Goethe erit in die zweite italieniiche Nebation 
des Dramas eingefügt und die bedeutende Stellung, weiche er 
jegt darin einnimmt, erhalten hat. Dah Fücher F. Kern dabei 
ebenfo neringichäbig nbjertigt wie Dünger, bedauern wir, da diejer 
verdiente Erflärer von Goethes Tajio, auch wenn man feine 
Mnfichten für umeichtig häft, doch eine adjtungsvollere Vehandlung 
verbient hat. Wir werden uns freuen, im näcjiten Theile ber 
Heinen Schriften wieber pofitiven Nefultaten der Dichtererflärung 
und fitterärifchen Forichung X. Fiichers zu begegnen.  H. D. 


5 * 


Trudjchlerberichtigung, 
le 1 und 2 von unten fies Wagener jtalt Wagner. 




















Seine ı 











Aoasoseuo nensypow. Pura, 26 han 1896 1. — Buddruderei F. Raud, Riga. 
Herausgeber und Redakteur: Wrnold u. Tideböhl. 




















Ans ®. v. Pitmar’s Reijebriefen an jeine Gltern. 
(1815— 1818) 
5 Barachee 


ortfegung.) 


Berlin, den 15. Dec. 1815. 


Den 7. Nov. a. St. war ich enblich wieder bei ber trefflichen 
Rede, die fid) hier mit mütterlicher Ficbe meiner annimmt. Diejes 
Mal war ich ganz allein mit ihr und verlebte mit ihr mehrere 
ganz auferorbentlich genuhreiche Stunden. Gleich als ich mich 
bei ihr anmelden lief, Fam fie mir entgegen und fagte mir: „Es 
freut mich fehr, mein lieber Ditmar, daf; Sie doch wieder einmal 
an mic denfen. Nomen Sie und failen Sie ums mm recht 
viel mit einander jprechen.“ Ich folgte ihr, nachdem id) einige 
Entfehuldigungen wegen meines Langen Ausbleibens gemacht, in 
ihre Studirftube, wo fie zuerjt gleich) nad) meiner Familie fragte 
und fic) mit mir freute, als ich ihr fagte, da; id) vor einigen 
Tagen Briefe von Cu), theure Eltern, erhalten hätte. Drauf 
trug fie mir an Euch alle einen Gruß auf und bradhte mn das 
Geipräc) auf wiffenfchaftliche Gegenftände; vorzüglich viel unter: 
hielten wir uns an diefem Tage von Caglioftro, des berüchtigten 
Zauberers Vetrügerien, die fie im zwei Schriften, mit chler 
Dreiftigfeit dem Publifum entdedt Hat. Dieies Dal hatte ic) 
aud) die Freude ihre auserwählte Bıbliothet zu fehen und von ihr 
mehrere Vücher zum Lefen zu erhalten, wobei fie mir zugleich) 

I 











338 Aus W. dv. Ditmar’s Reifebriefen. 


fagte, dal; ich zu jeber Zeit die Bücher aus ihrer Bücherfammlung 
erhalten fönnte, die mic) intereffirten. Unter mannigfaltigen 
Unterhaltungen waren mehrere flüchtige Stumden dahingeeilt und 
ich mußte fort. Wie jehr wimderte id mic) aber, als ih nad) 
8 Tagen, am 13. Nov. a. St., jchyon wieder zum Thee zu der 
eblen Eliin eingeladen wurde. Diefes Mal hatte fie mehrere ihrer 
jungen Sandsleute und Freunde, wie fie uns nennt, zu fid) bitten 
fajfen, um uns dem alten würbigen Sıjährigen Grafen Kalfreuth, 
Gowverneuren von Verlin, vorzuftellen. ud) der treffliche Franz 
Horn und feine Familie war da. Wenig oder vielmehr garnicht 
habe ih mich an diefem Abende mit der licbenswürdigen Gräfin 
Nede unterhalten, mur einmal trat fie zu mir und fagte: „Ic 
werde Sie jegt recht oft bitten Laien,“ ergriff drauf meine Hand 
und drüdte fie Herzlich. Natürlich fühte id) bie ihrige. Ich 
wünfchte, gute alte Mutter, da Du Deinen jteifen, unbiegiamen 
Woldemar bei folder Gelegenheit fähelt. Das Sprichwort ift 
wahr, da man auf Reifen ein ganz anderer Menid) wird. Bei 
meiner Rücktchr wirft Du Deine Freude an mir haben. Es wurde 
diefen Abend viel mufizirt und gefungen; oder cs las aud) ber 
herrliche Tiedge von feinen Gedichten welde vor, — ein unbe 
fchreiblich hoher Genuß, der mir jegt fo oft zu Theil wird, wie 
ic) früher night einmal einen geahndet Habe. Um 10 Uhr verlieh 
ich diefe Hödjit interejiante Gefellichaft. Dentt End) meine Ver 
wunderung, als id) fon nad) 8 Tagen wieder die große Freude 
hatte, zu meiner mütterli—ien Freundin gebeten zu werden. Diejes 
Dal verbradhten wir fajt ben ganzen Abend durd) Geipräh, — 
dod) wurde aud) mehrmalo mufigirt und gelungen, fowie auc) vor- 
gelefen. An diejem Abende jagte mir die Nede, da fie mich 
von nun an nur nod) in auferordentlihien Fällen einladen lajien 
würde; id) wäre jegt befannt genug in ihrem Haufe, um hinzu: 
tommen, wann id) Luft hätte. „Spätejtens müflen Sie aber,“ fette 
fie hinzu, „alle 14 Tage mid) bejuchen, jonft werde ich Ihnen 
böje." Wie unbejchreiblich glüclic ich mich nach joldyen Aeufe- 
rungen fo ausgezeichneter Mlenjhen fühle, fan id Euch, geliebte 
theure Eltern, nicht jagen. IH bin ein wahres Glüdofind und 
das dante ich Eu. Co it ein ganz eigenes, unbezeichenbares 
Gefühl, wenn man jid) fo in dem Zirfel allgemein angeftaunter 





Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 339 


Menfchen befindet und von diefen mit einer fo zuvorfommenden 
Güte behandelt wird, als gehörte man zu ihrer Zahl. So mandjes 
Mal ift es mir äuferjt auffallend gewejen, wie fie jo etwas ganz 
Unbebeutendes, das man fagt, hervorheben, um uns dadurd Muth 
einzuflhen. — — — 

So weit hatte ih meinen Brief geitern geidhrieben, als 
plöglic Hartmann in meine Stube trat und mir eine Einladung 
von meinen Landsleuten brachte, mit ihnen den Geburtstag unjeres 
Raifers bei unferm guien Weihe zu feiern. Id) eilte hin und 
verfebte unter vielen mir herzlid) lieben Freunden einen recht 
Ichönen Abend. Heute früh hörte ic eine Predigt von Schleier 
macher und jege num jegt am erften Weihnachtötage (d. 13. Dec. 
a. St.) meinen Brief an Eud) fort. Es it hier in Berlin jegt 
nod) bei weitem mehr Leben, als joujt; denn überall find Weih- 
nachtsbuben aufgebaut, die von großen umd Heinen Peuten befucht 
werden. Ich mühte die Bände fchreiben, wollte ich alles 
beichreiben, was hier jegt zu fehen ült. 

Am 14. Nov. hatte ic) die unbeichreiblich große Freude, von 
dem alten Wolfe, von dem ich Euch jhon jo vieles gemeldet habe, 
befucht zu werden. Er blieb einen ganzen Nachmittag bei mir 
und [as mir viel von feinen Gedichten und Fabeln für Ainder 
vor. Eins feiner Gedichte jchenfte er mir und da es nad) nie 
gedruct worden ift, fo lege ich eine Abfhrift für Euch bei. Die 
findlich fromme, reine und fräftige Sprade in demielben wird 
Euch gewih vielen Genuß gewähren und j—hon um biejes Giebichtes 
willen verdient Wolke, wenn er fonjt nichts geichrieben hätte, bie 
innigjte Liebe jedes Nechtlihen und ift eines reichen, vollblühenden 
Dicterfranges werth. 

Dah ich während diejer Zeit wieder veridiedene Mate bei 
Hufeland, Vellermann und Schmalz gewejen bin, brauche ich Eud) 
wohl nicht erit zu jagen. Yeßterer ift mir außerordentlich gewogen 
und auch ich lerne ihn mit jedem Tage mehr lieben und hody« 
fhägen. Sehr oft muß id) ihn befuchen umb verlebe dann die 
interefjantejten Abende, die man fid denfen fann, in einem lebens: 
würdigen Jamilienkreife. Als id) das legte Mal bei Schmalz 
war, reichte er mir beim Abichiede Herzlid) die Hand und danfte 
mir jehr liebevoll für die freundliche Gefinnung, die id) gegen 

1 


340 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 


ihn hege, und fette nod) hinzu, wir müßten immer in Verbindung 
bleiben, wenn wir auch noch jo fern von einander wohnten. Er 
redet mir jet gewaltig zu, Privatdozent in Verlin zu werben. 
Wirflid) bin ich uud; dazu geneigt, obaleich ich hier wohl nie 
Vorlejungen halten würde; in der Zukunft Fann ich aber 
manchen Xortpeil durch diefen Titel baben, denn die Hiefige Uni- 
verfität ift allgemein jehr geihäßt. Ich beichäftige mid) jegt eben 
mit einigen vorbereitenden Arbeiten. 

Am 8. Dec. a. St. machte id) umjerem Ptinijter Alopäus 
meine Aufwartung. Wahriceinlid) hätte ich eo nicht gethan,” 
wenn die Nede es nicht ausdrüdlich von mir verlangt hätte. 
Mlopius Hat nänlid) einmal gegen fie geäußert, daf; viele ruf. 
Untertanen in Berlin feyen, er aber nad) feinen Tenne. Ich 
ging alfo zu ihm Hin und ward fehr artig aufgenommen. Nad) 
einigen Minuten lieh er meinen Namen aufichreiben und id) 
empfahl mich nun feinem Schuß, worauf er mir antwortete, id) 
möchte mid) ur immer am ihm wenden, aud in der größten 
Kleinigkeit; er ivürde mir nie, jo viel in feinem Vermögen ftände, 
feinen Beijtand verweigern. So lieb mir Diele Neuerung 
war, jo lieb war 5 mir aber auch, diefe Staats-Piite gemacht 
zu haben. 

Solltet Ihr, teure Eltern, nicht durch irgend einen her: 
veifenden Studenten Gelegenheit haben, mir dasjenige Heft der 
Rofenpläntericen Beiträge zu genaueren Nenntnif; der ehjtnifchen 
Sprache zu fchiden, in welchem meine Sammlung von ehitn. 
Vollsliedern abgedrudt if? Der gute Unfel Brömfen würde 
Euch wohl das Heft aus Pernan verichaffen. Durch eben dieje 
Gelegenhait Fönnte id dann aud) Vergmann’o lettiiche Sinn 
gedichte erhalten. Benj. Vergm. würde Cu) wohl ein Eremplar 
zu Beförderung an mic zufommen faffen, wenigitens eins vo 
der zweiten Sammlung. Nittet ihn de in meinem Namen 
darum und meldet ihm, da der Rrofeior Friedr. Nüds fie bei 
feinen biftoriichen Arbeiten zu bemigen wünfcht. Schr gut Tönnte 
auf Diele Art auch jo manches zur Nerewigung des Namens 
imeres würdigen verflorbenen Vergimanns beigetragen werden. 
Wenn Jr an irgend einen fehreibt, der nur den Namen Bergmann 
führt, jo grüßt ihn jedes mal herzlich von mir. Mud) wäre 






Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 34l 


es mir jehr lieb, wenn ich durd) Euch die Addrejie an unfern 
guten Heinrich 3. und Sahmen erhalten Fönnte. 

Doch id) fehre wieder auf einige Augenblide zu Verlin 
zurüd. Da id Eudy nod) feine Enlbe über das hiefige Theater 
geichrieben Habe, fo wird es Euch vielleicht nicht unangenehm 
jeyn, einige Bemerkungen bier über dafjelbe zu finden. Im 
Allgemeinen fann ich von demfelben mr ein ehr günftiges Uxtheil 
füllen; — follte id aber Einjelnes hervorheben, jo müfte ic jo 
manches tadeln, was ich Hier, um Naum zu eriparen, nicht !hun 
will. Nur das eine Wort jtehe bier über die Schanfpieler 
Mattoufch uud Devrient, daß ich diefe für die größten jest lebenden 
Künjler auf dem Theater halte. ALS Komifer it Devrient gröher 
als Nffland, wie mir Fonque fagie; aber merfwürdig ift es, dal 
er auch die ernitejte Nolle mit der gröhten Stunjt ipielt. Mattaufch 
zeichnet fi befonders in Heldenrollen aus, namentlich fpielte er 
neulich in Goethes Göß von Verlichingen den Göb ganz unüber- 
treffbar. Durdy ihren Gelang find mir hier in den qroßen Opern 
vorzüglich aufgefallen der Baffiit Ailher und Madame Milder- 
Hauptmann. Die Stimme der legteren ift jo ftart und fo vein, 
wie ic) fie noch niemals gehört habe; leider jcheint fie das, was 
fie fingt, aber nie zu fühlen und daher ift mir wenigitens ihr 
Gejang nie jo anziehend, als er es fein fünnte. Co ift ein unbe: 
fchreiblich hoher Genuß, auf einem jo gut beiepten Theater die 
Schilleriben und Goethejchen Tragödien zu fchen; -- unerreichbar 
werden hier aber, meiner Meinung nad, die Opern gegeben. 

Das Wetter ift hier noch immer jehr milde, über 6-7 Grad 
it die Kälte hier Dis jegt mur einmal geweien. Da ichrieen die 
verzärtelten Derfiner aber and) hen aewaltig; die Nutichpferde 
waren bis zu den Augen und Hufen in wollenes Zeug genäht, 
worüber wir Nordländer laut lachten, und beinahe feinen Menjchen 
jah man auf der Strafe, der fi nicht den Kopf mit Tüchern 
bewidelt hatte und große Handichuh trug. Zelbit die Flüfie 
fheinen fih hier leichter von der Nülte bejtriden zu lajlen, als 
bei igitens ift die Spree aröhtenthells icon zugefroren. 
Auf der Hleinjten Cisfläche fiht man hier Schlittichuhläufer, die 
große, mit Gifen beichlagene Stühle vor fi her ichieben, auf 
denen Damen figen und fic) Herzlich über die Schlittenfahrt freuen. 



















342 Aus MW. v. Ditmar’s Reifebriefen. 


Selbit die glatten Stellen auf den Strafen und in den Ninn- 
fteinen werben zum Gliticen gebraucht. Oft fieht man auc) 
wohl einen alten Giraufopf fich dieje jugendliche Freude machen. 
Läugnen fann id's nicht, dafi mic) ein jolder Anblid immer jehr 
freut, wenn ich gleich auch oft herzlich fahen muß. Die bei- 
folgende Norrede, die ich zu Löwis*) Schrift über die Gegend 
von Heidelberg geichrieben habe, überihict ihm doc und grüßt 
den Guten herzlich von mir. Wenn er mir doch jchriebe, ob er 
mit ihr zufrieden if. Der Drud des Werfchens hat icon 
begonnen und ich hoffe, da es im einigen Wochen ericeinen 
wird. Die ganze Nuflage wird auf velinartigem Drudpapier 
gebrudt. 

Tiele innigite herzliche Hrühe von mir an Vergmans, Vergs, 
VBüld, Sivers, Moltreht, Spindler, an die Nurmisichen, Carl 
Engelhardt, Holits u. a. Näcftens jcreibe ih aud an Spindler 
und Agathon. Yon Voltrecht, dem alten treuen Freunde, erwarte 
ic) einige Zeilen. ud) Schwarg und Tante Dettingen grüßt 
recht, recht herzlich. Und nun lebt alle herzlich wohl! Mit der 
innigiten und wärmjten Liebe werde ich bis zu meinem Tode jeyn 


Euer Eu treuliebender 
Woldemar. 


Berlin, den 19. Jan. a. ©t. 1816, 








Dah ich, geliebte Eltern, in der Zeit, feit ich meinen lepten 
Brief an Euch jchrieb, wieder fehr oft bei unierer trefiliden, höchit 
liebenswürdigen Gräfin Nedte, bei Hufeland, Schmalz, Fr. Horn u. a. 
gewejen bin, braudre id Euch wohl faum erft zu jagen. Mit 
ganz bejonderer Liebe werde ich aber von der Nede und Tiedge 
behandelt. Cie erjepen mir hier, jo viel es fremden Denihen 
möglid ift, Cure Stelle, teure Eltern. Id werde hier jept 
nicht jeden Tag nennen, an weldem ic) bei einem diefer mir mit 





+) Andreas von Yöwis. Die erwähnte, Hübfch und anregend gefchrichene 
Schrift eridien zuerft i. J. 1814 in Dorpat (gedrudt bei }. €. Schüinmann); 
die zweite, von W. v. Ditmar mit einer Borcede verjehene Auflage i. 3. 1816 
in Berlin (Meurerfhe Buchhandlung). Anm. des Herausgebers. 


Aus MW. dv. Ditmar’s Neifebriefen. 343 


Liebe entgegenfommenden Menichen gewejen bin, jondern nur bie, 
an welchen ich irgend ein Sejpräch von Bedeutung gehabt habe. 
Ich fange wieder mit ber Nede an; denn am liebften fprict 
man doc von dem, was und das Liebite ift. ALS ich am 14. Dec. 
a. ©t. bei ihr war, traf id) fie im Vette. Sie befand ji grade 
nicht wohl. Den ganzen langen Abend bradjte id; mit Tiebge 
und ihr allein zu, doc jo angenehm, daß; ich gewünjcht hätte, 
daß der Abend noch einmal jo lang gewejen wäre. Wir jpraden 
fehr viel über die Art, wie die Bauern in Liv, Ehit: und Kurland 
frei zu lafjen wären, und die Nede erzählte mir von einer jehr 
lebhaften Korreipondenz, die fie über diefen Gegenjtand mit Merkel 
geführt hatte. Durd) diejes Geipräd veranlaßt, famen wir auf 
die Franzöftiche, Preuhiihe und Auffiiche Gejebgebung und auf 
Dierkel, von dem ich erzählte, dah er mit freder Stivn der Welt 
fund mache, daß fie den Lorenz Stark nur ihm zu danfen habe. 
Tiedge, der herrliche Mann, wiberjprad) biefer Angabe iehr lebhaft; 
denn nur durd) Friebländer in Berlin, jagte er, ift Engel bewogen 
worden, den Yorenz Stark herauszugeben. in jeiner urjprünglihen 
Geftalt ift er unter dem Titel: „Der Hausvater“ dramatiid) 
bearbeitet und nad) vielen Jahren endlich zum Drud fertig 
gewejen; denn Engel hat immer jehr lange an jeder einzelnen 
Stelle gemuftert. Während diefer Zeit eridhien unter demjelben 
Titel ein anderes Werk, und mm hat Engel das jeinige durhaus 
nicht mehr herausgeben wollen. Friedländer hat ihm aber gar 
feine Nuhe gelaffen und ihn dringend gebeten, uns biejes Liebliche 
Familiengemähfde doc) wenigitens in einer andern Vearbeitung 
zu geben und hierburd jey dann Engel veranlaßt worden, aus 
diefem Drama, deifen Spuren unverfennbar find in den im Etart 
vorfommenden Dialogen, einen Noman zu macjen, der für uns 
um jo mehr Neiz haben muß, da er uns jo treu und wahr Engel’s 
eigene Lebensgeidichte jchildert. Auch über den unvergehlichen 
Wieland jprahen wir viel und ic erfuhr manden interejlanten 
Zug aus feinem Leben, der mir bis jegr ganz unbefannt geniejen 
war. Aber vorzüglich ergriff mich an diejem Tage ein Geipräch 
über Neligien, zu weldem wir durd) ein anderes Geipräd über 
die Liederlichleit in Berlin veranlaßt wınden. Tiedge Towohl als 
die Neden find mir als Chriten bejonders achtungswerth; denn 








34 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


ihr ganzes Wefen ift durddrungen von den Wahrheiten der chrift- 
lichen Religion, fie leben beide und handeln als wahrhafte Chriften. 
Dem Tiedge flammt das jchöne bimfle Auge wie eine Leuchte, 
die alles um fich her erleuchtet, wenn er von Gott jpridht. Bei 
folchen geii; jehr erhebenden Gejprächen ift es mir immer geworden, 
als jähe id) Gott in feiner ganzen Herrlidjfeit und Mojeität vor 
mir und damit folhe Eindrüde für mich bleibend werden, jo leje 
ich jest täglich die Urania diefes edlen Dichters, in der er feine 
Hefinnung und feine jenrige Liebe für die Religion in janft 
harmonijchen Perjen ausipricht. In die jhönfte Begeifterung 
gerathen mir durch diefes für alle finftige Zeiten wmübertreifbare 
Gedicht und doch führt e6 uns immer wieder zur ruhigen, flaren 
Bejonnenheit zurüd. Kauft Euch, geliebte Eltern und Geichwilter, 
dieies Bud) doc) ja gleich und und Leit e6 jo oft als ih, — gewil; 
verfeben wir dann im Geifte noch jchönere Stunden mit einander 
als jegt. Der edelgefinnte Tiedge jelbft jagte mir in einem Ger 
fpräch über die Urania: „Der Dichter mühe immer jtreben durch 
feine Schöpfungen Nlaxheit der Verfiandesbegriffe bervorzubringen 
und nicht den Verjtand durd das Gemüth umnebeln; denn von 
dem Gemüth fen nur zu zeigen, daß cs des Menihen Thun und 
Handeln, wie die Sonne die Luft, erwärmen mühe.“ Zur Er 
inmerung an diefen mir ewig unvergehlichen Abend ichenfte mir 
Tiedge feine „Denkmale der Zeit." Auch die Nede trug aufer- 
ordentlich dazu bei, mir diejen Abend zu einem ewig unvergehlichen 
zu machen; -— namentlich durch die einfache, aber gewihi fehr 
bedentungsvolle Aeuferung für mic, daf fie auf jeden Fall Cud, 
meine guten Eltern, bejuchen würde, wenn fie einmal wieder nad 
Kurland füme „Ad muß die Eltern eines jo lieben, braven 
jungen Mannes, als Cie mein guter Ditmar find, durchaus 
fennen lernen,“ fegte fie nod) hin; „Die fo moralifd qut ihre 
Rinder bilden, als ihre Eltern Zie gebildet haben,. die müjlen 
durchaus jelbit vechtichaffen und brav jeyn. Vorläufig grühen 
Sie Ihre guten Eltern aber immer recht berzlid von mir und 
bitten Cie fie, da fie Ihnen ihre Vildniffe jhiden, damit ich fie 
jegt doc) wenigitens im Wilde Tennen lerne.“ Gewih ein jehr 
großer Veweis ihres Wohlwollens gegen mid, den fie jogar auf 
das Licbite, das ich in der Welt habe. auf Ench, meine Eltern, 











Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 345 


überträgt. Dod id habe noch größere Beweiie ihrer Güte, ja 
ihrer herzlichen Freundidaft zu mir, von denen ich Euch aber 
erft weiter unten erzählen fann, um im meiner chronologiichen 
Ordnung zu bleiben. Wahrlic, es wird mir jehr jhwer, fie nad) 
jo großen Beweifen ihrer Zuneigung zu mir noch Frau Gräfin 
oder gnädige Frau zu nennen und wirklich habe ic) fie auch icon 
oft fiebe Mutter genannt. Daher fommt cs denn aud, dai; id) 
jest in meinem Briefe, wenn ich ihren Namen nenne, fein Beiwort 
mehr zu demielben fee, jondern fie wie jeden, den ich liebe, recht 
herzlich fiebe, ganz einfach nenne. Am 19. a. Et. (31. n. ©.) 
im Dec. ließ die Nede die meiften ihrer hiefigen Landolente zu 
Vittag zu fich einladen, um am feßten Tage im Jahre 1815 
nady neuerer Zeitrehmung mit ihnen nod ein fröhliches Mahl 
einzunehmen und um uns alle zugleich einzuladen, uns zum Syfveiter: 
abend nad a. St. bei ihr zu verjammeln. Die Unterhaltung war 
an diefem Tage recht jehr anziehend, wie gewöhnlich in Gejellfchaft 
diefer geiftreihen rau, -— dad für mid bei weitem nicht jo 
anziehend, als wenn ich mit ihr und Tiedge allein bin. Bis 
5 Uhr Abends blieben wir diejes Mal zufammen, dann verliehen 
wir diefen Cirfel aber und ic ging um 6 Uhr Abends zu meinem 
theuren Franz Horn, wo ich umbeichreiblic gem bin. Er und 
feine Frau find die bejten Wienichen von der Welt. Lie, die 
berzensgute Hola Horn, wird auferordentlid, Fiebenswürbig durd) 
ihrem findlich frommen Zinn und ihre große Naivität und er 
dur jeinen feltenen Humor. Beide bilden alo Eheleute ein 
ichönes Ganze. Doc) ich lenfe wieder ein, weil id) ipäter nad) jo 
mandyerlei über Horn und fein trefiliches Weib zu jagen habe. 
Jegt müht Ihr, meine Eltern und Sejchwilter, nod) viel Erfreus 
liches von meiner Pilegemutter, der Nede, hören. Daß wir alle 
am 1. Jan, n. St. wieder bei der Nede waren umd ihr zum 
neuen Jahre Glück wünfchten, verficht fi von jelbft. Nad) 
8 Tagen, am KRuffiihen Yenjahrsabende, hofiten wir mn erit 
unfere gütige Kandsmännin wieder zu jehen. Doc) jo lange follte 
es nicht dauern, denn noch) einen Tag vor dem legten im Jahre 1815 
nad) alter Zeitrechnung, ud fie Nraufling und mich wieder zu 
Mittag ein, um uns mit dem Staatsrath Uhden, einem berühmten 
Sprahforicher, befannt zu maden. Aud Schmalz war dies Dial 





346 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


da. Für mid) ein hödhft interefianter Tag und befehrend durch 
die mannigfaltigen Geipräde über talien. Als wir weggehen 
wollten, wiederholte die Nede die Bitte, dab wir am andern Tage 
zum Rufj. Sylvejterabende wieder fommen möchten. Natürlich 
nahmen wir diefe Einladung jehr freudig an und ftellten uns zur 
bejtimmten Zeit ein. As ich hinfam, traf id) eine jehr große 
Sefellihhaft jhon vor mir, namentlid waren von meinen Yands: 
leuten folgende da: Kraufling, Hartung, Körber, Schouls, Tottien, 
Grünwaldt, Gambeca, die beiden YVrüber Vurip und der Graf 
Dimten von Nurmis. Außerdem aber aud) nodh Schmalz mit 
feiner Familie und Franz Horn. (Meijie und Napp habe id) jegt 
bei der Nece auch befannt gemacht). Diefer Abend war für 
mid) in verjchiedener Nüdficht auferordentlid interejiant und 
bejonders erfreulich dadurd, dah ic) der Einzige von allen An- 
weienden war, der bie unbeichreiblich große Freude hatte, daß die | 
Nede und Tiedge die Gefundheit der Zeinigen tranfen, -— alio 
die Eurige, geliebte Eltern und Geichwilter. Bis 12 Uhr blieben | 
wir an diefem Abende zufammen, dann tranfen wir auf das 
Wohl unferer Lieben noch) ein Gläschen Punid und gingen drauf 
Alle fort. Doc che ich mid empfahl, mußte ih der Neden noch 
das Verfprechen geben, am 2. Jan. a. St. wieder bei ihr zu jenn. N 
Dah 88 mir gleich leicht wird ein foldes Veripreden zu geben 
und es auch zu erfüllen, jeht Ihr mohl voraus und daher brauche 
ih es Eu) aud wohl nicht zu jagen, dal ich aljo am 2. Janıar 
wieder da war. Doc es gehörte diefer Abend nicht zu den genuß- 
reichen für mich, jondern vielmehr zu den recht jehr unangenehmen, 
denn ich traf diefes Mal mit zwei jo arroganten Studenten zu 
fammen, daß es mir unmöglic war, mid in den Schranten der 
Beicheidenheit zu erhalten. Beide fielen mit der ungerechtejten 
Hige über einen Mann her, der mir unbeichreiblic teuer it, und 
verfeiteten mich daburd) gegen fie ausfahrend zu werden, und zwar 
wurde ic die fo fehr, dah die jonjt gewiß jehr gelajlene Rede 
fid) genöthigt fah, mir zuzuwinfen. Dieß verflimmte mid) fo jehr, 
daß ich mich nad) einigen Augenblien empfahl und mir vornahm, 
micht früher wieder hinzugeben, als bis id) eingeladen werden 
würde. Dod) dieje Einladung blieb jehr lange aus; denn erit 
am 14. Januar a. St. eridien ihr Diener und fagte mir, dab 





2. nr, een 





Ans MW. v. Titmar’s Neifebriefen. 347 


Frau Gräfin mich zu diefem Abende ganz allein bitten liche, 
Etwas beengt ging ich hin und traf dort zwei Damen, eine Madame 
Forfter und eine Fräulein Lorenz, die id) j—hen mehrere Mat bei 
der Nee geiehen hatte. Gleich nad den erjten Erfundigungen 
nad) dem gegenfeitigen Wohlbefinden, entichuldigte id mid), neulic) 
fo aufbraufenb mich betragen zu haben. „Gott bewahre,” fagte 
die Nede, „es bedarf hier feiner Entihuldigung; denn ich winfte 
Ihnen, mein junger Freund, nicht um Cie zu berufen, fondern 
weil ich beforgte, daß Sie fi wohl gar idhlagen müften. Und 
ih habe Sie viel zu lieb, um Sie in irgend einer Gefahr ruhig 
zu willen.“ Wahrlich eine jehr ichöne Aeuferung, wenn fie gleic) 
auch nicht zu den Anfichten eines Studenden ganz paifend it! 
Herzlidy dankte ich der edlen Frau für ihre liebevolle Bejorgniß 
um mich und fühte ihre Hand mit fo großer Innigfeit, daß mir 
dabei die Thränen in die Augen traten. Die bemerkte fie und 
Tprad) folgendes mit freundlicher Dliene zu mir: „Segen Sie fih 
nun, mein lieber quter Ditmar, und laflen Cie uns froh jeyn; 
Sie haben Gefühl für Dankbarkeit und eine reine gute Seele 
und verdienen daher meine ganze Liebe, wie Sie fie denn aud) 
wirflid beigen.“ Drauf verbradten wir die Zeit von 6 Uhr 
Abends bis *4 auf 9 mit verihiedenen bald interejfanten, bald 
gleihgültigen Geipräden und drauf wollten wir ums empfehlen. 
Die beiden Damen gingen wirflid weg, allein ic) mußte mod 
bleiben, denn fie verlangte e8 von mir ausbrüdlid. In einigen 
Vinuten war aud Tiedge wieder bei uns und nun begann ein 
hödjit lebendiges Geipräh über das Werhältniß ber Kinder zu 
ihren Eltern. Während dejfelben äußerte die Nede einmal, daß 
man immer das Schlechtefte erwarten mülle, wenn man lange 
zeit feine Nachricht von feinen Lieben hat, um bei einer traurigen 
Nachricht gefaßt zu bleiben. „In einer ähnlichen Lage befinde 
ich) mich jet, jagte id; denn jchon jeit beinahe 10 Wochen habe 
ich feine Nachricht von den einigen“ und dabei traten mir 
die Thränen jo häufig in die Augen, da id fie garnicht mehr 
verbergen fonnte. Durd) diefe Aeuferung von mir tief ergriffen, 
traten and) Tiedge und der Neden die Thränen in die Augen, beide 
umarınten mic mit der größten Innigfeit und nahmen mir das 
heifige Verfpreden ab, daß id gleid) zu ihnen fommen jollte, 





348 Aus W. v. Ditmar's Neijebriefen. 


wenn ich Briefe von Euch erhielte. Diefe herzliche Theilnahme 
an meinem Schidjal traf wie Blig und Schlag in meine Seele 
und regte mein Gefühl jo jehr auf, da id mid) ihm ganz über: 
ließ und meinen Dank, von einem Thränenftrom unterbroden, 
ganz jo ausiprad, wie das Herz ihn mir eingab. Und nun wollte 
ich gehn, reich in meinem Innern ausgejtattet; denn es war jdhon 
3211 Uhr geworben und gewöhnlich gehen diefe beiben gefühl- 
vollen, biederen Menfchen icon um 10 Uhr zu Bette; allein ic) 
mußte durchaus nod) bleiben; muhte veriprechen hinzufonmen, 
wann ich Luft hätte, um mid) aufzuheitern; von Tiedge erhielt 
id) zur Erinnerung an diefen jchönen Abend, der mir der fecligite 
in Verlin gewejen ift, feine Heine Schrift Nobert und Nennden 
zum nbenfen und num begannen fie wieber ein anderes lebhaftes 
Gejpräd) über Ericheinumgen und erzählten auch mandyes von 
‚Herder, um meine Gebanfen wieder von dem einen geliebten 
GSegenjtande abzulenfen, der meine ganze Phantafie beihäftigte. 
Es wart Jhr, meine Eltern und Gefchwilter. Doc, da fie endlich 
fahen, daß ic) durdaus nichts mehr genau hörte, jondern mic 
ganz meinem Gefühl übertich, jo liehen fie mich endlich um 11 Uhr 
gehen, -—- aber id war jo aufgeregt, dak ich erjt gegen Morgen 
einfchlafen Fonnte und viele, viele Thränen nod) am andern Tage 
wergofi. Noch jest tönen mir des eblen Tiedges Abihiebeworte 
im Herzen nad): „Kommen Sie doch ja recht bald und recht oft 
wieder, mein Lieber. Cie find hier ja jo gern gefehen und jo 
sehr geliebt.” Von dem legten Geiprädhe, das wir an biejem 
mir ewig ımvergehlihen Abende führten, ift mir nur noch eine 
Anecdote von Herder gegenwärtig. Er hat nämlid einmal, in 
einem Seiprädh über Rogebue zu der Nede ironiih gelagt, da 
& ihm unmöglid fen zu glauben, dah; Nopebue den Vahrdt mit 
der eifernen Stirn allein gejchrieben haben fönnte, weil er für 
ibn zu gut geichrieben jey. Gewik eine jehr merfivürbige Neue: 
rung von einem fo frommen, duldfamen Manne. Aber Nopebue 
verdient aud) ein joldes Urtheil, weil er zu anmalend it. So 
hat er zu Straufling, als er durdh Königsberg reifte, in einer 
Unterhaltung über des Epimenides Erwachen gejagt: „Nach dem 
60. Jahre muß man nicht mehr dichten. Ich werde bald aufhören 
und Hr. d. Goethe muß durdaus aud) aufhören; denn er ift 








Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 349 


ichen über 60 Jahr alt." Zo fpricht ein Rotebue jtrenge ver 
dammend und enticeidend von einem Goethe! Doch nad) einige 
Worte über meine mütterlihe Freundin, die liebenswürdige Nede. 
Xier Tage nad) dielem unvergfeichlich beruhigenden Abend, von 
dem ich Euch, theure Eltern, eben Kumde gegeben habe, erhielt ich 
von ihr folgenden Brief: „Haben Sie Briefe von Haufe? Vefuchen 
Sie mich, mein lieber junger Freund, biefen Abend mit ein Paar 
Landsleuten, die Sie mir mitbringen wollen! Clija.“ Wie 
einfah und jchön. Für mich ein bleibendes Denfmal ihrer 
Freundfchaft zu mir. Ich ging mit Hartung und Straus bin 
und traf Schmalz mit feiner Familie dort, den fie, wie fie mir 
fagte, deswegen hatte bitten laffen, weil fie wühte, dab id ihn 
derzlich liebe. Wieder ein ichöner Zug ihres edlen Charakters. 
IA Habe den Schmalz aber auch) redht innig fieb und freue mich, 
daß er mich wieder eben fo ficb hat, als ich ihn. Das hat mir 
die Nede, Tiedge, Schmalzens Frau und einmal fogar er jelbjt 
gefagt. Aber er hätte es mir nid)t einmal zu jagen gebraucht, 
denn aus feinem Vetragen muhte ichs fon Längit deutlich exfennen. 
Jeden Tag, im buchitäblichen Sinne des Worts, mul ich bei ihm 
feyn; feine auserwählte Bibliothek jtcht zu meinem Gebraud) offen 
und jelbft Gerichtsacten tHeilt er mir aus feiner Sammlung mit, 
damit ich belehrt werde, wie die Nechtotheorie in der Praris anger 
wandt werde. Noch mehr als dies alles jind aber die Geipräde, 
die ich mit ihm führe. So mandyes vertraut er mir unter bem 
Verfprechen der Verfchwiegenheit an. Diejen Abend verlebten 
wir bei der Necken wieder Höchit angenehm; denn bald unterhielten 
wir funs, bald wurde auch wieder muficirt und gefungen. Als 
id) weggehen wollte, trat die Alte noch einmal zu mir, legte die 
eine Hand auf meine Schulter und ergriff mit der andern die 
meinige, fie herzlich jhüttelnd, und prad) darauf zu mir: „Da; 
Sie © ja nicht vergeffen, uno gleid) zu bejuchen, wenn Sie Briefe 
von Ihren lieben Eltern befommen. Gedicht das aber nicht bald, 
jo fommen Sie doc) in diejen Tagen wieder.“ Gott, wie glüdlid 
wäre ic, wenn ic) ihr bald vecht gute Nachrichten von Euc) bringen 
fönnte! 

(2. 20. Jan. a. St.) Bei meinem geliebten alten Vater 
Wolfe, den Ihr nun schon genau aus meinen frühern Briefen 








350 Aus W. v. Ditmar’s Reijebriefen. 


fennen werdet, bin ic) in diefer ganzen Zeit nur vier Mal gemweien. 
Am 6. Ian. a. St. erfreute mic) der alte Wolfe zum zweiten Mat 
mit feinem Beluch, nadjdem id) am Morgen bei ihm geweien war. 
Er blieb von 5—8 Uhr Abends bei mir. Dieh mußte ic) Euch, 
theure Eltern, melden, weil mir biejer Veh zu viel werth ift 
und hr Euch herzlich mit mir über meine Freude freut. Doch 
auch die Scene müht Ihr hören, die id) mit Wolfe am Neujahrs: 
tage Hatte, alo id) zu ihm gegangen war, um ihm Glüd zu 
wünfchen. Ganz bejtürzt jtand der fromme Greio mit filbergrauem 
Haar vor mir und mod liebenswürdiger, als fonft gewöhnlich, 
durd) eine Thräne, die jeinen Greifesblid feudhtete. Er war durd 
meine Xufmerkjamteit jo jehr gerührt, da er mich in Findlihern 
Tone fragte: „Ad, wodurd Habe id) Ihre Liebe verdient? Nönnte 
id) mid) dod) ihrer werth madjen.“ Diefe Worte ergriffen mic) 
fo fehr, da; id fhmweigend, aber mit recht aufrichtig gefühlter 
Herzlichteit, die Hand diefes 75jährigen Greileo an meine Lippen 
brücte und in einer wehmithig-beitern Stimmung forteifte. Zur 
Erinnerung an den jcönen Abend, an weldem uns Molfe 
mehrere eigene Arbeiten vorlas, hat er in mein Stammbud) unter 
einige“ eigene wunderihöne Were folgende einfad:ichöne Worte 
geichrieben: „Es wird mid) freuen, mein jehr geliebter Ditmar, 
wenn diefe Feberjtriche beitragen, fid zu erinnern des alten Rinder+ 
freundes Chriftian Hinrich Wolte aus Jewer.“ 

Bei Franz Horn bin ich in diefer Zeit nur zwei Dal gemeien. 
Von dem einen Wale babe ich Euch icon oben gefchrieben und 
am 25. Dec. a. St. war id wieder da. Cine Einladung zum 
18. Jan. a. St. fonnte id) nicht annehmen, weil id bei der Nede 
fen muhte, Am 25. war der Geburtstag der liebenswürdigen 
Roja, zu welchem Tage der brave Horn mehrere Freunde einger 
faben Hatte, ohne da; jeine Frau etwas davon wußte. Aud) der 
gute Tiedge war da. Nachdem der Thee getrunfen war, wurde 
ein feines, von Horn zur Feier diefes Tages gedichtetes Drama 
aufgeführt, welches ganz herrlich it. Aud) Ihr joll tes lejen, wenn 
id) einmal wieder bei Cud; bin. Die war ein jchöner, genub: 
reicher Tag, der nie meinem Gedächtniffe entjchwinden wird. Er 
hat etwas jehr VWleibendes zurücgelafien und mir deutlid) und 
erfreulich bewährt, da; das eheliche Glück das gröhte auf der Erde 











Aus MW. v. Ditmar’s Neijebriefen. 351 


jey; denn mit welcher Liebe und mit wie vielen IThränen, bie bie 
Freube ihren Augen entlodte, dankte das chle Weib dem gleich 
edlen Manne für die Ueberraichung, die er ihr forgfam bereitet, 
und für den Beweis jeiner treuen Liebe. Dies ift wohl ber höchite 
Lohn, den es überall in der Welt geben kann und dies ijt das 
Bedeutungsvolle, das ich am diefem herrlichen Frühlingstage in 
Horns Leben gelernt habe und immer treu im Tiefiten des Innern 
bewahren werde. Noch möge hier ein Gefpräd, das Araudling 
und ich an diefem Tage mit Tiedge über Lavater hatten, jeinen 
Pag finden, weil es uns manden Aufichluß über einzelne Stellen 
in den Schriften diefes religiöfen, doch zugleich frommen Schwärmers 
giebt. Tiedge erzählte nämlich, da Lavater feft daran geglaubt 
habe, dak man durd) ein recht Träftiges Gebet alles bewirfen 
fönne, ja jogar die Wiederbelebung eines theuren Verjtorbenen. 
In dem Glauben, daß das Gebet alles vermöge, ilt 2. einmal 
durdy folgende Begebenheit jehr beitärft worden: Cin Dann, der 
in jehr bürfligen Umftänden mit feiner Familie lebt, Tommi eines 
Tages zu Savater und bittet ihn fehr, er möge dad) zu Gott 
beten, daß er ihn in günjtigere Vermögensumftände verjege. 
Savater, durch das Elend des Mannes tief ergriffen, geht in die 
Kirche und betet andächtig zu Gott, da er beiftchen folle dem 
armen Leidenden. Dranf geht er nad) Haufe und findet auf 
feiner Treppe eine in Papier eingewidelte Nolle Ducaten und 
einen Brief, in weldem jtehet, Yavater möge bdiejes Gelb zur 
Unterftügung Nothleidender anwenden. Diefe Vegebeneit ijt Ver- 
anlajfung geweien, dal biefer liebenswürdige Schwärmer feit Davon 
überzeugt worden üit, durd) das Gebet könne man alles erringen, 
und ift es ihm mißlungen, einen Todten zu erweden, fo hat er 
fich gleich darüber beruhigt, weil er zuverfichtlid geglaubt hat, 
dab jein Gebet nicht ganz Fräflig und rein geweien jey. Den 
3. Jan. a. ©t. machte id) die Belanntihaft des berühmten Ge: 
fchichtsforihers Friedrich Nühs. Er hatte mic auffordern lajlen, 
dab id für fein hiltoriihes Journal eine Abhandlung über das 
in Kurland wohnende Völfden, Nreewinen, jcjreiben möchte. Als 
ich mit diefer Arbeit fertig war, ging id) zu ihm und wurde jehr 
freundlich aufgenommen. Zwei Stunden unterhielt id mich mit 
diefem gelehrten Dianne ehr angenehm über nordiiche Geichichte 








352 Aus WM, dv. Ditimar’s Neifebriefen. 


und mußte, als id) wegging, veriprechen wieder einmal vorzus 
fommen (ein Ausdrud, der bier in Berlin jehr üblich it). Nody 
bin ich aber micht wieder bei ihm geweien. Won Nraudling und 
$. Engelhardt, die aud) mit Nühs bekannt find, erfahre ih, dal; 
er mit meiner Arbeit recht jehr zufrieden jeyn foll, nur meiner 
Hypotheie über die Herftammung dev Kreewinen will ev nicht bei- 
ftimmen. Ex hat gejagt, dafi fie Fühn jey und ihm wohl gefiele; 
allein dennoch nicht haltbar und daher jehe er fich genöthigt, gegen 
mid) zu jcreiben. Die it mir fehr lieb, weil es mir jehr 
nüglid) werden Tann, da ein Mann wie Rühs ih die Mühe 
nimmt, gegen mid), da ich nod) ganz unbefannt bin, zu jchreiben, 
und aud fon deswegen lieb, weil cs ohne Bitterfeit von feiner 
Seite geidieht; denn gern will er meine Vertheidigung gegen 
feinen Angriff wieder in feiner Zeitihrift abdruden lafien, wie er 
geäußert haben joll. 

Den Ss. Jan. a. &t. bradjte ich einen jchr interefianten 
Abend bei meinem alten trefflihen Vellermann zu. Er beichenfte 
mic), ehe ich wegging, mit 6 Kleinen Schriften, die er eben heraus: 
gegeben hatte, und [ud mic ein, in zwei gelehrten Gejellfchaften 
fein Gajt zu jeyn. In der einen, der naturhijtoriihen, hatte ich 
wenig Freude, weil ich mid) ein wenig verjpätet hatte und daher 
au) der ganzen Verhandlung nur zum Theil beimohnte. Aber 
bödjjt genußreich war mir der Abend, den ich am 15. Jan. a. 
in der Gefellichaft der Freunde der Dumanität verlebte. Diejer 
Verein feierte grade an diefem Tage jeinen Stiftungstag und «6 
waren über 200 Perfonen, Damen und Diänner zu diefer Feier 
Gichteit eingeladen. Nachdem von mehreren Mitgliedern Ab- 
handlungen verlejen waren, jepten wir uns zum Abendeijen und 
tafelten an drei, beinahe nicht zu überfehenden Tijchen bie um 
12 Uhr in der Nacht. Mitunter wurde viel Wein getrunfen und 
gelungen, jelbjt die älteften Greife fangen mit, 5. B. ein 6Ojähriger 
Vellermann und der cbenfo alte Bode, der diejen Abend ganz 
ausnchmend licbenswürdig war. Yon den vielen Befanntichaften, 
die id an diejem Abende machte, war mir die liebjte die mit dem 
Stantsrathe Ver aus St. Petersburg. Der alte gute Vellermann 
hatte mich ihm empfohlen und jiellte mich ihm aud) vor. Lange 
unterhielt id) mich mit dem wadern Wanne und mußte ihm ver 

















Aus MW. v. Ditmar’s RNeifebriefen. 353 


inrechen, ihm am andern Tage recht früh zu beiuchen, weil er um 
Mittag abreifen wollte. Natürlich ih Hin und mußte nun 
mit ihm zu Mlopacus, dem Gejandichaftsiecretairen Nrafit umd 
dem GSeneralen d’Anvray gehen, bei denen er mich überall jehr 
empfahl. Er ingte mir, dah er ‚mic deswegen zu fich gebeten 
hätte, um mic diefen Männern zu empfehlen; denn das fünnte 
mir fehr helfen, verficherte er. Wirklich hat co mir aber auch 
Nupen gebracht, denn der. berühmte d’Auvray, der dem Wittgenitein 
in dem legten Nriege jo imentbehrlich war, lud mid gleid ein, 
ihn während feines Aufenthalte in Berlin öftero zu bejuchen. 
Früher batte ih ihm hen einmal bei der Nede geipraden. 
Wie jehr mich die zuvorfommende Güte von Ber erfreut hat, 
fann id) Euch wirklich nicht beichreiben, und das um jo mehr, da 
ich deutlich gemwahr wurde, dal; ev mir in diefen wenigen Stumden 
fogar perjönlich gut winde. Er mich nicht früher wegachen, 
als er fortfuhr, nahm er von mir fehr herzlich Abichied und als cr 
fchon im Wagen jah, holte er no) fein Tajchenbud heraus und 
verlangte von mir, dah ich meine Adrejie bineinfchreibe, weil er 
mir noch einmal fchreiben wollte, wie er jagte. Zugleich erbot er 
fich, alles für mich in Petersburg zu beiorgen, wenn ic) einmal 
von dort aus ehvas braudıte. An diefem ichönen Abende wurde 
ich and mit dem Chemifer Hermbjtädt befannter, alo co mir Dis 
jebt bei Hnfeland möglid) geweien war. Ehe ich nod) an diejem 
Tage mit ihm ein Wort geiprochen hatte, trat er zu mir und Ind 
mic) fehr herzlich ein, ihn am 19. Jan. a. St. zu beiuden. Ich 
ging hin und fand dort eine Gefellichaft von mehr als 100 Rerfonen. 
Es war mir ein vecht intereffanter Abend, denn ein Paar durch- 
veifende Nünjtler gaben dort ein recht bübicheo Fleines Konzert 
und drauf wurde bio in die ipäte Nacht hinein getanzt. YA) 
dieje Bekanntibft ift mir vecht jehr erfreulich, denn Hermbtädt 
it ein in der gelchrten Welt jchr bedeutender und zugleich braver, 
ahtungswürdiger Dann. 

Da mein halbes Jahr hier in Berlin num bald um üit, jo 
wird eo Zeit fenn, daß ich mich mit Euch, gute Eltern, über 
meinen Neifeplan beiprede. Id gevente nämlich am 26. Pärz 
a. Zt. von hier nad Tresden abzureiien und 8 Tage daielbit 
zu bleiben. Yon da gebe ih auf eben jo lange Zeit nach Nena, 

u 





























354 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 


wo alle Sandslente fid) zu veriammeln beichlofien Haben. Hier 
werde ich denn auch meinen guten Sahmen und Baer wiederjehen. 
Griterer ichrieb mir vor einigen Tagen einen recht liebevollen 
Brief aus Würzburg und lieh Euch alle grüßen. — Von Jena 
gehe ich grade nad) Heidelberg und von dort nad) einem Auf- 
enthalt von wenigen Wocen mit Schoulg, Sivers und 9. Ber: 
mann in die Schwei. Ju diejem idhönen Yande gedenfe ich bis 
zum Oftober zu bleiben und dann wieder nad) Heidelberg zu 
reifen, um dort noch einmal Pandecten bei Thibaut zu hören. 
Hier bleibe ich dann entweder ein ganzes Jahr oder auch nur 
ein halbes und gehe, bleibe ich nur ein halbes, nad ein Semeiter 
nad) Göttingen und fehre dann nad) Yivland zurüd. Heinri, 
Bergmann schrieb mir vor 14 Tagen aus Heidelberg und läßt 
Eu) auch recht sehr hen. Mit vieler Yicbe erinnert er fi 
Ener. Er hat eine große Neiie gemacht; denn er ijt durch Frank: 
reich bis an die Spaniiche Grüne gegangen und nachher wieder 
durd) die Schweiz bio an die Jtalieniidhe Gränze. — Aud) von 
Benjamin Bergmann habe id) einige wenige Zeilen erhalten, die 
mic) gang ungemein gefreut haben. Yejonders intereiiant war «8 
mir durch ihm zu erfahren, da unferem trefflihen Berg eine 
magnetische Eur an ılein Ulrich) gelungen jey. Wenn Ihr 
Ausführlicheres hierüber wiht, jo meldet es mir dod). 

Und mm noch viele, viele herzliche Grüße an Eud) alle, 
die Ihr im dem lieben Kennen jend. Gott erhalte Euch alle 
gelund und mir in dem Grade Eure Liebe, wie Jhr die meinige 
befigt. Noch ein Lebewohl von Eurem Euch treu Liebenden 

Woldemar. 














Verlin, den IR. März 1816 a. St. 

Die Zeit der Angit md qwälenden Vejorgniß; it vorüber, 
herzlich geliebte Eltern und Gejdwilter! Rürwahr id) fann Eud) 
das mich bejeeligende Gefühl nicht beichreiben, als in den eriten 
Lengestagen mid ein Brief von Euch wieder ganz glüdlich machte. 
Merkwürdig it mir die Ahnung, die ich einige Tage vor der 
Ankunft Eures Briefes hatte; id) war nämlich durch einen Traum 





Aus W. v. Ditmar’s Reifebriefen. 355 


davon ganz überzeugt worden, da der nächite Pojttag mir einen 
Brief von Euch bräcte. Ach legte mid) eines Abends mit den 
auäfenditen Gedanfen zu Bette, wohl manche Thräne entquoll 
auc) dem Auge, bis der Schlaf den müben Wandersmann durchs 
Leben mit feinen Feileln umftriete. md faum erjt erquidte ber 
erite Schlummer mid), da chen jchloß fi die Traumwelt mir 
auf und es jdhien mir, als jtiege aus ichwarzer Erde ein nebel- 
grauer Greis empor, der mand, idaudererregendes Wort zu mir 
fpra. Dumpf tönten die Worte durd) die Tiefen meines Innern 
und j—merzlid) ward die Seele mir bewegt. Da blidte ih im 
fchweren Traume himmelan; das rauhe Walten der Nacht hatte 
aufgehört und der Morgen blidte mir tröftend entgegen aus ber 
blauen faren Tiefe. Ruhig ichlummerte id wieder fort; des 
Morgens friedliches Bild blicb meiner Seele und jelbit in dem 
furzen Morgenichlummer erfreute mic ein tröftender Traum. Aus 
des Aethers Bläne jenkte fid) ein Engel zu mir hernieder, drüdte 
fanft meine Hand, blidte mit jeinem großen blauen Yuge mich 
freundlich an und iprad: „Höre auf zu Hagen, Armer, das Dank 
deiner Leiden ijt voll und aus den Yeiden werden dir hohe Freuden 
erwachien.“ So iprady der Engel tröjtend zu mir und entichwand. 
Voll Heitrer Nuhe erwachte ich zum zweiten Male; ichnell Fleibete 
ich mich an ımd eilte in die freie Natur, um mic) ganz mir felbjt 
zu überlajfen. Jegt blieb ich heiter und war in diefer Stimmung 
allen meinen Freunden ein Näthjel. „Nun, wahrhaftig,” fagte 
der eine zu mir fogar, „die Falten von Deinem Gefichte find io 
i—hnell verihmwunden, dai id) glauben muß, der Frühling bat fie 
ausgefüllt, oder Du Haft frohe Nachrichten von Kaufe.” Nad) 
nicht, war meine Antwort; aber morgen betomme ich welde. 
„Woher weit Du denn das?” fragte er mid), ein wenig ver: 
wundert. Ich erzählte ihm meinen Traum. Cr verlachte mic) 
darüber und ich antwortete ihm nur darauf: „Nun, Du wirjt 8 
fehen, morgen habe ich frohe Nachrichten von Haufe.” Und 
wirklich eridhien aud) den andern Tag der Poftillon in meiner 
Stube wub fagte: „Ich bitte mir die 8 Grolden aus, die Sie 
mir veriproden haben; hier it ein Brief aus Aufland.”" Mit 
einem fo furdhtbaren Geichrei iprang id von meinem Sike auf 
und lief mit dem Vriefe in der Stube umber, dai durch die 
ur 





356 Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen. 


eine Thüre Hartung und Rraudling ganz erichroden erfchienen” 
und durch die andere die gute Profeiforin Schlofier mit ihrer 
Tochter. „Herr Gott, was ift denn vorgefallen,“ fragten mich alle 
ganz bejtürzt. „Nicht, nichts,“ war meine Antwort, — und 
diefen Worten tobte ich weiter, wobei ich ganz entzüdt ausrief: 
„Ein vothgefiegelter Brief, ein rotbgefiegelter Brief.“ An das 
Lefen der Iheuven Zeilen dachte ich To wenig, daß Nraudling den 
Brief erbrad) und ihn mir offen hingab. Mit Freudentpränen im 
Ange durchlief id ihn mit flüchtigen Vtiet, aber aud) jo flüchtig, 
daf; icho erit am andern Tage gewahr ward, da; ic) dieien lichen 
lieben Brief ganz faljch veritanden Hatte. Nur das, daf; ihr alle 
gefund wart, wuhte id), und darüber freute ich mich jo innig, dab 
id — — einer Ohnmacht nahe fam. Xicle Tage habe id den 
{euren Brief immer am Herzen getragen und war von dem 
Anhalt dejielen To voll, dab ich Euch nicht früher als jept 
ichreiben fonnte.. Und nun it die Zeit, die id in Berlin nod) 
bleibe, fo Furz, md die Veforgungen haben jid) jo jehr gehäuft, 
dab ich Euch nur diefe wenigen Zeilen ichreiben kann, die Euch 
aber einen vecht herzlichen Dank für Eure mir erwielene Licbe 
bringen nnd Euch jagen follen, dai ich mich hurcans ganz wohl 
befinde und daß ich froh und glüdlid bin. Aber, wie gelagt, 
mehr erwartet diefeo Dial von mir nicht; denn chen übermorgen 
verlaife ic) Werlin und veiie mit unferes Nybero Bruder den 
übrigen Yandoleuten nad) Jena nad. Yon dort gehe id) mit 
Kapp nach Dresden und treffe mit meinen lieben Freunden Straus 
und Nupffer zufammen. Erjterer geht mit uns nad) Heidelberg; 
Kupfer aber, in dem id) einen höcht trefificden Menichen Fennen 
gelernt habe, geht von Weimar aus nad) Berlin zurüd. Was 
werde id) Eud), herzlich geliebte Eltern, nicht alles von dieler 
Neije zu melden haben? An die meisten bedeutenden Männer, 
die ich auf diefer Tour treffe, habe ih von Schmalz, Zavignn, 
meinem väterlichen Freunde Tiedge und der himmlischen Elifa, 
bie Eich alfe wieder herzlich grüßen laffen, Empfehlungsichreiben, - 

felbit an den großen Goethe. Yun br werdet eo duch den 
Defect, den Enre Gafje erleiden wird, gewahr werden, dal mein 
erftier Brief aus Heidelberg — eine wahre Abhandlung jeyn wird. 
Ah Habe Euch no jo vieles zu melden; nod) Habt Ihr, aute 

















Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 





Sttern, ja nichts von der Ießten, gewi fehr bedeutungsvollen 
und glüdlichen Zeit meines Aufenthaltes in Berlin erfahren, nod 

‚nichts von den neen Vefanntichaften, die ich hier wieder gemacht 
babe. Damı jollt hr and durd eine ganz eigene, gedrudte 
Brojdüre die edle Elifa genau fennen lernen; denn jchon fange 
arbeite ich an diefem Denfmale, das id der großen Frau jegen 
will. Es ift vollendet und liegt jest bei Vater Tienge zur Did): 
ficht. Auch jollt br dann die von mir herausgegebene feine 
Schrift über Heidelberg erhalten. Meldet 06 dad dem guten 
Andreas Yöwis, da das VBüchelchen erichienen und bier in Berlin 
vielen Veifall findet. . Hrüßt ihm ud vet herzlich und innig 
von mir. Diefes Mal, gute theure Eltern, müht Ihr ichon mit 
diefem corrupten Briefe von mir vorlieb nehmen; aber vecht bald 
follt Ihr einen vernünftigeren erhalten, das veripreche ich Euch, 
einen ganz vernünftigen befommt hr aber exit aus Heidelberg, 
jedod; nur ımter der Bedingung, dab ich einen Brief von Euch 
dafelbjt vorfinde. ie Adreije macht wie gewöhnlich; nur jhreibt 
ftatt Berlin nach Heidelberg über Berlin. Auch bitte id) Eud), 
nod) folgende Worte hinzuzufügen: „Cs wird vet jehr gebeten, 
diejen Brief jo lange auf der Pojt aufzubewahren, bis der Cigen: 
thümer fi meldet.” 

















Dresden, den 19. April 1816 a. 





(Der erfte Theil diefeo Briefes jcildert die wenig intereilante 
Neife von Berlin bis Naumburg. Ich hebe aus derielben nur 
einen Theil der Schilderung von Halle heraus: „Die bedentendite 
Stadt, in die id) jet zumächit fan, war Halle — ein Ort, der 
mir durchaus garnicht gefallen hat. Cr liegt in einer großen 
fruchtbaren Ebene, und um fo ımausjtebliher üt es für den 
Reifenden, hier die Yemerfung zu machen, dab fait jeder Menich, 
den er gewahr wird, ein Bettler it. Selbit in der Stadt üjt die 
Polizei jo fchlecht, dalı man in Gefahr fommt, von jolhen Menfchen 
aus dem Wagen gerüffen zu werden. Wach die Bauart Halles 
hat michts freundliches. Die Hänfer find gröhtentheils alle mır 
von Fachwert und fo über einander gethürmt, daß die höchit 














358 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


baufälligen obern Etagen oft eine Elle über die untern hervorragen 
und mit dem Einfurz drohen: die Straßen find eng, jhief, frumm 
und fchmierig und in denfelben treibt fi zu jeder Tagesgeit das 
liederlidjite Gejindel umher. — So viel weiß ich, dak id in 
diejer Stadt nicht todt jenn wollte!“ — Meiter unten führt ber 
Verfaifer fort:) 

In Naumburg blieben wir eine Nadıt und eiften am andern 
Tage jo früh ale möglich fort, um bei Zeiten in Iena zu fenn. 
Hier (angten wir denn aud) jhon zu Mittag an und id) traf hier 
folgende meiner Yandoleute vor: Mlmann, Dullo, Hollander, Sivers, 
Grünmwaldt, Engelhardt, Dyvjen, Weile, Namm, Asmuth, Sahmen, 
Hebenberg, Stoffregen, Pander, Fenerabend, Napp, Baer, Stegmann, 
Bofle, Gobr, Wilpert, Schmölling, Straus, Scoulg, Hoc, 
Aldanus, Sengbuih und außer biefen nachfolgende Freunde meiner 
Landsleute, lauter brave Ienaiihe Burihen: Schröder, Horn, 
Hartog, Rus und einen fielen Preußiihen Offieier Krüger. 
6s jen genug, daf ich Eud) die Namen biefer innig mit einander 
verbundenen Menichen genannt habe und dah id) Euch age, daß 
wir auf die mannigfaltigite Weife 10 Tage mit einander verlebt 
haben. Weber bieie, die zu den glüdflichjten meines ganen 
Xebens gehört haben, jollt hr etwas recht ausführliches ipäter 
erhalten, das Euch gewiß viele, viele Freude machen wird. — 
Vom Viorgen bis zum Abend liefen wir in den jchönen Um: 
gebungen Jenas umher und waren in jeden Dorfe und Ctäbtchen 
willfommene Säfte. Die Bewohner Jenas und der um die Stadt 
liegenden Dörfer find im Stande für Studenten ihr Leben hin: 
zugeben. — Gott, es war eine jchöne Zeit, die jept vorüber- 
geeilt it, und nie nie fann fie jo Ichön and freundlich wieber- 
fehren! Von den Gelehrten Jenas habe ich fennen gelernt 
den Whilologen Eichjtädt und den Mineralogen Lenz — Gejehen 
babe ich außer dieien den Naturphilofophen Ofen, den Theologen 
Schott und nur jehr flüchtig den herrlichen Schubert, der als 
Qurchreifenber in Jena war. Sahmen, der gute alte unveränderte 
Sahmen hat ihn kennen gelernt. — 

Von Jena reifte ich allein mit der ordinären Poft über 
Naumburg und Merfeburg nad) Leipzig. Naumburg fannte id) 
icon und ducch Derjeburg zu fommen war mir interejlant, obgleid) 





Aus W. vo. Ditmar’s Neifebriefen. 350 


ih den Ort eigentlich nur von der Yuhenfeite fennen lernen 
fonnte. Aber interejlant war es mir doc immer, in dem 
Biihofsfig des alten verbienitvollen Ditmar von Merjeburg zu 
fenn und das berühmte Bier in feiner Heimath trinfen zu fünnen, 
von dem ich Eudy aber mit gutem Gewiljen jagen fan, dab ich 
es jehr jchlecht gefunden habe, obgleich der Pojthalter fid iehr 
freute, mir grade jebt jehr jchöneo vorjegen zu Fönnen. Won 
Dierfeburg fam ich nad Yeipyig, wo ich drei Tage blieb, die mir 
aber höchjt merkwürdig find und die durch ein feltfames Zufanımenz 
treifen der Umjtände vielleicht einjt anf mein fünftigeo Leben ehr 
einflußreih werden Fönnen. Tbhne aud nur einem Wienfchen 
befannt zu jeyn, Fam ich in diele freundliche Stadt, die nad jehr 
Ähtbar die Spuren des Nrieges an jih trägt, md jchen nach 
wenigen Stunden war ich jo bekannt, da id) & Tage hätte dort 
bleiben fünnen, ohne auch nur ein einziges Mal zu Mittag oder 
zu Abend in meiner Wohnung jpeifen zu müfjen. Elifa bat viel 
an mir gethan! Gott vergelte es ihr, der edlen, der großen |ran, 
— mm er fann es, ich nicht. Meine Neifebemertungen werden 
Eud) einiges Licht geben, aber vollfommen far Tann Euch erjt 
bei meiner Nüdfchr alles werden. ch bin von jo guten, trefilichen 
Menihen umgeben, daf; ich dindaus aud nicht das geringite 
Verdienit habe, wenn ich aud qut werden jollte. „Aber wer 
führt dir jo viele gute Menjchen zu”, werdet hr, meine Meltern, 
fragen. Id antworte Euch darauf nur mit einem Namen, der 
aber alles im fich ichlieht, — er heißt: „Eliia”. Ueberall bin 
ich von ihr empfohlen worden, ohne «6 zu willen. In ihren 
Briefen nennt fie mid immer den Sohn ihres Herzens oder and) 
ihren jungen Freund, den jie wie ihren Zohn liebt. - Watt! «o 
it ein herrliches Weib, die edle Sängerin der Religion. Mit 
Dankbarkeit und inniger Nührung werde id mod ihre Aiche 
jegnen! -— Möge fie zum Wohl der Menichheit nod; recht lange 
leben. Aber ich befürchte das Segentheil, denn jie ift jehr Fränklich. 
— Als ich den legten Abend in Berlin bei ihr war, gab fie mir 
nod eine Beichreibung ihres Yebens, mit den Worten: „TDieje 
Kleinigkeit gebe id) Ihnen als einen Beweis meiner mütterlichen 
Liebe. Neifen Sie glüclic und erfälten Sie fih nicht!" — Und 
was Elifa nicht für mid) thun fan, das thut Tiedge, der Sänger 








300 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


Gottes und der Unfterblichfeit, in ihrem Gifte, und beglüdt mich 
zugleich mit feiner herrlichiten Yiebe. Zche ich Euch wieder, Jbr 
Altern, die Ahr mir das größte Glüc der Erde gewährt, und 
Euch, meine geliebten Hejchmwiiter, ich werde Euch jo mandes 
erzählen fonnen, das manche Thräne Eurem Age entloden joll. 

Von Yeipyin fuhr ich über Vleihen nad) Dresden, wo ich 
and) wieder durd Elifa befannt war. Aber hier made id von 
ihren Empfehlungen weniger Gebraud, denn ich fühle mich zu 
alüdlih bei dem quten Onfel Nrüdener und feiner trefflichen 
Dinna. Täglid) jahren wir in die fhönften Theile der 
Zächliichen Schweiz und find unbeichreiblich glüclih im Genie 
der Naturichönheiten. Durd) jolche Yujtparthicen und mannigfaltige 
Neberraihungen nehmen dieje beiden trefflihen Dienihen, die wie 
Engel mit einander (eben, meine geit aber and jo fehr in 
Anfpruch, dab ich co nur mit Mühe durchführe, täglid die idönen 
und merfvindigen Nunftihäge Dresdens zu beiuchen. — Morgen 
ja bier an; die will ich noch durch meine Anwejenheit 
in Dresden überraichen und dann gehe ic über Würzburg, wo 
ich einige Tage bei Yaer bleibe und von mo id) Euch vielleicht 
wieder‘ jehreiße, nad) Heidelberg. 

Bis an das Ende der vorigen Seite hatte id), meine geliebten 
eltern, eben geihrieben, alo id durd die Ankunft eines neuen 
Yandomanne überraicht wurde. Cs war der ältere Yurjy, der 
jest nadı Wien reift. Naum war Burfy in meine Stube getreten, 
fo fan aud) der qute Pander, der mein Neifegefährte bis Würzburg 
jein wird, und gleich nachdem diejer liebe Freund bei mir angelangt 
war, fam auch der gute nfel Nrüdener, der mir eben aufs 
getragen bat, Euch herzlich von ihm zu grüßen. Tiefe Vefuche 
haben mir viele Zeit geranbt und beitimmen mic, icon jebt 
meinen Brief an Euch zu jchliehen, den ich font noch febr lange 
hätte fortiegen können. Findet br, qute Neltern, dah dieje 
geilen an Gud) confuo geichrieben find, jo idhiebt nicht alle Schuld 
auf mich, jondern einen Theil derjelben and auf meinen Yande 
mann Hamm, der zu Mittag abreifen will und fh unaufhörlich 
in meiner Stube mmnbertummelt. 

Schtuh jolgt.ı 















































hunibrieie 


IE 

Je häufiger man internationale Nunjtausitellungen befucht, 
zumal alo Verichteriiatter, der prüft und fichtet und vergleicht 
deito unaufbaltiamer drängt fihh Cinem die frage auf: wozu 
eigentlich? d.h. wozu eigentlich werden fie veranftaltet? 

Das Jahrhundertende, in dem wir jest eben, ijt jo recht 
ein geitalter der Ansftellungen. Die riefige Entwidelung des 
Völferverfchrs allein aber erklärt Diele Ericheinung gewiß nicht. 
65 fommen auch ned) andere Faktoren und Elemente unjeres 
zeitgenöfftichen Yebens in Wetract, das u. A. einen geradezu 
eritaunlichen Wettbewerb, Erwerboneid u. j. m. gezeitigt hat. 
Der Markt ift die grofe Yolung, aud auf dem Gebiete des 
Tienjtes des Schönen. 

Von diefem Ztandpunfte aus verfteht man gewiß auc) 
die vielen internationalen Nimftausitellungen der legten 20 Jahre. 
Und zu verjtehen find fie eigentlich — in Anbetracht ihrer raihen 
Aufeinanderfolge und theihweife gar Gleichzeitigleit — überhaupt 
nur von diejem Standpimfte aus. 

Yäht fih denn annehmen, daß von Jahr zu Jahr in den 
bildenden Nünjten eine fortichrittliche Entwidelung, ja auch nur 
eine Aenderung der Anihaingen mönlid wäre?  Dod) wohl 
ganz gewiii nicht. Das macht fich, Telbit in unierer jo unbeimlich 
fäpnellebigen zeit, immer böcitens nach einer Neihe von Jahren 
bemerfbar. Zo beiteht j. DB. zwilchen der diesjährigen inter 
nationalen Runjtausitellung in der deutjchen Neichshauptitadt und 














362 Kunjtbriefe. 


der von 1886 zweifellos in Bezug auf das Mas? ıumd Mie? in 
Vioferei und Skulptur ein augenfälliger Unterfdhied, denn feitbent 
hat die „alte” Richtung, d. h. was heute jo genannt wird, jo 
ziemlich abgewirtbicaftet. uch die Münchener Ansjtellung von 
1888 unterjchied fc noch vet merklich von der heutigen Berliner 
Jubiläums Austellung. Was damals neu war, zum Theil als 
eine Offenbarung betrachtet wurde — Heute hat fid felbit das 
Publifum längit ihon daran gewöhnt, und mandes it zubem 
bereits gewichen, oder wenigitens im Begriff Anderem Plag zu 
machen. ber jeit ber legten internationalen Ausitellung in Berlin, 
der von 1891, find fi dad wohl Stoff und Ausbrudsmittel 
in allen Ländern jo ziemlich glei) neblieben. Dabei ift nidt zu 
überjehen, daß ja jeit mehreren Jahren bereits in allen größeren 
Kunftzentren alljährlich die großen genoifenjhaftlichen Ausftellungen 
ebenfalls mehr oder weniger einen internationalen Charakter 
tragen, felbjt wenn fie gar nicht als jolhe angemeldet und ange: 
fegt find. Zum Beifpiel die vorjährige Berliner Ausftellung. 
Sie war offiziell auch feine internationale, es aber thatlädlich in 
gewiflem Sinne jogar mehr, als die im Mai diejes Jahres im 
Gtaspalajt beim Lehrter Bahnhofe eröffnete: mande Staaten 
hatten fid) reger, jedenfalls aber beijer betheiligt, als jegt. 

Und wie fangathmig und prunfhaft it der Titel der dies: 
jährigen Ausjtellung. man muß ordentlich Luft ichnappen, um 
ihm anjtoßlos herzufagen: „Internationale Aunjt-Aus- 
ftellung, Berlin 1896, zur Feier des zweihundert: 
jährigen Beitehens der föniglihen Akademie der 
Künjte.” 

Noch) Hatte eben jede internationale Nunftausitellung zu 
Berlin einen befonderen Ehrungszwed. Die erite fand gerade vor 
zehn Jahren jtatt umd galt dem hundertjährigen Gedenktag der 
erften afademijchen Ansftellung überhaupt, die ja int einer für die 
Berliner Afademie fonft fehr trüben Seit auf Betreiben des 
Dinifters v. Heinig i. X, 1786 veranftaltet wurde. Jns Jahr 1891 
fält die zweite. Sie jollte das 50jährige Jubiläum deo Vereins 
Berliner Nünftfer verberrlihen helfen. Den Ehrenzwed der 
dritten und jüngiten giebt der foeben angeführte Titel an. Dab 
aber immer ein befonbderer Chrungsziwed mit jolden Ausftellungen 

















Kunjtbriefe. 363 


verfnüpft wird, will mir, wie gejagt, jehr bezeichnend ericheinen. 
Rein, als ob die Veranftalter jelbjt meinten: an und für jid it 
die Sade wirklich vecht zwedilos. 

Ei ” + 

Abgejehen natürlich von dem unzweifelhnften Runfigenuß, 
den man ja au auf jolden Ausitellungen findet, obzwar er 
Einem recht erihwert wird — gelangt man auch heuer nad) viel- 
tägigem Umberziehen durch bie endloie Meihe von Zälen und . 
Kubineten zu feiner anderen Ueberjeugung umd Frage, als: „ou 
der Lärm“ 

Neues bringt uns die Ausitellung nichts, gar nichts. Cs 
fei denn, was wir jden im vorigen Nahr hier, vor zwei Jahren 
in Münden und Paris bemerfen fonnten, daß nümlid immer 
ftärfer ein Zug der Neaftion gegen naften Naturalismus ic) 
geltend zu madjen beginnt, Hand in Hand mit einer Neigung 
zum Spmboliihen und Miopftiichen in Vorwurf und Behandlung. 

Vielleicht gab’s am Ende au irgend wo wirflid etwas 
Neues, aber in der umgeheuren Maffe ging es unter. Das ift 
der lud) diejer internationalen Aunjtausitellungen — die Waiie 
der Nunitwerfe, die fih gegenfeitig behindern und todtmadhen und 
bei dem Durchichnittsbeiuder nur ein Sammelfurium von Farben: 
Hecfen hinterlafien, eine Niefenpalette, die fi rajend jchnell um 
die eigene Achie dreht, cin toll hinwirbeindes Maleivoifop. Nur 
der Kumdige mag fih in diefem Gewier zurechtfinden und aud) 
der bloß jehr ichwer und mit großen förperlichen und geiftigen 
Mühen. Vielleicht erleben wir noch einmal einen Umihwung 
auf dem Gebiete internationaler Nunjtausitellungen, einen Um: 
ichmwung im ntereije der Nunjtpflege und des KNunitjtudiums. 
Dann werden fie vielleicht nur nun jagen wir höchjtens alle 
feche Jahre jtattfinden; dann auch wird man fid) vielleicht zur 
Erfenntniß durdgerungen haben, dah nicht die Quantität es 
macht und man wird aus jedem Lande, je nad) jeiner Bedeutung 
für Rumjtpilege und Entwicefung, nur eine ganz beichränfte Zahl 
von Kunjtwerfen zulaifen, über deren Werth daheim eine jtrenge, 
wirklich unparteiiihe und wirklich kunjtiinnige Jury zu Gericht 
geleiien, ehe fie Hinausgelajfen wurden ohne Anjehen der Akademiven 


361 suunftbriefe. 


und des Antoritätenglaubens, des Namensfultus und der Kligue. 
Tann wirden wir eine internationale Ausjteltung- nicht ‚von 
Tanjenden von Numjtwerten haben, von denen 75 pGt. mn, Die 
Altäglihfeit und das Mittelmähige marftichreierifch ilfuftriren, 
jondern Ausftellungen von bloß 6900 Bildern, Skulpturen 
wi mw, die nun wirklich das Neueite und Bejte darjtellen 
würden, was im gegebenen Zeitraum im betreffenden Lande 
geibaften worden. Und follte cs dann auf foldhen Ausjtellungen 
auch noch einen „Ehrenjaal“ geben, dann wäre er fiher -—- wie 
jetst fait inmer, wie aud) in diefem Jahre wieder in Berlin — 
wicht bo der ‘Plag für Witdniiie hoher Proteftoren und Arbeiten, 
die deren Seichmad am meijten entiprechen, fondern Werfen 
würden wir dort begeanen, die lediglich mit dem Mahitabe 
Füntleriichen Nönnens qemeflen wurden, eine Nuhmeohalle wäre 
er dann nicht der Targeftellten, jondern der jchaifenden Daı 
iteller jelbit. 














Doch ich muß die Nonjunftive ımd Cptative fallen lafen. 
34 ftebe ja im Zeichen deo Anditativs md habe damit zu redhnen, 
was da ift, wicht mit den, was fein fünnte oder jollte .... 

Tab ih mich aber gegenüber den in 92 Zälen und Nabineten 
untergebrachten ca. 4500 Nunftwerfen auf Cinzelnes nicht aut 
einlaffen fann, das verjteht fi von jelbjt. Jenen Theil der Auss 
fteltung zudem, der dem Ganzen den Namen gegeben hat, den 
Diftoriichen, habe ich bereits in einem früheren Brief zu fcildern 
gelucht. Auf Anderes wird fd gelenentlich zurüdgreifen laflen, 
mit mehr Nupen als jebt, wo doch nur wenige Zeilen felbjt bedeu- 
tenden Eriheimumgen gewidmet werden fönnten. 

Daher mr einige allgemeine Bemerkungen, 

Ta ml denn hervorgehoben werden, dah id Deutichlands 
Kumjt vedlich bemüht hat und am zahlreichiten vertreten iit. Ein 
Viertel aller Säle haben deutiche Künftter in Anfpruch genommen 
und unter ihnen die Berliner allein gar 9 und wahrlid nicht 
die Heinften und chlechteiten. Das ift ihnen aber and) zu gönnen. 
Lie haben fich diefes Dial tüchtig ino Zeug gelegt und bejtchen 
in Ehren. Einige der Yauptmimmern der Gelammtausitellung 














Stumftbriefe. 


entfallen gerade auf fie, in der Minlerei jo gut, wie in der 
Sfulptur. Mebrere Nünftler vom Nlub der „N1“, den ich Abnen 
einmal im Winter geicildert babe, vor Allem Yudwia vd. 
Hofmann, dem feine römische Meile, wie einit dem jungen” 
Goethe, Flärend und feitigend zum Zegen geworden it — Ichichen 
wohl den Vogel ab. Daneben fommen einige Bildhauer in Be 
trat, Peter Breuer, Otto Petri, Midael Yod, Mar 
Cevi, Yudwig Mangel, der gleich Hofmann Yntifeo und 
Neuzeitlicheo in Geift und Kormen fünftleriich zu verichmelzen 
wei, endlich au Mar Nrufe, der das originellite plajtiiche 
Wert der Anstellung beigeitenert hat ein durchlichtiges und 
von innen magüich befeuchtetes Nelief, ein marmorneo Schweihtuch 
der DL Veronifa, Dofmann'o „Novi“, ein großes mon 
mentales Gemälde von berüdender Einfachheit und  heurlicher 
Farbemwirkung, vergiiit man nie mehr, wenn man co geichen. 
Nicht von vielen Bildern dieier Ansftellung läht ih das Gleiche 
jagen. Und ich fann mic dad nicht enthalten, cs Ahnen bier 
etwas näher zu vüden: Zwei lebensgroße junge Penichentinder, 
unjagbar Klare Kuhe in den Gefichtszügen, auf grüner Wicie an 
ftillem Weiher, der das Jarbenipiel des Abendhimmels wieder 
jpiegelt. Der dunfellodige Nüngling, nadt, im Grale fitend, 
finnend, träumend in die Kerne blidend; das Mädchen, mm mit 
einem rothen Unterrod befleidet, wie der Jüngling in jugendlicher 
Kraft und Frische itrogend, das bramrotbe Haar zulammenneftelnd, 
umifpielt vom Abendionnenlicht .... Das ijt Alles. Aber welch" 
ein Zauber in der Verfchmelsung der Deforatio aufgetragenen 
Farbentöne; welch" Stimmung erzengende Harmonie in dem Ju 
jammenflang ihrer Werthe, eine weltentrücte tannbaft Fünjtleriiche 
Stimmung. Waflig Änd die weißen Wolfenballen, die am blauen, 
nad unten zu grünlich verbfafiendenden Simmel jtehen, ohne 
Nüdficht anf Einzelheiten find die Baumgruppen geformt, inter 
denen rofige Dunitjtweifen glimmen, mit virtwoier Cinfachheit iit 
das Waler behandelt und doch welch" ftarfe Sejammhoirfmg, 
eine, die, wie alle wahre Mumit, uns tbatfächlid) vom Wut des 
Altäglichen und Gewöhnliden befreit und in höhere Zphüren 
Hinaufjicht .... Auch Kranz Zfarbina's „Alerieeentag“ 
gehört zum Velten, ebenio wie Noner's Bildniff des ro, 
























366 Runftbriefe. 


A. v. Werner. Noch mandes Andere ebenbürtige wäre aus ben 
Berliner Sälen zu nennen. Aber es gilt fich beicheiden. 

Trogallebem jedody find unter den deutichen Zälen nicht bie 
Berliner die hervorragendjten, fondern das find die beiden Fleinen 
Salons der Karlsruher. Da haben wir einmal einen einheit- 
lichen und abgefchlofjenen Eindrud. Wohl wurde jeinerzeit daheim 
viel gezetert über die Strenge der Jury, aber dafür hat fie auch 
einen auferordentlichen Erfolg zu verzeichnen. Denn da iit nichts 
Gewöhnlices, nichts Meittelmäßiges, Alltäglices, jondern Alles 
ift Höchit talentvoll, Tünftleriich jchön dirchgebildet. “Man erkennt 
unf—hwer ältere Müncener Schule; jedod fie ift verändert und 
vertieft worden durd) Wermiichung mit wohlverjiandenen und fein 
finnig angewandten Errungenihaften der neneiten Zeit. Und wie 
vieljeitig zudem die feine Nünftlerihaar auftritt. Neben den 
herrlichen Landichaften eines Schönleber, v. Volkmann, 
Rampmann u. X. die Tierbilder der Weiihaupt und 
Julins Bergmann, die Figurenmalerei Carlos Srethe's, 
Torahn’s, Narl Nitter'o, R. Taepelberger's. 

Was die übrigen deutichen Nunftzentren betrifft — die 
Münchener „Sezeifion” fehlt befanntlic, wie ich jhon berichtete — 
jo war eigentlich das Interefjanteite das geichloilene Auftreten der 
„ZSxzellionen“ von Dresden und jogar Düffeldorf. Ia, 
and das alte Düheldorf, eine unter Wilhelm Schadew, dem 
Sohne des großen Berliner Meifters, und aud) nad) ibm nad, 
eine führende Stellung beanfpruchend, dann für lange Zeit in 
Traditionen eritaret, bat jegt feine „Zezeifion“. Und nicht etwa 
bloi; junge Stürmer bilden fie, Tondern gerade die lautejten 
Künder Düffeldorfer Aunfıruhme Haben ich ihr angeichloiien, 
darunter auch unfere Yandeleute Gregor v. Bodmann und 
Eugen Dürer, jener, der Yandicaft und Figurenmalerei io 
innig mit einander verbindet und dabei in Bezug auf die Motive 
der alten ehjtländijchen Heimatl) ‚der Strandwict, jo jchön die Irene 
bewahrt hat; dieler, der Zänger idplliicher Schönheit mordiicher 
Meereofüiten. Dagegen it der Sezeifion fern geblieben unier 
dritter Yandomann in Dühjeldorf: Profejjor Eduard v. Gebhardt, 
der tiefjinnige biblijche Maler, dem man jeine DMarotte mittel: 
alterlicher chjtniicher Lofalfarbe gern nadhficht gegenüber der 














Kunfibriefe. 867 


Innigfeit und Kraft, womit er feine Stoffe erfaht und darftellt, 
mie auch jegt hier wieder in der „Auferwecung des Lazarus.“ 
Hier jehen wir eine Heilandsgeitalt, wie fie auf ber neulich 
beiprochenen „Ehriitus-Ausitellung“ vergeblich geiucht wurde. 

* i » 

Von den ausländiihen Gruppen find die ca. 11-12 Zäle 
und Nabinete der Standinavier, die in reicher jülle 
erichienen, ebenjo jehr ein Sammelpunft aller ’Aunjtfreunde, mie 
die Austellung der Narlsruher. Aus einem anderen Grunde 
freilih. Es it weniger das Einheitliche uud die burchichnittlich, 
fi) gleidybleibende beträchtliche Höhe des Geleifteten, als vor: 
mehmlich der früche eilt, der, gepaart mit ausgeipradhen 
nationalem Zinn, joweit es ih um die Wahl der Motive handelt 
und infofern der Vortrag durch Schlichtheit, die Empfindung durd 
Innerlichfeit ji) auszeichnet — was jo feilelnd wirft. Cine 
ungemein pifante Verichmelzung von Parifertfum und Natur 
mwüchjigfeit von Chic und Gemith, von glänzender Tehnit und 
geiftiger Schlichtheit — ganz To, wie co auch das MWeien des 
Standinaven jelbjt Fennzeihnet. Und dazu eine unfagbare Freude 
an Farben und Formen, die unbefünmert it um den Gegenftand, 
die Szenerie, welche mit jenen gerade des Dlalero Nönnen reipten. 
Mand't olles Zeug darunter namentlid bei den Norwegern — 
was in den alten äjthetiichen Formeltram abjolut nicht Hineinpaßt, 
manch” fühner Griff andererjeito in graue Vergangenheit Alles 
aber padend und feilelnd, Alles voll durdweht von friicheitem 
Lebensathem. 

Spärlicer, alo jonjt und aud minder bedeutend, z. 3. als 
nod) im vorigen Jahre, find die Franzoien, die Amerikaner, 
die Schotten, die Engländer, die aber, mit Ausnahme viel: 
leicht der Frangojen, denen der Triumph von 1895 offenbar 
genügt, wenn auch nichte Neues, dod) viel Schenswerthes in alter 
Dianier bieten. Also herrichende Note dabei der melandoliiche 
Bauber, die ichleierhafte, mpjlizirende Matweile der Schotten. 
Spanien und Jtalien dringen mun erjt recht nichts Neues, 
allenfalls daß auf der appeninischen Yalbinjet allmählich der 
Veriomus und die „Stimmung“, die dort in der Yitteratur fchon 








368 Sunftbriefe. 


yängit ihren Ginzug gehalten, auch in der bildenden Kunit heimild) 
zu werden beginnen. Die allzeit auoitellungofrohen Holländer 
und Belgier find and die Mal jehr zahlreih umd fait 
durchweg sehr gut vertreten. Aber das iii man bei ihnen jcheon 
längit gewohnt von zahlleien Ausitellungen her. Jahlreich and 
hat Tefterreich die Ausitellung beichieft und wie hamer berrict 
in diefer Gruppe ein bunter Eflettiziomuo, der das Ganze mn 
individuelleres Sepräge bringt. Neu find die Portugieien 
md die Schweizer. Beide Volker haben aber natürlich nur 
wenige Vilder aejandt. Dafür begegnen wir im Nabinet der 
Schweizer einem neuen Vödlin, der jedod) in feinem „Aagdznge 
der Diana“ leider weder die alte Nunft, nod den gewohnten 
Farbenreiz, noch endlich den üblichen Schwung der Phantafie zei 
Voffentlich io nur ein Antermesjo, feine Etappe . Und nicht 
weit davon, in der biftoriichen Abtheilung, da find jein gewaltiger 
„Brometheus“, feine ergreifende „Rietä“, jeine entzücende „Venus: 
Geburt“ zu Tchen! 

Die Staven find, wie immer, getrennt erjchienen: hier die 
leivenfchaftlichen, unrubigen, zumeit unter Pariter Einfluß tehenden 
Polen, dort die weichen, tänmerifchen, jtets von warmem 
Heimathsgefühl erfüllten, Friich aufitrebenden Nufien, die aber 
teiver bier nicht To aut, namentlich nicht jo vichjeitig vertreten 
find, wie wohl möglich geweien wäre, hätten nicht Die Nrönunas: 
feier in der alten HJarenjtadt und die große Wuoftelluna in 
Nühni Nomgorod vermuthlich ablenfend gewirkt .... 























Berlin, im Anguit. 
L Norden. 























Litteräriihe Streiflicter. 





Die großen deutichen Hirtorifer find jest alle dahingegangen, 
66 fehlt der deutichen Geichichtoforichung und Geihichteichreibung 
gegenwärtig an einem anerfannten Oberbaupte. Namentlic) die 
politiiche GSejchichtoichreibung it Teit dem  allzufrühem Tode 
9. v. Treitichfes ganz verwait, fie, Die ohnehin icon jeit 1871 
ipre frühere dominierende Ztelluig allmählich eingebüht hat. 
Es ill das begreiffich und erklärlic, da die nationalen Ziele, für 
die fie wirkte, jebt erreicht find, die politiichen Jdeen, die fie ver 
trat, verwirklicht find. Seitdem zuerit 8. W. Nisjch die Bedeutung 
der wirthichaftlichen Verhältnifie für das Verftändnih der deutichen 
Gedichte im Mittelalter energiich geltend gemacht, drängt die 
Behandlung wirtbichaftlicher umd jozialer Ericheinungen in der 
Vergangenheit die Veihäftigung mit den verfaffungogeichichtlichen 
Fragen immer mehr zurüc. Cine neue Nichtung, ganz anf dem 
Boden der Wirtbichaftsgefchichte fechend und von ihr ausgehend, 
wendet fich gegen den Standpunkt überhaupt, von dem aus bisher 
die Geichichte aufgefaht und behandelt worden it, alio gegen 
Nanfe jelbjt und nicht weniger gegen Treitichfe; fie erjtrebt die 
Vegründung der Geichichtowiienichaft als einer induftiven Wifjen- 
icaft mit naturwifienichaftliher Methode. Der eigentliche Ver: 
treter diejer Richtung it Brofeflor Narl Yamprecht in Yeip in 
jeiner viel gelejenen und bewinderten, aber auch jcharf angegriffenen 
dentfchen Geichichte fommen feine Anfhanungen md feine Methode 

u 



































370 Fitteräriiche Streiflichter. 


zur vollen Durchführung. Der MWiverfpruch der Anhänger Nantes 
und Treitichfes, überhaupt aller derer, welche die bisherige Ber 
Handlung der geihicjtlihen Probleme für die richtige halten, 
tonnte natürlich nicht ausbleiben und hat zu energiichen Angriffen 
auf Yampredts Vlethode und Anjchauungen geführt. Yampredt 
üt darauf die Antwort nicht jchuldig geblieben, in einer vor furzem 
erichienenen Schrift: Alte und neue Nihtungen in der 
Seihidtswiiienihaft*) vertheidigt er nidt nur mit 
Nachdrud seine Anihaunngen und feine Methode, jondern richtet 
auch einen nacdrüdlichen, forgfäftig begründeten Angriff gegen 
Nanfeo eenlehre, d. b. gegen Nanfes ganze Yuffaiiung von 
den in der Gejchichte wirfjamen, fie bewegenden Nräften. Wir 
haben die Schrift mit lebhaften Jnterefie geleien, «s fommen 
darin die wichligiten priuzipiellen Fragen der Geihichteaufaflung 
und deo Betriebes geichichtlicher Foridung zur Sprade, Yamprect 
verteidigt einen Standpunkt geidhiet nnd im Einzelnen nicht ohne 
Gtüd, feine Ausführungen über die Wurzeln von Nantes Welt 
anjhauung und geidichtlicher Auffaffung find jchr beadytenswerth;, 
er schreibt überhaupt mit Geijt und jdarfer Logik. Aber wir 
müjen trogdem klären, dab er uns durchaus nicht überzeugt hat, 
dak wir vielmehr nad wie vor die von ihm befämpfte Gejchichts: 
auffaifung für die allein richtige Halten. Zu einer eingehenden 
Auseinanderfegung mit den von Yampredht verfochtenen Gedanfen 
und Prinzipien ift hier nicht der Ort, wir mitifen ums auf wenige 
‚Rurze Andeutungen beichränfen. Der Auficwung der Wirthichafts: 
geichichte, um fie fürz jo zu nennen, in der Gegenwart ijt gewik 
eine beredjtigte Neaktion gegen die Verfennung der materiellen 
Faltoren im Völferleben bei den früheren politiichen und univerjal- 
biftoriichen Sejchichtsichreibern; fie ift eine notwendige Ericheinung 
in unferer Zeit, die jo ganz von fozialen und öfonomiüchen Kragen 
erfüllt it. Aber fie idießt nun weit über dao Ziel hinaus, wenn 
fie noch viel einjeitiger alo die frühere idealiftiiche Gejchichts- 
ng, alle hiiterichen Erieinungen mehr oder weniger auf 
materielle Srimdlagen und Voransfegungen zurüdführen will. Die 
Wirtbichaftshiftorifer Fommen dabei bewuht oder unbewußt dem 





























*) Berlin, N. Guertners Verlagsbuchhandlung. IM. 60 Mi. 





Kitteräriiche Streiflichter. 371 





ia vorherrichenden praktischen Materialismus entgegen, 
leider auch auf die Wiffenichaften nicht ohne Einfluß ge: 
Lamprecht pratejtirt zwar entichieden dagegen, dah; man 
naterialijtiiche Weltanichauung zujchreibe, und bezeichnet 
ich. Nudem er aber alle 
g richtige 





ihm eine 
eine Geihichtsaufiailung al evolution 
teleologiiche Weltanichamng verwirft und für das cin 
Prinzip der Erklärung geihichtliher Dinge das Ianiale erflärt, 
gehoben durch die Hilfe der jtatitiichen Methode, und jeine faujafe 











Methode als die wahrhaft wiilenichaftliche bezeichnet, exicheint jeine 
Geidichtsanfiaftung doc als prattiiher Waterinliomns. Yamprecht 
meint freilih, es Handle fi bei dem Gegenjag ywiichen ihm und 
den Schülern Nanfeo nur um eine Werichiebenheit der Wethoden, 
aber indem er evil es fan feinen wahrhaft wiilenichaftlichen 
Betrieb der Gejchichte geben, der fi) abhängig däd)te von den 
Vorauofegungen irgend welcher Weltanfhauung, bringt ex jelbit 
den fundamentafen Unterichied zwiichen feiner und der bisherigen 
Gejcichtsbepandlung zum Ausdrud. Yamprehts Zap jteht au) 
mit den bisherigen Erfahrungen und den Thatjachen in Wider 
iprud), denn Niebuhr und Hanke, Momfen und Treitichte, Dahl: 
mann und Zpbel, Macanlay. und Garlyle haben alle eine jchr 
bejtimmte Weltanihaummg gehabt und dodh das Vedentendite 
geleitet. Jene Meuferung hat ihren Grund in Lamprechto Ueber: 
zeugung, da; die Gefchichte eine induftive Willenfchaft jei wie die 
Naturwiijenichaften; bei der Unterfuchung und Beichreibung eines 
Käfers, einer Bilanze, bisher unbekannter Dieerqnallen fommt die 
Weltanicamumng des Forihers allerdings nicht in Betracht. Di 
aber ift grade der Punkt, wo fich die Unichaunngen entgegenitehen. 
Nach unjerer jeiten Weberzengung it die Seidichte eine Geiftes- 
wifienihaft und wird es allezeit bleiben, die Anwendung der 
induftiven Methode wird bei ihr nie zum giele führen. Der 
Fehler der neuen Gefcichtobehandfung und Geicichtenffaifung 
it der, daii jie die auf dem Gebiete der jozialen und wirtbichaft 
(ichen Eridjeimungen mit Erfolg geübte Methode einfeitig auf das 
der politiichen und Judividualgeichichte überträgt; ie fieht fi 
genötigt die menjehliche Willenofreiheit, dieje Orumdvorausiegung 
alles fittlichen Kandelns und aller morafiichen Zuredhnung, u 
verneinen oder wenigiten Dahingeitellt fein zu lafen. m Grmde 
u 














372 Yitteräriiche Streiflichter. 


nähert fich diefe neue Wejchichtobehandlung mit ihrer faufalen 
Diethode und ihrem Vejtreben alle Geichichte vationell zu erflären 
den Anfchaunngen Buckleo. Sie fteht im ihärfiten Gegenjab zu 
Kanfes ganz idealiftiicher Gejcichtsauffaffung; deifen Jdeenlehre 
harafterifirt und bekämpft denn and Yamıpredit in dem Kaupt 
abichnitt feiner Schrift. Yon einer „Jdeenlehre” Nantes kann 
wohl nur im jchr wmeigentlichen Sinne die ede fein, da Nante 
nicht fpftematijcher hilofopb war und alle feine dahin gehörig 
Aeuferungen nur gelegentlich) gethan Hat; dabei ift auch auf 
die verichiedenen zeiten zu achten, aus denen fie Ttammt. Go üt 
ein wahrer Genuß, den man beim Yejen der bier zujammenz 
geitellten finnigen Gedanken eines der ten, und in jeiner 
Art einzigen Veiftero in der Hiftorie empfindet. Lamprecht weilt 
dann jcparffinnig nad, wie Nanfes Weltanichemung auf einer 
jehr eigenartigen Yerbindung des von Jugend anf tief in ihm 
eingewunzelten Lutheriichen Glaubens, des am Anfange deo Jahr 
hunderts herrichenden Nosmepolitismus und des Einflufes der 
Nentitätophilojophie beruht. Nankeo Grundgedante it, dab die 
geihichtliche Welt nicht aus fid) Telbit erflärbar, dal das 
Jrrationelle das geicichtliche Agens it; die feitende und bewegende 
Nteaft der Gejcichte liegt außerhalb diejer Welt. Wenn Lamprecht 
Hantes Geihichtsnuffailung als Meyftisismus bezeichnet und jeinen 
andpunft als den des perjönlichen Glaubens fennzeichnet, jo hat 
er im Wefentlichen vet. Wenn er aber dur den Nachweis der 
fonftitnivenden Elemente von Nanfes Jdeenlchre ihre Unhaltbarfeit 
nachgewiejen zu haben meint, jo irrt unjerer Anficht nach 
durdhans. Die univerjalgiftorijhe Auffaflung hat neben der 
nationalen auch heute noch ihre volle Berechtigung in der Willen: 
Ichaft ud da; die große Geiftesarbeit der Jdentitätophilofopbie 
umb der andern gewaltigen philojophiichen Zniteme in den eriten 
nien unferes Jahrhunderts völlig nugloo und nichtig geweien 





























jei, it wohl die heute herrichende Deinung, wo man alle Wetapbyiit 
als Unding und Unfinn betrachtet, aber feineswegs nod das 
endgiltige Urteil der Gefcichte. 





Da endlich Nantes religiös 
hriftlicher Standpunft and heute nod) vollberechtigt üt, veritcht 
Sich für unfere Anfhamıng von jelbjt. Modifitationen der Geichichts- 
anfhauung Nanfes, Ergänzungen im Einzelnen find dabei nicht 











Yitteräriiche Streiflichter. 
ausgeichloffen; dal er die materiellen Nräfte und Einflühe neben 
den geiftigen im Yeben der Wölfer nicht gemmg beachtet und 
gewürdigt, fan bereitwillig zugeftanden werden. Aber jeine 
Weltanichanmng im Ganzen fcheint uno durch Yampredts Angrif 
durchaus nicht evichlittert. Doc felbjt angenommen, daß er die 
Unhaltbarteit von Nanfes „Adeentehre“ bewielen hätte, jo würde 
daraus dad mır folgen, dat das bisherige Yrinzip, die bisherige 
Aufiaffung der ideafiftiichen Geichichtobehandfung ich nicht weiter 
aufrecht erhalten faffe, Feinesmegs aber, da; dieje felbit falich Tei, 
fie wäre dann mr genöthiat eine neue Grumdlage für ihre An 
ichanmmgen zu Ichaffen.  Yamprecht bat allerdings nicht To unvecht, 
wenn er meint, den Aungranfianern (feine Idöne Wortbildung!) 
fehle die Myftit der Dieifters und damit einer der Kaftoren feiner 
Weltanihauung; ud Nachfahl, der Dauptgegner Yanprechts, 
nähert fid) mit feiner Hoffnung auf die Begründung einer wahrhaft 
wiifenichaftlichen ipchologie, die ein werthvolles Mittel der 
biftriihen Erfenntnih; fein werde, unferes Erachtens gar zu fehr 
dem gegneriichen Ztandpunft. Auf Lamprechts Auseinander 
febungen mit Nachfahl einzugehen, unterlaffen wir; er icheint ung 
wider feinen Gegner oft mit Süd zu pofemifiven. Aber wenn 
er ihm auch vollitändig widerlegt hätte, io wäre das dod) nur ein 
:g über einen einzelnen ihrer Vertreter, nicht über die Dealijtiiche 
Geidichtsauftaftung felbit. ampf zwiichen der evofutioniftiichen 
Geichichtsbehandfung der Wirtbihaftshiftorifer und der politiich 
iveatiftifchen Geichichtsnnffaifung wird noch lange fortdanern, wir 
glauben fogar, dal; die erfleren zeitweiig das Uebergewicht erlangen 
werben. Aber da; zuletst doch die ivealiftiiche Geiichtsbehandfung 
den Zieg behalten wird, davon find wir fejt überzeugt. Yamprechts 
Schrift ift für Alle, die fih darüber orientiren wollen, worum c5 
Äh in diefem Nampfe eigentlich handelt, ein empfehlenswertbes 
Hilfsmittel, das allerdingo mit Nritif gebraucht werden mul. 

Eine umfaflende, auf forgfättigem Quellenftubium beruhende 
dentihe Geidichte, die nicht blos in Umriffen fich hält, Sondern 
auf das Einzelne eingeht, zu ichreiben, überfieigt bei dem gegen- 
wärtig immer mehr überhandnehmenden Spezialismus bie Nraft 
aud des fleihialten md arbeitiamften Hiftorifers; mr durch bie 
Verbindung einer Anzahl von Forichern zu gemeinjamer Arbeit 




































371 Litteräriiche Streiflichter. 


oder durch eine Neihe won imabhängigen, fh ergänzenden Mono- 
graphieen verjchiedener Verfafier hält man die Aufgabe für lösbar. 
Yruno Gebhardt hat den eriten Weg eingeichlagen, Undens 
allgemeine Weltgeicichte und die bei F. X. Perthes in Gotha 
ericheinende Gefcichte der europälichen Staaten haben den anderen 
gewählt; treiflihe Arbeiten enthalten beide Sammlungen. Yu 
ihnen gejellt ih in würdigiter Weile Die treffliche Bibliothek 
deuticher Geichichte herausgegeben von 9. v. Zwiedined-Südenhorit, 
weldye die Witte hält zwilhen ftreng gelehrter und populärer 
Darjtellung. Co find bereits mehrere Bände diefer Sammlung 
erichienen, jegt liegt ein neuer abgeichloffen vor: E. Mühlbader, 
deutihe Geihichte unter den Narolingern *. 
Die Gejchichte der Narolinger in Deutichland bietet der Darftellung 
nicht geringe Schwierigfeiten, fie Hat zwar im der Perfon und 
Karls des Großen einen glänzenden Mittelpunkt, aber 
die Sejcjichte einer Nachfolger it jo verwidelt und zum Theil 
jo unerquictlich, daf es faum möglich jceint den leitenden Faden 
in diefem Gewirr von Begebenheiten zu finden und feitzuhalten. 
Engelbert Mühlbacher, neben B. Simjon und Ernjt Dümler der 
vorzüglichfte Nenner diefer Epoche, hat fi nad) Kräften bemüht 
diefer Schwierigleiten zu werden und es ijt ihm das aud) 
größtentheils gelungen. Nicht alle Abjchpnitte find von ihm mit 
gleicher Ausführlichfeit behandelt, den gröhten Naum nimmt, 
wie billig, die Darftellung der Negierung Narls des Großen 
ein. Auch Ludwig der Fronmme wird eingehend behandelt; die 
Zeit vor Narl dem Großen wird dagegen mehr überfichtlic, aber 
durchaus nicht zu furz dargeftellt und cbenjo werden die leiten 
‚Yyeiten der Narolinger in Dentichland in gedrängterer Zulammenz 
fallung geicildert. Die Slanzpunfte des Werfes find die Abichnitte 
über Narlo Perfönlichfeit und Hof und über feine Gefepgebung, 
in ihmen fommt die ganze Gröe des gewaltigen Herricers jowie 
fein machtvolles, tief eingreifendes inneres Matten anjcanlic zur 
Darftellung. Aber auch feine Schwächen und die Schattenjeiten 
feiner Verwaltung werden betont. Man freut fid) Narls Größe 
und feine die Jahrhunderte beherrichende Periönfichfeit von 























*) Stuttgart, Verlag der 3, ©. Cottajgen Bucyandlung Racfolger. 8 N. 


Litterariüche Streiflichter. 





Mühlbader wieder voll anerkannt zu fehen, nachdem Ranfe in 
feiner MWeltgeihichte deo Naifers Vedenting jo gering angeichlagen 
und in ihm fajt nur den Ausführer und Lollender der Gedanfen 
und Pläne feines Vaters Pippin geichen bat. Die Begründung 
des abendländichen Staiferthums und die dabei in Betracht 
kommenden Momente werden von Mühlbacher ıchtvoll erörtert. 
Bei der Behandlung der Ehejtreitigfeiten Yothars 11., welde dem 
Papitthum die Handhabe zu feinem bedentungsvollen Vorgehen 
gegen die fränfiihe Geiftlichfeit und das Karolingiihe Königthum 
jelbjt boten, hätten wir gern eine nähere Auseinanderfegung über 
die Entjtehung und den Zwed der pieudoiliboriihen Defretalen 
gewünfcht. Merfwürdig, wie das in feiner eriten Periode jo 
überaus fraftvolle, gewaltthätige Geichlecht der Narofinger zuleht 
jo ganz fchwach, unfähin und elend endet. Mühlbadhers Dar: 
ftellung ift ar, einfad) und überfüchtlich, wenn auch nicht befonders 
ichmnngvoll und anichaulid, fie verflicht oft Stellen aus den 
Quellen in die Erzählung. Leider fehlt dem verdienftvollen Buche 
ein Negifter, das doch bei der Xülle der darin vorfomnenden 
Namen und Thatjaben zum Nachichlagen geradezu unentbehrlich 
it. Für ein joldes würden wir gern, wenn cs nicht anders 
ginge, die Weberfiht der Quellen hingegeben haben; der Yaie 
wird an diejem Abjchnitt dody nicht viel Jnterejie nehmen und 
für den Biftorifer it er entbehrlich. Cine amımtafel der 
KRarolinger und eine Narte des oftfränfiichen Neiches bilden den 
Schluh des allen Gejcichtsfreunden zu empfehlenden Werkes. 

Die von F. U. Perthes in Gotha vor bald 70 Jahren ins 
Leben gerufene Geidichte der enronätichen 
fort. Die Namen ihrer drei auf einander folgenden wi 
lichen Leiter U. 9. L. Hreren, W. Giefebrecht und N. Lamprecht 
bezeichnen ebenfoviele veridiedene Phajen in der Geichichtsichreibung 
diejes Jahrhunderts. Nachdem die Gejchichtsdarjtellungen der 
großen Neiche Curopas abgeihloifen oder din den Tod ihrer 
Verfaifer unterbrochen worden waren, gerieth das große Unter: 
nehmen eine Zeit lang ins Stoden. Seit Siejebredt die Yeitung 
der Staatengeichichte übernommen hatte, nahm fie wieder einen 
frischen Aufihwung. Er jorgte nicht nur für die Weiterführung 
der noch nicht abgeichlojfenen Geichichtswerfe, jondern ebenio für 
































376 Eitteräriiche Streiflichter. 

die Griegung veralteter Darftellungen durd) neue und gab dem 
uriprünglicen Programm der Sammlung dadurd) eine Erweiterung, 
dah; aud) Fleinere Yänder und Staaten Aufnahme und Bearbeitung 
fanden. Auch nach Giejebrechte Tode hat das Unternehmen 
ungetörten Kortgang und der Name des neuen Herausgebers 
N. Lamprecht bürgt dafür, dai die Sammlung aud in Zukunft 
den Charakter der willenihaftlihen Gründlicteit behalten wird. 
Der nenejte uns vorliegende Band der Staatengeidichte enthält 
die Geihidhte Kinnlando von Schubergieon, 
deutihe Bearbeitung von Krig Arnbeim‘) 
Das Triginal ift im Jahre 1889  erjchjienen, die deutiche Ve 
arbeitung hat aber der Verfaifer jelbjt durchgeiehen und 
und durd) eine Weberjiht der Geicdichte bis 1893 fortgeführt. 
Die deutihe Ausgabe ift feine wörtlidie Ueberfegung, jondern eine 
Vearbeitung, in der die erjte Periode, die fatholiiche Zeit Zinn 
lands, nur im Auszuge wiedergegeben ift, die jpätern dagegen 
mehr oder weniger vollitändig ins Dentjche übertragen find; 
dasielbe gilt von den Fulturgeidhichtlichen Abihnitten des Triginals. 
65 giebt abgeichen von dem jegt veralteten Bude von }. Nühs 
icon eine Darjtellung der Geichichte Ninnlando in deuticher 
Spradje, Nıjd Koftinnen’s Finnifche Geicbichte von den frühejten 
geiten bis auf die Gegenwart, welde IS74 erichienen üt. Der 
Verfaifer Heißt eigentlich Georg Zoromann und ijt der Führer 
der Fennomanen. Diefer fein Standpunkt macht Tich auch in dem 
Vuche vedht bemerkbar, das im ebrigen orgfültig gearbeitet it 
und jich dincd) febendige Darftellung auszeichnet. Schpbergions 
Sejchichte hat vor der von Nosfinnen jchon den großen Vorzug 
da fie 18 Jahre ipäter veröffentlicht wird und daher nicht nur 
die geichichtliche Entwicelung bis zum Gegenwart fortzuführen, 
jondern auch die zahlreiche, zum Theil fehr wichtige feit dem 
Jahre 1874 erfchienene Yitteratur zu verwerten vermag; aufer 
dem hat ubergion auch das idhwodiiche Neichs- und das finniide 
aatsardiv für fein Geidichtswert benugt. Es ift ihn dad 
möglic) geworden, vieles .in ein helleres Yidht zu jtellen, alo co 
Kosfinnen zu thun im Stande war, für Anderes den wahren 


















































*) Gotha, Friedrich Andreas Perthes. 12 M. 


an 


Yitteräriiche Streiflichter. 377 


Zufanmenhang zu finden. Schnbergjon iit Schwede ımd verleugnet 
feinen Standpmt nicht, aber er jchreibt unparteiiich und umbefangen, 
mandmal vielleicht etwas zu farblos. Die Zeit vor der jchwedijchen 
Eroberung it mr furz, aber alles Wejentliche hervorhebend dar- 
geitellt; hier bietet Nosfinnen mehr. Die weltgeichichtliche Bedeutung 
Finnlands beruht auf dem Jahrhunderte fangen Nampfe zwiichen 
Schweden und Nurzland um die Herrichaft über diejes Yand, einem 
Nampfe, bei dem eo fidh zugleich um die Vorherridaft im Nord- 
often Emvopas und um die Yerrichaft auf dem baltischen Meere 
handelte. Tiefer Streit beginnt gleich im XII. Jahrhundert und 
endet 1809 mit dem vollen Siege Nuflande. Im Junern bietet 
die Entwidelmg Jinnlands die merkwürdige Griheinung, dar 
zwei verfchiedene Nationalitäten, Finnen und Schweden, fi politiich 
zu einem Ganzen, zu eirem finniichen Bolt vereinigt haben. Schr 
lefenswertb find die fulturgeibichtlihen Napitel in Schybergions 
Bud), welche die Sufellicpaft, Vildung und Yitteratur in den ver: 
ichiedenen Epochen ihildern. Zu größerer Bedeutung gelangt 
Finnfond erit jeit der Neformation; für die innere Entwidelung, 
jowie für den Nampf der beiden nordiichen Mächte it die Zeit 
von 1721 bio 1809 die wichtigite, inhaltreichhite. In der Ehil: 
derung diefer Periode liegt der Schwerpunft und das Hauptverdienit 
don Schpbergiong Wert. Sehr eingehend und belehrend ift jeine 
Darfteltung der Vereinigung des Grohfürjtenthums Finnland mit 
Rußland und der damit zujammenhängenden Vorgänge und Ver: 
banktungen, ehr verdienftlidh aucd) jeine Schilderung der inneren 
Entwidelung Finnlande unter Werander 1, Nifolaus 1. und 
Merander |1., an die fih eine Furze Ueberficht der Negierungs 
thätigfeit Merander IM. in Bezug auf Finnland fchlieht. Schy 
valons Bud) bietet eine jehr Überfichtliche Gruppiinng der That 
fadjen, die Daritellung ift einfach und ichmuclos, bisweilen könnte 
fie anichaulicher fein; doc) ift diefer Viangel vielleicht auf Rechnung 
des deutichen Vearbeiters zu jegen. Dah; der Verfafier ein grün: 
licher, genan mit dem vertranter Foricher üft, merft man 
überall; für den Hitorifer it die Anführung der wichtigjten Yitteratur 
bei jedem gwößeren Abfchnitte ehr erwünscht, auch fehlt es bei 
bedeutjamen Ztellen nicht an Verweilen auf die Quellen. Um 
dem Lejer die Benugung und das Nadhichlagen zu erleichtern, it 





























378 Litteräriiche Streiflichter. 





alles nur Wünfcenswertbe geichehen: dem Werte voraus gebt 
detailfirte Inhaltsüberfiht und am Schluh findet fich 
gearbeitetes Perjonenregifter. Wie jehr unterfcheidet 
nem Vortheil Schpbergions Gejchichte von Kostinnens 
Bud) und wie viele andere deutiche Seichichtswerfe fönnten ji 
diefe Einrichtung zum Mufter nehmen! Auch bei uns it, namentlich) 
in neuerer Zeit, ein lebhafteres Interefje für das jo nahe gelegene 
Finnland erwacht; Schybergions Geidhichte wird jedem zur Ein 
führung in die Kenntnik der Vergangenheit des merkwürdigen 
Xandes und der politiihen Entwidelung feiner Bewohner die 
beiten Dienfte leiften. 

Der Neberjegung des Buches von Jojeph Turquan 
über die Generalin Vonaparte iit ieh bald die Fortjegung: die 
Kaiferin Jofephbine, übertragen und bearbeitet von 
Dsfar Varihall von Vicberftein *) gefolgt. Dieler zweite Theil 
it im Ganzen weniger pifant als der erite. Turquan beurtheilt 
Jofephine auch hier mit derfelben Härte wie früher und Läht fd 
nichts entgehen, was die Chronique ffandaleuie jener Zeit zu ihren 
Ungunjten berichtet und aufgezeichnet hat, es liegt aber für diefe 
geit fein jo weicher Stoff mehr var. Den größten Naum im 
Buche nimmt die Scheidung Napoleons von Xofephine, die ihr 
vorausgehenden Verhandlungen und die vorbereitenden Edhritte 
ein. Es it jehr merkwürdig, wie viel Zuneigung Napoleon aud) 
als Raifer und troß aller feiner Liebichaften immer nod) für 
Dojephine hegte und wie jdhwer es ihm, der jonit jo rüdjichtslos 
und brutal jeinen Willen fundthat und Ddurdiegte, wurde feiner 
Gemahlin gegenüber den nefahten Entihlu auszuiprechen; wäre 
nod) Ausficht geweien, daR fie ihm einen Sohn jehenfte, er würde 
fi) nie von ihr getrennt haben. Auch nad der Scheidung ver- 
tehrte Napoleon mit Zofephine in ber herzlichiten Weite, er ichrieb 
ihr oft und bejuchte fie häufig. In den Tagen feines Unglüds 
und feines Sturzes zeigte auch Jofephine große Anhänglichfeit an 
ihren früheren Gemahl. In das Hofgetriebe und in die Parteiungen 
unter den Gliedern der bonapartiihen Familie gewährt Turquans 
Buch mannigjachen, wenn aud) nicht eben erfreulichen Einblid. 












>) Leipzig, Schmidt u. Günther. 4. M. 60 Bf. 


Yitteräriiche Streiflichter. 379 


Ein Bud) ungewöhnlicher Art, eines derer, denen man nur 
jelten auf dem Yücermarft begegnet, find die Tagebuch: 
blätter eines Sonntagsphilojopben. Sejammelte 
Grenzbotenaufiäbe von Hudolf Dildebrand* Wir 
haben dieje Aufläge, die ungleich an Umfang und Behentung bad) 
alle den eigenartigen Charakter ihres Xerfaifero zum Ausdruck 
bringen, mit herzlicer Freude umd tiefer Befriedigung gelejen und 
fühlen uns zu aufrictigem Dante gegen den Herausgeber, G. 
Wuftmann, verpflichtet, der fie der Vergejienheit, dem gewöhnliden 
Schichjale der Zeitjchriftennufiäge, entzogen hat. Nudolf Hildebrand, 
Gpmnafial-Lehrer und Profefjor an der Umiverfität in Leipzig, 
war einer der ausgezeichnetften deutichen Sprachforicher, der durd) 
feine Mitarbeit und Fortiegung des deutichen Wörterbuces der 
Brüder Grimm aud weiteren Nreifen befannt geworden ft. Bes 
windernswürdige Selchriamteit, feines Sprachgefühl und ein 
ungemein lebendiger Zinn für alles Volfsthümliche, alle Negungen 
der Volfsieele, wie fie in Sprade und itte zur Ericeinung 
tommen, waren dein jeltenen Wanne eigen; dapu ein herrliches 
Semüth von wunderbarer Tiefe, glei empfänglid für Ernit und 
Scherz. Hildebrand war ein Sealift und Optimift, wie fie heute 
immer jeltener werden, er war eine echt deutiche Natur durd und 
durch, ihm erichloß fi in der Betrachtung der Sprade das 
innerjte MWejen des deutjchen Geifteo. Bei ihm hatte ji der 
Foriher nicht auf Noften des Menichen entwidelt, er war eine 
liebenswürdige, friiche, itets angeregte und anregende Perjönlichkeit. 
So zeigt er fi in allen hier vereinigten Auflägen, jugendfriich 
und hofinungsfrah, gedantenvoll und fenntnißreich, tieffinnig und 
findlich zunleich, nur das reife Urtheil verräth, dal; die Aufjäge 
im fpäteren Lebensalter neichrieben find, es fpridht aus ihnen zu 
uns ein Diann in weihem Daav, aber im Herzen ein Kind, wie 
er eo jelbjt bezeichnet. 16 Ddiefem YBuche fann man lernen, 
wenn man eo noch nicht weiß, was deutich üft, deutic) im ebeljten 
njten Sinne, es ij dem Lefer, der id) darin vertieft, oft, 
das deutjche Gemüth jelbit zu ihm und offenbarte ihm 
iefiten Geheimniffe. Hier ift nic)ts von der gejuchten und 


















>) Keipgig, Fr. Wilf, Orunom. 4 M. 


380 Litteräriiche Streiflichter. 


raffinierten Geiftreichigfeit modern-jüdiiher Feuilletonijten, aber 
bier ü wahrer und echter Get, genährt am Marke der 
großen deutihen Dichter und Denfer, und man hat feine innige 
Rreude an der gebiegenen Fräftigen Korn, in die er fich Heidet. 
Sollen wir Einiges aus dem reichen Inhalt des Wändehens her- 
vorheben? Vielleicht der Ihönfte Aufiap darin ift: Trauer und 
Treue, geichrieben unmittelbar nad) dem Tode Haifer Wilhelm’'s 1.; 
man fieft ihn immer wieder mit Erhebung und Wehmuth. Schr 
ichön und tief it auch der Aufiag: Gute alte Zeit md Kortichritt, 
in dem Hildebrand (ebhaft für das Necht, die gute alte Zeit zu 
preifen, in ihr ein anjpornendeo Xdeal zu jehen, eintritt. Höchit 
inhaltreih und große Gelehriamfeit befundend ift der umfang 
veichite Artitel der Sammlung, der den Titel: „Prophezeijungen“ 
führt. In ihm werden die Verfündigungen und Hinweilungen 
anf eine Erneuerung des römisch-dentichen Neicheo von alter Zeit 
ber aufgeführt und gedanfenvoll erläutert; auch die Stimmen der 
Schnjucht nad) einem großen mächtigen Neid aus neuerer Zeit 
werden nicht vergefien. Was Xildebrand hier über Gocthe's 
Haltung der nationalen Erhebung und den nationalen Beftre 
bumgen gegenüber jagt, ift vortrefflic. Auf feinem eigenften 
Gebiete ift Dildebrand, wenn er aus „aus ber Gejchichte unferer 
Zitte” befehrt oder „etwas zur Geichichte des Nunjtblideo“ mit 
theilt. Cine ullertiebfte, fchalthafte Perfiilage der Ausmwüchie der 
modernen Goethepbilologie it der Artikel: Ein Nnopf von Goethe. 
And) wo er „vom Sterben” und „vom Leben“ Äpricht und fich, 
darüber ausläßt, „wie Wahr und Gut zujammen hängen,“ hören 
wir ihm gerne zu, da er jiets Semüth und Stimmung anregt. 
Sein ganzer Findlic.naiver Optimiomuo fommt in dem legten 
Aufag: „Ein Wunjchjettel an den Zeitgeift“ zum Ausdrud. Dod) 
genug der Hinweifung anf Einzelne. Möge Niemand, der Zinn 
und Neigung für das Ndeale, für uriprünglides, echtes Weien 
hat, Hildebrand’s föjtliches Buch ungeleien lafen; cs wird An 
vequng, Erfriichung und Erhebung Alten bieten, die noch von der 
modernen Unnatur umjtridt find. Uber nicht in einem Zuge, 
iondern in Abfäten muß; dreier foftbare Tranf genoffen werden, 
dann erjt wird er jeine volle Wirtung ausüben. 
































Litteräriiche Streiflichter, 381 


Wir haben vor ein Jet das inhaltreihe Yuch des 
Pfarrers 9. Gebhardt „gu bäuerlichen GHlaubens- und Eitten: 
Iehre” eingehend rohen. SHente liegt uns ein Seitenjtüc 
dazu vor in der Schrift von Baul Gerade „Meine & 
lebnifje und Beobadtungen als Dorfpajtor (1883 
bis 1593)” %). Während Gebhardt thüringiche Verhältniffe im 
Ange hat, jcildert Serade feine Erfebnifie in der preußiichen 
Provinz Sachien. Sein Buch hat einen mehr periönlicen 
Charakter und dadurch gewinnt feine Darftellung an Anichaulichfeit 
und Lebendigkeit. Pit jugendlicher Vegeifterung ift 2. Gerade 
in dao Aınt getreten und jchildert nun offen und wahr die vielen 
Enttänihungen, die er erfahren hat; zum Pelfimijten hat er id) 
aber dadurd nicht machen lafen. Vergleicht man feine Mit: 
Meilungen mit den Schilderungen GSebhardt’s, jo nimmt 
nicht ohne Verwunderung wahr, wie ähnlich der Baner nad) 
und Charakter in beiden Gegenden ericheint. Auch in Gerade's 
Schilderung zeigt er feine Spur von der Naivität amd unjchulds: 
vollen Pocfie des NAatunfindeo, womit jo viele Dorfgeidhichten die 
bäuerliden Verhältniffe ausftaffirt und geichmüct haben. Die 
fittticen Zuftände deo Banernjtandes weilen aud) nad) Gerade's 
Mittheitungen viele dunkle Schattenfeiten auf, aber es fehlt dod) 
auch an Lichtieiten nicht und der im Guten wie im Schlimmen 
äußerjt Fonfervative Charakter der Bauern tritt and in diejem 
Buche lebendig hervor. B. Gerade's Schrift bietet ferner längere, 
durch viele Veiipiele iluftrirte Ausführungen über die veribiedenen 
Arten der Sceflorge und der Aufjicht über die Schule, die für 
junge Geiftliche Tchr Beherzigenowerthes enthalten. in einem 
Muhabichnitte Äpricht fd Serade Über die Angehörigen des 
geiitlihen Standes, ihrer Yebenshaltung und ihr Verhältnih zum 
Volfsleben aus und tritt energüich für die Theilnahme der Seit 
lichen am öffentlichen Yeben ein. Gerade'o Büchlein, von pofitivem 
Geifte Durchweht, gewährt eine anziebende und belchrende Yektü 

Aus der Menge neuer beifetriftiicher Ericheinungen fein 
zunächit Charlotte Nieje'os Geidhichten aus Yolitein**) 





































tag von Albert Narbe, 
Kit. Gran. 3 M. 





382 Litteräriihe Streiflichter. 


hervorgehoben. Die mit Necht raich allgemein beliebt gewordene 
Erzähferin bemegt fih in Diefem vorzüglich ausgeitatteten Buche 
wieder auf ganz heimiichem Boden. Go find, jo viel wir ums 
erinnern, alles alte Belannte aus den Grenzboten, welche hier zu 
einer Sammlung vereinigt find. Ch. Nieie offenbart aud) hier 
bie von früher bekannte Vorlicbe für abjonderliche Perfönlichkeiten, 
durd) Natur und Yebensichicjale Teltjam entwidelte oder vers 
früppelte Menichenwefen und bewährt überall ihr Talent mit 
Icharfem Dice die harakteriüiichen Züge der Berjönlichteiten zu 
erfaifen und dem Xefer lebendig vor Augen zn jtellen. Nicht die 
Erfindungsgabe, fondern die icharfe Charakterzeichmung it ihre 
bervorragendte Eigenichaft; fie idhildert To lebendig, dal wir an 
ihre Gejtalten glauben, aud) da, wo fie etwas unwahricheinlice 
Züge tragen. Co ill ein Beweis ihrer daritellenden Nraft, dab 
ihr paffive, unielbjtändige Aaturen in voller Lebenswahrheit und 
Anichaulichleit zu idhildern fuft noch beiler gelingt alo energüüche, 
willensfräftige. Gin wahreo Nubinetitüd unter den Erzählungen 
it die Geichichte des Etatoraths, der um alles Anjehen fam, weil 
er feine Geichichte erzählen fonnte, ernjt und ergreifend die Er- 
zühlung vom verrüdten Flinsheim, bie in tiefer Tragif endet. 
Die umfangreichite Geichihte der Sammlung, „Die erite Liebe” 
bat am meijten den Gharatter einer eigentlichen Novelle, Der 
Baron Rolf und feine Fran Ada Navenftein find in ihrer Zorg- 
fofigfeit und Gleihgültigfeit gegen die Vedrängniiie deo Lebens 
vortrefflich gezeichnete Gejtalten, auch der alte Hraf Nöffing it 
eine echte Charakterfigur. Dagegen ift Frig Neumann, der 
Amerifaner, etwas verblaft und Frau von Zehlened doch etwas 
gar zu jehr als Narrifatur heranogefommen. Der Grundgedanfe 
der Erzählung, dab die erite Yiebe gewöhnlid die erite große 
Dummheit des Yebens jei, während die legte Yiebe, von der man 
niemals ipreche, oft die tiefite und wahrfte fei, frappirt dd) feine 
Ungewöhnlichteit; jo unbedingt hingeitellt, Fann er fiherlich nicht 
auf allgemeine Zutimmung redmen. And in den fleinern, 
weniger bedeutenden Stüden ift das Talent der Berfaiferin 
bemerfbar. Wenn, wie wir dod) annehmen müjjen, Ch. Nieje's 
Schilderungen auf Beobachtungen der Wirklichfeit beruhen, wie 
reich an originellen Perfönlichfeiten it dann diefes Holitin! Wir 


















Litteräriiche Streiflicter. 383 


zweifeln nicht, daf; aud; dieie „Geihichten“ viele Lejer finden 
und von Niemandem ohne Vejriedigung aus der Hand gelegt 
werden werden. 

Adolf Wilbrandt bat eine neue Novellenfammlung 
unter dem Titel „Water und Sohn und andere Ge- 
fhidten“*) veröffentlicht. Wilbrandt's Eigenart als Erzähler 
und Novellit ijt bekannt; im jeinen dichteriichen Erzeugniffen 

fenbart fid weniger große Erfindungsgabe als feine piychologiiche 
ung und Entwidelung. Er it ein Birtuofe in der Dar- 
ftellung und Entfaltung deo Seefenlebens und verjteht es aus“ 
gezeichnet, mit wenigen Strichen die Grundelentente der Charaftere, 
welche er ung vorführt, zu zeichnen und ir Handeln pinchologüid) 
überzeugend zu motiviren. Die beiden Erzählungen diefer Samm- 
fung haben ebenjo wie das ihnen beigefellte Wären denjelben 
Sharafter, den wir alo pincologiich-pädagogüich bezeichnen möchten, 
denn allen drei Liegt eine gewille didaftifche Tendenz zu Grunde, 
In der erjten jchildert der Dichter die Verliebtheit eines Gymnalial- 
abiturienten in eine Teihtfertige Theaterpringefiin, in der er im 
blöber Jugendefelei ein hohes dent ficht, und das gewagte Viittel, 
durd) weld;es der Vater, der zugleich) der nächite und beite Freund 
des Sohnes it, ihn von diejer Verirrung zurücbringt.. Die beiden 
Badtihe, die als Nebenfiguren auftreten, find mit ihrer ver- 
götternden Bewunderung für die herrliche Thea, die Schaufpieferin, 
ganz vortrefflic geichildert umd meifterhaft gezeichnet, ebenjo reigend 
naiv, wie jelbitbewußt altklug. In der zweiten Erzählung „Die 
gute Loreley" athmen wir volle warme Nheinluft. Die Heldin, 
Frau Mälhe, die Gattin deo etwas jteifen und fdhwerfälligen 
Sanskritgelehrten Benno, bezaubert did ihre Schönheit und ihr 
holdes Weien alle Männer, die mit ihr in Berührung fommen. 
Sie wendet ihre Macht aber nur zum Guten an, nöthigt junge 
Nichtsthuer und nur dem Genuß; lebende Meltmänner zur Arbeit 
und zur IThätigfeit und führt von ihrer Schönheit verblendete 
Verchrer wieder zur Piliht und Yicbe gegen ihre Bränte zurüd. 
Wenn aud im Einzelnen manche Umwahriceinlichfeiten mit unter: 
Laufen, jo hinterläßt die ganze ganze Erzählung doch einen früichen, 














Srungart, Verlag dir J- ©. Eotiaichen Yuchhandlung Nachfolg. 3 3. 





384 Litteräriiche Stveiflichter. 

erfreulichen Eindruck, eigentliche Bandkung hätt bier cbenfo, 
wenn aucd etwas weniger, als in dev erjten Erzählung, binter der 
piochologiichen Entwicelung zurüd. Tas Märchen „Dütchen” it 
: die Ausführung des Gedanfens, dah man zur rechten Zeit abzu- 
reifen veritehen mühe, d.h. dah man in dem Augenblide, wo 
man jid) durch Yeidenihaft und Zorn zu unüberlegtem und unver: 
antwortlihem Handeln hinreiiien zu laffen im Begriff jteht, Tic, 
ichnell entfernen mühe, um fpäterer Neue und fchwerer Ver: 
ichuldumg zu entgeben. An Dielen Märchen. fehlt es nicht an 
einer Nülle von Begebenheiten und Wechielfällen. Die Form der 
Darjtellung jo wie die Sprade it, wie fih das von 
erwarten Läht, vorzüglich. H. D. 

















bi 5 


Aosposeno nenaypoo. Prra, 31. Amı yera 806 y. — Yachoruderei A 








Vrrausgeber und Nedaftur: Arnold v. Tideböhl. 




















Aus B. v. Pitmar’s Reifebriefen an feine Eltern. 
(ıs — 1818) 








uf) 


Heidelberg, den I. Mai 1810 n. St. 

Aus Würzburg folltet Jbr, geliebte eltern, wie ich Euch 
aus Dresden fchrieb, wieder ein Briefchen von mir erhalten. Doch) 
«s ändern fid die Zeiten und auch unfer Wille ändert fd) bi 
weilen in ihnen; wenigitens ift es mir jo gegangen, denn diefen 
Brief an Euc) dative id) nicht aus Würzburg, jondern jdon aus 
Heidelberg. — Das jdöne Dresden, in dem ic mit Yandsleuten 
und Freunden mir unvergeilihe 14 Tage verlebt hatte, verlieh 
id am 4. Diain. St., nachdem ich zuvor noch drei unbeichreiblich 
glückliche Tage mit meiner himmliichen Elia und meinem vor: 
treiflichen Tiedge verlebt hatte. Grade an dem Tage, an 
weldem die gute Elia mit ihrem frommen Begleiter erwartet 
wurden, war id) mit dem guten herrlichen Intel Krübener und 
feiner lieben Minna (id) fann eo Euch nicht bejchreiben, was das 
für überaus gute Leute find) im den höchft reizenden Plauenfchen 
Grund, etwa 2 Meilen von Dresden, gefahren. Erjt Abends um 
7 Uhr langten wir von diejer Luftpartie wieder in Dresden an 
und ich geftehe Euch, da; ich mic) icon lange aus den reizenden, 
belebten Umgebungen der füllevoliten Natur wieder in die todten 
Diauern der Stadt gejchnt hatte, denn meine gute ahndete 
























br 





386 Aus W. v. Diimar's Neil efen. 


ich in denfelben. Ungeoufdig iprang ich ans des Onfels Wagen, 
neh che er gehalten hatte, und eilte, ich weil jetbit nicht wie 
fehnell, in das Hotel de Et. Yetersbourg, wo € 
wollte. Dos, ald ih hinten, wer meine Eite vergebens gewele 
denn noch war fir nicht angekommen. Chne mich zu Gefinnen, 
machte ih mich auf den Weg, lief ihr entgegen und traf fie Jchon 
nach 1 auf der Dresdener Brüde, Die Freude, 
die Tiedge und fe Dec meine unerwortete Ericheinung gefühlt 
haben müilen und die fie air auf eine einfache, aber herzerhebende 
Art zu erlernen gaben, fan ich Gucd nüht beichreiben, cbenfo 
wenig wie die Oifühle, die res tief durchglühten. [Es 
folgt eine Heine Abichweifung, dann heit es weiter:] Doch meine 
alte 66 jährige Clin witt ich wicht auf der Dresdener Brüce in 
Aube laden, fondern Euch jagen, daR ich bis zu ihrem Quartier 
neben ihrem Wagen hergelaufen bin und dabei ihre Hand, die 
fie mir aus dem Wagen gereicht hatte, garnicht loslich, fondern 
fie voll berzlicher Areude mnaufhörlih Fühte. Dieler Zug, der 
durch die Hanptiwahen Dresdens ging, machie jo großes Anfichen, 
dah die Vente jtehen blieben und uns gan verwundert nadhlahen. 
Tas minchte mich aber nicht irre, jondern ich Ächritt vielmehr 
fröhlich weiter, vi meine weiiliche Elifa bei ihrer Wohnung fait 
aus dem Magen, führte fie die Treppe herauf und Fich mid) 
dann von ihr, mit Jreudenthränen, finfen und herzen; Darauf 
begab ich mich in Tiedges Arme und hörte mit Nührung von 
ibm die Worte, die er mit Alamımen zeichnete: „Ach würde Jhnen 
gern viel Serzliches Tagen, wäre das Herz mir nicht zu voll von 
dem, mas ich für Zie fühle.” So ungefähr denkt End) unfer 
erjtes Wiederfehen. Weiter kann und mag ich Euch von demielben 
nichts jagen; außer nur nod das Cine, da ich fpäter weit Die 
Jeit überfchritt, um welche Ciife qewöhnlich zu Bette zu gehen 
pilegt. Viele intereffante und herztihe Geipräche wurden in der 
durch unaufborliche Beiuche unterbrochenen Zeit von Ts Uhr bis 
gegen 12 gewedhielt und nicht wenig Fuchten mich die Rede, 
Tieoge, Elijas jesige Pilenetochter Mina Mitterbader aus 
Karlobad und ihre vormalige Vianta Low (eine Tochter des 
berühmten Weiher, die mich au Cliias allerböchtten Befehl 
Vrnder und ich fie Schwerer nennen mh) zu überreden, nach 





ja abjteigen 














en Mi 











Sn 
























Ans W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 387 


Töplig mitzureifen. ch joltte freie Meile bis dahin und freien 
Anfenthait daielbft haben, wenn ich mich nur ontichliehen ın 





I 
binzufonmien, Nirtlich war ich dur dieles Anerbieten, weiber 





mir ein newer Schr erfventicher Yeweis der Yiebe diefer trejlihen 


Menichen zu mir war, br meinem Neileplan irre gemacht; 
zu meinem OtÜdE bat ib wir aber Verentzeit bis zum anderen 


Tage ans md weigerte mich an bemietben, Den freundlichen 









Vorihlon anzunehmen, weit ich überlegt batte, dab eo für mich 
die jet wahrzunehmen, in welcher ich mich 
;bilden Ta 


flicht jei, durchaus 
wilenichaftlich, und namenttich als Auriit au Ar 
diejen Eurihluh befam ih num freilich ein wenig Schelt; allein 
ich tröitere mich Damit, dap ich das Sprichwort: „Der Geil üt 
willig, das Keiich aber Ihwadh” Dieles Mial gerade wutchren 
fonnte, Areitich Tan ich es nicht (ongnen, daf; ich geure mit 
der quten van vo. Yow gereiit wäre; denn in deren Wagen war 
für mich cin Klag beftimmt; weil mir diejes gebildete Weib 
außerordentlich intereffant Üt, ıheilo weit fte in ihrer Were 
die größte Aohmtichfeit von  unferen Yivländiihen, überhaupt 
nordiihen grauen hat, tbeits auch, weit wir ihr Tiedgeo Alerio 
ud 0a, und NHobert und Wennchen zu danfen haben. Die 
Lieder, aus denen diefe beiden Nomane beftehen, hat Tiedae ihr 
und ihrer schönen Stimme zu Oefallen anf betannte Melodien 
gedichtet und fie exit Ipäter ats ein Oiniges zulanmmengentelit. 

Doc das gute Yrinzip behielt band, der 
GSeift war järter als das Keil md ich wertieh am 4. Mai 
Dresden, nachdem ich ned an demfelben Tage von dem guten 

















tät 

















an einmal Die Cbe 








Intel, der mir ein jehr Finnreiches Andenten gab, wıd von der 
guten Cifa und dem geliebten Tiedge Abldied nahm. Bei ber 
Nee entjchnldigte ich mich, da ich in meinen Neifetleidern zu 
ihr käme; und ich geitche, daß eo wir nicht feid hut Diefe Heine 
Artigfeit gehabt zu haben; denn dadurd wide fie zum erften 
ale verantaht, mic) en und von der Zeit 
an hat denn audı die Benenmng „Mama“, nach) der id fie gern 
zuweilen nannte, auf immer das Bürgerrecht erhalt 
fange es Ahnen noch einmat, co freut mic in Abrer Berfon einen 
jo draven jungen Mann formen gelernt zu haben. Bortieren Zie 
nicht den Vinth, fondern wirken Sie einft für unjer Vaterland, 








one 





„mein Mind“ 








BAU) 





388 Aus W. v. Ditmar’s Reifedriefen. 


fo wie ic) es von Ihnen hoffe. Ieyt leben Cie wohl; behalten 
Sie im Andenken, worum id) Sie jegt gebeten, und fchreiben 
Sie bald an Ihre Elifa.” Dieh waren die [epten Worte, die 
Mama (ich muh diefen Ausdrud hier gleich anbringen, damit 
Ihr Hört, wie er flingt) zu mir iprad, und die mich zum Glüd 
beichäftigten, bis id am Abend in Freiburg anfam, — zum 
Glüd, fage ih, weil id) ichlechtes Wetter, einen ijlehten Poit: 
wagen und einen überaus langweiligen Nsifegefährten Hatte. -— 
Während hier die Pferde gewechielt wurden, bejuchte ich ben 
größten Dineralogen der Welt, den alten würdigen Werner, dem 
ih in Elifas Namen einen Sohn des berühmten Componiften 
Naumann, der die Bergwerksfunde jiudiren will, empfehlen jollte. 
— Interefjant war es mir, in jreiberg, das im Sädfiichen 
Erzgebirge liegt, Bemerkungen über die Vegetation anzuftellen. 
Am Morgen reijte id) aus Dresden, wo alles fon grünte und 
blühte, und con am Abend befand ic) mid) in einer Negion, 
wo das Veben fih faum erjt in der Anospe regte und wo es 
fcpneite und hagelte, während unten ein milder Frühlingoregen 
das vegetabiliide Leben bis zum höditen erreichbaren Gipfel 
fteuerte. — Von Freiburg fam ic) zunädjt nad) Jwidan. Dah 
mein erfter Gebante an diefem Orte der war, unjeres biederen 
Vergs Mutter und Gejchwiiter, jowie aud) feinen wadern Lehrer, 
den berühmten Whifologen Johannes Aloys Martyni:aguna 
aufzufuchen, Fönnt Ahr Euch, geliebte Aeltern, wohl denfen. Zu 
meiner großen freude ward mein Wunjc erfüllt, denn ih traf 
unferes geliebten Vergs alte würdige Mutter in ihrem Heinen, 
aber reinlihen und friedlichen Quartier gefund und wohl, nicht in 
fo großer Armuth, die unfer treffliher Berg fih mit ihrem Leben 
verbunden denkt. Ic) fand bei diefen redlihen Leuten vielmehr 
eine gewilfe Art von Reichtum, die es eben nicht erlaubt üppig 
zu leben, wohl aber anjtändig und ohne Mangel zu leiden. — 
Von Laguna, der an Berg mit der Herzlichiten Liebe dentt, wird 
unjer geliebter Gotteomann mm mohl jchon einen Brief erhalten 
daben, — wenigjtens zeigte mir Yagıma einen jehr langen, 
den er an in angefangen Hat und den er vedht bald abzufchiden 
veripradh, als id) ihm erzählte wie jehr fh Berg nad) Nachrichten 
von ihm jehnte: „Ja, ich werde und muß ihm jchreiben, denn 


Aus W. v. Ditmar’s Neifchriefen. 389 


- Thon liegen zwei Briefe von ihm unbeantwortet hier. — Ich 
verdanfe ihm unendlich viel; denn nur er hat mich unterftüßt, 
als ich in der jdhredlichiten Armuth lebte und beinahe nur ihm 
habe id) mein Leben zu verdanfen.” Die war Kagunas Antwort, 
— Soll id Euch, geliebte Neltern, nun mod fagen, wie mir 
diefer Gelehrte eridienen ift und wie ich von ihm geichieden bin, 
fo werden folgende wenige Worte hinreiden, um ud; mein 
jebiges Verhältnih zu ihm ar zu machen. Exichienen ift er mir 
als ein veblicher, waderer Mann von dem ungeheueriten Geijte; 
denn jeder Gebanfe war höcjt bedentungsvoll, war Blig und 
Schlag; — jein Gefühl mu außerordentliche Tiefe haben; id) 
bin davon auf eine fehr erfreuliche Art überzengt worden. Nur 
wenige meiner Yeußerungen zogen mir feine wahre Freundfhaft 
zu; er jelbft hat cs mir gejagt und falich ift Yagına nicht, was 
Ihr aud) von Berg werdet erfahren fönnen. Er bdrüdte mir 
Togar einmal mit Innigfeit die Hand und jagte: „Von biejent 
Augenblide an“ (ic) hatte nämlid) eben etwas geäußert, bas id) 
dem Papiere nicht anvertrauen mag) „find Sie mein wahrer 
Freund, im eigentlichften und ur wahren Sinne des Wortes. 
Wollen Sie in Heidelberg mein angenehmer (der Ausdruc 
fiel mir ein wenig auf) Gorreipondent jenn, jo werden Zie mid) 
dadurch ganz gewiß jehr erfreuen und ich veriprede Ihnen 
pünftlih zu antworten.“ — Bald darauf eilte ich wieder zur 
Pojt, weil die Zeit jchon verftrichen war, die id) wegbleiben durfte. 
— Echt, meine Neltern, jo gebt cs mir in der Welt. Begegnete 
mir nicht auch jo mande Widermärtigfeit in meiner Wanderung 
durd) das mängefvolle Pilgerthal des Lebens, jo würde mid) mein 
günftiges Gejdhie übermüthig machen. 

Von Zwidau fuhr ich über Plauen nad Hof, die erite Stadt im 
Königreich Baiern, wo id) denn auch zu meiner größten Freude die 
icheußfichen Sächfühen Poftwwagen verlieh und dagegen einen treff: 
lichen Baierjhen bejtieg, neben dem in der Nacht ein Eoldat von 
der Gensdarmerie als Bededung reitet. Die Gegenden, durch die ich 
von jegt an fam, glicen einem höchft romantif—hen, unaufhörfichen 
Garten, in dem alles duftete und blühte und in dem Städte und 
Dörfer in ungezähfter Menge lagen. — Die gröhte Stadt, in 
die wir zunädjit von Zwidau famen, war Vaireuth, wo id) einen 











us W. d. Ditmar’s Neiichriefen. 





. Mob blieb, Unvergehlid bleibt mir diefer 
ibm 


1q, den 
Tag, bean er hat mir viel acnemmen, aber ich verdai 
f bat er mir eine Schnjucht, 
& aber ich verdanfe ihm eine 
jer Toeil der gebiideten 













iblid) viel. Oenoam 
nes Annere durchafü 
1, ma Die nich gewiß ein are 

Ab oil Euch den an, den ich Fennen lernte, 
To qui co acht, beihreiben, dann Jucht, geliebte Neltern, den 
Kamen felbit zu erraten. Ju ibm geführt wınde ih von einer 
or Heinen, alterlisbiien Tochter. Unser Weg führte uns durch 
bis fing Zimmer, die ein wenig öde ausfah in dem 
en Fish hogar ein von Weinbonteillen; 
ben waren eben aogepadt, andere Ion anogeleert 


md no andere aar zerihlagen. us Diefem Jinmer führte 








eidet. 











verlegten bei 








einige derfeil 





Heine Benleiterin in eine enge Stube, in der um 
1 2 Binberbretter Banden, amd de glei beim Cintritt 
„Raten, ea Arender.  Gteid Darauf hat der Vater 


dinter den Witt tin einem, von gelblichenn 





db neh 


den Ti 








in dielel 








breiteren hervor, yetlch 





Yo gemachten Uebsero.d, an dem der Jahn der Zeit unten viele 
© oengenagt hatte; der Salo der langen, Ttaltlihen Gefalt 
war eatbloit, das vötblih-branne Haar zuräcgeitrigen, die Ztin 
i arofie Dane geiftwolle Augen, 
heit des Verjtandes in dem 











bach, Fart gewölot; unter derieiben zur 
tiefes Gefühl und Nta 
ofiche gewahrt wird; die Nafe it ehwa 
rund anmuihsvoil kbon gejtaltet. Auf dem ganjen 
Gefihte ruhte, einem Worte ju Tagen, Die hödte 
Genielität und zugleich die böchfie Outmüthigteit. Diele Geftalt 
nun mabte fa air, mit ihrem Äbwanienden Gange, schnell, 
verbuiute | pflaa von mir den Brief, den 
ic) von Wolte ihr abzugeben hatte. Olleih daranf entfernte fich 
der Diaan von meiner Zeite und ging ihweigend in der Stube 
Der; id nahm meinen Sit und wollte nid ibm 
5 er zumir rat amd jagte: „Weiben Zie dod) 
und d iebte ihenve eltern und Gejchwift 
Worte, Die ich in meinen ganzen Leben aus 








in denen ıı 








eriien Auge eingebogen 


md tar: 

















gegen ih und 























Dich Find dic erjen 
de d09 








tbegreifbaren Jean Pant gehört habe. dh 
blieb und nun ward das Weipräch Tehr lebhaft, beionders drehte 
Horn; aber taufend hohl intereflante 








es Jh un Wolte und Srany 





Aus WB v. Titmar’s Neifebriefen. 391 


und merkwürdige Dinge fammen nebenbei vor, wie wir das jchen 
von Jean Paul gewohnt find. Ciniges über unter Geipräd) 
erhaltet ihr ausführtich detailliet in meinen Neifebemertungen; 
hier würde «5 zu vielen Naum einnehmen. Dana überihide ich 
Euch) auch das Handbriefhen, das er in mein Stammbuch ein 
geihrieben hat. -  Unfer Geipräh war fo intereflant, dal zwei 
ganze Stunden vergangen waren, als id zum eriten Male nad) 
meiner Uhr ja. Nm wollte ich fort und entichutdigte mich bei 
dem überaus liebenswürdigen Jean Paul, ihn jo lange aufgehalten 
zu haben. Diefer Entichuldigung babe ich folgende für mich gewin 
jehe genugißuende Worte zu verdanfen. Hier Leit fie bucjtäblic) 
jo, wie er fie ze min iprach: „Dah Zie fange Zeit bier geweien 
find, weil; ich nicht; — dal mir die Zeit aber jehr Fury vor 
gekommen ift, weil ich. Ich mu eo Ahnen geradezu jagen, dal; 
unter den vielen Beuchen, die ich erhalte, lange feiner mir jo 
beventend gemeien it, als der Abrige, und ic bitte Sie recht 
jehr (mobei er mir hevzich Die Hand Prüdte), dal Zie, wenn 
Sie wieder nadı Baireuty fonmnen, ganz bei mir wohnen, wenn 
ic) Shnen anders jegt (eb geworden bin und gefallen habe.“ 
Drauf ging ih hoch erfreut fort, von Nichter noch durd einen 
frummen, jchiefen Gang begleitet, in dem er mir nach folgende 
fpahbafte Worte jagte: „Zehen Sie einmal, it der Eingang zu 
mir nicht ebenfo, wie der zu meinen Nomanen“, und hierauf vier 
er mir mod) ein vecht freundliches Yebewohl nad. —- Was mir 
Jean Paul jonjt mod gelagt bat, z.B. über jeinen Namen, von 
den Schriften, die er jebt gerade jhreibt u. |. m, das erfahrt 
Ihr alles fpäter, zum Theil jhon Ciniges aus meinem Briefe an 
Verg, den ich jest angefangen abe. + Nur das will id Euch 
bier noch melden, dab ich von Jean Pants Tochter Bernd) 
im Wirthshawie erhalten babe. Zie brachte mir mämtich mein 
Ztammbuc von ihrem Later. 

Von Bairenth ging ich nach Bamberg, wo ih 2 © 
blieb und in Dielen wich auf der Yeciie, die in Barern die 
Dante genannt wird, ner zankte md endlich von bier, mit 
einem Heinen Umwege, über Nigingen nach Würgburg, to ich 
anderthalb mir unvergehliche Tage mit meinem alten biederen 
vortreiflichen Baer und Bander verlebte. Von diefer Stadt fun 























in 


ven 








392 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 


ich Euch nichts jagen, als da jie eine jehr veizende Lage bat. 
Der Main teilt fie in zwei ungleiche Hälften und bejpült ein 
ichönes jruchtbares Thal mit feinen Weinpflanzungen und Objt: 
gärten. Bemerfenswerth ift die Ausficht nad) der hart am Viain 
auf einem hohen Berge gelegenen Gitadelle und auf der andern 
Seite nad) dem Füniglihen Schloiie, das zu den jchönften gehört, 
die ich bis jeyt geiehen habe. -— Doc Städte und Gegenden 
mag id) Gud) nicht bejchreiben, weil die Schilderung dod) weit 
hinter der Natur zurücbleibt und für den, der fie lejen muß, 
doc) immer wenigen Neiz hat. Wündlich werde id Cud) alles 
das einjt lebendiger vor die Seele zaubern können. — Nod 
weniger jage id) Eud) aber etwas über den Genuß, den id in 
der Gejellichaft meiner Freunde Baer ımd Pander gehabt habe; 
denn des Freundes Bid und des Freundes Wort faht der 
Freund mur einzig und allein mit dem Gefühle auf, nicht aber 
mit den Gedanken, und daher fann und mag id Gud) aud) nicht 
einzelne Broden von meinen Gefühlen vortragen, ohne empfindelnd 
zu eriheinen. Nichts fchene ich aber mehr, als den Echein der 
Empfindelei. —- Aljo aud) in Würzburg bin id) glüdlid geweien; 
— das ift nun einmal das alte Einerlei, das Ihr immer wieder 
hören müht. Von Würzburg reilte ih in Gejellihaft eines 
fatholiichen Paters, eines Dr. Lampredt, eines Advofaten Halen 
und eines Dr. Wenneis nad) Heidelberg ab. Mit jedem 
zurücgelegten Schritt ward die Gegend immer —höner; aber in 
ihrer höchjten Anmuth entfaltete fie fi etwa eine Meile von 
Heidelberg im Nedargemünd, wo wir in das himmliice Nedarthal 
famen. Der von hohen Vergen, die mit echten Kaftanien, Eichen, 
Vuchen und anderen Yänmen bewachlen waren, eingefdhloifene 
Weg lief bis Heidelberg immer am Nedar Hin und durd) dieje 
veigenden Umgebungen gelangten wir denn am 11. Main. St. 
in dem jehönen Heidelberg an, das ich Euch nicht weiter beichreibe, 
jondern Euch nur auf Löwio (grüßt ihn herzlich) treue Beichreibung 
dejjelben verweije. Nur dns weiß ic, dal; der Gottesleugner 
hierher fommen muß, um gläubig zu werden; denn wer einmal 
auf dem Nönigsjtuhle, dem bödjjten Berge bei Heidelberg, jtcht 
und von dort das jchöne zertrümmerte Schloh auf einem hohen 
Berge, dennod zu feinen Zühen erblidt, und ned) tiefer die 














Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 393 


Stadt jelbjt; zur Linfen in der Tiefe das Nedarthal, zur Nechten 
eine weite Ebene, die dev Nedar und der am Flujfe der Vogefen, 
aus denen der Donnerberg fein Haupt Hoc in die Luft ftredt, 
binftrömende Nhein durdfregen, gewahr wird, der muß einen 
Gott ahnden, wenn er nicht anders ganz unempfänglid) ift für 
das Große in der Natur. Und wer nicht an Unjterblichfeit glaubt, 
den verweile id) auf das Heidelberger Schlofi. Hier Überzeuge 
fid) der Unglänbige, dab aus dem Tode das Leben hervorgeht, 
indem er finnend ven lebenden Ephen betrachtet, der aus den 
todten Mauern hervorwächit und fie mit jeinem Grün befleidet. 
— Ja, id verfichere Euch, geliebte Aeltern, dal; Heidelberg in 
jeder Nücficht auf mich einen fcönen, erhebenden Eindruck gemad)t 
hat. — — Bon Yandsleuten habe ich hier folgende angetroffen: 
Rapp, Baur II, Straus, Schmölling, Feuerabend, Nemmert, 
BVienenjtamm, Gerziwshy, Martens, Node, Niefemann, Bachmann, 
Rod), Kolb, Nnüpffer und Volle. Wir alle zuiammen haben uns 
in einem Gajthofe, der n genannt, ein Zimmer gemietet, in 
dem wir uns zum Vittag und Abend verfammeln und gröften 
Theils die Effengzeit froh verfeben. Abends werden gewöhnlich, 
naddem man während deo Tages fleifig jtudirt hat, eine 
Lujtparticen gemacht, — leider ift eo hier nur jehr teuer, beinahe 
noc) ärger als in Baı eberhaupt find co goldene Träume, 
wenn man glaubt, dah man in Deutjchland beinahe alles umfonjt 
hat. Ich verfichere Cud, co it nirgends beiler, als in unjerm 
Livland, darüber bin ich mit allen meinen Yandsleuten ei 
verftanden. Bei uns findet man doch mod Nedlichfeit, -— hier 
wird aber unter dem Scheine altdeutjcher Treue mit der Redlichfeit 
gehandelt. — Bis jegt Habe ih nur einen Vlann getroffen, an 
dem ic) das gefunden habe, was ich im edlern Sinne des Wortes 
Altdeutfch nenne und diefer Mann iit der berühmte Jurift Thibaut 
hier in Heidelberg. Durd) die Verwendung unferes geliebten Garl, 
id) meine Nyber, bin id) in feinem Haufe befannt geworden. 
Gleich, als id das erite Mal hinging, muhte id) veripreden nad) 
an demjelben Tage zum Abendeiien wieberzufommen und als ich 
nad dem Ejjen wegging, muhte ich verjprecden, mid als ein 
Mitglied der Thibauticen Familie anzujehen und drauf baten fie 
nich, fie jo oft zu befuchen, als ich nur immer Luft hätte. Ueber 
dieje liebenswürdiaen Vienihen in meinem nächiten Briefe mehr, 



























304 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 





Seivelberg, den 13. Ali ISI6 a. St. 








Was mein hiefiges Leben betrifft, To Fann id Euch) von 
demfelben nur jagen, dah es Fehr einfach it. Ach lebe hier 
gröftentheils nur meiner wiienihaftlihen Ausbildung, Ttelle im 
Freien Vetrahtungen über die Menfhen an md lege mir 
Necenichaft ab über mein eigenes Dandeln. Umgang babe ich 
hier im Ganzen nur jehr wenig; fetten beiuche ich einmal den 
würdigen Tpibaut und den tiebenswirdigen Greis Lo, an den 
mich die Himmliiche Elia empfohlen bat. Yen beiden Wiännern, 
fowie auch von dem Philologen Greuzer, werde ich mit großer 
Herzlichteit aufgenommen; feider geitatten € mir aber die vielfachen 
Arbeiten nicht, den Umgang Ddiefer Viedermänner fo häufig 
genießen zu fönnen, als id) es wohl wünihte. Zu dem Theologen 
Panlıs gebe ich wur fer fetten; deito öfter aber zu dem lieben 
Wagemann, den Nr, geliebte Aeltern, aus Yivland fennt, und 
zu meinem gewefenen theuren Lehrer, dem Wrofeifer Neumann 
aus Dorpat, der Füh bier jeiner Sefmdheit wegen nur nod fu 
Zeit aufhält. Die beiden zulett aenannten Männer beindhen 
and mich recht oft. Die nenefte Bolanntiaft, Die id gemacht 
habe, it die mit dem Doctor Witte denn älteren, an den Nr 
Euch gewii gleich erinnern werdet, wenn ich End erzähle, dat 
er der Vater des Mnaben it, der in feinem 13 hie Toctor 
der Phitofopbie wurde und von dem man fo viel Oefchrei in den 
Zeitungen machte. Der Zohn, ein recht Fieber junger Pienich, 
{Dirt hier in Heidelberg die Nechte und promovirt nad) in dielem 
Zemeiter als Doctor juni Er it jest 16 Jahre alt. Ich 
werde ihm, auf feinen Wunfch und die Witte des Waters, wohl 
opponiven; weshalb ich mic jegt feilig im Yateinifch-Iprechen 
übe und mit ihm täglich eine Stunde über das Griminalredht 
disputive, worin ihm fein anderer opponiven will. Meine 
Veranutfhaft mit dem jungen Witte it wirklich auf eine ganz 
mertwärdige Art entitanden. Er bhette namlich meinen Namen 
von einer Prönumerationslite ausgeitrichen. Id ertundigte mid) 
nach dem Thäter, und fiche da, nad) wenigen Stunden evichien 
der junge Witte und bat taufend Mal um Verzeibung, meinen 
Namen ausaeftricben zu haben. „IH babe es aetban, fügte er, 
weil viele ji darüber Kufiig machen, dab; ich mich fchreibe, wie 



































Aus RW. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


ich mid) jchreibe ver chreibt jich Dr), und da alanbte ich denn, 
dal auch Zie eo getban hätten.” „Nun, da hätten Zie fi dod) 
erfundigen Fünnen, od bier wirtlic cin Dilmar it, dem der 
Titel Dr. zubommt,“ war meine Antwort. „Aber co il gut, 
dak Sie 05 mir jelbft gelaat haben; bie Zace möge vergeifen 
jeyn. Nur mu ich es Ahnen offen Tagen, dah ich mich über 
Ihre Intoleranz fer wundere, feinen andern Doctor neben ich 
zu leiden.“ &o floh unfer Gefpräd. Witte beitwebte fd) aber 
jtets, feinen Fehler micder ganz gut zu machen und bradjte «6 
durch feine Snvortommenheit genen mich fo weit, dal ich ihm 
eintd, mich zu beiuchen. Gr thats md mm bin ich im 
eigentlichtten Zinne des Wortes fein trenefler Nathgeber, von 
dem er die härtenten Urteile dankbar aufnimmt. Seinen Neltern 
hat cr jo viel Guten von mir erzählt, daR er den Later 
wahricheintich veranlaht hat, mir folgenden Zettel zu Ichreiben: 
„Da Zie viel Sewogenpeit für meinen Sohn haben, jo wünscht 
meine Gattin mit nie das Vergnügen Ihrer näheren Befanntihaft. 
Haben Sie daher die Güte, heute Nachmittag um 2 Uhr eine 
Tajie Kaffee mit ums zu triuten“ 2 ch ging bin umd num 
muhte ich viel von meiner Anfict mittheilen, wie der Sohn 
fernerhin auoubilden jey. Meine Matbiehläge jund alle an 
genommen, jetbft der, den Zahn nad etwa 112 Jahren nad) 
Huhland zu fehlen. Der Junge mul aus Deutihland weg, cr 
mul bier vergeiien werden; denn jonjt wird er die Erwartungen 
nicht erfüllen, die man fi von ihm macht; obgleich ich glaube, 
da er einit viel fehlten wird, weil er thatig it und viel, \chr 
viel Talent bat“. ) 



































9 Anier Wo. Tümars binterlaftenen Papieren füder fit) eine cine 
Zammlung von Zonetten, Darm erhss Mau Die Anfiariie wg: „Me 
Areude Dr. Woldunae von Tier von Carl Wine“ Tas als Wiomung 





am der Zoiin 





der Zaramlany ichenne Grit „un Ditmar“ huncı 
Behreht im nmoerhohlenem ar 

& hillgen en 
&o hab’ ich Kinyit in 
Denn Kiget schon duniont Tu 


Uno wait wie ws im Yisde gan werte 








Dinafi jarigewobnes Band, 
nd erkannt, 





ir den Ar 





cin Amtes Ihauen. 











Zo üit der Arcand dem Yiede and wor 








ir wandten gern mit beiden Kane in Hand 


Turch dies xedans wegylelvotte Aucn. 





396 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 


Veidelberg, den 6; 





Muquit 1810 a. 





(Der erfte Theil diefes Vriefes beichäftigt Fich mit der Thatjache der 
Verlobung des Freundes Schwark mit der Schweiter Annette, welcher Ditmar 
freubigit zuftimmt. Dann fährt er unter anderem Datum fort:) 

Erft jegt, am 16. Auguit a. St, wird e6 mir, geliebte 
eltern und Gefchwifter, wieder möglid, den am 6. a. Et. 
angefangenen Brief fortzufegen. Ih habe in diefen 10 Tagen 
jo viele Zerftreungen gehabt, — die durd) die Anweienheit der 
liebenswürdigen Dorothea, Herzogin von Curland, herbeigeführt 
wurden. Die edle Clifa hatte mic jchon von der Ankunft diefer 
wahrhaft vortrefflichen Fürjtin durd einen Brief von ihrer Neife 
durch Heidelberg benachrichtigt und mich dringendjt gebeten, diefe 
geliebte Schweiter von ihr während des Mugufts hier abzuwarten, 
um, wie fie mir fchreibt, „eine Vefanntichaft zu machen, bie 
meinem Herzen wohl thun wird.“ — Wufridtig muß id) Euch 
geftehen, dab ih nur diefes Mal den Worten der herjvollen 
geliebten, Himmliicen Elifa nicht traute; denn bei einer Fürflin 
fuchte ich feine jo edle Seele und fein jo zartes Gemüth, als 
die Herzogin, nach Glifens liebem Briefe zu urtheilen, haben 
follte.- Alles Gute und Lobenswerthe, was Elija von ihr jdrieb, 
maaß id) der jdhweiterliden Liebe bei. Aber wie jehr freute ich 
mich, als ih am 7. Muguit a die Herzogin fennen lernte 
und fand, daf es einer Schweiter möglid) geweien war, von der 
Schweiter ohne Parteilicheit zu fchreiben; denn id) befenne es 
Eud) nad der jtrengjten Wahrheit, daß ich nicht leicht ein 
bumaneres, ein fiebenswürdigeres, ein welterfahreneres und ädt 
menfhenfveundlicheres Wejen fennen lernen werde, als die 
erhabene Dorothea von Curland es it. Zürmahr, Ihr könnt es 





Damit fidy mun die beiden Führer Fennen, 
So nimm den aufpruchstofen Liederfrany, 
Wenn mich von Dir des Lebens Stürme trennen. 
© mödhtejt Du am ihnen freude finden; 
Dann wird, auch in der fernen Wogen Tanz, 
Die Trennung von Eu cd) beiden mir emtjdwinden. 

Man erficht aus die erfprechlich, wie wert. dem fon 
früh berühmten Carl 2 (dat W. 0. Timars war. — Die 
Sammlung enthält zwei Sonette an die frtiniiche Madonna, ferner „Borgefühl 
Jtaliens“, „Sonnenuntergang“ u. a. 11. 









Aus W. v. Ditmar’s Reijebriefen. 397 


mir glauben, ic) bin nid)t durch Ihre äuferft gütige Behandlung 
gegen mich beiten, — cher dadurd, dab ich wußte, daß 
Dorothea Elifas zärtlichit geliebte Schweiter it. — Gleich) nahdem 
die Herzogin hier angefommen war, überidictte fie mir einen 
Brief von Elifa, nebjt den neuen Gedichten diefer Sängerin Gottes 
und der Uniterblichteit. Schon die eriten Zeilen diefes langen 
DVriefes, der vom Anfang Dis zum Ende mit recht eigentlich 
mütterficher Liebe niedergeichrieben worden ilt, rührte mid) ganz 
unendlich; denn er bradte mir die Nacıricht von Eliias 
ichmerzhafterm Förperlichen Zuftande, der nur dadurch gemildert 
werde, dal; fie fih) mit dem theuren, innigjt geliebten Sohn ihres 
Herzens — wie fie mir jchreibt — unterhalte. — — Sagt, 
geliebte eltern, jagt, wodurd habe ich diefe Liebe der vor- 
trefflihen Clifa verdient! Nur mit IThränen des allertiefften 
Danfgefühlo fann id) Gott dafür danken; denn id) erkenne es 
far und immer Flarer, daß mir ein folk hohes Glüd nur zu 
Theil wird durd den Seegen meiner eltern. — — „Mit 
Herzlichfeit werden Sie, mein geliebter Sohn, von meiner Schweiter 
umd meiner Jugendfreundin Piattoly, die jet in Heidelberg bleibt, 
empfangen werden, wenn Sie fie befuden“ —- heißt es in Elifas 
Briefe weiter. — Und jo mars, denn als ich gleich nad) der 
Ankunft der edlen Dorotjen am 7. Augujt a. St. zu ihr ging, 
waren die erften Worte der trefflihen Herzogin, die fie zu mir 
fprad), Herzlich und Vertrauen einflöhend. So ofngefähr lauteten 
fie: „Es freut mich jehr, mein lieber Ditmar, Ihre Belanntichaft 
zu machen; meine Schweiter hat mir fo fehr viel Gutes von 
Ihnen gelagt, dah ich mich wahrhaft nach Ihrem Umgange, 
wenngleich er auch mur Kurze Zeit dauern fann, geiehnt habe. 
Id) bleibe 3 Tage Hier und lade Sie für jeden Mittag und 
jeden Abend zu mir ein. Aber geniren mühjen Sie fi durchaus 
garnicht; denn jo wie Sie, jo nenne aud) id) meine Schweiter 
Mama und ich bin aljo gleichham Ihre Schweiter.” — Id) bedanfte 
mid) jehr für diefe Gnade, ein Wort, das die Derzogin nicht 
bejonders gut aufnahm, denn jie jagte mir: „Das Wort Gnade 
dürfen Sie garnicht brauchen; für hren Character, wie ihn mir 
meine Schweiter geidilvert hat, paht fi ein foldes Wort 
durdjaus nicht." - Wer war froher alo ich; aller Gomplimente 

















398 Aus W. v. Ditmar’s Reifebriefen. 


ih denn 3 gemmfreiche, mir 
ft Dieier  fiebensmrdinen 






mırde ich überhoben und To verfe 
unvergehlihe Tage in der Ge 
Fürftin, führte fie am Wen auf den 
mit ihr, in ihren, mit berjonlicen Anfignien geyierten Wanen, 
und, was mich am meilten freute, ic feierte meinen Geburtstag 
bei der geliebten Schweiter der von mir geliebten Elifa. Zpäter 
noch im reife meiner Yandolente und einiger biefigen Arennde, 
won denen Ahr and noch Ciniges in diefem Briefe hören  fotit. 
Sie aaben mir eine verht che Gejel fi, die mich che 
überrafcht und erfreut hat Am 10. Nuguit verlieh die 
edle Herzogin Heidelberg, — ihr hiefiger Aufenthalt hat meinem 
Yeben aber eine ganz andere Nichtung gegeben; Denn dur fie 
bin ih in vielen guten Hünfern, und Durch diele wieder in 
andern befannt gemorden, namentlich bei der intereilanten Ara 
von Ende und Elijens Jugenpfremdin, der Seheimrätbin Biattoly, 
von der id) wie bei dev Nele aufgenommen werde.  hrehvegen 
schließe ich denn auch für heute Diefen Brief, denn fie hat mic 
joeben zu fi bitten lavieı. Eine huge Eharafteriftit von ihr 
erhaltet hr, wenn ich fie ct aenamer als jest fennen gelernt 
haben werde. xür fie ipricht beinders das, dah Elfe und die 
Herzogin fie jeit 30 Jahren mit jeden Jahre immer mehr lieben 
und hocachten müfen. 

Kachdem ich num den geftrigen Abend fo intereffant zugebradt 
babe, als fange teinen, Tepe ich, geliebte Aeltern, heute meinen 





usiergängen umber, fuhr 














id 





























Brief an Euch wieder fort. Tie Fiattoly Wr cin vortreifliches 
ejen, fein wie eine Hofoame, aber arade und aufrichtig. 


Sie erzählte mir jehr viel Merhoürdiges von der Herzogin, 
wodurch ich dieje höchft edle Aürftin immer mehr babe hodidhäten, 
ja, ich fann wohl fangen, vereheen fernen. Auch theitte fie mir 
einen Brief von Elifa ud Tiedge mit, den fie an dem gejtrigen 
Tage erhalten hatte und in dem ich wieder jchr aebsten werde, 
diefen Winter bei Ctija auf dem Yandaute der SHerzogin von 
Curland, Yöbihan genannt, zuzubringen. Yeiver erlaubt eo mir 
aber mein Studienplan nicht, Dieje gütige liebevolle Einladung 
anzunehmen, -—- wie glüdlib würde ih mich bei meiner Manın 
fühlen! No mh ich Euch, che ich meinen Abjenitt über 
Elija und die Harzogin Ichliehe, eine Stelle aus dem vorlegten 





Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 399 


Briefe der eriteren an mich heriesen, die politifches Intereffe hat. 
Sie heißt wörtlich fo: „Peine Schweiter, die einen Iharfen Blit 
hat, machte uns mit der gegenwärtigen Volfoftinmmung in Frankreich 
(die Herzogin wohnt in Pario) bekannter, alo die Zeitungen es 
vermögen, und die Unfichten, welche diefe treiflihe rau mir und 
Tiedge gab, nähren in uns bie Hoffnung, dah troß der in 
ronfreich berrfchenden Partbeien, die Edferen dort dad e 
Gonftitntion bewirken werden, die Voltoglüc begründet, und wi 
uns, wenn England nicht Nriege anf dem jeiten Yande anzettelt, 
um dich bie Derrichaft über die Meere feine Macht inmmer mehr 
zu vergrößern, wir uno eines fangen Friedens zu erfreuen haben 
werden.”  Dieje Yenberung einer Stau, die in fo großen 
Gonnectionen in Aranfreich jetbft Lebt, die die Schwiegermutter 
Tatteyrands it, it wirklich ich erfreufich und füft wenigitens 
bei mir große Hoffnungen jür die Jufunft in Anfehung des 
allgemeinen Volfsgtüds aufteimen.  Belonders wenn ich nad) 
das berüchichtige, was mir die Herzogin Felbft hier in Veidelberg 
sagte. Sie verfiberte nämlich, dah, wenn Napoleon je wieder 
nach frantreich fäme, 09 ibm geben würde, wie Murat in alten. 
Denn nad der Schlacht von BeBe allianee fen der Enthuliasmus, 
den man für ihn gehabt habe, durdano ganz aelhmwunden, 
weil man es deutlich gejehen habe, daß er gegen das Ende der 
Schlacht nur noch immer Truppen in Ddiejelbe geichidt habe, um 
bloß feine Perion zu reiten.  Diefe niedrige Sandlungsweiie hat 
das Volf jo jehr gegen ibn erbittert, dal man in ganz Paris 
gleich nah der Schlacht überall Anichläge mit der Anichrift 
gefunden hat: „Art mit dem Torannen!* — ur Strafe für 
diefe Neuerungen bat ev Paris wollen anzünden laffen; aber co 



































hat ihm an Zeit gebvohen, Diefen lan auszuführen. Ja wahrlich, 
ich glaube, dal die Sonne nicht leicht eine jcheußlichere Greatur 
bejcienen Hat, als dielen Napoleon! 

Sollte ib End mm nor) mando von  intereffanten 
Vefanntichaften ichreiben, die ich bier gemacht habe, jo würde 
ich diefes Mal meinen Brief garnicht Ächliehen fonnen. Denn 
außer den vielen Abendbeinben, die ich bejonders bei Vol, 
Thibant, Zahariae, Ara v. Ende und einigen andern zu madıen 
babe, bin ic jebt noch befamut geworden bei der Hafräthin 


400 





. dv. Ditmar’s Neifebriefen. 





Dapping, der Hofräthin Zedel, der elegiic-Flagenden Dichterin 
Elife Sommer — md bei dem alten höchit verchrungswürdigen 
Hofrathd Arndt, nicht dem berühmten, fondern dem gewelenen 
geheimen Gabinettojeeretüren der Naiferin Catharina, der Dir, 
lieber Vater, wenigitens als der Weberjeger der Adels: und 
Stadtordnung befannt jeyn wird. Er ijt ein hödjit lebens: 
würdiger Greis von einigen 80 Nahren. — Bei der Elife Sommer, 
die auch mehrere höchjit geiitreidhe Ninder hat, Habe id) geitern 
einen fehr genufreihen Abend verlebt in einer fleinen aus: 
erwählten GSefellichaft. VBejonders freute ich mich, mit dem vors 
trefffichen Niecenrath Schwarz näher befannt zu werden, den 
Eud) Heine. Bergmann, der nun wohl in Yivland fen wird, 
ichitdern mag. Aud) bei diefem biedern Geis, jowie auch bei 
dem hier angebeteten Prediger Abegg bin ich im Haufe befannt. 
- Ih fagte Euch, dafs ich geitern bei der Elife Sommer geweien 
bin, — das ift ganz wahr, denn wir jchreiben heute jhon den 
18. Augujt a. St. Oft gebt es mir fo, dab ic aus Gonfujion 
das Datum zu fchreiben verfäume; denn ich bin mit Geichäften 
überhäuft und fajt jeden Abend — eingeladen. So Habe ich zu 
Heute Abend hen zwei Cinfadumgen erhalten, die eine zum 
Prof. Wagemann und die andere zu Tibaut, -- die dritte in 
eine fleine Gefellfchaft zu einem meiner hiefigen Freunde, einem 
gewiffen Franz Burchard Fauth. Diefer Zanth, fowie auch noch 
ein gewiffer Stud. Abegg, der Bruderjohn des hiefigen Predigers, 
tragen nächjt meinen Yandoleuten Vienenjtanım, Schmölling und 
Straus ganz ungemein viel zur Verfchönerung meines Lebens bei. 
Alle lieben mich jehr und ich muß fie wieder fieben, denn eo find 
le Jungen. Gang befonders hat mir aber der fiebe brave 
Fautd din eine höchft edle Handlung gegen Hartung — und 
dincd) feine Liebe zu mir mein Herz geranbt, — dafür ichenkt er 
mir aber auch das feinige ganz wieder. Er ijt ein Schwärmer 
in feiner Yiebe zu mir. Cs geht jo weit, dah er mid) neulich 
fchriftlich bat, ich möchte eo ihm doch erlauben, dal; er fich Fauth, 
genannt Ditmar, schreiben dürfte und dah ich ihn als meinen 
Sohn adoptiven möchte, weil er dad) feine Aeltern habe und 
feinen jo innig lieben fönne, alo mid, Er will durdans mit 
mir nad) Hufland und nennt mich jegt immer „alter Vater 














Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 401 


Ditmar.* -— Ich werde Euch fein Bild fhiden. Cr bejucht mid) 
täglich, und wenn auch nur auf einen Agenbli, ud in dielem 
hut ex oft nicht mehr, als mir einen guten Morgen zu bieten 
und mir herzlich auf die Schulter zu fchlagen. Cs üit ein engel» 
reiner, vortrefilicher Menfch. Grühet ihn und alle meine andern 
genannten Freunde, mamentlid; in Eurem näcjten Briefe an 
mich. Auch wünfchte id) es iehr, af Tu, geliebter Vater, und 
Dur, there Vutter, einige freundliche Zeilen an Elia und Ticdge, 
in einem Briefe zufammen, fdheftet, in dem Ahr ihr für die 
Mutterlicbe, die fie mir — auch jegt abweiend erweilt, banft. 


a 


Herbitfäden. 


Das Herz fo fcnwer und bie Yruft jo weit, 
&o fern das Glüc und To nah das 
Und ver Schnfuiht troittoie Aragen 
Die Verge blanen {ws Yand hinein, 
Kühl weht der Wind und ich gehe allein 
Und lanjche den Heimlichen Aogen. 








Die zeirtofe blüht am Wiclenhang, 
Der Sommer verglädt, -- die Strafe entlang 
Viel filberne Füden wandern. 
Vom Yaume Löjt fh cin müs Blatt, 
€s fintt zur Erde herab jo malt, 
nd Iegt fich fill zu den andern. 





&o Har der Vi und das Glüd jo weit, 
Meiner Jugend Traun, meines Lebens Leid 
Verdämmern in blanender Ferne. 

Auf die Lorten braun fiel herbtlicher Neif, 
Es biinfen durch filberner Aäden Streif 
Dos Alters erblafjende Sterne. 


























Kitteräriihe Streilihter. 


Ton der trefflichen Bibliothek deuticher Geidhichte liegt uns 
ein neuer Band vor, dev zweite Theil von Mori; Nitters 
deuticher Geihichte im Zeitalter ber Gegen: 
veformation und des dreißigjährigen Nrieges,*) 
welcher die Periode von 1586 bis 1618 umf 66 ift einer 
verworrenften md  amerguiclichften Abfchnitte deuticher 
Vergangenheit, welchen Nitters Daritellung uns bier vorführt, 
und 5 gehört eine nicht geringe Vertrautheit mit dem Stoffe 
dag, am Licht amd Zufammenhang in dieies Chaos fich 
befämpfender Beftrebungen, geheimer Intriguen, politiicher Kämpfe 
und Firchlicher Gegenfäge zu bringen. M. Nitter, einem der 
genauejten Nenner diefer , it das in hohem Mahe 
gelungen, er hat den jpröden Stoff völlig durchgearbeitet und 
überfichtlich aruppirt, und giebt uno in lebendiger Darftellung ein 
anichanfiches Bild der Ereignifie und Kämpfe jener Zeit. Aber 
auch für den Silteriter von ach bietet diefer Band mandje 
Ergänzungen und Vereicherungen der bioherigen Nenntnif, denn 
der Verfafer hat nicht nur die gedrudte Yiteratur benugt, jondern 
au zahlreiches archivaliiches Vinterial verwertget. Wir Heutigen, 
die wir den weiteren Gang der Dinge fennen, haben beim Leien 
diejes Buches immer wieder das Gefühl einer dumpfen Echwüle, 
eines Herannahenden furchtbaren Unbeilo, «6 ift uns immer 
























uttgart, Verlag der I. ©. Cottafchen Buchhandhu 





a Nachfolger. GM. 


Lilteräriiche Streiflichter. 403 


wieder fo, als empfänden wir die unaufhaltiam näher rücenden 
en des Dreißigjährigen Mrieges jchon voraus. Die Zeit: 
hatten natürlich dieies Gefühl nicht, doch fehlte es 
namentlic) in den festen Jahren vor dem Ausbruch des furdtbaren 
Strieges, nicht an vereinzelten Stimmen, welde das drohende 
Undeil ahnten. Ein befonderes VBerdienft Nitters it es, den 
engen Zufommenhang der damaligen Greigniije in Deutichland 
mit den  politiihen Verhältniffen Wejteuropas, inobejondere 
Spaniens ımd Franfreichs, in helles Licht geftellt zu haben. In 
der Beurteilung der handelnden Perjonen und Verhältniffe zeigt 
fi der Verfaifer gerecht und unparteiiich, aber in farbloje 
bjektivität verfällt er trogdem nicht; des Pfälzers Johann 
Rafimir, des Vorfänpfers des Proteftantismus, moraliichen 
Charakter beurtheift er febr ftrenge, während er des NHurfürjten 
Varimilians 1. von Yaiern hervorragende Gigenichaften voll: 
fommen würdigt. Cin Wufter Lichtvoller Behandlung fchrwieriger 
Fragen ijt Ritters Darftellung des Nülichichen Erbfolgeitreites, 
fehr befchrend die allmäbliche Entjtehung der Union und der Liga 
dargelegt. lan empfängt bei der Lektüre immer wieder und 
am ftärhiten, jemehr fie fih dem Schluß nähert, den nieder: 
ihlagenden Eindrud von der grofjen Weberlegenheit der damaligen 
fatholijchen Partei, befonders feitdem Marimilian I. von Baiern 
an ihrer Spise jteht; einig, feitgefchlofien, zielbewuht dringt fie 
maufhaltam vor, während der Proteitantisimus, uneinig, in Tich, 
geipalten, durch die Veichränftheit und Giferfucht feiner füritliden 
Führer und den Eigenfinn feiner Theologen gelähmt, es immer 
wieder an dem nöthigen Wideritande fehlen läft, geidhweige denn, 
daß er jeinerfeits die Tffenfive ergriffe. tters Bud), insbefondere 
dieier Theil, ih in der gegenwärtigen Zeit bejonders Lehrreich für 
Deutichland; umwillfürlid) drängen fih einem beim Lejen nahe 
liegende Paratellen aus unferen Tagen auf. Wieder jteht die 
Tatholijche Gentrumspartei dominirend da und beeinflußt die 
innere Politif des Neiches und wieder ijt der Proteftantismus 
firdhlic und politiich uneinig, zeripalten, voll inneren Habers, 
und daher ohmmächtig. Sönnte man nicht endlich einmal ciwas 
aus der Gejchhichte lernen! In einem Schlußbande will Ritter 
den jährigen Nrieg behandeln. Wir fürdten, das wird 


























[ 


4304 Litteräriihe Streiflichter. 


ohne den gewaltigen Stoff gar zu fehr zuiammenzudrängen, Faum 
möglich jein, und hoffen, da der Verfaffer fih lieber entihlichen 
werde nöthigenfallo noch zwei Bände zu liefern, um den Gegenftand 
in der bioperigen trefilichen Weife zu behandeln. 

Einen eigenthünichen Verfuch, den Yaien und angehenden 
Kiftorifer unmittelbar in die Nenntni der Geihichtoquellen des 
deutichen Mittelalters einzuführen bat Wilhelm Gundlad 
in einem Werfe gemacht, das den etwas langathmigen Titel 
führt: Heldenlieder der deutihen Naiferzeit aus 
dem Lateiniihen überiegt, am zeitgenöffiihen 
Berichten erläutert und eingeleitet durdy Weberjichten über 
die Entwidelung der deutichen Seichichteicreibung im N, N. 
und XI. Jahrhundert, zur Ergänzung der deutichen Yiteratur- 
geihichte und zur Einführung in die Gefcichtswifienihaft. is 
jet find zwei Vände *) diefes Wertes erichienen, von denen der 
erfte Krotsvitdas OttoLied enthält, während der zweite den Zang 
vom Zadjienfriege bringt; ein dritter, deifen Anhalt die 
von Mailands Eroberung dur Kriedric Varbarojja bilde 
jtcht nad) aus. Gundlach gebt von der ganz richtigen Voraus 
jegung aus, daß nichts jo ummittelbar und jo lebendig in die 
Anfhamıngen und die geiltige Almoiphäre vergangener geiten 
einführt als die Berichte der Zeitgenofien. Am find ja allerdingo 
von allen bedentenderen Gejchichtsichreibern des deutichen Wittel: 
alters Ueberjegungen vorbanden, aber fie jümmtlic der Neibe 
nach durchzulefen it für den Seihichtöfreund eine jehwere Aufgabe 
und das Wichtigite über einen Zeitraum aus ihm fich zuenmen 
sufuchen erfordert fchen eine Art Studium. Gundlach verfährt 
num jo, dah er ein hifteriiches Gedicht aus der jüchftichen wie 
der fränfiichen Naijerzeit zum Mittelpunkt madıt, co überjegt und 
mit den nöthigen Erläuterungen über den Verfaffer begleitet und 
dem Ganzen dann Auszüge aus anderen gleichzeitigen Geihichts 
quellen vorausjcict und nachfolgen läht. Seinen Zwed „eine 
literar: und fulturgeicichtlihe Ueberficht der Geichichtsquellen der 
deutjchen Matlerzeit“ zu geben erreicht er auf diefe Weile wirklich 























*) Zunsbrud, Lerlag der Wagnerichen Univerfitärsbuchhandtung. Band 1. 
TOM, Band ILS. M. 10 Wi. 


Litterärifche Stveiflichter. 405 


und fein Werk ift in der That eine Einführung in das Studium 
der Gejchichte nicht nur für den angehenden Hiitorifer, fondern 
auch für jeden Gebitdeten. Svotsvithe, die berühmte Nonne von 
GSaudersheim, war für Gundlahs Zweit eine befonders geeignete 
Perjönlichkeit; er hat ihr Gedicht von den Thaten Ottos des 
Großen ebenjo wie das Epos vom Zaclentriege im zweiten 
Bande nicht in den Herametern des Triginals, fondern in fieben- 
fühigen Jamben, die dem neuen Nibelungenverfe nabe tommen, 
wiedergegeben. Ueberfegung lieit id) im Ganzen gut, 
manchmat ift fie etwas Wocen, mitunter etwas |chwerfällig; doc) 
darf man nicht vergejen, dal and die Originale ji durd) 
Schwung und dichteriichen Flug der Phantafie durchaus nicht aus: 
zeichnen. Kür den zweiten Band war die Einheit fchverer zu 
finden, da darin Die Regierungen stonrads I1., Heinriche IH. 
und bejonders Heinricho IV. behandelt werden, auch war hier die 
Auswahl des Wejentlichen aus den Quellen zur Erläuterung 
ichwieriger. Doc giebt Gundlach auch bier in der Einleitung 
uud in den Erläuterungen zum Zang vom Zadhienfriege alles 
zur Einführung in die Seidichtolitteratur der Zeit Erforderliche 
und zum VBerjiändnih des Gedichtes Nothwendige in hinfänglicher 
Weile.  Gefhichtsfreunde, welche Giefebrechto Gedichte der 


























deutichen Naiferzeit Fennen, werden fi gern durch) Gundlachs 
Bud mit den Dauptquellen, auf die jenes befiebte Wert fic) 
wozu wünjchen wäre, da; 





jtügt, bekannt machen lajien. 
Gundlad fi der Polemif gegen andere Hifteriter und mander 
iehe fubjeftiven Neuerung gegen  bejtimmte Perfonen mehr 
enthielte; man fann zugeben, da er nicht jelten berechtigte 
Abwehr übt, aber in cin Buch, wie Ddiefes, das jid an den 
weiteren Mreis der Sebifdeten wendet, gehören joldhe Auseinander 
jegungen feinesfalls. m Uebrigen wünjchen wir Gunblacds 
Bud) viele Verbreitung, 05 fann eine ernjte VBelhäftigung mit 
der Gejchichte mm fürdern; boffentlich Aäßt der Schlußband nicht 
allzulange auf id) warten. 

Pit einem Gefühle tiefer Wehmuth nimmt man ein Buch 
in die Hand, das unlänait erichienen if: Heinrich von 
Treitihfes Neden im deutihen Neihstage 1571 
1584. Mit Einleitung und Erläuterungen herausgegeben von 














406 Litterärifche Streiflichter. 





Dr. Otto Mittelftädt.*) Es erwedt von Nenem die Ihmerzliche 
Trauer über das allzu infcheiden des umerjeglichen Diannco, 
deifen Verfuft gerade in diefer Jeit die Deutichen nicht genug 
beklagen fünnen. Aus diefen Neden tritt uns die außerordentliche 
jonlichfeit Treitichtes aufs lebendigite entgegen und viele 
ältere Yejer werden fid) noch deutlich des Eindruds erinnern, den 
nicht wenige der hier vereinigten Reden einft gemacht haben. 
Pan fann es dem Herausgeber, der vor Jahren aud) ein badı 
geihäster Mitarbeiter der „Walt. Mtonatsichrift“ geweien ii, 
nur Danf willen, daß er diefe Perlen edler parlamentariicher 
Veredjamfeit aus dem Zande der jtenographiichen Reichstags 
berichte Herausgeiucht und vor unverdienter Vergeiienheit bewahrt 
bat. Viele Gedanfen drängen fi einem beim Velen diefes 
parlamentariihen Vermächtnifies eines der hochfinnigiten umd 
fraftvolljten Geifter auf, die Deutihland je gehabt hat. Wie 
haben fi die Zeiten gewandelt, feit Treitfcle im eriten Heide 
tage nad dem aroien Nriege zum erjten Winl das Wort er 
wie vieles, was nachher gekommen, hat er mit prophetiichen 
Vlit voransgeiehen, aber wie manche Erwartungen und Hoffnungen, 
die er hegte, find unerfüllt geblieben! Wo wäre in dem heutigen 
Neichstage Raum fi en Diann wie Treitjchte, für die feurige 
Kraft nationalen Empfindens und Denfens, die ihn erfüllte? Er 
hielt fi als Neichstagsabgeordneter zu den Nationalliberaten, 
aber ein eigentlider Parteimanır it er nie geweien und er jtand 
in vielen Dingen den Nonjervativen weit näher als dem linfen 
Flügel der nationalliberafen Partei. Fraktion: und Partei 
intereifen galten Treitichfe nichts, wenn 05 fi um das hödjite 
‚Interefie handelte, das es für ihn gab: das Vaterland, das er 
mit der ganzen Kraft jeiner ftolzen und reichen Zeele liebte. 
Das englifhe Wort, das der Herausgeber feiner Cinleitung 
vorgefegt hat: Right or wrong-my country für den Ausdrud 
von Treitichtes Yaterlandslicbe wie geprägt. In ihm war der 
alte deuifche Ndenlismus nad) einmal, zum legten Mal für 
fange, wie es jcheint, in feiner ganzen Fülle und feinem votlen 
lange verförpert, mit dem Flariten und freieiten Denfen verband 



































Verlag von S. Dirzel. 2.M. 40 Pi. 





Litteräriiche Streiflichter. 107 


fich in dem feltenen Mann ein jugendfriicher, hoffnungsfreudiger 
Optimismus. Cine geborene Nänpfernatur ichonte er 
zahlreichen Widerfadder nicht und Ipradı jters rüdhaltlos feine 
Meberzeugung aus, frei von jeder Menichenfurdt und Mienichen 
gefälligfeit; ev Hat das offen und unumwunden, wenn &8 ihm iu 
Intereife des Yaterlandes geboten jchien, and da gethan, wo er 
dadurd feine Popularität Ichwer Ichädigen mußte, das Äte 
Opfer wohl, das ein Wolitifer zu bringen vermag. Aber bei 
aller Streitbarfeit und Nampfesluft bejah Treitichfe doc eine 
unverwütlihe Heiterfeit des Gemüthes, echte Yiebenswürdigfeit 
und einen wundervollen Sumor. Ja er war eine echte Ziegfried- 
natur, jtarf und heldenhaft und Findfich und milde zugleich, eine 
jener Naturen, wie fie das beutjche Volk von jeher am meilten 
geliebt hat. Man hat feinen biftoriichen und politiichen Anflägen, 
wie aud feiner deutichen Geibichte oft vorgeworfen, 09 herriche 
in ihnen ein gefteigertes Pathos jo ftarf vor, dal co zulet 
ermüde. Mag dieie Ausftellung auch für manche feiner Aufiä 
aus jüngeren Jahren nicht unbegründet fein, im Ganzen it fie 
mm wenig berechtigt. Dah eine leidenfchaftlice, von Yiebe und 
Abneigung bewegte ftarfe Seele in der Darfiellung einen höheren 
Flug nimmt als ein ruhiger, Fühler Erzähler ift jelbftverftändlicdh. 
Der geiteigerte Schwung der Darftellung wide aber nur dann 
zum Fehler, wenn alles ohne Unterihied im gleichen Tone 
behandelt würde; das it jedod) bei Treitichfe nur vereinzelt und 
ausmahmsweife der Fall. Grade in den bier aefammelt vor 
liegenden Neden, wo man es dod am eheiten erwarten joltte und 
«5 ganz an feinem Maß wäre, fommt das jo oft alo Treitichtes 
Ächriftitelleriiche Eigenart charakterifirend bezeichnete Pathos nur 
felten zur Erideinung. Die Neden find immer Ear und 
durchdacht, aber meift einfach und ohne großen Umfang; nur 
jelten, wo es der Gegenftand mit fi bringt, erheben fie jih zu 
höherem Schwunge. Feine Jronie und charfen Sarfasmus wendet 
der Redner oft bei der Bekämpfung der Gegner an und in der 
Gliederung und Gruppirung der Sedanten zeigt er Nidh als 
geübter und gewandter Dialektiter. Als wahrer Nenner des 
Stils umd Meifter der Nede Ipricht Treitichte oft Ichmuedtos und 
einfad), dis ihn der Gegenjtand fortreißt: auch wo cr zum 





























408 Yitteräriiche Streiflihter. 


Verftande fpricht, verleugnet fich fein Gemüth nicht. Die lebendige 
raft der Uleberzengung giebt allem, was er jagt, ein beionderes 
Gewicht, die Tiefe der Gedanfen, die Originalität der Auffaifung, 





die überall hervorbredyende leidenjchaftliche Vaterlandsliebe maden 
jeine NHeden jtets angiehend und ergreifen den Yeler mie früher 
den Hörer. Worüber Treitichfe auc jprehen mag, über die 
Vereinigung von Eljaß-Lothringen mit dem deutjchen Reiche, über 
den Arnimparagraphen oder über Getreidezölle, über das Tabafs- 
monopol oder über die Verlängerung des Sozialijtengejeges, über 
das Fonjtitutionelle Nönigthum oder das Militärgejeg — er feflelt 
ftets und ift immer gang Treitjchfe. In der Einfeitung macht 
Diitteljtädt, der Treitichte perjönlid) nahe gejtanden, einige Turze, 
aber fehr intereffante Mittheilungen über die Stimmung des 
großen fers und Politifers in den legten jede Jahren; 
fetbjt diefer Hoffnungsvolle Optimift hat fid) darnach peflimiftifcher 
Anwandlungen nicht erwehren fünnen. Mögen alle die vielen, 
denen Treitichte hitoriicher Lehrer und politiiher Führer geweien 
it und mod it, aud) dieje Neden des großen Jnterpreten der 
innerften GSedanfen und Stimmungen des deutichen Volkes, 
aufmerfam lejen, in fh aufnehmen und beherzigen. 

Einer der igiten Mitarbeiter der „Örenzboten” G. 
Jentich hat unlängjt feine Yebenserinnerungen unter dem Titel 
„Wandlungen“*) veröffentlicht. waren größtentheils fchon 
in den Grenzboten veröffentlicht unter der weit bezeidhnenderen 
Auficrift: „Wandlungen deo Jchs im geitenjtrome*, baben aber 
in der vorliegenden Buchausgabe mandertei Ergänzungen und 
Erweiterungen erfahren.  Jener weitere Titel war deshalb 
tichtiger, weil in dem Buche nicht von mannigfachen, ungewöhnlichen 
Wechielfällen des Äußeren Lebens berichtet wird, jondern die 
inneren Ummandlungen eines fathofiichen PBriejters zur Daritellung 
gelangen. Aeuherlih it Jentihs Leben nicht anders verfaufen 
als das vieler Taufende: eine im Ganzen harte Jugend, Sorgen 
um feine und der einigen Criftenz, endlich ein beicheidener, 
mähigen Anjprücen an das Leben genügender Beruf, mit 
geringem, aber dod) genügendem Ginfommen; diefen aufzugeben 










































*) Keipgig, Fr. Wil, Grow. 4 M. 


Litterärifche Streiflichter. 100 


möthigt ihm zulegt fein Proteft gegen das vatifaniihe Konzil 
und der Konfliit mit feiner Kirche. Was dem Bude Interejie 
verleißt, ift die Anihaulichfeit der Schilderungen und die pindhologüiche 
Entwidelung der Wandlungen in den veligiöfen und geiftigen 
Anfhauungen des Verfaffers. Die Darftellung feiner Nindheit, 
des Lebens im elterlichen Haufe in dem ichlefihen Gebirge 
Htädtchen Yandeshut muthet uns wie ein Jdpll an, aud von den 
Schuljahren in Glag giebt Jentih einen jehr anziehenden Bericht, 
er darafterifirt die Lehrer vortrefflih und läßt uns in die 
geiftigen Bejtrebungen und nterejjen der fatholiichen Jugend 
damaliger Zeit hineinfhauen. Won noch allgemeinerem uterefie 
üt die Erzählung von Jentichs Univerfitätszeit und feinem Aufenthalt 
im  geiftlichen Alumnat: er bietet bier eine Neihe lebendig 
gezeidmeter Bilder damals vielgenannter Univerfitätsprofefforen 
und Sirchenmänner, auch Förfter, der jpätere Fürjtbiichef von 
Breslau, wird eingehend charakterifirt. Das Kapitel, welches des 
Verfaifero Aufenthalt als Naplan in veridiebenen Pfarchäujern 
behandelt, Läht ums einen tiefen Einblid in das Leben und 
Treiben der tatholiichen Yandgeiftlichen thun; was wir da 
erfahren, ift jehr Iehrreich, wenn aud) zum Theil wenig exbaulic. 
Ob es heutzutage wohl anders fein mag? Cb es an anderen 
Orten bejjer gewejen jein mag also in Schlefien? Wohl kaum. 
Unwillfürlich drängt fi nach der Vektüre dieleo Abjchnittes uns 
die Betrachtung auf, dah das Durdichnittsniveau des evangeliichen 
‘Barrhaufeo doc) etwas höher it als das der fatholifchen, wie 
fie Hier geihhildert werden. Auch die Erzählung von der allmählichen 
religiöjen Wandlung des Verfaifers und feinem fortichreitenden 
inneren Zerfall mit der Kirche, feinem Proteft gegen die beabfichtigte 
Proflamirung der Unfehlbarteit deo Papiteo und die ji daraus 
für ihm ergebenden Schwierigkeiten und Bebrängniffe lieit man 
mit Jutereife. Aber Jentihs Mangel an Stonjequenz und 
feine Schwäche, die ihn zu einem halben Widerruf beitimmt, 
beeinträchtigen die Sympathie des Yejers für jein Geihid; in 
des Mutors Natur liegt eben nichts Heldenhaftes. Nachdem er 
dann in abgelegener Waldgegend eine zeit lang der Nuhe sich 
erjreut, ficht er fi dann doc veranlagt, feine Weberzeugung 
auszuipreden und verfällt nun der Erfommunifation und Abjegung, 






















+10 Litteräriiche Streiflichter. 


worauf er fi den Altfatholiten anfchlieht. Damit ichlieht das 
Buch, dem vielleicht Ipäter einmal eine Fortfegung folgen wird. 
Wie man fieht, jtedt in dem Buche ein gutes Stüd Nultur- 
geihichte und verleiht ihm bleibenden Werth. Der Verfahler zeigt, 
wie in feinen früheren jo auch in diefer feiner neuejten Schrift 
Hares und geiundes Urtheit, Undefangenheit der Auffalung, einen 
durch Parteitendenzen ungetrübten Bid, er fpricht feine Meinung 
ohme Nücficht auf herridende Zeit: und Modeanfichten aus, er üt 
ein Vertreter des gefunden Dienichenverftandes im bejten Sinne 
des Wortes. Seine Darjtellung bewegt fid) oft in behaglider 
Vreite umd co fehlt darin nicht an mancherlei Grkurien, jo in 
Bezug auf die moderne Ueberbürdungsfrage der Jugend, über die 
Jentich jehr vernünftig uetheilt, über die viel angegriffene Kafuitit 
der Selniten, die er mit bemerfenswerthen Gründen in Schuß 
nimmt u. M. Der Verfajfer ift eine durchaus nüchterne Natur, 
ganz überwiegend Leritandesmenfch, alles Wnftifhe geht ihm ab, 
er hat dafür weder Sinn noch Verftändniß; daher endet er, der 
als glaubenseifriger Natholif in der Jugend begonnen als allem 
Sirchlichen gleichgiftig gegenüberjtehender Nationalüit. Man nimmt 
bei Jentjc) diefelbe Eriheinung wahr, die fi jo oft bei Katholifen 
und fatholifchen Prieftern beobachten läht: indem fie mii ihrer 
sürche zerfallen und fid von deren Dogmen abwenden, geben jie 
aud) den Glauben an die Wahrheit des Evangeliums auf und 
verfallen einem vagen Deismus. Wenn wir jo aud) das End- 
refultat der religiöfen Wandlungen in Jentichs Leben bedauern 
müflen wir wollen übrigens hoffen, dal; fie damit nod nicht 
ihren legten Abjchluß erreicht haben jo hindert uns das doch 
nicht das inhaltreihe Bud) allen Freunden ernjter Lektüre 
angelegentlich zu empfehlen. 

Wir haben schon ein paar Mal einzelne Theile der von 
A. Vettelheim unter dem Titel „Seiiteshelden" heraus 
gegebenen trefflichen Sammlung von Biographien hervorragender 
Männer aller Zeiten und Wölter beiprohen. Gegenwärtig liegen 
uns drei neue Bände vor. Dante von Zcartazzini*) üt 
ein sehr empfehlenswerthes Buch. In einem Bändchen von 

















*) Berlin, Ernft Hofmann. 2 D. 10 M. 


Litteräriiche Streiflichter. 4 


mähigem Umfang giebt der Verfafer, einer der genaneften Kenner 
Dantes und der gefammten Danteliteratur, eine fritiich geficherte 
Darjtellung von Dantes Leben und Dichten, jowie eine bei aller 
Münze zur Cinführung für den Yaien fehr geeignete Weberficht 
über Inhalt und Bedeutung der göttlichen Komödie. Nır bei 
vollfonmener Beherrihung des reihen Stoffes war es möglich 
alles Wilienswerthe über Dante und feine Dichtungen in jo engem 
Naume zufammenzudrängen. Den Schluß des Buches bildet eine 
Vibliographie, die denjenigen, der fich eingehender mit dem großen 
Dichter beichäftigen will, über die neuere Danteliteratur in 
vorzüglicher Weile zu orientiven geeignet it. Scatagini’s Bud) 
gehört zu dem Velten, was bisher in der Sammlung „Geijtes- 
beiden“ erichienen ült. 

Zwei grofie Männer der Wiienichaft behandelt ein anderes 
Vändchen der Sammlung, in dem Siegmund Günther das 
Leben ımd die Verbienfie Neplers und Salileio*) darftellt. 
Die hier zu Löjende Mufgabe war mod) jchwieriger als bei Dante, 
indem es darauf anfam außer der Biographie auch eine gedrängte 
Zufommenfafiung der wiienichaftlichen Ipätigleit der beiden 
Forfcher und eine Darlegung ihrer Stellung und Bedeutung in 
der Sefcjichte der Willenfchaft zu geben, die alles Wefentliche 
hervorheben und doch allgemein verftändlich fein jollte. Nur ein 
jo gründlicher Nenner feiner Wilfenichaft wie S. Günther vermochte 
es die jhwierige Aufgabe jo zu löfen, wie «5 in diem Buche 
geichehen. Ueber den fachwiiienichaftlichen Theil jteht uns fein 
Urtheil zu, aber aud der Laie hat beim Yeien der betreffenden 
Abjhnitte den Eindrud, da bier alles, worauf es anfommt, 
gelagt ift umd zwar in der flarften verftändfichjten Form. Colde 
Vücjer wie diejes md mande andere der legten Jahre liefern 
den erfreufichen Yeweis, daß jegt auch in Deutihland die 
Gelehrten zu lernen anfangen, über wilfenihaftliche Dinge 
gründlich und geihmadvoll und allgemein verfländficd zugleich zu 
fhreiben, eine Munft, in dev die Franzojen jchon jeit mehr als 
einem Jahrhundert nadahmenswertbe Vorbilder find. Günther’ 
anfepaulicer Schilderung des Yebensganges und der grolien 




































*) Berlin, Eruft Hofmann. 2 M. 40 Bi. 


+12 ichter. 








Geiftesarbeit des deutichen Ajtronomen und Nathematifers, wie 
des größten italieniichen Natwrforjchers wird jeder, der für 
bewundernowürdige willenfchaftliche Ihaten irgend Zinn bat, 
mögen die bier in Betracht fommenden Hebiete ihm aucd nod) 
jo fern liegen, mit Iebhafter Theilnahme folgen. Man freut fich 
von Günther zu hören, da Kepler nicht, wie die allgemein 
verbreitete Meinung it, der Macjtner in einem Eprigramm jo 
trefflichen Ausdruc gegeben, in Hunger und Elend untergegangen 
üt, Tondern in leiblichen Wohlitande fein Leben beichlofen hat: 
schwer genug it co im Ganzen doc gewelen. Aus der Darftellung 
von Galileis Yeben jei befonders Die Behandlung des traurigen 
Inquifitionsprogefies hervorgehoben. Der Verfaffer bat da nicht 
nur die gefammte Diefen Punlı behandelnde Yiteratur der lebten 
Jahrzehnte benußt, er niebt in diefem Abjchnitt auch ein Mufter 
lichtvoller, unbefangener, alle Umftände ruhig abwägender Dar- 
ftellung. Das berühmte Wort: „e pur si muover, „und jie 
bewegt sich Doc” hat Walilei nad feiner Abihwörmg nicht 
geiproden, co it apofryph und fommt zuerjt im Wuc eineo 
deutichen Schriftitellers vom Jahre 1774 vor. Am Schluß des 
Vandes finden fih zahlreiche Anmerkungen, die aud weitere 
werthvolle Nacweifungen enthalten. 

Einen ganz anderen Charalter alo die beiden vorgenannten 
trägt der dritte der uno vorliegenden Bände der „Beifteshelden“, 
Sörres Viograpbie von Job. Nep Zepp.') Ter geile 
Verfaffer, wohl der Ältefte nad Lebende Schüler von Görres, 
bietet in diejer Schilderung des Yebens umd der politiichen und 
patriotiichen Wirfiamfeit feines Meiftero gewiilermafen fein leptes 
Vermächtnih an das deutiche Volt, tt das dritte Mat, dab 
Sepp «0 unternimmt der Nadwelt ein Wild von Görres 
überliefern, er dat 05 zuerft 1548 in einer Brodüre, dann 1: 
in einem umfangreichen Buche getban, jegt am Abende des Yebens 
drängt 09 den Achtzigjährigen noch einmal dem Wanne, der 
jeinem Yeben den Weg gewicien, eine Gedächtnißichrift zu wiomen. 
Sepp hat jeit Göres Tode bedeutende Wandlungen in feinen 
Anfchanungen durchgemacht: einft überzeugter Ultramontaner und 























*) Berlin, Ernit Yolmann. 2 M 





wi. 








che Streiflichter. 413 


fenriger bairifcher Partitulariit bat er ich durdh fein begeitertes 
Eintreten in der Zigung der bairiichen Nammer vom 19. Juli 
1870 für die Ariegserflärung gegen Aranfreich und den Anihhuß, 
an Preußen, wodurd damals der Mnappe Majoritätsbeichluß im 
inne der Negierung herbeigeführt wurde, großes Verdienjt um 
die nationale Sache erworben. Er ift denn auch Äpäter cin 
eifriger Anhänger des neuen deutichen Neiches geworden. Mit 
dem Uiramontanionms jteht er feit dem vatifaniichen Nonzil durch 
feine Schriften und Nritifen auf geipanntem Aub. Die vorliegende 
Biographie it fein jorgfältig gegliederte Nunftwert, aud eine 
zulammenfafjende, die Größe und die Schwächen von Wörres 
forglam abwägende Charafteriitit findet man hier nicht, vielmehr 
Handelt der Verfaffer darin in behaglicher Breite und mit vielen 
Abihweifungen über des auferordentlichen Mannes Lebensgang 
und politihe Wandlungen, fewie über feine große national- 
patriotifche Thätigfeit. Die legten Jahrzehnte von Görres Yeben 
treten in Zepps Torftelung ganz zurüd umd werden mm 
andeutungsweiie beiwachen. Die große Wandlung in feinen 
veligiöfen und firdlichen Anichauungen, feine Zuwendung zum 
Ultramontaniomus, wie fie im der „ahriftlichen Mpftit” und in 
dem „Athanafins“ zum Ausdruc fommen, wird von Sepp fanm 
erwähnt, geichweige denn pinchotogiih entwidelt und erflärt. Er 
Hebt eben num die Zeiten von Sörreo Perfon und Wirken hervor, 
die für alle Dentichen jompathiih und anzichend find und geht - 
über die Schattenjeiten valb hinweg. Cine in die Tiefe gehende 
Sharaktericilderung won Görres  böchft originellen, _ vielfach, 
räthielhafter, mächtiger Periontichteit muß; no exit geichrieben 
werden. Bei der Beurtheitung von Zepps Buch aber darf man 
nicht vergejien, dah; co ein Werk der Pietät üt, das wir vor uns 
haben, und die vührende Anhänglichkeit des greifen Verfallers an 
den längit dahingefchiedenen großen Meifter läßt die Nritif 
verftummen. HD. 






























Dei der Medattion der 
zur Veipredung cinnsnungen 

Marholm, Yaura, Wir Arann und unlere Dichter. 
ul. Berlin, Narl Dunder 





in.“ fund ferner nachjtchenee Schriften 








414 


Litteräriiche Streiflichter. 





Hanfion, Ter X 
Karl Tunder. 
Bocid, Lucn. Sic Iaben feine Ehre! Erzählungen und 
ijgen. Yerlin, Mid, Edftein Nachf. (9. Arügen), 


9 sum Yeben. Sechs Geichichten. Berlin, 





Freyer, €, Mlerli aus dem Leben. Samburg, 
des Rauben Yauics, 
Xiederausder Hleinften Hütte Dresden, Truderci 


atur 





Gtö 





Anort, N, Foltlor. Dresden, Trucderi Gtöf. 


Vhilippi, 4. Nunit der Hede. Eine deutiche Nhetorif. 
Leipzig, Fr. W. Grumon. 

Andre, Aug, Aus der Aranjolenjeit. Was der Groß: 
vater und die Orofimutter erzählten. Yeipzig, Ar. M. Grunom. 

Wolff, Eug., Geicichte der deutichen Yittcratur in Der 
Gegenwart. Yeipsig, S. Dirzel, 

Beide, E, Lrolegomena zur Geicidte des Tocaters im 
Aterthum. Yeipsig, 3. Hirzel, 

Haabe, W., Oelammele Gr 
©. Jane. 

Hansiufob, 9. Bauernblut. € 
Schwarzwald. SVeidelberg. 6. Weil 

Arenbe, Dr. 4, Aawit und Parzival. Cine Nacht: und 
eine Lihtgeitalt von  volfsgechichtlicher Vedcutung. Gütersloh, 
Verielsmann. 
Biograpbiiche Blättern  getfheift für Ibens 
geibichtfiche Aunft and Torihung. Derausgeg. von A. Bertelbeim. 
Yard, 3.9. Berlin, E Hofmann ı. No. 

Meyer, HM. Gocihe. Preisgefrönte Arbeit. Berlin. €. 

Hoimann it. No. 

Wonatsiarift für Gortesdienit mir fird« 
iger Aunit 1. Jabra. 3.9. Göttingen, Yandenbord 1. So. 











lungen. 2. Band. Berlin, 








zählungen aus dem 

















von der Brüggen, Laron Edvard, Oitadıten über 
Firchenrechtliche Fragen.  Verausgegeben von 4. Baron Senfing, 
Mitan, Ferd. Veithorn. 

Arögen, Dr. mod. Sigism, 
ligjer Weltanichauung. Yeipsig. U. Deichert’iche 
(6. Böhme), 

Wartens, Dr. Tstar, Ein Kaligula unferes Jahr: 
bunderts. Verl 

Weber A MW. Serbitblätter, 
Paderborn, Ferd. Schöning). 

Vradvogel, 4. &., Der Aels von Erz. Laterländiicer 
Noman. 3. Aufl. Werlin, ©. Jane, 








Grumdbegrifte hrüt 
ierlagsbuchhandlung 











1, Gcorg Neimer. 





hgelaffene ebichte 






Kitteräriiche Streiflichter. 415 
Denihel, A, Hrbitblätter.  Lnrühes und Epifches. 
Dresden, €. Picrjon. 

Meinem Auitus zum Gedähtnih. Yon MH. & 
Dresoen, €. Pierjon. 

Niemann, Aug, Die Erbinnen. Noman in 2 Bänden, 
€. Pierlon. 

Epitein, M., Erzählungen und Mugenblietsbilder. Dresden, 
Pierjon. 

Rreger, DM, Die Blinde. Maler Wrich. Novellen. Drespen, 
€. Pierfon. 

Hügli, €, Dorf Tüel. Eine Satire. Dresven, €. Pierjon. 

Sterm MN. 0, Dagmar, Yeifeps und andere Gedichte. 
Dresden, E. Pierjon. 

Torrefani, #. Baron, berlicht. Wiener ünitler- 
Noman. 2. Aufl. Tresen, E. Pierjon. 

Haarhans, 3. A, Auf Goches Spuren in Oberitalien. 
Keipzig, €. 6. Naumann. 

Denfs, Paul, Die Fornarine. Lraueripiel. Leipjig, €. ©. 
Yaumann. 

Veder, u Der Wilohiet. Cine oberhefftiche Dorigeicicte. 
geipjig, N. Werther. 

Beer, %, Naribänferich Anndort. Eine oberbefi. Dorigeich- 
N. Wertber. 

Beer, I Tas Goldjeuerden am Mitftrauh. Eine ober: 
beiftiche Dorigeid). Leipzig. N. Werther. 

Haud, €, Wigelm gaben. Ein Noman aus der yeit 
Ehriftians des Zmeiten. Yeipsig, N. Werther. 

Hammermann, F Tie Aunft glüdlich zu 
gemeine Plaudereien. Yeipzig, N. Werther. 

Bayichke, F, Durh Sum zur Stille. Ein Bild aus 
der Gegenwart. Yeinjig, H. Werther. 

Dugdes. 9. %, Der arbeiftiche Schuhmacher. Leipzig, 
R. Werther. 

Wagner, Kaltor 
2. Aufl. Leipzig, N. Werthe 

Sipalı, Ed, Samvere Roth im Nährs, Wehr: und Schritan. 
geipzig. N. Werther. 

Cippmann, Die Frau im Nommunalvienft. Vortrag. 
Göttingen, Yandenhoct u. Auprect. 

Das Deutihthum in Eljah-Yorhringn 1870 
Nücblide und Petrachtungen von einem Deutfchnationaten. 
Fr. W. Grunow. 
Söhre, Pant, Diee 
Fr W. Orunow. 








Drosoen 














Keipzi 











in. Ernits 














Tie Sirticpeit auj dem Yanoc, 









ngeliich;josiale Bevegung. 





416 


Litteräriiche Streiflichter. 


Whitmann, 3. Aus deutichem Leben. Autor. Ueberf. . 
Dr. W. Hndel. Hamburg, Haendde und Yehmtubl. 

Rofapp. Dr. ©., Charlotte von Schiller. Cin Lebens 
und Eharatierbild. Heilbronn, M. Kichnann. 

Dart, Jul, Geibichte der Weltlitieratur und des Theaters 
aller Zeiten und Wölfer. Mit gegen 100 Abbild. 2 Be. Reudanın, 
I Reumauns Berlag, 

Zwei Bücher genen den Nuhammedanismus. 
Bructü einer Steeitfcprift von Perrus dem Ehrwürdigen. Abt von 
Elngny. Aus dem Yateiniich. von X. Thomä. Yeipjig. erlag der 
Atadem. Bucl. W. Aabı 

Keller, Ad, Ter Geiftestampf des Ehriftenthums genen 
den Islam bis zur zeit der Arcizsüge Yeipsig, Verlag der Aladem. 
Vuchhandl. W. Faber. 

Prager M. 
der Aadem. Buch. 

Andreas. Dr. A €, Die Babis in Perfien. ne Os 
Ähichte und vehee quellenmähig umd nach cin, Ani. Dargeitellt. 
geipsig. Perlag der Aaden. Buch. W. Faber. 
itolaus Yonaus Briefe an Emilie von 
Neinbed und deren Satıcn Georg von Neinbed 
1824. Herausgig. von Dr. Anton Schloflar. Stuttgart, X. 
Bonz u. Co. 

Nocbell, Kid. Der Anti ieder I. 9. 














Vie Wihmann-Erpedition. Leipsin. Ierlag 
Aaber. 























kerds und der 


Miniiter fr. N. von Moler. Darmitadı, Kuguit Alingelböffer. 
Niesler, Sigmund, Gehhichte der 





Baycın. Zrurgart, 3 ©. Eona'ihe Pachb. Nacht. 








Herausgeber und Ndatteur; Arnold v. Tideböhl. 





Aossoaeı 
Yuchdruder 





nenaypow. Pira, 25. Cenraöpu 1806 1. 
der „Balt. Nonarsichrift”, Nign. 

















Septemberabend. 


Aus dunflem Gelb die Birten fteigen, 
Die Eipe j iltert goldig.bunt, 

In fahlem Gram die Weiden neigen 
Zu junger Sant fmaragpnem Grund. 
Weit winkt, unendlich weit herüber 
Ein purpurn:violetter Glan, 

Und fchinmernd, raufchend rayt darüber 
Der Wald in ewig granem Aranz- 












3) jah des Kenzes Neich im Süden, 
SG ruhte unterm Palmendad); 

Was gilt's mir alles vor dem rieden 
Yn baltifchen Scptembertug! 





© Heimat, Heimath, theure Erde, 

Nie preif ich |höner dich Fürwahr, 
AUS mit der flummen Schmersgebärde, 
AUS mit dem Aternfranz im Haar. 
ie fhöner, da ein leis Lerfärben 

Tie Wangen rofig dir umitrahlı, 

Nie fchöner, da vor ftillem Sterben 
Dein Aug’ in Wehmuthsglüdt eritrahlt. 








Wie eigen paht wm Yicht und Schatten 
zu deines Schietjals Düitrem Drang, 
30 deinem Ringen und Ermatten, 

Zu deinem ftummen Untergang. 


Alerander Freiherr von Mengden 


Lied 


Komm, Iehn’ Dein Haupt an meine Schulter teilt, 
I fing” ein Cied Dir, tief mus Dergensgrund, 

©, würde Dir beim Alang der fühen Weife 

Tas arbeitsmüde, franfe Herz gelmd! 








Wie blift Dein Auge ichniuchtsvoll und bange, 
Wie matt Dein Herz, vom Yeide fait befiegt! 
Komm, lauiche wie ein Aindlein fl dem Marge, 
Denn Mutterliche 5 in Schlummer wiegt. 








Sab draußen falte Herbitesitürme wüthen, 
It finge Dir vom heller Lenzesprat, 

Ib finge Dir von Sonnenjchein und Blüthen 
Und jungem Olüd, zur Yenzeszeit erwacht. 





Und halten uns des Schidjals raue Bande 
Hier feit, wo Watt und Blume längit verderrt, 
Ich trage Dich zum goldnen Märchenfande 
Auf des Gefanges weicher Welle fort. 


IA Ächmeichle Tir in's Herz mandı fühe Weile 
Und fünge Liebe, Frieden Tir, und Hub — 
Komm, Icon’ Dein Haupt an meine Schulter Life 
Und jchfiche Deine müden Augen zu! 

N. 


Sad 





























Annitbriefe 


Xu. 


Der jammervolle Herbft, der dem erbarmungswürbigen 
Sommer folgte, geht zu Ende. Nur zu guterlegt brachte er uns 
einige ichöne Tage des Sonnenfcheins, des Farbenglanges, der 
Wärme. Den fchönften gerade zum Schluf der großen Gewerbe- 
ausjtellung im Treptower Part. Nein zum Hohn. Co prächtig 
war's draußen, als drinnen im gewaltigen Nuppeljaal deo Haupt: 
aebäudes beim feierlichen Schluhatt der Bericht verlefen wurde, 
der einen nicht unbeträchtlichen Fehlbetrag eingeftchen muste und 
dafür, zum Theil mit Necht, die überaus nicht günftigen Witterungs 
verhältniffe des Sommers 1896 verantwortlich machen fonnte ... 

Und in diefer Halbjaifon zwiichen Herbit und Winter, da 
giebts eine Heine Nuhepaufe im Sumjtleben: man zehrt zumeiit 
von Grinnerungen an feon Gebotenes und man ergeht fid) in 
Hoffnungen in Bezug auf das Nommende. 

Aud) zwei andere Ausfteltungen find inzwilchen geichlofen 
worden. Da aber gab's nur zumeift Exfreuliches zu berichten. 
Gerade das fchlimme Wetter Fam ihnen zu gute, namentlich der 
„Snternationafen Kunftausftellung” beim Lehrter Bahnhof, deren 
Vorjtand damals im Mai vielleicht mit iger Vellemmueg an 
die gefährliche Nivalin im Treptower Park gedacht Haben mag. 
Aber 09 fam anders: der Velud) war jehr gut, der Verfauf von 
Kumftmerfen flotter als je zuvor, der Handel mit Yotteriebilleten 
durchaus befriedigend. Und aud) der fünftleriiche Erfolg 











6 


420 Kunitbriefe. 


ber Jubelansftellung — fie jollte ja das 200-jährige Befichen ber 
Afabemie ber Nünfte feiern — war im Ganzen nicht unbefriedigend. 
Das Alles fonnte nicht blos Aultusminifter Dr. Bolfe am Tage 
ber Schliehung freudigen Herzens feititellen — aud) das Rubliftum 
hat fi davon überzeugt, während der 4",2 Monate, die cs hinaus 
pilgerte über die Moltkebrüde zur „Internationalen“. 
Diefe Austellung habe ih genugiam beiprochen und Sie wii 
daß man den Optimismus des Herrn Minifters nicht unbedingt 
zu theilen braucht, wenn er auch von einem großen fünjtleriichen 
„Gewinn“ der Ausitellung fprac, der darin beitanden, dab „Te 
bie verfchiedenen Geftalten zeigte, welhe die Strömungen der 
heutigen Runit bei den Nationen und Individualitäten annehmen 
und die Verjchiedenheit d26 Geihmads und der äjthetiidhen 
Empfindungen bei den Wölfern erfennen lich.“ Dem gegenüber 
Könnte man immerhin, troß der fünftehalb Tanjend Kunitwerfe, 
die zur Ausitellung gelangt waren, ein qut ausgewacienes Frage 
zeichen aufftellen. An diefem fann aber ein offizieller Schtuf- 
Feitredner natürlich nicht anders, als vorübergehen bei einer 
Ausftellung, die unter Alterhöchitem Proteftorate ftand. 








* ” 
* 


Nachhaltiger wohl dürfte der Erfolg einer anderen inter: 
nationalen Austellung geweien fein, die am 1. September eröffnet 
und diefer Tage gefchloffen wurde. Zum mindeften war fie höchit 
interefjant und ich bedauere Tebhaft, fie nicht To eingehend 
beiprechen zu fönnen, als fie verdiente. 

€ mar das die erjte in Berlin veranftaltete „Inter 
nationale Austellung für Amateur-Khotograpbie”. 

Die Anregung zu ihr ging von der Kuiferin Friebrid aus 
und das verdienftliche Werk zu Stande bradten die „Deutiche 
Gefellfehaft von Freunden der Photographie” und die „Areie 
Photographifche Vereinigung“, beide zu Berlin. Ahnen gelang co, 
in weiten Kreifen Intereffe für die Sade zu wegen ımd gewichtigen 
Namen begegnete man in dem Ehrenfemits, dem Arbeitsnusichuß, 
dem Preisrichter- Kollegium, Yenchten der deutichen Melt der 
Wiffenichaft und Kunft, denen fi joldhe in Yondon und Paris 
anfchloffen. 





Kunftbriefe. 421 


Heutzutage it ja die Photographie — und am mwenigiten 
die fogenannte Amateur Photographie -— gewiß nichts neniger, 
als ein blofer Zeitvertreib und Sport. Mit Net führte Pro] 
1. Tobold, Vorfüsender der Gef. d. Fr. der Photogr., in feiner 
röffnungsrede aus, wie jeit dem 19. Augujt 1839, wo Arago 
in der frangöfifchen Afademie die Entdedung Daguerre's, mit 
Hilfe des Lichte Bilder darzuitellen, bekannt gab, faum irgend 
ein anderer Zweig der Wilfenfchaft und Kunft jo ungeheure Fort 
Schritte gemacht habe. In den lepten 15-20 Jahren ift die 
Baht allein derjenigen, die fid) nicht berufsmäfiig mit dem Lichtbild 
verfahren beichäftigen, auf viele Zehntaufende angewadhyien, wobei 
natürlich die Spielereien Unerwachlener nicht in Betracht fommen. 
Denn mit der Spielerei bringt man nicht viel vor fi. Vielmehr 
erheifcht die Photographie von ihrem Jünger viel Liebe, Ernit, 
Stndinm. Gerade auf diefem Gebiete deden fih die Worte 
„Amaten“ und „Dilettant” ganz und gar nicht. Nr als 
Gegeniag zum Verufsphotographen Läht fih vom Amateur ipreden 
und diejem hat jener Vieles zu danfen. Thatiählih find gerade 
die bedeutendjten Neuerungen und Lerbefferungen vom Aınateur 
ausgegangen, der unbeeinffuft von Erwerbsintereffen nur der 
Sache felbjt lebt. 

„Aber das find ja gar feine Photographieen“ -—- konnte man 
ot genug auf der Nusitellung im Publifum ausrufen hören. In 
der That die aufdringlich oder auch nur matt glänzenden Porträts 
und Landiehaftsaufnahmen in braun-rofa und violetten Tönen mit 
ihrer todten, jtarren Schärfe und Härte in den Linien und Gegen: 
fägen von Licht und Schatten — fie fehlten fajt ganz. Die neuen 
Aufnahme: und Kopirmethoden, die modernen Objektive, Platten, 
Papiere Haben fie verdrängt, verdrängen fie aud) immer mehr in 
den Verufs-Aeliers. Cine wahrhaft fünftleriiche Weihheit wird 
erzielt, vornehm jtumpfe grünfiche, bräunfiche, graue Töne Herrichen 
vor. Man glaubt oft eine Lithographie, ja eine imprejfioniftiiche 
Sepia: oder Tufchzeichnung vor fi) zu Haben. Dabei machen fid) 
zwei Hauptrichtungen geltend: die eine jucht photographiiche Arbeiten 
im ftrengjten Sinne des Wortes zu liefern, verzichtet daher gänzlid) 
auf die Netouche und will ohne fie möglichit Vollendetes jchaffen. 
Der anderen Nehtung dient das natürliche Bild nur fozufagen 

















u 


4 





Kunfibriefe. 


als eine Vorlage für weitere fünftlerüche Bearbeitung und 
Verarbeitung. 

Naturgemäh finden mir jene erite Richtung mehr auf dem 
Gebiete der in den Dienft der Wijlenichaft und der Technif 
geftellten Photographie, diefe bei der rein fünftleriihen. Aber oft 
genug verwilchen fi die Grenzen umd and) unter den Arbeiten 
von fünftlerifchem Selbitzwedt begegnen wir ängitlicher Vermeidung 
jeglicher nachhelfenden Netouche. Und felbit im Portraitfac) 
waren derartige vortrefflich gelungene Arbeiten zu jehen. 

Wenn jene Richtung ms die Beobachtung von Natur und 
Kreatur erleichtert, oft überhaupt erjt ermöglicht, fo erichlicht diefe 





uns die ganze Schwierigkeit nacdjichaffender Kunft. Beide zuiammen 
aber find fie heute für den ausübenden plaftiicen Künftler, den 
Maler, wie den Bildhauer, und 





den Nunitgelehrten zu einem 
mumgänglichen Hilfsmittel geworden. Und nicht allein für diefen, 
fondern aud) für den wiljenichaftlichen Koricher: für den Archäologen 
und den Sultuehifterifer, für den Meteorologen und Aftronomen, 
für den Diediziner und den Jurilten. 

Unter foldien Umjtänden erweitert ich der Beqriif der 
Amateur Photographie immer wefentlicer und weit richtiger hätte 
die nunmehr geichloffene Austellung, wie Profeiior Guftav Keitich 
in einem orworte zum reichhaltigen und vortrefflic; vedigirten 
Natalog bemerkte, „Ausftellung der angewandten Photographie für 
Kunft md Wifienichaft” gehiehen. 















* ” 
* 


Danf der hohen Proteftorin des Unternehmens hatte die 
Ausitellung im neuen Neichstagebau am Nönigsplas eine prächtige 
Heimftätte gefunden. An und für fi macht das freilich auf 
Manden, der eine hohe Meinung vom Zige der Volfsvertretung 
bat, feinen günftigen Cindrud. Und «6 zeugt bejonders beredt 
von dem Viangel an guten Anoftellungsräumlichfeiten in Berlin 
— ein ganz frappanter Mangel in diefer Millionenftadt. Aber 
abgejehen von diefer Profanirung des ftolzen Gebäudes, fünnte 
man fid nur darüber freuen, denn eine bejfere Stätte lift fd) 
jchwertich denfen. 

Sie wäre auch fchon in Anbetracht der Srü 








je der Aus 


Nunftbriefe. 123 


jtellung fehr ichwer zu befchaffen gewefen. Ueber 1700 Quadrat: 
faden nahm fie in Anjpruch. Die große Wandelhalle, die beiden 
Gänge zu Seiten des Eigungslaales, der Saal des Bundesraths 
mit den beiden anftoßenden Nänmen, der Lelejaal, der Schreibe: 
faat, die Neftaurationsjäle, furz die ganze Klucht der Räumlichkeiten 
des mittleren Stods zum Nönigsplap bin umd ein Theil der 
Zimmer am Neihstageufer und der Simfon-Etrafe — Alles, 
Alles war voll von Photograpbien, photographiichen Apparaten 
und Hilfomitteln, Wappen, Albums u. |. w., überfitlih und 
einheitlid neordnet. Dah tr ejer Trdnung den Bejucher beim 
eriten Mal fo etwas wie ein Schwindligwerden anfam und er 
Ängftlich ausrief: „Simmel, durch das Alles foll ich mic durch 
arbeiten!” Tas war weiter nicht verwunderlic) bei der Mafie 
des Gebotenen. Aber bald jchon fing das Einzelne an auf ihn 
zu wirken und ging er foflematifch vor, jo erichloflen fic) ihm 
Quelten des Genmuffes und der Belehrung, die ihm Immer wieder: 
tommen (ich 

Raft die Hälfte des Naumes beanfpruchte die Fünftleriiche 
otographie. Sie and zeigte dus am meiften internationale 
Oepräge. Das heifit aflo, da das Anoland am zahlreihjten 
diefe Gruppe bejchict hatte. Was hier an Porträts, Yandichaften, 
Genrebifdern, Stil Yeben, an Akten, Charakterföpfen, Beleuhtungs- 
und Luftjtimmumgs Studien und gejcidt gewählten Bildmotiven 
mit md ohne Staffage zu fehen war, das verriet) jo viel 
Seihmad, Phantafie und techniiches Können, das war fo vieljeitig 
of und individuell in Tönen, Methoden, Auffaflung, daf 
das Schiefe in der Vezeihuung „Amateur“ jofort far wurde, 
Und doch fein einziger WBerufophotograph darunter und fein 
Berufsfünftler, fondern lauter Damen und Nerven in den 
verfchiedenften gefellichaftlichen Stellungen, unter einander gleid) 
num in Numjtfinn und Kunftitweben. 

Tab Berlin vorherrichte, verfteht fich von jelbit, da die 
Verhicung ja für den Berliner am leichteften war. uch 
Defterreich war gut und zahlreich vertreten. Desgleichen Frankreich 
und Belgien, wo wir origineller und phantafiereicher Rünjtler- 
auflaffung in Tonung und Motiv befonders häufig begegnen 
tonuten. Der franzöfiete Graf Tyskiewicz leitet darin wohl das 


















































424 Stumftbriefe. 


Hervorragendfte. Wie had) die Nunjt des Photographirens in 
England und Amerifa fteht, it von allerlei früheren Ausjtellungen 
her und durch Numjiblätter auf dem Handelsmarft icon längit 
befannt. Auch Holland, Italien, die Schweiz, jelbit Portugal 
fehlten nicht. Sehr dürftig leider war Nuhland vertreten. Schon 
allein fo ziemlich der namhajteite „Amateur“ Rhotograph Dberft 
Lawrow, General Neiwetowitich, Schulz (in St. Petersburg) und 
zahlreiche andere befannte „Dilettanten“ fehlten, desgleidien die 
wiifenfdpaftlichen Inftitute und die Anftalten für vervielfältigende 
Nunft, jo weit fie auf photomechaniihem Verfahren beruht, vor 
Allen die S. Expedition zur Anfertigung der Staatspapiere. Aus 
den baltiichen Provinzen fand ic) jogar nichts vor. Ueberhaupt 
war ganz verichwindend wenig vorhanden; dafür aber waren die 
ethnographiichen, himmelsphotographiidhen und tagesgeihichtliden 
(Krönungsicenen) Vlätter von Peter Preobraihensfi in Mivsfau 
recht jehenswerth. 

Hecht beichrend war auch die Abtheilung für das photo: 
mechaniüche Verfahren. Alle Arten des Hohdruds (3. B. Zintdrud 
und Autotypie), des Tiefdruds (wie Heliogravire, Photogravire 2c.), 
des Flahdruds (Lightdrud, Zinkdrud 2), der Farbendrud, der 
Dreifarbendruc 2c. fonnten hier eingehend iudirt werden an den 
fchönen und vicljeitigen Ansjtellungen der Hof: und Staat: 
druderei in Wien, der Neicsdruderei in Berlin, der Yehr- und 
Verfuchsanftalt für Photographie in Wien, der befannten Firmen 
Angerer (Wien), VBaufod, VBaladon & No. (Paris), Meifenbach, 
NRiffartd & So. (Münden), Albert & No. (Münden), Albert 
Friich, Cosmos, N. Schufter (alle in Berlin). Auch in diejer 
Abtheilung fogar begegnen wir „Amateuren“, wie Schulg-Hente 
in Berlin, A. Fiedler in Pofen. 

Nahezu 200 Ausiteller zeigten von welcher großen Wichtigkeit 
die Errungenfhaften der modernen Photographie für die Kumft- 
wifenichajt und das Runfigewerbe, die auf diefe Weije heute die 
Nunjtwerfe aller Völker und Zeiten Allen zugänglich machen fönnen. 
Da gabs alte werthvolle Yandichriften, die Ergebniffe der Aus» 
grabungen in Troja und Olympia, die Schäge der vatifaniihen 
Diufeen, Intunabeln und Stieimufter aus dem Mittelalter, alt: 
deutihe Geräthe u. j. w. u. |. w. 














Kumjtbriefe. 425 


Wenn alle dieje Gruppen und die Abtheilungen für photo: 
graphiche Optik, Vlechanit und Chemie in erjter Linie den Künftler 
und Kunftfreumd, den „Amateur“ und den Berufsphotographen 
anzogen, jo waren es bie rein wiflenfhaftlihen, die für das große 
‘Publifum den „elou” der Ansftellung bildeten, namentlid die 
htliche Photographie mit ihrer Aufdedung von Fälfhungen 
aller Art; die medizinijche mit den oft graufigen Aranfheitsbildern 
und mifrojfopiichen Yufnahmen und folden erftaunlichen Leiftungen, 
wie die Wiedergabe der Zellenbewegung während der Entwiclung 
des Eis oder die Serienmomentaufnahmen nervenkranfer Lente; 
die aftronomiicdhe und meteorologiiche Photographie, die u. A. aud) 
böcjft intereflante photogrammetriiche Aufnahmen zur Bejtimmung 
der Höhe und Lage der Wolfen und der Luftitrömungen, die fie 
tragen, Aufnahmen von Negenbogen, leuchtenden Nadhtwolten 
u. dergl. boten. 

Tod) genug. So Fury und flüchtig aud) diejer Bericht aus: 
gefallen — Eins erhellte au aus ihm fchen: daß man beim 
Durcwandeln diefer Ausftellung fi wirflid, wie Jemand meinte, 
in einer modernen Univ. as litterarum befand. Man fcritt 
dort in der That: 

„Den ganzen Kreis der Ecyöpfung aus 
Und wandelt! mit bedächtger Schnelle 
Vom Himmel durd) die Welt zur Hölle“, 















* * 


Und was es font noch zu jehen gab und giebt? .... Nun 
die Salons von Schulte und Gurlitt, die id) Ihnen 
im vorigen Winter geichildert habe, verfandten bereits jtilvolle 
Programm-Einladungsfarten zu ihren eriten Herbftausftellungen, 
die wieder gang im Charalter diefer beiden vornehmiten der 
Berliner Nunfthandlungen gehalten find. Dort, bei Schulte 
der gewohnte Ellettiziomus md das Gepräge des Zufälligen; 
bier, bei Omlitt - die Unterftügung der radifalen Modernen 
und der Kultus internationaler eriflaffiger Namen einer älteren 
Periode, wenn jdon fie aud) der Neuzeit angehört. 
Mebrigens waren jegt bei Schulte zwei Vöcklin zu jchen, 
von denen der eine hier ned) ganz unbefannt war: „Adam und 





Sunftbriefe. 126 


Gott Vater“. Ein Fnabenhafter, föftlid naiv blidender nadter 
Adam, der vor einem Sott-Vater in leuchtend vothem, fternen 
befätem Miantel, einer Geftalt von reinftem germaniichen Tupus, 
über die Herrlichleiten des Paradiefes und über feine Rechte und 
Pilichten in dem farbenleuchtenden, frühlingsprächtigen, aber 
merfwürdig fteinigen, die Welt bedeutenden Garten aufgeflärt 
wird. Cine Legende, in malerifch-legendenhaftem Tone vorgetragen. 
Von befonderem Jnterejfe war auch eine größere Vilderreihe des 
in Dresden, Münden und Paris gebildeten, von vielen inter: 
nationalen Ausjtellungen des In- und Auslandes her befannten 
Bitorien- md Genremalers Frank Ktirdbadh, der feine eigenen 
Wege wandelt, Wege, die gerade die Witte Halten zwilden 
überzeugtem Afademizismus und radifalem Naturalismus. An 
jenen gemahnt die finnige Nompofition, die Wahl des Stoffes; 
au diefen die Farbengebung, der Waprheitstrieb in Haltung und 
Ausdrud. „Sanymed“, „Ehriitus treibt die Wechsler aus dem 
Tempel aus“ find au wohl Ahnen aus Holzihnitten fchon 
befannt. Hier gab's u. X. jein romantiich:phantaftiüches Nachtitüc 
„Yeonore“, das die legte Strophe der Vürgericen Voltoballade 
mit großer Kraft, Fünftleriicem Schwung und reizvoller Yandichafts: 
ftimmung behandelt, jowie das tief zu Herzen gehende Galferiebild 
„Laffet die Nindlein zu mir fommen“ zu fehen. Gurlitt bot 
allerlei Lederbiffen der  reproduftiven Munft, Lithographien, 
zeichnungen, Stiche, Aadirungen von Gandaja, Yunois, Vallaton, 
Nofaclli, Zuttler, Yeibl, Menzel, Döring u. X. und ferner, neben 
verfchiedenen modernen Malern, einige todte Meifter, wie Anjelm 
Feuerbach, der jo lange verfannt war, Meiflonier, Pettenfojen, 
Spigweg, Tilgner (der große Wiener Bildhauer) u. j. m. 

Au) einige Sonderausitellungen hatten wir chen, doch 
brauche ich an diefer Stelle weder anf des Wieners Arthur 
Nurh nadzügleriihes Ehriftusgemälde, das eigentlid für die 
neulich erwähnte Nuoftellung im alten Neichstagsgebäude beftimmt 
war, noch auf der Berfinerin Anna Goftenobte hnilerifchen 
Enklus „Tragödie des Weibes“, den fie nur im ihrem eigenen 
Atelier auszujtellen wagen durfte, näher einzugeben. 

3 Norden. 




















Berlin, im Oftober. 




















Fitteräriihe Streillihter. 


Später als ich wünfchte und es mir lieb ift fomme id) dazu 
einer litteräriichen Ericheinung eine Veiprehung zu widmen, die 
vollen Anipruch darauf Hat, daf ihrer auch an diefer Stelle gedacht 
wird. Cs ift das Bud) von Profeffor Dr. Wolfgang von 
Dettingen in Berlin: Daniel Chodowiedi. Ein Berliner 
Nünftlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Mit Tafeln und 
lnjtrationen im Tert nad) Originalen des Meifters.*) Im 
doppelter Beziehung nimmt diefe Schrift unfer Juterejie in 
Anfpruch, durch ihren Autor und durd den Dann, welchen fie 
bedandelt. Ahr Verfafler ift ein Sohn unferes Landes, der 
Träger eines in unferen Provinzen weithin befannten Namens, 
und der Stünjtler, deifen Leben und Schaffen er in dem vor: 
liegenden Bude fchildert, it der originelljte und in mander 
Veziehung hervorragendite, den Deutfchland in der zweiten Hälfte 
des vorigen Jahrhunderts befeifen hat. Wenn ich im Folgenden 
die Schrift W. von Dettingens zu würdigen unternehme, jo tue 
id) das nicht als Fachmann, ein folcher bin ich nicht — 
fondern nur als Liebhaber der Kunft Chodowiedi's, an beijen 
Vücjerilluftrationen und Einzelblättern id) mic) oft erfreut und 
erquidt hab 

Pro W. von Dettingen Hat für fein Buch ein fo 
reiches Material von Aufzeichnungen und Briefen des Meifters 














*) Berlin, ©. Grotefche VerlagsbuchHandlung. 


128 Eitterärifche Streiflichter. 


und andererjeits fünjtlerifchen Arbeiten feiner Dand zu Gebote 
geftanden, wie cs wohl nur felten dem Darfteller eines Nünftler- 
lebens vorgelegen; dadurch allein war «6 ihm möglich alle 
Entwidelungsphafen der fünftlerifchen tigfeit Chodowiedi's 
nachgveifen und darzulegen. Allein ber Stoffreichthum giebt an 
und für fi) noch nicht die Gewähr einer befriehigenden Dar- 
ftellung, «5 fommt auf die Art jeiner Behandlung und Verwertbung 
an. Oft genug gebt in der Maffe von Einzelheiten das eigentliche 
Bild der Perjönlichfeit verloren, der Mangel an Beherridung 
des Stoffes hemmt den Fortgang und die Wirkung der Dar 
ftellung, endlich, was heutzutage jehr gewöhnlich, der Autor führt 
uns in feine Werfftätte, nöthigt uns alle feine Unterfuhungen 
und Vorarbeiten mitdurehzumachen und entläßt uns zulegt verwirrt, 
ermattet und unbefriedigt. W. von Oettingen’s Buch zeigt das 
Gegentheil von alle dem. Das Vinterial ift vollfommen durch) 
gearbeitet, alle Vorarbeiten wöllig befeitigt, nur das Nefultat 
forgfältiger Forihung wird uno geboten. Der Verfailer hat der 
Verfuhung zu viele Einzelheiten zu geben fo räftig widerftanden, 
dafi er bisweilen fd) darin gar zu große Beichränfung auferlegt 
zu haben jcjeinen Fönnte, Doch die Beherrichung und Behandlung 
des biographiichen Stoffes ift bei der Lebensdarjtellung eines 
Künfilers nur bie eine Ceite der Aufgabe, die andere nad) 
wichtigere ift das eindringende Verftändnii feines fünftleriichen 
Schaffens. Und da erfennt jeder Lofer, der fi darauf verjteht, 
teicht, dab diefer Theil des Buches auf jahrelanger, fiebevoller 
Veihäftigung mit den Arbeiten des Meifters und einer ur 
durch die forgfältigfte Beobadytung und fortgelegtes Studium zu 
gewinnenden vollfommenen Wertvautheit mit der Eigenart feiner 
Kunft und feinen harafteriftifchen Gigenheiten beruht; nur durch 
immer ernenerte Betrachtung, wie fie dem Yerfafjer dur feine frühere 
amtliche Stellung allerdings erleichtert wird, fann ein jo fiheres 
Urtheit über alles Einzelne fi berausbilden, wie eo i 
Buche uns entgegentritt. Aber mod) eine Cigenfchaft mi 
rühmend an der Schrift hervorheben, es wird darin nicht mit 
der Gfeichgiltigkeit und Kälte des Anatomen ein Menjchendafein 
zergliebert und feine eingelnen Beftandtheite uns vorgewielen, wie 
das heute night felten und in einer für ein feineres Empfinden 


























Litteräriihe Streiflichter. 429 


geradezu abftoßenden Weile geihieht, vielmehr behandelt W. von 
Oettingen das Leben und fünjtlerifche Wirken feines Helden mit 
perjönlicher Antheilnahme und warmer Sympathie, die auch dem 
Leier id) mitteilt. Dadurch) ift MW. von Oettingens Cchrift nicht 
nur ein jehr befehrendes, fondern aud jehr anziehendes und 
erfreuliches Bud). 

Der Verfaffer behandelt feinen Gegenitand ect hifteriich, 
d.h. er lehrt uns Chodowiedi aus den Verhältuiffen und Zuftänden 
feiner Zeit heraus und nach feiner befonderen Entwidehung verftehen 
und würdigen, er zeigt mo feine Vorzüge, aber auch feine 
fünftlerischen Mängel und legt feine Stellung in der Gedichte 
der deutjchen Kunit Far dar. Bei aller Liebe zu feinem Helden 
identifizirt fi) W. von Dettingen doc) nicht mit ihm. Au) in 
diefer Beziehung erhebt fih unjer Autor weit über bie Majie der 
heutigen Cchriftiteller auf dem Gebiete der Kumjt und Litteratur; 
entweder begegnen wir da einem verjtändniflofen unbedingten 
Verurtheilen und Verdammen oder einer blinden  fritiklofen 
Venmmderung und Anbetung. Für das legtere geben viele der 
heutigen Goethephilofogen das merfreulicjite Veijpiel, indem fie 
ebenfo jhwählih in ihrem äfthetiihen Urtheil find, wie fie 
ängjtlid) alle Schwächen des großen Dichters zu verhüllen und zu 
entichuldigen jucen. Wie gut fi) aber liebevolle Auffafiung und 
Behandlung des Gegenftandes mit umbefangener Kritit verträgt, 
dafür giebt Tettingen’s Bud) den vollgiltigften Beweis. 

&s fann nicht unfere Abfiht fein, Hier den Gang von 
Shodowiedi’s künjtleriicher Entwidelung und Thätigfeit nad W. v. 
Dettingen’s Yuche eingehend darzulegen. Dag verbietet fi) fhon 
dur) die Veichränftheit des uns zur Verfügung ftchenden Naumes 
von jelbjt uno würde ung aud, abgejehen davon, nicht in den 
Sinn fommen, denn wir wünfchen, daß unfere Lejer fi mit 
W. von Dettingen's Buche jelbjt befannt machen. Ich will nur 
die Hauptzüge aus dem Leben und der Fünftleriichen Entwidelung 
ChHodowiedi’s, wie fie von W. von Dettingen gefchildert wird, 
hervorheben und an fie eine Charakteriftit des alten Mieijters 
fnüpfen. 

Chodowiedi it gewifjermaßen eine internationale Perfönlichfeit, 
feine Vorfahren väterlicherfeite waren Polen, die des Olaubens 





430 Litteräriiche Streiflichter. 


wegen ihre Heimath verlaffen hatten, unier Nünftler bezeichnet fich 
jelbjt mehrfach als wahren Polen. Seine Mutter dagegen war 
mütterlicherfeits franzöfiicher Herkunft, von ihr hatte der Zahn 
die Vorliebe für die frangiifche Spradie geerbt, deren er fi 
aud im intimen Verkehr der Familie und in feinen Tagebücern 
bediente und die er aeläufiger und forrefter handhabt alo das 
Deutihe. In feiner politiichen Gefinnung war der Meiiter cin 
guter Preufe und in feiner Yebenshaltung und Zinnesart ein 
ehrlicher Deuticher. Diefe mannigfaltigen, in einer Perjönlichfeit 
vereinten nationalen Elemente fpiegeln ih and in feiner 
fünjtleriihen Thätigfeit wieder. Der Nnabe wuchs als der Zohn 
eines Nanfmannes, eines Mannes von zjarter und weicher Art 
und einer energüchen, thätigen Wutter in dem altehrwürdigen, 
Yalbpolnifchen, halbfreiftidtifchen Danzig auf. Ad darin zeint 
fid) die echt hiltoriiche Art, in der W. v. Tettingen den Gegenitand 
behandelt, daß; er tets den Hintergrund, auf dem id das Yeben 
feines Helden entfaltet, anfhaulidh zu ehildern nicht unterläht. 
&o giebt er denn uns gleich am Eingange feines Buches ein 
farbenreihes Bild von Danzig in der erjten Hälfte des adhtzchnten 
Jahrhunderts, er verfegt uns daducd) auf's lebendigite an die 
Stätte und in die geiftige Almojphäre, in welcher der Nnabe 
erwuchs und feine Seele und feine Yırgen die erjten Eindrüde 
empfingen. Ebenjo führt uns Oettingen jpäter das Berlin der 
eriten Jahre Friedrichs des Großen vor, er macht uns mit den 
zahlreichen jegt vergeiienen Nünftlern jener Zeit befannt, wir 
lernen den Gejchmad des damaligen Verlin Fennen, jehen die 
Stellung riedrihs „des Großen zur deutjchen Kunft umd feine 
indivette Ginwirtung auf fie heil beleuchtet. Wir rechnen Diele 
Abjcpnitte zu den glänzendjten Partien im Tettingen’ihen Bude 
und find überzeugt, da Niemand diefe jachlundigen and fein 
finnigen Ausführungen ohne Vergnügen und Belehrung lefen wird. 
Ehodowiedi's Yebensgang it einfach, Dejto merkwürdiger und 
verwigfelter fein fünjtleriicher Entwidelungogang. Er war in 
Allem Autodidaft und, was gewiß feltfam genug üt, er Tuchte in 
dunklem Drange auf verwirrten Wegen nach) einem unklaren Ziele 
und es war fange genug ein faliches, dem er zuftrebte. Ex hatte 
beim Vater etwas zeichnen gelernt und jegte das eifrig fort in 
















































Litteräriiche Streiflichter. 431 


mühjam dem Schlafe abgerungenen Abenditunden als ein den 
Tag über in Anjprud) genommener Lehrling im Gewürzladen 
feiner Tante, ohne gründliche tedhnifche Ausbildung und irgend 
melde Anleitung; er zeichnet und malt nad) mangelhaften Yor- 
bitdern und mit wenig befriedigendem Erfolge. Dann fommt er 
nad) Berlin in das Quincailferiegeihäft feines Cheims und bier 
lernt er Email- und Piniaturmalerei wieder nach manirirten und 
geichmacktofen Vorbildern, bis ihm endlich ein wirklich fundiger 
Lehrer der Gmailmalerei zu Theil wurde. Er brachte es in 
diefer damals jo fehr nefhägten Kunftübung allmählich jo weit, 
dab er ih jelbjtändig als Email: und Miniaturmaler etabliren 
und 1754 einen eigenen Hansftand begründen fonnte.  Durc) 
feine Heirath mit Jeanne Varez wurde er ein Mitglied der durd) 
ihre Rechte und Privilegien angefebenen franzöfiihen Kolonie in 
Berlin und gewann dadurch jelbjt eine geficherte Stellung in der 
Sefellichaft. Zeine Miniatur und mailarbeiten waren elegant 
und anmuthig, aber doch nur handwerfsmäfige Arbeit, Chodawierfi 
fühlte fidh jelbft von feiner Thätigfeit nicht befriedigt, er Tuchte 
fid) durch dao Studium  Funfitheoretiicher Merle weiter zu bilden, 
fonnte aber dadurch nicht gefördert, Fondern mir auf den falichen 
Weg der Neflerion geführt werden. Mic ehwer eo Chodowiedi 
wurde, fi ohne Dilfe eines Führers von den bisherigen Jrrwegen 
auf den vehten Pad der wahren unit hinanszufinden, zeigt 
W. von Teltingen in ganz vortrefjlicher Ausführung. Dur das 
Studium des nadten Körpers, der jogenannten Afte, geht ihm 
das Verfländnih der Natur auf, er lernte fehen und will fortan 
die Welt jo malen, wie fie it; die Natur allein foll meine Yehr- 
meifterin fein, wuft er in einer ergreifenden Herzensergiehung au. 
Er beiihritt fortan die Bahn des Lünftlerifchen Realismus, auf 
dem feine Größe und feine Bedeutung für die Nachwelt beruht. 
Und doch verlor fid) Chodowiedi aucd) jept noch auf einen Abweg, 
indem er fih der Delmalerei zuwandte und fi eifrig mühle 
Hiftorienmaler zu werden, wozu co ihm dod) an der erforderlichen 
technischen Schulung und an dem rechten Farbenfinn, auch an 
eigentlichen Talente gebrad. Wie al fein eifriges Vemühen 
auf diefem Gebiete etwas Hervorragendes zu leilten erfolglos 
Dlieb, wie er zulegt in Fhmerzlider Nejignation darauf verzichtete 



















































432 Litteräriihe Streiflichter. 





ein Mieifter im großen hiftorischen U zu werden und wie dann 
fein mit befonderer Liebe gemaltes Bild: „der Abidhied des Jcan 
Galas” für ihm die Veranlafiung wurde, endlich das vedhte Feld 
zux Entfaltung feines Fünftlerifchen Talents zu finden — das 
fchilvert W. von Dettingen in einem der intereffanteften Kapitel 
feines Buches mit faft dramatifcher Lebendigfeit. Das allgemeine 
Verlangen nad) Vervielfäftigung diefes Bildes, das die Zeitgeneiien 
tief ergriff, lieh Ghodowiedi zum Nadirer werden. Wud) in der 
Tednit der Nepkhunit war Chobowiedi NAutodidalt, aber hier 
überwand fein Talent alle Schwierigkeiten. Er fuhr zwar nod) 
fort Piniaturen zu malen, aber die Nadirungen gewannen immer 
mehr das Uebergewicht und drängten bald alle anderen 
VBeihäftigungen in den Hintergrund. In der Mitte der fichziger 
Jahre hat er die wolle Meifterfhaft erreicht, feine Nadirnadel 
fhuf nun jene amüberjehbare Fülle von Vücherilluftrationen, 
Almanachblättern und CEinzelblättern. Alle angejehenen Kalender 
wollten Kupfer von ihm haben, die Verleger beitürmten ihn, um 
Bilder oder wenigjtens Wignetten für ihre Verlagsmerte. Nimmt 
man dazır, was Chobowiei nad) an Einzelblättern geliefert hat, 
jo fait man über die Mafe feiner Produktionen; nur einem jo 
auferordentlich fleifigen, vom Vorgen bis zum Abend tätigen 
Künftler war es möglich jo viel zu leiften. Natürlich ift nicht 
Alles von gleichem Werthe und er Alngt jelbit, dab die Haft des 
Produzivens ihn Hindere feine Werke ansreifen zu laffen, aber 
doc) erwedt fein unerihöpflies Talent und feine unvergleicliche 
Arbeitskraft immer von Neuem unfere Bewunderung. Dabei war 
Shodowiedi aud nod) Kunftyändler und als folder wie überhaupt 
ein guter Rechner und Kaufmann. Die Nraft und Freudigfeit 
zu fo umverdroffener und unermüdlicher Arbeit idhöpfte er aus 
dem glüclichiten Familienleben, das ihm zu Theil geworden war; 
mitten unter feinen Kindern, welche die Mutter, eine gute Hausfrau, 
liebevoll, der Vater ernft und ftreng erjog, malte, zeichnete, 
radirte er, jo zeigt ihm der jchöne Stid vor Tettingen’s Buch. 
Im häuslichen Kreife fühlte er fi am glüdlichjten, bier empfing 
er Freunde, Belannte und fremde Veluche, hier machte er nicht 
zum geringiten Theite feine Beobadhtungen und Studien der 
verichiedenen Charaktere. Nur jelten führten Mleinere oder größere 














Eitteräriiche Streiflichter. 433 


Neifen, wie die von ihm fo föftlic in Zeichnungen dargeitellte 
nad) Danzig zu feiner Mutter, zeitweilige Trennungen von der 
Ramilie herbei. Ein unerfeglicher Verluft für ihn war das 
Dinfcheiden der Gattin nach breifiigjähriger glücklicher Ehe 17 
die Töchter verbeiratbeten fich, 09 famen die Nahre des Alters, 
aber der Künftler arbeitete ratlos weiter, freifich nicht mehr mit 
der Frifche und jcöpferiichen Nraft wie früher. Schon feit einem 
Menjchenalter Mitglied der Akademie der SKünfte, wurde der 
Ziebzigjährige 1797 zu ihrem Direftor ernannt, in einem Alter, 
das zu durchgreifendem Sandeln nicht mehr angethan ift, auch 
wenn joldes feiner Natur überhaupt eigen newejen wäre. 6 
der Tod dem unermüdlichen Arbeiter am Rebruar 1801 den 
Griffel aus der Dand nahm, da war fein Tagewerf vollendet; 
fchon länaft war eine neue Zeit angebroden, die ihm fremd und 
unverftändlich mar: die Glanzepache unferer Kaffiichen Dichtung 
mit ihrem  heilenijchen Schönbeitsivenl und das zunberifche 
Dämmerlicht der Nomantit. 

Vergegenwärtigen wir uns mun noch in aller Nürze 
Chodowiedi'o Perjöntichteit und fünftlerichen Charakter, wie fie 
uns in Oeltingen’s Bude entgegentreten. Obgleich) feine Jugend 
entwidelung in eine frühere Periode fällt, berührt er fi in 
feinem inneren Wejen doch vielfach mit den Anfchauungen der 
Aufflärungszeit; wiewohl ein ftreng veformirter Chrift in Firchlicher 
Beziehung, ift er im Lebrigen von jener vein verftandesmähigen 
Auffaliung der Welt, der Menjchen und Dinge beherrict, weldhe 
für die Wiänner jener Epoche jo arafteriftiich if. Auch ibn 
erfüllte der den Menjchen jener Tage eigene naive Optimismus, 
er glaubte an den Zieg des Guten durch fortichreitende Auf 
flärung. Er war überhaupt eine liebenowürdige Natur voll 
unverwiftficher inne deiterfeit und frifchem Arobmutb. Dabei 
war er ein feiner, Ichnrflichliger Beobachter der Menichen und 
Tinge um ihn ber, fein Nünftlerauge erfaßte das Chavakterif 
an allen Erjeheinumngen im Leben und in der Natur und führte 
jeiner feidht angeregten, beweglichen Khantafie immer neuen Stoff 
zu. Ehrlichfeit und hrheit waren Srundzüge feines Charakters, 
dieje Eiaenfchaften find auch die havakterijtiichen Kennzeichen feines 
chen Schaffens. Er jah die Dinge, wie fie wirficd find, 





5; 









































434 Litteräriiche Streiffichter. 





und stellte fie auch jo dar, das macht ihm zum Nealiften; mur 
das eigentlich Häfliche ichloh er von der fünjtlerichen Wiedergabe 
aus. Seine Kunjt aber bewies er darin, dah cv das MWirfliche 
mit jener leichten Jdenlifirung daritellte, ohne welche die Wiedergabe 
der fichtbaren Erjcheinung nur eine jchlechte Kopie der Natur üt. 
Er hatte einen auferordentlich entwicelten Zinn für das Anmutbige 
und Zarte und wuhte jeinen Arbeiten eine foldhe Grazie und 
Zierlichfeit zu geben, fie mit folcher Keinheit zu behandeln, dah 
fie dadurd und durch die Meichheit feiner Nadirung die Meijter: 
werfe wurden, welche die Jeitgenofien entzückten und die uns 
noch heute entzüden und erfreuen. Aber Chodowiedi's Phantafie 
hatte weder mächtigen Schwung nod hoben Alug, er vermochte 
nur das wirklich Angefchante echt Fünftleriich und wahr darzuitellen, 
das war die Schranke feiner Vegabun: Die Darfitlung des 
bürgerlichen Yebens feiner Zeit, das ift die engbeqränzte Domäne 
feiner Runft; ging er darüber binaus, jo gerieth er in Umnatur 
und theilte alle Kehler feiner fünftleriichen Zeitgenoiien: er wird 
maniviet, theatralifch und unwahr. Kür die Darftellung mytbo 
her Gegenftände verfant ihm die 
£ ebenjo it das eigentlich Tragiiche, Yeidenjchaftliche, 
‘Rathetiiche nicht feiner Natur entiprechend. Das zeint fi auc 
bei feinen lluftrationen der Werfe der Yitteratur; was da über 
eine mittlere Höhe hinausgeht, das verjagt fid feinem Verjtändnii;. 
So hat er z.B. Leifing’s Minna von Barnhelm trefflic illuftrirt, 
aber zu Emilia Galotti und Nathan dem Weifen bat er feine 
Nadirungen geliefert. Bon Goethe hat er Stiche zu Wertber's 
Leiden gegeben und wie Vortrefflicheo er da zu Leiten vermochte, 
zeigt das entzücdende Fücherblatt in Dettingen’s Yard; dagenen 
find die Darftellungen der leidenschaftlihen Szenen in diefem 
Roman völlig mijlungen. Gr bat dann and) Stella und Ciavigo, 
Erwin und Elmire illuftirt, zum Süd aber nicht Söß von 
Berlichingen; vollends Schöpfungen wie Xpbigenie und Taflo 
gingen weit hinaus über den Vereich feiner Auffaftung und feines 
Nönnens. Interejfant ift es, dal; Ehodowiedi in feinem Alter 
noch Bilder zu Hermann und Dorothea geliefert Hat; wir haben 
fie nie gefeben und Tettingen giebt leider Feine nähere Auskunft 
über fie; wir glauben aber nicht, daß der Künftler der einfachen 
















































Kitteräriiche Streiflichter. 435 


Hoheit diejes Epos gerecht geworden fein wird. Schiller's Jugend: 
werfe mit ihrem qewaltiocn Pathos und ihrer leidenichaftlichen 
hetorit entipradhen des Künfters Begabung draus nicht md 
was er an Nluftrationen zu ihnen lieferte, ift daher auch wenig 
erfreulih. In den Bildern zu Hippel's Lebenstäufen, zu Nifolais 
Schaldus Nothanker, zu Baedaw’s Elementarwerf fid) 
dagegen Chodowiedi auf der Döhe feines Nönnens, desgieihen in 
den Illuftrationen zu phiens Neite umd anderen jet längjt 
verichollenen Werten. Ebenfo bewundernewürdig find feine Sitten: 
Schilderungen in einer Neihe von Einzelblättern, nicht felten mit 
Teicht fatirifcher Tendenz. Wie froftig nehmen fid) dage 
feine Allegorien aus, wie völlig mißlungen 
fajt alle feine Darftellungen von Szenen geichichtlicher Vergangenbeit! 
So unbiftoriich wie die Aufflärungszeit war, jo wenig vermochte 
auch er fih in das Yeben und die Menichen früherer Zeiten 
bineinzudenfen und bineinzufinden, fie jtanden ihm nicht vor 
Augen und darum Fonnte er fie auch nicht daritellen, fie gerierhen 
ihm theatrafifch und unnatürlich. Aber in feiner Zeit, da it er 
zu Haufe wie fein Anderer. Wie prächtig find feine Bilder des 
alten Frig, wie tief haben fie fi dem Lotfe eingep, ia 
Altes, auc das Heinfte in feiner Umgebung und jtellte © dar, 
diefer Meifter des Genres. Kein Bud, feine Schilderung, feine 
gleichzeitige Veichreibung vermag uns das Leben jener Tage jo 
anfcaufih vor Augen zu ftellen wie feine Zeichnungen und 
Nadirungen, die uns wie mit einem Jauberichlage mitten hinein: 
verfegen in eine längjt untergegangene Welt. In feinen Werfen 
febt das Zeitalter der Aufklärung unvergänglich fort und wer «5 
wahrhaft fennen und verjichen fernen will, der muß fich in fie 
vertiefen. Durd) feinen Realismus aber hat Chodowiedi nicht 
wenig dazu beigetragen, die neue wahre Kunjt heraufzufürhren. 
Die vorftehenden Furz zufammengedrängten Andeutungen 
folten nur den Zwed haben, den Lejern eine Vorftellung von 
dem reichen Inhakte des Oettingen’ihen Buches zu geben und fie 
dazu anreigen es jelbft zu lejen. Wie bedeutend der Gehalt 
eines Wertes aber aud) fein mag, jeine eigentliche Wirfung hängt 
doch wejentlich von der Form ab, in welder er geboten wird. 
Im diefer Beziehung nun müflen wir MW. von Oettingen's Buche 










































436 Litteräriihe Streiflicter. 


die Höchjte Anerkennung zollen. Die Darjtellung des Verfaniers 
it jo durdfichtig, anmuthig und lebendig, wie fie nur ein 
fünftleriiher Sinn zu geitaften vermag; man bat die Empfindung, 
da ein Hauch vom Geift des alten Meijters auf ihr rubt. Die 
Gruppirung des Stoffes iit böchit zwedmäfiig und überfichtlicd), 
der Gang der Erzählung trefflich dieponirt, gleihmäig dahin 
fchreitend, die Nubepunfte und Abjchnitte wohlüberlegt. Durd- 
zogen ift die ganze Darftellung von geiftreichen Gedanken, fcharf: 
finnigen Beobachtungen und feinen Bemerkungen fünftleriicher, 
pinchologiicher und Funjtphilofopbiicher Art; fie verleihen ihr einen 
bejonderen, anziehenden Neiz. Auch der Stil ijt vortrefflid, er 
bält fi ganz frei von Phrafen und Nedeblumen, ift leicht und 
einfad, auf's feinfte durdhgefeilt, furz ein folder, der von wahrhaft 
durchgebildetenm Geihmad zeugt. Dazu fommmt nun eine Sprade, 
die wir nicht anders alo ect goetbiich bezeichnen Fönnen, ein 
böheres Lob giebt cs in unieren Augen nicht; fie it das Nejultat 
einer tiefen Vertrautbeit mit den Werfen des großen Meijters. 
Auch in der Verwendung des deuticen Wortichages zeigt W. von 
Tettingen das feinfte Spradigefühl; nur ganz ausnahmaweiie 
begegnet man bei ihm einer der Mihbildungen des modernen 
Zeitungsdeutich, wie dem aus Ceiterreich importirten „Gepflogenbeit”. 
Nadı dem Gejagten wird man e5 verftändfich finden, wenn wir 
erflären, da die Yeftüre des Dettingen’ichen Ynches rein formell, 
aud, abgeichen vom Inhalt, uns einen wahren äfthetiichen Genuß 
gewährt hat. Es ift uns eine Freude zu fonjtatiren, da5 neben 
dem vielen Schlehten und zabllofen Mittelmähigen, womit der 
Bücjermarft jahraus, jahrein überfchwemmt wird, dod) aud) nad) 
foldhe Bücjer eridjeinen, wie das vorliegende; wir geitehen offen, 
dab uns feit Karl Jujtis Werfen über Windelmann und Velasquez 
fein Bud) auf dem Gebiete der Kunfigeihichte begegnet ift, das 
uns nad) Form und Inhalt jo befriedigt und erfreut hat, wie 
MW. von Tettingen's Biographie Chodowicdi's. 

Doc) e3 gehört nun einmal zu den Pflichten und Gewohnheiten 
eines Kritifers auch an den beiten Produkten diefe und jene Aus 
ftellung zu maden und Vlängel hervorzuheben. So wollen wir 
denn aud) einige Defiderien und Wünfde nicht unterdrüden. 
Zunächit hätten wir es gern geiehen, wenn der Verfailer nad) 














Litterärifche Streiflichter. 437 


häufiger Neußerungen Chodowiedi's aus feinen Briefen in die 
Tarfiellung verwebt, überhaupt noch mehr individuelle Züge ein- 
geflocdhten hätte, von denen jegt mande in den Anmerkungen 
verftecft find. Dadurch würde namentlid) der biographiihe Theil 
noch größere Anichaulichkeit und Lebendigkeit erhalten haben. 
Sodann in Dettingen’s Buche eine eingehende 
Charatte jen Stellung Chodowiedi's; der hödjt 
intereffante Brief des Künitlers an Nikolai, den wir in den 
Anmerkungen lejen, bietet dazu allein jdon bedeutiames Material 
uud co lohnte wohl feitzutellen, ob in Chodowicdi's religiöfen 
Anjhmmungen während jeiner jpäteren Lebenszeit eine Aenderung 
eingetreten ift. Weiter bedauern wir &6, dah MW. von Dettingen 
nicht aud über Chodowiedi's zweite Neife nad) Dresden 1789 
ums einen eingehenderen Bericht gegeben hat, wenn er ihr aud) 
nicht eine jo ausführliche und prächtige Schilderung zu Theil 
werden laiten fonnte und wollte wie der Neife nad) Danzig. 
Ferner müjlen wir an die Auswahl der im Bud) mitgetheiften 
Bilder einige Bemerfungen fnüpfen. Mande von ihnen Fönnte 
man ohme Schaden milien und jähe fie gern durch andere, die 
jegt fehlen, eriegt. So bedauern wir jehmerzlich, dah feine ber 
Iluftrationen zu Dippel’s Lebensläufen fi) Hier findet; wenn fie 
auch der Bearbeitung des Buches von A. v. Tettingen beigegeben 
find, jo durften fie doc in unferem Buche nicht gänzlich fehlen. 
Auch aus dem Sehaldus Nothanfer hätte man gern noch mehr 
Proben gehabt, ebenjo aus dem Göttinger Tafchenfalender. 
Andererjeito wäre es von ntereiie, eine oder ein paar der 
Nadirungen zu Hermann und Dorothea oder zu Schiller’s Iugend- 
dramen hier reprodueirt zu jehen. Auch Chodowiedi’s Sitten: 
ihilderungen, etwa die Wallfahrt nach Buchholg oder den 
Lebenslauf jähe man jehr gern in unferem Yud) vertreten. Wir 
willen freilich nicht, ob ber Verfajfer bei der Aufnahme der 
Iluftrationen fi nicht eine beftimmte Beichränfung hat auferlegen 
müfjen. Endlid vermifen wir eine, wenn aud nur Furze 
Ueberficht der bisherigen Literatur über Chodowiedi; wenn fie 
Dettingen jelbit, der aus dem Xollen jchöpfte, aud) bei Seite 
lajien fonnte, jo wäre jie für den Leer, der nicht Kunfthiftoriter 
von Fad üt, zur Orientirung dod jehr erwünjcht. Tod das 














438 Kitteräriihe Streiflichter. 


Alles find Kleinigkeiten, die dem Merthe des trefflichen Buches 
feine Eintracht thun fönnen. Wir haben uniere Winjde nur 
deshalb hier ausgeiproden, weil wir hoffen, der Verfafier werde 
fie in der zweilen Auflage feines Buches, die gewiß nicht aus 
bfeiben wird, vielleicht nicht unberüfichtigt tafien. 

W. von Oettingen’s Bud) über Daniel Chodowiedi ift ein 
durch den Neichtbum des darin benußten Materials, bie auf 
voller Sachtenntnif beruhende, echt hifteriiche Behandlung, die 
Tiefe der Anffaflung und die geiftvolle Darftellung abicht 
Werk. CHodowiedi's Stellung in der Entwicelung der deutihen 
Kunft Hat der Autor- endgiltig irirt; Cinzelheiten mögen fünftig 
berichtigt, Manches ergänzt oder näher beitimmt werden, Ddas- 
Gejammtbild des Künjtlers und feines Schaffens, wie Dettingen 
65 gezeichnet, wird bleiben. Wenige Künftler der neueren Zeit 
erfreuen fid) einer folden Darftellung und Würdigung, wie fie 
dent alten Meifter der Mepkunft jept zu Theil geworden it. Wir 
mwünfchen e$ mehr, als wir e6 hoffen, daf der Verfaifer uns in 
nicht allzu ferner Zeit eine weitere Frucht feiner Studien darbieten 
möge; wir willen nur zu gut, weld” andauernde Arbeit und 
forgfältine Vorbereitung, welche tiefeindringende, unermühete 
Veihäftigung mit dem  Gegenftande die unerlälichen Vor: 
bedingungen find, um folhe Früchte zu jeitigen. Cine neue 
Schrift diejes Autors werden wir jederzeit mit rende begrüßen. 

Indem wir von Dettingen’s Bud) Abichieb nehmen, über: 
fonmt uns ein Gefühl zugleih der Freude und der Wehmuth: 
der Freude, weil 6 ein Sohn unferer Provinzen ift, dem mir 
eine foldhe Leiftung verdanken und auf den unfer Land ftolz 
zu fein Urfache hat; der Wehmuth, weil e8 wie eine Natur: 
nothwendigfeit zu fein fcheint, daf die befähigtiten Söhne bes 
baltischen Landes der Geimath den Nücen fehren und einen 
größeren Schauplag auffuchen müflen, um bie Talente und Gaben, 
die ihnen geworden, zu rechter voller Entfaltung zu bringen. 








Herausgeber und Nedattenr: Arnold o. Tideböhl. 
Honsoaeno nenaypow. Pıera, 22. Otnöpn 1806 r. 
Buchruderei der „Balt. Monatsjchrift", Riga. 





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